Haus ohne Fenster - eine Wintergeschichte von Suzette_Godault (Geschichte einer Beziehung) ================================================================================ Kapitel 1: Ankunft ------------------ Endlich hatte ich es geschafft – nach mehrstündiger Fahrt durchs Gebirge war ich mitten in der Nacht im Haus meiner Mutter angekommen. Und da ich so fertig war, hatte ich meinen Koffer einfach unten im Flur stehen lassen. Mich selbst schleppte ich mit einer Reisetasche behängt hoch ins Obergeschoss. Meine Mutter hatte mir gesagt, dass die dritte und die zwölfte Stufe knarzen würden. Ich solle darauf achten. Ja, ich hörte tatsächlich etwas, aber es war mir im Moment egal, denn ich war mehr damit beschäftigt, nicht außer Puste zugeraten. Die Holztreppe war steil wie eine Stiege und die Reisetasche schwer. Und so zog ich mich am Geländer weiter hoch, ohne die zweite Tür rechts aus den Augen zu lassen, denn hinter der, so hatte mir meine Mutter immer wieder gesagt, befände sich das Gästezimmer. Es waren nur noch wenige Stufen. Ich holte tief Luft und zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ehe ich tatsächlich die Tür erreichte, die Klinke drückte und meine Reisetasche an Ort und Stelle fallen ließ. Ich war fix und fertig: mein Herz raste, meine Hände schwitzten und meine Beine zitterten. Ich wollte nur noch ins Bett und endlich schlafen. Die Fahrt hatte lange gedauert: nahezu neun Stunden. Gleich nach Vorlesungsende war ich in Paris losgefahren und hatte damit gerechnet, höchstens sechs Stunden unterwegs zu sein. Doch dann war der Schnee gekommen. In der Ebene noch hatten sich die Flocken als zahme Wirbel ausgenommen. Hin und wieder hatte ich den Scheibenwischer angestellt. Doch als die Dämmerung heraufzog, tanzte es wie irr im Scheinwerferlicht und große, wasserfeuchte Flocken klatschten wie Vogeldreck auf die Windschutzscheibe. Binnen Sekunden sah ich nur noch eine weiße Wand vor mir. Und selbst die Scheibenwischer vermochten es nur, mir einen kleinen Ausguck zu gewähren. Ich war im Gebirge angekommen und wusste, dass ich die Autobahn irgendwann würde verlassen müssen. Mir graute davor, denn die Unebenheit der hiesigen Straßen, die Schmalheit der sich in Serpentinen emporschwingenden Steige … Auch von ihnen hatte mir meine Mutter erzählt und dazu matt gelächelt. Und erst dann, wenn es nicht mehr weiterging, wenn man ganz oben war, dann war man da … Aber ich, ich war noch lange nicht da und ich hatte auch keine Zeit, mich in den Erinnerungen meiner Mutter zu ergehen. Ich musste darauf achten, dass der Wagen in der Spur blieb, denn trotz der Winterreifen mochte er den Schnee nicht. Die Vorderräder ruckten, ich riss das Steuer herum, spürte, wie ich ins Schlingern zu kommen drohte. „Warum“, hörte ich mich rufen, als ich den Wagen wieder unter Kontrolle hatte und ballte die Hand zur Faust. „Warum tue ich mir das überhaupt an?“ Jetzt lag ich hier, in diesem Gästebett, in einer mir vollkommen fremden Umgebung und wusste nur, dass ich allein dem Wunsch meiner Mutter gefolgt war. Sie hatte mir von ihrer Kindheit und Jugend erzählt und das im Grunde noch nicht einmal so, als erinnerte sie sich gern an diese Zeit. Sachlich, kurz angebunden – und doch von einem Mitteilungsbedürfnis ergriffen, das ich an ihr nicht kannte. So hatte sie mir all das wortwörtlich vor die Füße geknallt. Sie war hier, in diesem Gebirgsdorf geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Punkt. „Und warum soll ich dann dorthin, wenn …?“ „Geh, fahr hin!“, war ihre Antwort gewesen. Ich war ihrer Bitte gefolgt, ohne recht zu wissen. Und nun suchte ich den Schlaf, den ich so dringend brauchte und doch nicht fand, eben weil mich diese Gedanken – jetzt in der Stille überkamen. Aber so still, wie ichmeinte, war es nicht. Ganz und gar nicht. Wenn ich lauschte, dann knackte es hier, knackte dort. Mal schien es mir so, als regte sich direkt neben meinem Bett etwas. Ich wusste, dass dem unmöglich sein konnte, dass nur das Holz arbeitete, sich spannte und entspannte. Dass nichts weiter dabei war, wenn es Geräusche von sich gab. Das wusste ich. Wovor sollte ich mich also fürchten? Vielleicht hatte ich tatsächlich etwas Schlaf gefunden, vielleicht war es aber auch nur ein leichter Dämmer, der mich befallen hatte, jedenfalls hörte ich es plötzlich wieder knacken. Aber diesmal … es war laut, lauter als sonst. Mein Herz begann zu rasen. Und wieder knackte es: laut, eindringlich. Da war etwas. Einen Moment lang blieb ich reglos im Bett liegen, lauschte … ich war kein Schisser … und als sich nichts tat, gab ich mir einen Ruck, richtete mich im Bett auf, knipste das Licht an und sah mich im Raum um. Aber da war nichts! Wie auch? Wie sollte denn etwas zur verschlossenen Tür hereinkommen können? Es war sicher nur das Holz. Das verdammte Holz und ich, die ich nach der langen Fahrt noch immer so unruhig war, hatte … Aber da, schon wieder ein Knacken. So laut, dass … und diesmal wusste ich auch, woher es kam. Ich starrte die Tür an, die sich meinem Bett genau gegenüber befand. Es waren nicht zwei Stufen, die knackten, sondern drei … Kapitel 2: die Nacht -------------------- Vor mir stand ein Mann. Groß, bullig. Und er starrte mich an. Einen Moment lang dachte ich an Flucht. Doch wohin? Und ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen? Zwecklos! Also entschloss ich mich zum Angriff. „Was …“, rief ich. „Was …“ Doch weiter kam ich nicht. „Darf ich erfahren, wer Sie sind?“ Die Stimme des Mannes war rau und kalt und er selbst wirkte so, als bräuchte er nur eine Hand auszustrecken, um mich niederzuschlagen. „Nein, das dürfen Sie nicht und jetzt verschwinden Sie aus meinem Haus!“, entgegnete ich und spürte, wie ich mich ins Holz des Türrahmens zu verkrallen begann. Der Mann schwieg einen Moment lang und rechnete schon mit allem. Dann tat er plötzlich einen Schritt auf mich zu und fragte: „Jeanne?