Unfassbarer Untergang von Varlet ================================================================================ Kapitel 3: Klinikaufenthalt --------------------------- Shinichi Kudo lag in einem Bett. Langsam öffnete er die Augen und sah sich um. Er war alleine im Raum. Das Zimmer wirkte klinisch, weiße Wände, weiße Decke, weißer Bettbezug und eine weiße Tür mit einem Fenster. Sein Haar war zerzaust, sein Blick glasig und doch fühlte er sich besser als die Tage zuvor. Shinichi versuchte sich aufzusetzen, scheiterte aber an den Hand- und Fußfesseln. Er rüttelte stärker, aber nichts passierte. „Lasst mich hier raus“, rief er. „Ich muss…“, er verstummte. Er musste gar nichts mehr. Es war vorbei. Und er konnte nichts tun um es zu ändern. Shinichi lag ruhig da und starrte nach oben an die Decke. Yukiko Kudo trat an die Tür heran und beobachtete ihren Sohn. „Wie lange können wir ihn noch hier lassen?“, fragte sie leise. „Es geht ihm nicht besser.“ Seit den Ereignissen in Japan war ein halbes Jahr vergangen. Yusaku stellte sich hinter seine Frau und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Er braucht Zeit“, fing er an. „Das Maryland National Institute of Mental Health ist auf Patienten wie ihn spezialisiert. Wir müssen nur Geduld haben.“ Yukiko seufzte. „Sind wir daran schuld?“ „Nein“, schüttelte er den Kopf. „Rede dir das nicht ein. Keiner hätte etwas dagegen unternehmen können. Wir hätten nicht ahnen können, dass so etwas passiert.“ „Aber wenn wir ihn damals mit in die Staaten genommen hätten…er ist noch so jung und wir haben zugelassen, dass er alleine in Tokyo lebt. Wenn wir anders gehandelt hätten, wäre das nicht passiert.“ Yukiko schloss ihre Augen für einen kurzen Moment. Sie erinnerte sich noch lebhaft an die Diskussion. Seit sie als Schauspielerin berühmt wurde und ihr Mann Erfolg mit seinen Büchern verbuchte, lebten sie zeitweise in den Vereinigten Staaten. Ihr Sohn Shinichi ging immer noch auf die Teitan-Oberschule und kümmerte sich dort um seinen Abschluss. Es gab Wochen in denen er alleine zu Hause war und andere, wo sie wieder zurück kehrten. Seitdem er das APTX4869 bekam, lebte er nahezu alleine, auch wenn sich Kogoro um den vermeintlichen Grundschüler kümmerte. Aber wenn sie wenigstens dort gewesen wären, nachdem er das Gift bekam… „Du weißt nicht, was passiert wäre, Yukiko.“ Yusaku blickte nun durch das Glas in der Tür. „Shinichi hat den gleichen Dickschädel wie wir beide. Wenn wir ihn unter Zwang mitgenommen hätten, wäre er irgendwie wieder zurück nach Japan gekommen. Er hätte uns die Ohren vollgejammert und wir hätten sicher nachgegeben. Vergiss nicht, selbst in den Staaten sind wir oft auf Reisen. Du drehst an einigen Tagen außerhalb der Stadt und ich verbringe meine Zeit mit Lesungen oder Recherchen. Und auch wenn wir in Japan geblieben wären, hätte unser Sohn gemacht was er will. So ist er eben. Ich glaube, wir hätten ihn gar nicht aufhalten können.“ Yukiko schielte zu ihrem Mann. „Ich wünschte, er müsste das alles nicht durchmachen. Er hat den Tod immer nur aus der Perspektive des Detektivs erlebt, aber jetzt muss er mit ihrem Tod klar kommen. Ich kenne unseren Sohn, er wird sich dafür die Schuld geben.