“ Es durchzuckte mich. Woher kannte dieser Kerl meinen Namen? „Jeanne, keine Angst“, wiederholte der Mann. „Ich bin’s, François ...“ Er nahm sich die Kapuze ab, so als müsste ich ihn nun erkennen. „François“, wiederholte er und deutete auf sich. „Ich … ich“, stammelte ich. „Du bist groß geworden, Jeanne“, entgegnete er ruhiger. „Ich weiß nicht, wer Sie sind! Und jetzt verlassen Sie mein Haus!“, stieß ich hervor. „Jeanne …“ „Ich … ich bin bewaffnet!“ „Oh“, erwiderte er und kratze sich an der Stirn. „Das bist du?“ „Ja!“ Mein Herz raste, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Vor mir der Kerl, der mich anstarrte. Hinter mir meine Reisetasche, zu der ich musste. Verdammt, warum hatte ich nicht daran gedacht? Jetzt war ich unbewaffnet und der Kerl, der konnte … wenn ich ihm auch nur einen Moment lang den Rücken zuwenden würde, dann … Nein, trauen konnte ich ihm nicht, auch wenn er vorgab, mich zu kennen. „Ich habe eine Waffe“, wiederholte ich, so fest, wie ich konnte. „Jeanne, beruhige dich. Ich wusste nicht, dass du hier bist und wollte wegen des aufkommenden Sturms nach dem Rechten sehen.“ Er unterbrach sich und zeigte mir den Hausschlüssel, den er bisher in der Hand gehalten hatte. „Ich bin kein Einbrecher … Aber als ich den Koffer unten an der Treppe bemerkt hatte, dachte ich ...“ Er unterbrach sich erneut und deutete mit dem Daumen über seine Schulter hinweg nach unten. „... und da dachte ich ...“ Ich schnappte nach Luft. „Es ist mir scheißegal, was Sie denken! Verschwinden Sie endlich!“ Er nickte. „Ich … ich wollte dich nicht erschrecken.“ Täuschte ich mich, oder wirkte der Kerl plötzlich unsicher? „Verschwinden Sie endlich! Sonst … sonst ...“, rief ich wieder. Er schwieg, sah mich nur an. „Ich … ich hab hier wirklich einen Baseball-Schläger und mit dem treffe ich immer. Immer! Also verschwinden Sie endlich!“ „Jeanne“, erwiderte der Mann und hob die Hände. „Beruhige dich. Ich geh ja schon.“ Und tatsächlich machte er Anstalten zu gehen, doch dann drehte er sich noch einmal um. „Jeanne, bitte schließ die Fensterläden. Der aufkommende Sturm könnte sie herausreißen. Wenn ...“, er zögerte, „... wenn du möchtest, helfe ich dir rasch dabei.“ „Raus!“, brüllte ich. „Ist gut, aber schließ die Fensterläden. Bitte! Sonst geht etwas kaputt. Und mach dir die Heizung an. Es ist kalt hier.“ Ich sah ihm nach und hörte dann, wie die Tür unten ins Schloss fiel. Ich blieb noch einen Moment lang auf dem Treppenabsatz stehen, ehe mir klar wurde, dass ich den Kerl so nicht gehen lassen konnte. Er hatte doch noch den Schlüssel fürs Haus. Verdammt nochmal! Ich musste ihm nach! Rasch öffnete ich meine Reisetasche, griff nach meinem Baseball-Schläger und rannte ihm hinterher. „Hey, bleiben Sie stehen!“, brüllte ich, gegen die beißende Kälte und die umher wirbelnden Flocken kaum ankommend. „Bleiben Sie!“ Er wandte sich um. Die Kapuze hatte er sich schon wieder aufgesetzt und wirkte wieder wie ein Koloss. „Jeanne, was machst du? Geh ins Haus!“ „Schlüssel her!“, brüllte ich und begann den Schläger zu schwingen. Ich hatte das gelernt, wusste ihn auch als Waffe zu gebrauchen. Ich war kein Schisser! Mit dem Kerl würde ich fertig werden. „Ich treffe immer!“ „Das glaube ich dir aufs Wort“, erwiderte er, während er zurückwich. Was konnte geschehen? Dass er abzuhauen versuchte? Er würde nicht weit kommen. Sich auf mich stürzen, das würde er sich nicht trauen. Er wusste: ein Schritt auf mich zu und er würde das Holz spüren. Mein Schläger wog gut in meiner Hand – so wie damals auch. So wie immer! Wiederum wich er mir aus und ich dachte schon, dass er das Weite suchen wollte, als er mir plötzlich den Schlüssel vor die Nase hielt. Und ich meinte, erkennen konnte sie es ja nicht, dass er dabei grinste. Einen Moment lang zögerte ich und hörte nur das metallische Klappern. Ich wusste: würde ich den Schläger mit einer Hand loslassen und nach dem Schüssel greifen, hätte der Kerl gewonnen. Zwar war ich flink, doch er war kräftiger. Das hatte ich damals, als ich im gemischten Team meiner Klassenstufe spielte, auch schon bemerkt: Jungs waren ab einem bestimmten Alter einfach kräftiger als Mädchen. Dagegen konnte ich nichts tun. Doch aufgeben kam für mich nie in Frage, denn meine Bilanz war der der Jungen weit überlegen. Mein Trick: den Ball niemals aus den Augen zu lassen. So wie auch jetzt diesen Kerl hier und das gab mir Kraft. Ich würde nie wieder verlieren! „Los“, kommandierte ich und schwang den Schläger erneut, „legen Sie ihn aufs Fensterbrett und dann verschwinden Sie endlich!“ „Aber ja, Jeanne, natürlich.“ Er wandte sich um und ich ließ ihn keinen Moment lang aus den Augen, während ich das Holz des Schlägers fest umklammert hielt. „Ich werde morgen im Laufe des Tages vorbeikommen und dann reden wir. Ok?“ „Wenn Sie nicht sofort verschwinden, dann …“ „Dann erschlägst du mich?“ „Ja, das werde ich tun!“, stieß ich hervor. „Jeanne, ich tue dir nichts und jetzt geh bitte ins Haus zurück und schließ die Fensterläden. Ein Sturm kommt auf. Und dann mach dir die Heizung an.“ „Klappe!“, rief ich und schwang den Baseball-Schläger erneut. „Jeanne, Jeanne, deine Umgangsformen!“ Mich ärgerte, dass der Kerl noch immer keinen Respekt vor mir zu haben schien. Oder tat er nur so? Würde er mir zu nah kommen, würde er das Holz spüren! „…wir sprechen morgen weiter. Gute Nacht, Jeanne“, hörte ich ihn sagen, dann wandte er sich ab. Kaum war er verschwunden, rannte ich ins Haus zurück, ließ sie den Schläger fallen, sperrte zu, rüttelte noch einmal an der Tür und schob dann die Kommode, die im Flur stand, vor die Tür. Konnte ich mir denn sicher sein, dass der Kerl nicht noch einen Schlüssel besaß und wiederkam? Ich holte mehrere Male tief Luft. Verdammt, wer war dieser Kerl? Und was wollte er von mir? Und woher kannte er meinen Namen? Ich war so aufgeregt, dass meine Hände zitterten. Und das ärgerte mich. Aber diese Schwäche konnte ich mir jetzt nicht leisten. Ich musste das Haus sichern – vor diesem Kerl. Also gab ich mir einen Ruck, eilte in alle Räume und schloss die Fensterläden und auch die Hintertür. In der Eile fand ich nichts außer einem Besen, den ich unter die Klinke klemmen konnte. Und ich wusste, würde der Kerl einbrechen wollen, würde er es schaffen. Aber ich, ich würde gewappnet sein. Mein Baseball-Schläger würde mir nicht zum ersten Mal Schutz bieten. Ich biss die Zähne ganz fest zusammen, eilte hinauf ins Obergeschoss und schloss auch dort alle Läden. Dann kauerte ich mich auf das Bett im Gästezimmer und hielt meinen Schläger umklammert. Ich wusste, dass das eine lange, sehr lange Nacht werden würde … Kapitel 3: im Supermarkt ------------------------ Es war tatsächlich eine verdammt lange Nacht, in der ich kein Auge zutat. Immer wieder fragte ich mich, warum mich meine Mutter ohne Vorwarnung hierher geschickt hatte. Und wie es kam, dass dieser Kerl erstens den Schlüssel zu ihrem Haus besaß und mich zweitens ganz offensichtlich kannte. Jedenfalls hatte er mich bei meinem Namen genannt. Jeanne. So eine verfluchte … Aber ich sollte nicht fluchen. Das tat man nicht! Trotzdem: dieser Kerl war mir nicht geheuer und so beschloss ich, das Türschloss gleich am nächsten Morgen auswechseln zu lassen. Denn noch einen ungebetenen Besuch wollte ich nicht erleben. Einen Schlosser würden sie ja wohl im Dorf haben. So dachte ich und hielt derweil meinen Baseball-Schläger umklammert. Ich liebte es, sein glattes, warmes Holz in den Händen zu spüren, es gab mir die Stärke, die ich jetzt benötigte, um die Augen offenzuhalten und wachsam zu bleiben, denn auch hier, wie im Sport, galt: eine Sekunde mit den Gedanken woanders und man befand sich in einer Situation, aus der man nicht mehr allein herausfand. Aber es war wichtig, sich allein helfen zu können, wichtig, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, wichtig, Stärke zu zeigen. Und mein Baseball-Schläger half mir dabei. Es war der Schläger, mit dem ich unsere Schulmannschaft in meinem letzten Jahr auf der Highschool zur Meisterschaft gebracht hatte und der, von dem mein Vater mir einmal gesagt hatte: „Schlag zu!“ Als der Morgen graute, erhob ich mich. Meine Müdigkeit, die mir noch immer in den Knochen hing, versuchte ich abzuschütteln, was mir jedoch nicht gut gelang. Selbst nach der kalten Dusche fühlte ich mich noch immer wie gerädert. Auch das Frühstück, das ich mir später aus meinem mitgebrachten Proviant bereitete, half wenig. Der Apfel schmeckte seltsam fad, die Banane war matschig und der Schnittkäse roch infernalisch. Daheim hätte ich das Zeug nicht mehr angerührt. Hier aber war es das einzige, was ich hatte. Ich musste es essen, um überhaupt etwas in den Magen zu bekommen, denn ohne Grundlage ging bei mir gar nichts. Und so saß ich in der kleinen, holzgetäfelten Küche im Untergeschoss, hatte das Licht angemacht, weil die Fensterläden noch geschlossen waren, und stopfte mir eine Scheibe Käse in den Mund. Dabei fragte ich mich erneut, warum ich dem Wunsch meiner Mutter gefolgt und hierhergekommen war. Was sollte es mir bringen? Natürlich hätte ich mir das Handy schnappen und daheim anrufen können, doch das verbot sich von selbst. Wer war ich, dass ich mich bei jeder Schwierigkeit daheim meldete? Meine Mutter hatte mir gesagt, dass ich einige Tage bleiben solle. Gut, das würde ich irgendwie hinbekommen, auch wenn ich aus ihrem Gestammel zuletzt nicht schlau geworden war. Ich wollte eine gute Tochter sein und ihrem Wunsch nachkommen. Ich hatte ja meinen Baseball-Schläger, der mich beschützte. Mein Vater hatte gesagt: „Wenn du ihn zu schwingen weißt, ist er eine Waffe.“ Und das war es, was mich stolz machte: ich war auf niemandes Schutz angewiesen. Und wenn der Kerl wiederkäme, würde ich ihn ganz einfach … Was immer er von mir wollte, ich würde stärker sein als er. Mit diesen Gedanken erhob ich mich, trat in den Flur hinaus und zog die Kommode wieder an ihren Platz, dann holte ich tief Luft. Ich wusste, würde ich das Haus verlassen, könnte der Typ eindringen, vielleicht nicht über die Hintertür oder die Fenster, aber durch die Haustür. Doch was nützten diese Gedanken? Ich musste ins Dorf, denn ich benötigte Lebensmittel und eben einen Schlosser, der mir das Haus sicherte. Es war zwecklos mich über die Gefahren auszulassen, ich musste pragmatisch vorgehen: ich würde all meine wichtigen Sachen mitnehmen und wenn der Kerl dann hier wäre … Sollte er doch an meinen Unterhosen schnuppern … Verhindern konnte ich es eh nicht. Und die Zeiten, dass ich mich über so etwas ärgerte, waren längst vorbei. Mein Vater hatte mir gesagt, ich müsse es lernen, Prioritäten zu setzen und das hatte ich auch getan. Und dadurch hatte ich bisher alles geschafft, was ich mir vornahm. Auch die Uni würde ich irgendwie schaffen. Ich war es gewohnt, mich durchzubeißen, ein Kinderspiel, wie für andere das Auffädeln von Perlen auf eine Schnur. Ich sah mich kurz in der Küche um, erblickte einen Kühlschrank und schaltete ihn an. Dann sah ich auf die Uhr. Zwar war es noch früh am Tag, noch nicht einmal 8, doch ich fand, dass es besser wäre, jetzt gleich loszufahren, da ich sonst Gefahr lief, dass der Schlosser nicht mehr hierher käme. Das Haus meiner Mutter befand sich ja nicht direkt im Ort, sondern etwas außerhalb, in den Bergen. Als ich die Haustür öffnete und mir eine geschlossene Schneedecke entgegen starrte, in die ich dann auch noch bis zur Wade versank, war mir klar, dass ich ihn ganz sicher würde überreden müssen. Im Tal, das hatte mir meine Mutter gesagt, gab es einen