“ „Deswegen müssen wir jetzt für ihn da sein, damit er es verarbeiten kann.“ Yusaku entfernte sich. „Ich rede mit dem Arzt.“ „Warte! Ich komm mit.“ Shinichi seufzte leise auf. Er versuchte krampfhaft nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Aber jedes Mal wenn er die Augen schloss oder auch nur mit den Gedanken abschweifte, sah er sie. Das ängstliche Gesicht, die Blässe und dann… Tränen stiegen in seinen Augen auf. Er wollte sie wegwischen, musste dann aber feststellen, dass er die Hände noch immer nicht frei bewegen konnte. Wie war er hierhergekommen? Und was noch wichtiger war, wo war er? Der Oberschüler kniff die Augen zusammen. Nicht nachdenken. Nicht fühlen. Nichts tun. Jetzt verstand er endlich wie sich ein Täter fühlte, wenn er aus Rache mordete. Er selbst bemerkte auch bei sich diese Rachegedanken. Die Organisation sollte zur Hölle fahren. Ihre Mitglieder sollten entlarvt und für das, was sie taten bestraft werden. Er hätte gelogen, wenn er behauptete, dass er einigen nicht den Tod wünschte. Ja, er spürte es eindeutig in sich. Aber es gab einen Unterschied zwischen ihm und allen Tätern, die er je hinter Gitter brachte. Er gab seinen Rachegedanken nicht nach. Noch immer wusste er was richtig und was falsch war. Und immer noch wollte er, dass sie ihre gerechte Strafe erhielten, auch wenn es bedeutete, dass die Suche noch lange weiter ging. Der Detektiv hielt daran fest, dass sie eines Tages hinter Gitter sitzen und ihre Strafen verbüßen würden. Dennoch gab er auch zu, dass er anfangs von seiner Trauer übermahnt wurde, direkt danach folgten die vielen negativen Gefühle sowie Schuldgefühle. Aber er zog rechtzeitig die Notbremse und holte sich die Hilfe, die er brauchte um alles zu verarbeiten. Naja, nicht er selbst sondern seine Eltern. Zum Glück waren sie zu jenem Zeitpunkt nach Hause gekommen und standen ihm bei Seite. Es war schwer den Menschen, die er anlügen musste ins Gesicht zu sehen und auch jenen, die durch ihn verletzt wurden. Professor Agasa wurde nach dem Überfall – wie sie es darstellten – im Krankenhaus notoperiert und lag eine Woche im Koma. Mittlerweile befand er sich in einer Reha auf dem Weg der Besserung. Für Ai kam jede Hilfe zu spät. Und trotzdem half sie ihm noch, obwohl er sein Versprechen nicht halten konnte. Nach den Geschehnissen wurde er von seinen Eltern ins Beika-Zentralkrankenhaus gebracht und dort medikamentös ruhig gestellt. Danach folgte ein auf und ab. Mal war er todtraurig, ein anderes Mal war er energisch und wollte sich auf die Suche nach der Organisation machen. Dann schrie er wiederrum Ärzte, Pfleger und Schwestern an, einmal bedrohte er sie auch. Dem bestellten Therapeuten erzählte er nichts, bis er irgendwann zusammen brach und von seinen Eltern klitschnass unter der Dusche gefunden wurde. Danach ging alles bergab. Sie wollten ihn wegbringen, woraufhin er sich wehrte. Shinichi wusste nur noch, dass er sich mit seinem Vater stritt und rangelte. Dann saß seine Mutter weinend auf dem Boden und er selbst wurde ruhiger. Im nächsten Augenblick bekam er eine Spritze in den Nacken und schlief ein. Die Reise in die Staaten bekam er halbwegs sediert nicht mehr mit. Als die Tür aufging, sah der Oberschüler dorthin. Ein Pfleger kam zusammen mit seiner Mutter rein. „Mama.