Supermarkt – genau am Ortsausgang. Da konnte ich meine Lebensmittel einkaufen und würde nach einem Schlosser fragen. Als ich mich hinter das Steuer meines Autos setzte, und den Baseball-Schläger neben mir auf dem Beifahrersitz wusste, war ich zum ersten Mal an diesem Morgen zufrieden mit mir. Noch vor Monaten, vielleicht sogar Wochen, wäre es mir nicht möglich gewesen, mich so zu verhalten, ruhig zu bleiben und das zu tun, was wirklich notwendig war. Ich sah kurz in die winterliche Schneelandschaft hinaus und nickte, dann startete ich den Motor. Im Supermarkt war die Hölle los. Es schien so, als hätte sich das gesamte Dorf einhellig dazu entschlossen, zu so früher Stunde einkaufen zu gehen. Einen Moment lang war ich mir deswegen auch nicht sicher, was ich tun sollte. Da hineingehen oder nicht lieber doch wieder umkehren? Quatsch, umkehren! Ich gab mir einen Ruck und zwang mich dazu, meinen Wagen durch die Menschenmenge zu lenken, immer darauf bedacht, mit niemandem zusammenzustoßen. Ich brauchte Lebensmittel und die würde ich mir jetzt auch besorgen. Brot, Butter, Käse, frisches Obst, Milch und Wasser. All das hatte ich schnell gefunden, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir vernahm. „Außer der H-Milch und dem Wasser kannst du alles wieder auspacken.“ Ich wandte mich um – vor mir stand dieser Kerl von letzter Nacht, grinste mich breit an und deutete in meinen Einkaufskorb. „Ohne Baseball-Schläger heute Morgen?“ Ich meinte, dass mein Herz einige Schläge lang aussetzte, doch ich zwang mich, mir meinen Schrecken nicht anmerken zu lassen und diesem Kerl stattdessen genau in die Augen zu sehen. „Nicht? Gut, dann können wir vielleicht vernünftig reden“, fuhr er ungerührt fort, „also, Milch und Butter bekommst du im Dorf, auch Brot. An H-Milch und Wasser brauchst du allerdings immer einen Vorrat. Gerade jetzt ...“ Und noch ehe ich etwas dagegen hätte unternehmen können, hatte er sich meinen Einkaufswagen genommen und war mit ihm in den Gang verschwunden, aus dem ich gerade gekommen war. „Hey, was soll denn das?“, rief ich vollkommen perplex und wollte ihm nach. Was bildete sich der Kerl ein, mir meinen Wagen wegzunehmen? Es bestand kein Zweifel, er hatte keinerlei Respekt vor mir. „Sie können doch nicht …“ „Jeanne?“, unterbrach mich da eine andere Stimme und ich spürte plötzlich eine Berührung am Arm, wollte sie abschütteln, doch es gelang mir nicht. Also fuhr ich herum und sah mich einer kleinen alten Frau gegenüber. Sie hielt mich noch immer am Ärmel gepackt. „Mädchen“, rief sie, „du bist es tatsächlich … François hat’s mir gesagt … Wie lange schon ...?“ Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf und dann machte sie tatsächlich Anstalten, mich zu umarmen. „Was soll das?“, entgegnete ich und starrte diese Frau an. „Was wollen Sie von mir?“ „Ich bin’s doch, Claude“, erwiderte die Frau, berührte ihre Brust dabei und sah mich aus ihren braunen Murmelaugen an. „Erinnerst du dich nicht?“ Ich schüttelte den Kopf und wollte schnell weg. „Nein, und jetzt lassen Sie mich in Ruhe! Ich muss weiter.“ „Aber natürlich kannst du dich an mich erinnern. Du bist doch früher immer …“ „Hören Sie, ich weiß nicht, woher Sie meinen Namen kennen, auch weiß ich nicht, wer Sie sind, also lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!“ Ich hatte gehofft, dass ich die Frau dadurch loswerden würde, doch sie packte mich nur wieder am Arm, sodass ich mich von ihr losriss. „Aber doch“, fuhr sie fort, „du bist immer vor meinem Haus … auf und ab, so lange, bis es mir gereicht hat und ich herausgekommen bin. Doch du bist immer weiter auf und ab gehüpft, kleine Jeanne.“ Die alte Frau lächelte und versuchte meine Hände zu nehmen. Ich wich einen Schritt zurück. Ich konnte Menschen nicht leiden und schon gar keine Fremden, die vorgaben, mich zu kennen und mich in Gespräche verwickeln wollten. „Und Mädchen“, flüsterte sie und kam einen Schritt auf mich zu, „es tut mir so leid, was dir geschehen ist. Aber es wird alles wieder gut. Ganz bestimmt.“ Während sie es sagte, sah sie mich ganz seltsam an, dann nickte sie. „Es reicht!“, stieß ich hervor. „Das in der Tat“, hörte ich den Typen hinter mir sagen und ich wandte mich um. Und wieder grinste er mich an. Dazu zog er seine Nase kraus. „Oh“, wandte er sich dann an die alte Frau, „ihr habt euch bereits bekannt gemacht?“ „Ja, François, aber stell dir vor, Jeanne weiß nicht, wer ich bin.“ Der Typ kollerte leise und sagte dann achselzuckend. „Mich erkennt sie auch nicht.“ Dabei legte er plötzlich den Arm um mich. „Hey, was soll das?“, rief ich wieder und sprang zur Seite. „Was ist denn mit dir los, Jeanne?“, ließ sich die alte Frau vernehmen. „Nichts! Gar nichts!“, entgegnete ich, bemüht, meine Fassung zu wahren. „Ich habe nur etwas dagegen, von wildfremden Menschen angefasst zu werden.“ „Ach Jeanne, wir sind doch keine Fremden!“, erwiderte die alte Frau und der Typ nickte dazu – richtig blöd, wie ich fand. „Wenn du dich erst einmal beruhigt hast ...“ „Ja, vielleicht ist es zu lange her für sie?“, wandte sich die alte Frau an den Typen. Ihre Augen hatte sie weit aufgerissen. „Hm …“, machte der Typ. „Mag sein.