“ Er wollte sich aufsetzen, wurde durch die Handfesseln unliebsam zurück gedrückt. Yukiko sah ihren Sohn an. Sie lächelte, ehe sie zum Pfleger sah. „Nun machen Sie ihn endlich los. Sie haben den Arzt doch gehört.“ Der Fremde nickte und löste die Fesseln. Während sich Shinichi aufsetzte und sich zuerst das rechte, dann das linke Handgelenk rieb, beäugte er ihn kritisch. „Sie können jetzt gehen. Mein Sohn tut mir schon nichts.“ „Aber…“ „Raus.“ „Auf Ihre eigene Verantwortung…“, murmelte der Pfleger und verließ den Raum. Yukiko setzte sich zu Shinichi auf das Bett. „Wie geht es dir?“, wollte sie wissen. Der Oberschüler zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, dass ich dich verletzt habe…“ „Ich weiß doch, dass das keine Absicht war. Dein Vater weiß das auch. Wir sind dir nicht böse.“ „Es ist meine Schuld“, wisperte Shinichi leise und sah auf die Bettdecke. „Das stimmt nicht. Du warst einfach nur aufgebracht. Es war ein Versehen.“ Der Oberschüler schüttelte den Kopf. „Ich bin an ihrem Tod Schuld. Ich hätte sie beschützen müssen. Aber ich musste mich mit der Organisation anlegen. Ich dachte, wir wären sicher und ich könnte sie aufhalten. Ich war ihnen so oft einen Schritt voraus und dann…jetzt zahlen so viele Menschen den Preis für mein Verhalten. Wenn ich ihnen damals nicht nachgelaufen wäre…oder wenn ich die Gefahr frühzeitig erkannt hätte…“ Eine Träne lief an seiner Wange hinab und suchte sich den Weg auf das Bett. Yukiko zog ihren Sohn in ihre Arme. „Keiner weiß, was passiert wäre, wenn du das Gift nicht bekommen hättest. Auch wenn es dich getötete hätte…hätten sie nicht aufgehört. Dich trifft keine Schuld, Shinichi.“ „Du bist meine Mutter, du musst so etwas sagen.“ Yukiko versuchte zu Lächeln. „Gerade als deine Mutter muss ich dir die Wahrheit sagen, egal wie hart sie auch ist“, sprach sie. „Du kannst nichts daran ändern, dass die Organisation sie fand. Diese Menschen sind böse, sie tun was sie wollen und hören nicht auf, wenn sich keiner ihnen in den Weg stellt. Du hast es damals nicht besser gewusst. Dir macht keiner einen Vorwurf.“ Aber das stimmte nicht. Es gab einige Personen die die Sache anders sahen. Stünde ihr Sohn nicht schon seit seiner Jugend im Rampenlicht, hätte alles vielleicht anders geendet. Nicht er war schuld, sie als seine Eltern waren es. Sie hatten die Verantwortung für ihn und sie hatten sich dieser entzogen. „Deine Mutter hat Recht.“ Yusaku betrat den Raum und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Papa…“ Shinichi sah ihn an. „Ich vermisse sie. Wenn Ai noch am Leben wäre, würde sie mich jetzt bestimmt anschnauzen. Manchmal stelle ich mir vor, wie sie es tut“, gestand er. „Das ist ganz normal“, entgegnete Yukiko. „Ai wusste worauf sie sich einlässt. Sie war ein mutiges Mädchen.“ Shinichi nickte. „Das war sie. Wenn sie nicht wäre, wäre ich nicht wieder ich. Sie hat die ganze Zeit an einem Gegenmittel gearbeitet und mich mit ihrem letzten Atemzug dahin gelotst. Hätte ihr Blut nicht am Griff der Schublade geklebt, hätte ich diese viel zu spät geöffnet. Sie hat es nicht verdient, so zu sterben. Auch wenn Ai es nie zugab, sie wollte nur ein ganz normales Leben führen und ein ganz normales Kind sein. So wie ihre Schwester damals. Sie hat sie beneidet. Als sie klein war, konnte sie zum Teil so leben wie sie wollte, aber trotzdem war ihr die Organisation immer im Nacken. Wusstet ihr, dass sie eigentlich plante wegzugehen? Sie wollte keine Beute für die Organisation sein. Aber um mir zu helfen, entschied sie sich anders und setzte ihre Arbeit an einem Gegenmittel fort.“ Yukiko schluckte und strich ihrem Sohn über den Rücken. „Ich bin mir sicher, dass sie sich auch wünschte, wieder sie selbst zu sein. Und von dem, was du mir erzählt hast und natürlich wie ich sie kennen gelernt habe, was sie in den letzten Monaten glücklich und unbeschwert. Sie hatte Freunde gefunden und ihr habt so viele Sachen mit ihr unternommen, die sie in ihrem vorherigen Leben nicht erleben durfte. Sie war ganz sicher glücklich.“ „Mag sein“, murmelte Shinichi. „Aber jetzt ist sie weg. Der Professor ist schwer verletzt und ich bin hier, wo ich gar nichts tun kann. Gar nichts. Mir sind die Hände gebunden.“ Shinichi ballte die Fäuste. „Die Organisation ist noch immer untergetaucht oder gibt es bereits eine neue Spur?“ Yukiko sah zu ihrem Mann. „Bisher nicht“, antwortete Yusaku. „Das FBI ist dran. Sie wollten die Behörde für nationale Sicherheit einschalten und auch das CIA. Wir haben Akai von unserem Verdacht mit Karasuma erzählt. Er wird dem weiter nachgehen.“ „Das ist gut“, sagte Shinichi ruhig. „Die Organisation fürchtet sich vor Akai. Mit Amuros Hilfe kommen sie bestimmt einen Schritt weiter.“ Shinichi sah seinen Vater an. „Was verschweigst du mir?“ „Amuro ist verschwunden.“ Shinichi schluckte. „Das gehört zu ihrem Plan. Die Organisation trifft Vorkehrungen und zieht jeden aus unserem Umfeld ab. Amuro wird sicher einen Weg finden um wieder Kontakt aufzunehmen…ganz sicher.“ „Shinichi.“ „Ich weiß, Papa, ich sollte mich nicht darum kümmern, aber ich kann nicht hier rumliegen und nichts tun. Gebt mir die Nummer von Akai. Er soll sich bei mir melden, wenn er irgendwas rausgefunden hat. Bitte.“ Shinichi sah seine Eltern flehend an. Jetzt hatte ihn wieder der Ehrgeiz gepackt. Er musste etwas tun, irgendwas. Es durfte nicht umsonst gewesen sein. „Bitte, Mama, Papa“, flehte er. Er fühlte sich wie ein Häufchen Elend. Und egal was ihm seine Eltern auch sagten, er würde sich immer die Schuld geben. Jetzt und später. Es war sein persönlicher Untergang. Yusaku schüttelte den Kopf. „Du wirst erst einmal hier bleiben und dich erholen. Danach sehen wir weiter. Solange du noch so labil bist, lass ich dich sicher nicht auf die Suche nach der Organisation gehen. Keine Widerworte, Shinichi.“ „Nein, bitte, ihr könnt mich nicht einfach so hierlassen.“ Yukiko schluckte. Der Gefühlsausbruch ihres Sohnes ging ihr nahe. Aber sie wusste auch, dass er noch nicht bereit war. In seinem jetzigen Zustand hätte er sich mit der gesamten Welt angelegt und sein Leben weggeworfen. Weder Ai, noch Agasa oder Ran hätten das gewollt. „Bitte, Mama, ich muss hier raus und versuchen sie zu finden. Sie sind bestimmt eh auf meiner Spur und werden versuchen mich umzubringen. Ich kann ihnen zuvor kommen. Bitte.“ Er sah seine beiden Elternteile an. „Ihr Tod darf nicht umsonst gewesen sein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)