“ „Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“, stieß ich hervor und spürte gleichzeitig, dass mir alles zu viel wurde. Ich begann die Kontrolle über diese Situation zu verlieren. Ich wollte mit diesen Menschen nichts zu tun haben, doch sie drängten sich mir auf und bedrängten mich. Ich wusste nicht, wohin ich ausweichen konnte. Der schwere Einkaufswagen, in den der Kerl eine Palette H-Milch und einige Wasserflaschen geladen hatte, hinderte mich an der Flucht. Oder sollte ich ihn einfach stehen lassen? Aber wäre das nicht Quatsch gewesen? Ich spürte, wie ich unsicher wurde. Und das machte mir Angst. Doch gerade das konnte ich mir jetzt nicht durchgehen lassen. Ich musste klar denken und so versuchte ich mir vorzustellen, wie ich damals bei meinem letzten Spiel auf dem Baseball-Feld unserer High-School gestanden hatte: ich war an der Reihe und schwang den Schläger, während ich den Pitcher, der gerade zum Wurf ausholte, nicht aus den Augen ließ. Ich würde dem Catcher, der hinter mir hockte, nur den Ball überlassen, wenn er ein Strike wäre. Nur dann! Das sagte ich mir. „Aber dass du wieder da bist“, hörte ich die Frau von neuem. „Wir freuen doch uns so, Muriels kleine Tochter wieder bei uns zu haben. Und das nach all dem …“ Ich holte tief Luft. „Hören Sie, mir ist nicht klar, woher Sie mich kennen, aber ich möchte mit Ihnen nichts zu tun haben. Also lassen Sie mich endlich in Ruhe!“, stieß ich hervor. „Du hast dich verändert. Mädchen, Jeanne, früher warst du nicht so … da warst du … aber jetzt erinnerst du mich dafür an Muriel. Die war manchmal auch so …“ Die Frau sah mich mit großen Augen an und schüttelte leicht mit dem Kopf. Im Geist umfasste ich derweil meinen Baseball-Schläger und versuchte das Holz zu spüren. Daheim in Paris hatte ich ein Autogramm von Derek Jeter, einem der berühmtesten und begnadetsten Spieler der New-York-Yankees. Einige Mal hatte ich ihn im Stadion erlebt. Ich wollte so wie er sein: beherrscht, von nichts aus der Ruhe zu bringen und blitzschnell! „Ich kenne Sie nicht!“, wiederholte ich und packte meinen Einkaufswagen. „Jeanne, nicht so schnell, du benötigst noch mehr!“ Und ehe ich es mich versah, schob der Typ schon wieder meinen Wagen durch die Gänge und ich hatte Mühe ihm zu folgen. „Gestern Nacht ist der Sturm ausgeblieben“, ließ er sich vernehmen und sah kurz zu mir hinüber. „Aber die Gefahr ist noch nicht vorüber. Alle Leute decken sich demzufolge mit Lebensmitteln ein, weil wir nicht wissen, ob und für wie lange wir von der Außenwelt abgeschnitten sein können. Und wir da draußen …“ „Hör auf François“, rief die alte Frau mit brüchiger Stimme dazwischen, „er hat Recht. Ihr da draußen seid noch gefährdeter.“ Ich schwieg und spürte, dass mir die Situation wieder zu entgleiten drohte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. „Jeanne“, hörte ich da den Typen sagen, „es tut mir leid, dass du uns nicht erkennst und dass du nichts mit uns zu tun haben möchtest. Und gestern Nacht … das, das tut mir besonders leid …“ Er sah mich an. Ich schwieg. „Wir wollen dir nichts böses“, fuhr er fort. „Was? Sie denkt, dass wir ihr nicht gut sind?“, warf die Frau ein. Auch der Kerl schwieg. „Aber das ist doch ganz absurd“, fuhr die Frau fort. „Jeanne, wir sind es: François und Claude. Sieh und doch an!“ Die alte Frau unterbrach sich und deutete auf sich und den Typen. Und ich hatte plötzlich den Eindruck, dass sie recht hilflos war. „Und auch wenn du es vorziehst, keinen Kontakt zu uns zu wollen, was ich dir nicht verübeln kann – nach all dem gestern haben Nacht …“, setzte der Kerl wieder an, „dann lass dir trotzdem gesagt sein, dass du auf den Sturm ordentlich vorbereitet sein sollst. Lass mich für dich einkaufen.“ Ich spürte seinen Blick auf mich gerichtet, auch den der alten Frau – zwei Menschen, die mich offensichtlich sehr gut kannten, aber ich, ich hatte keine Ahnung, wer sie waren. „Jeanne, wenn du vernünftig bist, dann lässt du es mich tun.“ Wieder war es der Typ, der zu mir sprach und ich sah auf. Unsere Blicke trafen sich. Ich schätzte ihn auf mindestens 50, wenn nicht gar etwas älter. Und er schien nervös, denn er blinzelte einige Male hinter seiner runden Brille. „Und wer ... wer sind Sie nun?“, brachte sie schließlich hervor. „Endlich fragst du mich das“, erwiderte er und lächelte. „Ich bin François Revier.“ Er reichte mir die Hand, die ich zögernd ergriff. Sein Griff war fest. Das mochte ich. „Und Sie?“, wandte ich mich an die alte Frau. „Das ist Claude Pascale, eine alte Freundin deiner Mutter und mir“, erwiderte der Typ und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Ja, und weiter?“, entgegnete ich und sah, wie sich der Kerl am Kopf kratzte. „Tja, das“, setzte er dann an, „das ist eine lange Geschichte, die ich dir bei Gelegenheit und in aller Ruhe erzählen werde. Ich würde vorschlagen, dass du mal bei dir vorkommst ...“ Er unterbrach sich und sah mich durch seine runde Brille hindurch an. Ich bemerkte, dass seine Augen etwas vergrößert wirkten. Offenbar war er weitsichtig. „Jeanne“, fuhr er fort und deutete auf meinen Einkaufskorb, „und jetzt lass mich richtig für dich einkaufen, denn wir erwarten einen Schneesturm.“ Als ich später vor dem geöffneten Kofferraum meines Kleinwagens stand, sah ich mich einem Übermaß an Lebensmitteln gegenüber. Es würde lange dauern, sie ins Haus zu bringen. Darüber würde es ganz bestimmt Nachmittag werden. Revier hatte mir angeboten, beim Reintragen zu helfen, doch ich hatte abgelehnt. Ich würde es allein schaffen und so war er weitergefahren, nicht ohne die Einladung, die er mir im Supermarkt ausgesprochen hatte, zu wiederholen und mich erneut darauf aufmerksam zu machen, die Fensterläden geschlossen zu halten. Ich hatte genickt, aber er hatte die Scheibe der Fahrerseite noch einmal hinabgelassen und mich lange angesehen. „Es ist wichtig.“ „Ja.“ „Schön, dass du gekommen bist, Jeanne.“ Dann war er gefahren, nur um im nächsten Moment noch einmal zurückzusetzen. „Jeanne, hier ist meine Nummer, falls du etwas brauchst ...“ Wieder hatte er mich lange angesehen und mir waren wieder seine leicht vergrößerten Augen hinter der runden Brille aufgefallen. Sie waren braun. Und er selbst wirkte wie eine Eule und gar nicht mehr so bullig wie am Vortag, als er einen dicken Anorak getragen hatte. Das kleine Papier, das er mir durch das offene Fahrerfenster reichte, ließ ich in meiner Hosentasche verschwinden. „Denk dran, heute Nacht kann es Sturm geben ...“ „So wie gestern Nacht?“ „Schlimmer, viel schlimmer. Mach das Radio an, hör den Wetterbericht und pass auf dich und das Haus auf, okay? Und wenn was ist, dann ...“ Kapitel 4: im Schnee -------------------- Es war seltsam, aber an diesem Abend nahm ich das Haus zum ersten Mal richtig wahr – zuvor war ich ja nur durch die Räume gelaufen und hatte die Fensterläden geschlossen. Doch nun stand ich im holzgetäfelten Flur, hinter mir die Haustür, links von mir die Küche, in der sich eine winzige Sitzecke unter dem Fenster befand. Heute Morgen hatte ich dort mein Frühstück verzehrt, ohne mitzubekommen, dass der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, kippelte. Erst jetzt, als ich mir nach Reviers Weggang eine Mahlzeit bereitet hatte, wurde mir das bewusst. Schuld waren die unebenen Holzdielen. Und unwillkürlich fragte ich mich, ob meine Mutter auch auf diesem Stuhl gesessen hatte oder am Fenster. Erzählt hatte sie mir davon nicht. Warum auch? Es war nicht ihre Art, solche Nebensächlichkeiten zu erwähnen. So hatte sie mir auch nie gesagt, in welchem Zimmer sie gewohnt hatte. Gut, ich hatte auch nie gefragt. Es gab im Obergeschoss drei Räume. Das Gästezimmer und zwei Weitere – beide vollkommen leer. In einem, so vermutete ich, hatten ihre Eltern, von denen sie mir ebenfalls nie etwas erzählt hatte, geschlafen, im anderen wohl sie. Vielleicht in dem mit dem großen Fenster? Hatte sie manchmal an dem gelehnt und hinaus auf die Berge gesehen? Und wo hatte ihr Bett gestanden? Ihr Kleiderschrank? Ihr Schreibtisch und Bücherregal? Dass sie bereits als Mädchen viele Bücher gehabt haben musste, war mir klar. Auch wenn sie darüber nie ein Wort verloren hatte, so ahnte ich doch, dass sich in ihrem Regal kaum sogenannte Mädchenromane wie Hanni und Nanni befunden hatten. Auch keine Geschichten über stolze Araberhengste und deren Besitzerinnen. Ich vermutete eher Jules Vernes und Sir Arthur Conan Doyle darin. Und hatte sie ihre Bücher unter der Bettdecke gelesen – so, wie ich die Biographien von Derek Jeter und Richard P. Feynman, meinem anderen Idol. Wen mochte meine Mutter, als sie Mädchen und Jugendliche war? Dass sie sich für Jungs ihres Alters interessierte, glaubte ich nicht. Eher waren es Größen Robert Koch oder Rudolf Virchow? Wir hatten auch darüber nie gesprochen. Ich wusste nur, dass sie in neuerer Zeit neben ihrer Fachlektüre, die sie ständig in sich hineinfressen musste, wie sie es einst genannt hatte, am liebsten Krimis von Frédérique Audoin-Rouzeau alias Fred Vergas las, einer Autorin nach ihrem Geschmack: unkonventionell, fantasiereich und unglaublich intelligent. Mit einem Buch von ihr konnte sie stundenlang auf der Couch zubringen. Ich vermutete, dass sie auch hier im Wohnzimmer, auf der Couch gesessen und gelesen hatte. Gelesen, gelesen, gelesen – das ganze Wochenende hindurch, bis es zu dunkel wurde und sie das Licht hatte anmachen müssen. Oder hatte sie sich vielleicht den Kamin angezündet? Vielleicht? Das Bücherregal an der Wand gleich neben der Tür hatte sicher einst vielen Büchern Platz geboten. Doch außer einigen Klassik-CDs, die da fast wahllos herumlagen, war es nun leer. Wer mochte ihre Bücher an sich genommen haben? Oder erlag ich einem Irrtum? War meine Mutter seit ihrer Jugend nie wieder hier gewesen? Aber dafür war das Haus in einem zu ordentlichen Zustand. Ich sah mich weiter um in diesem Wohnzimmer. Einen Fernseher gab es hier nicht. Wie auch? Meine Mutter mochte diese Flimmerkiste, wie sie es nannte, nicht. Dafür stand ein Radio auf einer Kommode und ich überlegte kurz, ob ich es sich anmachen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Auch verzichtete ich darauf, mir eine der Klassik-CDs einzulegen. Stattdessen setzte ich mich auf die Couch vor den Kamin, schloss die Augen und spürte, wie müde ich doch war. Klar, die Nacht zuvor hatte ich nicht geschlafen. Und ob ich es wagen konnte, diese Nacht ein Auge zuzutun? Konnte ich diesem Revier tatsächlich trauen? Einen Moment lang lauschte ich in die Stille hinein, dann nickte ich. Ich musste einfach, es blieb mir keine andere Wahl, denn noch so eine Nacht – nein. Ich würde meinen Baseball-Schläger wieder mit ins Bett nehmen und beim kleinsten Geräusch … es würde eine herrliche Nacht werden! Aber was nützte es, mir darüber Gedanken zu machen? Ich hatte anderes zu tun! Ich war mitten im Semester hierher gefahren: die Prüfungen standen noch bevor und ich musste lernen. Besser: mich irgendwie dazu bringen. Denn bereits in Paris hatte ich gespürt, wie ich in meinen Leistungen nachgelassen hatte. Also schlug ich mit der flachen Hand auf die Couchlehne, gab mir einen Ruck, erhob mich und holte mir mein Lehrbuch über Muskelverletzungen. Nicht mein Thema, wohl aber das des Professor, der mich prüfen würde. Doch statt es aufzuschlagen, fragte ich mich, wie so oft in letzter Zeit, warum ich dem Weg meiner Mutter gefolgt war und nicht meinen Interessen? Warum Medizin, dieses Fach, das mich im Grunde nur langweilte und mir, wie ich zugeben musste, auch schwerfiel? Wieder schloss ich die Augen, spürte das Buch auf meinen Knien – es war dick und schwer. Ich wollte nicht daraus lernen. Viel angenehmer war es da, mich neuerlich der Stille hinzugeben. Einfach in sie hineinzulauschen. Schon als Kind hatte ich gern so dagesessen. Und mein Vater hatte dann immer gesagt: „Hörst du wieder den Atomen beim Atmen zu?“ Und ich daraufhin: „Nein, ich gehe die Spielzüge für das nächste Baseball-Spiel durch …“ Mein Vater hatte gegrinst. Seine Art war es nicht, so ruhig dazusitzen. Er hatte immer Hummeln im Hinter. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, denn tatsächlich spürte ich die Müdigkeit sehr heftig und ich befürchtete, dem Drang nicht länger standhalten zu können und mich hier auf dieser Couch hinzulegen. Doch wenn ich das täte, würde ich sofort einschlafen. Und was, wenn ich in der Nacht von einem Geräusch geweckt würde und dieser Revier plötzlich vor mir stünde? Wo war dann mein Baseball-Schläger? Ich öffnete die Augen, sprang auf und sah mich im Raum um, fand ihn aber nicht. Verdammt! So etwas durfte mir nicht wieder passieren! Ich hatte ihn immer bei mir zu haben und auf alles vorbereitet zu sein. Zumal ich – und das fiel mir erst jetzt ein – keinen Schlosser kontaktiert hatte. Verdammt nochmal! Das Haus war ungesichert und ich hockte hier herum und erging mich in Träumereien. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich ging in die Küche: dort lag der Schläger noch auf dem Esstisch. Ich nahm ihn an mich und holte tief Luft. Niemals mehr durfte ich ohne ihn sein! Das hatte mir mein Vater gesagt. Er hatte Recht! Ich versuchte mich zu beruhigen, was mir diesmal nicht gelang. Ich konnte nicht einfach hier stehenbleiben und den Ärger wegatmen. Also schulterte ich meinen Schläger, trat auf den Flur hinaus und öffnete die Haustür. Sofort schlug mir die eiskalte Luft entgegen und ließ mich frösteln, doch ich zwang mich, einen Schritt hinaus zu tun und dann noch einen. Ich hörte den Schnee unter meinen Hausschuhen knirschen. Dann stellte ich mich in Positur, so wie ich es einst vom Trainer gelernt hatte, schloss kurz die Augen und spannte meinen Körper an: da war es wieder, unser Spielfeld auf dem Sportgelände der Highschool … Ich mit dem Schläger in den Händen, den Pitcher genau fixierend. Ich kannte den Typen: er hieß Ronald, war so alt wie ich, und richtig gut. Er hatte die Gabe, die Bälle so zu werfen, dass die Flugbahn nicht gleich ersichtlich wurde. Und sein letzter Wurf war entscheidend. Er wusste das, ich wusste das. Wir beide sahen uns über eine Entfernung von 18 Metern genau ins Auge, während ich den Pitcher in meinem Rücken wusste, der Ronald Zeichen hab, wie er den Ball zu werfen hatte. Ich sah, wie er ansetze. Und ich spannte meinen Körper an und spürte das Holz in meinen Händen. Dann holte er aus und der Ball war in der Luft. „Home Run“, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste einen Home Run schaffen! Alles andere zählte nicht! „Jetzt“, rief ich und ließ den Schläger so wie damals niedersausen und so wie damals meinte ich auch jetzt die Wucht zu spüren, mit der das Holz den Ball traf. Und allein aufgrund dieser Kraft wusste ich, dass der Ball weit, weit ins Feld fliegen würde. Unerreichbar für die gegnerischen Spieler. Es war tatsächlich ein Home Run. Ich hatte es geschafft, aber ich wusste auch, dass es diesmal reiner Zufall war, den Ball getroffen zu haben. Genauso gut hätte ich bei meinem letzten Spiel danebenhauen können und wir hätten verloren. Denn dieses eine Mal hatte ich meine Augen kurz vorm Schlag geschlossen. Warum, das wusste ich bis heute nicht. Wollte ich ausprobieren, ob ich auch blind schlagen könne? Dann wäre ich ziemlich übermütig gewesen. Wieder ließ ich den Schläger der die Luft sausen, wieder und wieder, solange, bis mein Herz zu rasen begann und ich mich die kalte Luft der Kehle schmerzte. Erst dann hockte ich mich hin und nahm etwas Schnee auf und drückte ihn mir ins Gesicht. Ich spürte die eisige Kälte. Es schüttelte mich. Dennoch lehnte ich meinen Schläger an die Hauswand, griff mit beiden Händen in den pulvrigen Schnee und formte ich einen Schneeball. Dann richtete ich mich auf. Zwar war ich kein Pitcher, aber ich liebte den Bewegungsablauf. Diese Eleganz beim Werfen – Ronald hatte die besonders gut zeigen können. Ich weiß nicht, was das zwischen uns gewesen war. Aber immer, wenn wir uns in den Spielen gegenüber gestanden hatten … Na ja, er war vielleicht der einzige gewesen, mit dem ich mir ein Gespräch hätte vorstellen können. Nun war er bei den LA Dodgers tatsächlich Pitcher geworden. Und wieder formte ich einen Ball und warf ihn in die Dunkelheit hinein. Vielleicht hätte ich Ronald einmal bitten sollen, mir zu zeigen, wie er es anstellte, dass seine Bälle immer unberechenbar kamen? Vielleicht. Und vielleicht hätte er es mir tatsächlich gezeigt? Fakt war – und ich formte noch einen Ball –, dass ich ihn in unserem allerletzten Spiel besiegt hatte, auch wenn nur durch Zufall. Nun, vielleicht hatte ich ihn auch einfach provozieren wollen, indem ich ihm zeigte, wie sehr ich seine Tricks durchschauen konnte? Als ich da jetzt so stand, vor dem Haus meiner Mutter, und mit Schnee in den Händen kam mir all das so seltsam und fremd vor und doch wünschte ich mir, endlich wieder auf einem Spielfeld zu stehen. Ich würde mir, sobald ich wieder in Paris war, eine Mannschaft suchen. Kapitel 5: Wanderung -------------------- Am nächsten Morgen fühlte ich mich ausgeruht und frisch – und das, wenn ich ehrlich war, zum ersten Mal seit Wochen, wenn nicht gar Monaten. Ich gähnte, rekelte mich und griff nach meinem Baseball-Schläger, der in der Nacht neben mir gelegen hatte. Diesmal machte ich mir zum Frühstück das Radio an, um den Wetterbericht zu hören: es war kein Unwetter für den Tag vorausgesagt –nur Sonnenschein und blauer Himmel. Warum sollte ich den Tag nicht nutzten? Was hier im Haus herumhängen, wenn doch die Sonne lachte? Und bis 15 Uhr, bis ich bei Revier erscheinen sollte, hatte ich genügend Zeit. Ich würde in die Berge gehen. Erfahrung hatte ich ja. Als wir noch in Kalifornien gelebt hatten, waren mein Vater und ich oft ins Gebirge gefahren. Natürlich wusste ich, dass ich nicht allein gehen sollte, doch ich würde mich ja nicht weit vom Haus entfernen. Nur ein paar Schritte, nur ein wenig Bergluft schnuppern, mich bewegen – das brauchte ich jetzt. Im Grunde liebte ich die Berge – auch wenn mir die hiesige Umgebung fremd war. Doch darüber wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen – der Tag lag vor mir, ich hatte gut geschlafen, fühlte mich gesättigt und wollte hinaus. Also packte ich mir meinen Rucksack, griff dann nach meinem Baseball-Schläger, wog ihn in meiner Hand. Er war nicht leicht und ich wusste, dass er mein Tempo beeinflussen würde, aber wenn ich ihn hier ließe, würde ich mich nicht gut fühlen. Als ich vor die Haustür trat, empfing mich klirrend kalte Luft und der Schnee unter meinen Schuhen knirschte wie in der letzten Nacht auch. Ich sah mich um, erblickte mein Auto und auch die Spuren, die von meiner nächtlichen Aktivität zeugten. Es war ein tolles Gefühl gewesen, den Schläger zu schwingen und mir dabei einzubilden, ich würde wieder im Stadium stehen. Diesen Moment, als mir klar geworden war, dass es ein Home Run war, würde ich nie vergessen. Ich hatte Ronald nur ganz kurz in die Augen gesehen und seine Hilflosigkeit erkannt, die er hinter einer versteinerten Miene zu verbergen suchte, und war rannte los. Unwillkürlich bückte ich mich jetzt, griff in den Schnee, formte einen Ball, stellte mich in Positur und warf ihn. Ich mochte die Choreographie eines Pitchers. Wenn ich nur einmal mit Ronald gesprochen hätte. Aber es hatte sich nie ergeben. So war das eben. Ich holte tief Luft, sah mich noch einmal um, dann ging ich los. Meinen Baseball-Schläger hatte ich im Rucksack verstaut. Ich trat auf die Straße. Rechter Hand ging es ins Dorf, linker Hand höher in die Berge. Ich würde der Straße folgen und wohl irgendwann auch an Reviers Haus vorbeikommen. Es war jetzt 10 Uhr. Fünf Stunden also blieben mir noch, um die Gegend zu erkunden. Und wie es der Zufall wollte, sah ich nach etwa fünf Minuten ein Hinweisschild, das mir einen Rundwanderweg von drei Stunden in die Berge anzeigte. Warum sollte ich dem nicht folgen? Zurückgehen konnte ich jeder Zeit – meine Spuren wurden im Schnee nicht vergehen. Der Pfad, der sich vor mir – unter dem Schnee fast vollkommen verborgen – auftat, führte recht steil über eine Wiese zu einem Waldsaum hinauf. Ich wusste, dass ich mein Lauftempo würde drosseln müssen, um durchzuhalten. Stetiges, wenn auch langsames Steigen war effizienter, als alle fünf Minuten Pausen einlegen zu müssen. Beim Wandern war der Takt das Entscheidende – und das vor allem im Schnee. Ich musste mir meinen eigenen Rhythmus suchen und ihn versuchen zu halten. Sollte ich zu schnell sein und dadurch an Kraft verlieren, musste ich mir das ehrlich eingestehen, sonst würde ich keine Chance haben, diese drei Stunden durchzuhalten. Trotzdem musste ich bald die erste Pause einlegen. Ich hatte Durst und auch ein wenig Hunger. Hinzukam, dass ich leicht zu schwitzen begonnen hatte. Kein schönes Gefühl, wenn einen von außen die Kälte anging und man von innen her kochte. Trotzdem wollte ich weiter, aufgeben kam für mich nicht in Frage. Der Schnee war tief, ging mir bei jedem Schritt bis zu den Waden. Ich schnaufte leise, huckte den Rucksack ab, holte mehrere Male tief Luft. Glasklar war sie und dünn. Ich musste einige Male schnappen, um das Gefühl zu haben, wirklich Sauerstoff aufgenommen zu haben. Derweil sah ich mich um, bemerkte meine Spuren im Schnee – ich hatte bisher nur ein kleines Stück des Wegs geschafft, war noch nicht einmal bis zum Waldrand vorgedrungen. Dort oben, so vermutete ich, würde es leichter gehen. Aber bis dahin galt es noch an die 100 Höhenmeter zu überwinden. Ohne Schnee ein Kinderspiel, doch jetzt … Aufgeben aber kam für mich nicht in Frage. Also huckte ich meinen Rucksack wieder auf und stapfte weiter. Im Wald war es tatsächlich erträglicher. Der Weg verlief flacher und hie und da erhaschte ich sogar einen Blick hinab ins Tal. Ich erkannte zwei Häuser, die in einiger Entfernung voneinander dicht an den Hang gebaut waren: das meiner Mutter und das von Revier, noch etwas weiter bergan gelegen. Und tief unten im Tal: das Dorf, so klein. Ich sah auf meine Uhr: Es war kurz nach 11 Uhr. Eine Stunde hatte ich für das kleine Stückchen Weg benötigt. Gut, Zeit genug blieb mir noch, aber ich ahnte, dass ich den Rundweg wohl in drei Stunden nicht würde schaffen können, denn schon zeigte mir ein neuerliches Schild an, dass ich höher in die Berge steigen müsse. Und wieder blies ich die Wangen auf, denn ich spürte meinen Rucksack nun sehr deutlich auf meinem Rücken. Aber was, wenn ich tatsächlich darauf verzichtet hätte, meinen Baseball-Schläger mitzunehmen und mir etwas passieren würde? Wusste ich denn, wer sich hier herumtrieb? Irgendwann lichtete sich der Wald und vor mir tat sich eine große, von Bergmassiven umsäumte Ebene auf. Und augenblicklich schlug mir ein eisiger Wind entgegen, der mir den Atem raubte. Fröstelnd zog ich mir den Schal hoch vor den Mund und vergrub meine Hände in den Taschen meines Anoraks. Mir war so, als träfen tausender pieckender Eiskristalle im Gesicht. Auch spürte ich, dass Schnee in meinen linken Schuh eingedrungen war und nun zu schmelzen begann. Ich war verschwitzt, fror gleichzeitig und hatte einen nassen Fuß. Ich überlegte, ob ich diese Wanderung tatsächlich fortsetzen sollte. Doch in dem Moment, da ich mich wieder dem Wald zuwenden wollte, bemerkte ich einen See. Ich brauchte nur einige Schritte, um sein Ufer zu erreichen. Von seiner spiegelglatten Oberfläche wirbelte mir der Schnee entgegen. Und obwohl mir auch das unangenehm war, konnte ich doch meinen Blick nicht von der scheinbaren Nebelwand über dem Eis abwenden. Einerseits diese Ruhe, andererseits der Wind, der alles in Bewegung versetzte, der mir an der Kleidung riss und mich eisige Schneeflocken atmen ließ. Unwillkürlich tat ich einige Schritte auf den See hinaus. Ich wusste, dass ich keine Angst zu haben brauchte, das Eis würde halten. Aber dann sah ich plötzlich eine Gestalt zwischen den aufwirbelnden Flocken … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)