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Noise Break

[Demonic Reverie]
von

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Kapitel 11: Endlich verstehst du es


 

Nerida erinnerte sich an ihren ersten Besuch in einer Buchhandlung. Sie war damals fünf Jahre alt gewesen und konnte kaum lesen, dennoch wollte sie unbedingt in einen solchen Laden gehen, nachdem Granya, die Mutter ihrer besten Freundinnen, ihr so viel von ihrem Arbeitsplatz erzählt hatte. Glücklicherweise war ihr Vater auch ein begeisterter Leser – wenngleich er Sachbücher bevorzugte –, deswegen hatte sie ihn nicht lange darum bitten müssen, Granya einmal in ihrer Buchhandlung aufzusuchen.

Es war überwältigend.

Fast bis an die Decke reichende Regale waren mit Büchern gefüllt, geordnet standen sie mit den Rücken zu ihren potentiellen Lesern, in unterschiedlichen Größen, den verschiedensten Farben und Schriftarten, versprachen großartige Abenteuer, die jeden Leser begeistern müssten. In Drehständern warteten aktuelle Bestseller darauf, in die Hand genommen und durchgeblättert zu werden. Auf einem Beistelltisch türmten sich verschiedene Neuheiten, nur darauf wartend, dass jemand ihnen eine Chance gab, von sich zu überzeugen.

Der bloße Anblick all dieser Bücher erfüllte die kleine Nerida mit derart viel Ehrfurcht, dass sie sich nicht traute, auch nur einen Schritt zu machen. Stattdessen blieb sie immerzu neben ihrem Vater stehen, sich an seinem Bein festhaltend, um nicht in einer dieser Geschichten verlorenzugehen. In ihren Augen war diese Buchhandlung vergleichbar mit einem heiligen Ort, sie war sogar überzeugt, dass nach Ladenschluss eine Gottheit hier seine Freizeit verbringen musste. Dies war ein weiterer Grund, nichts dort zu berühren, nur um sicherzugehen, dass dieses übermenschliche Wesen nicht wütend werden würde, weil sie aus Versehen etwas verschob.

Ein ähnliches Gefühl überkam die ältere Nerida nun, als sie um die Ecke bog und sich in einem offenen Raum wiederfand.

Schwebende Kerzen erleuchteten ihn dürftig, enthüllten gestapelte Ordner, die, deren Aufschrift nach, Rechnungen enthielten, und einen Schreibtisch, der für jemanden gedacht zu sein schien, der mindestens fünf Meter groß war. Von der anderen Seite erklang ein genervtes Schnauben, vermischt mit dem stetigen Kratzen eines Stifts auf Papier. Da der Tisch aber zu hoch und im Dunkeln lag, war es ihr nicht möglich, zu sehen, was diese Geräusche verursachte. Außerhalb der Lichtquellen, kurz bevor alles in Schatten versank, waren Bücherregale zu sehen, so wie im Rest dieser Welt; ohne ausreichend Licht war es schwer zu erkennen, aber es wirkte, als reichen sie bis tief in die Finsternis hinein. Bei genauerem Hinsehen wurde Nerida bewusst, dass auf jedem Buchrücken dieselben unverständlichen Buchstaben aufgedruckt waren; sie schienen keinerlei Sinn zu ergeben, sie wirkten nicht einmal wie aus einem ihr bekannten Schriftsystem, also gab sie es auf, sich weiter damit zu befassen. Es war gut möglich, dass es sich hierbei um eine eigene Sprache der Störungen handelte – aber genauso gut war es vielleicht auch nur sinnloses Kauderwelsch. Dafür blieb ihr keine Zeit.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schreibtisch. Was auch immer dort saß war lebendig – außer Nerida das wahrscheinlich einzig Lebendige in diesem Raum – also musste es die Störung sein. Doch wenn es an einem derart großen Tisch saß … wie riesig mochte das Wesen dann erst sein?

Gänsehaut begleitete die sie überkommende Ehrfurcht. Bernices Störung war so groß gewesen wie das Mädchen selbst, auch die anderen bislang von ihr bekämpften Wesen waren in dieser Hinsicht nicht sonderlich außergewöhnlich gewesen – deswegen war ihr nie in den Sinn gekommen, dass es auch anders sein könnte. Nun musste sie das überdenken. Mit dieser Erkenntnis schlich sich auch die Furcht wieder ein, wollte ihr einreden, dass es besser sei, sich zurückzuziehen und so zu tun, als sei das niemals passiert. Wenn sie nicht kämpfte, sondern ihr altes Leben wieder aufnahm, müsste sie sich solchen Situationen nicht mehr aussetzen. Die bekannte Ruhe rief geradezu verführerisch nach ihr – doch dann schob sich Sabias Gesicht vor Neridas inneres Auge, begleitet von ihrer Stimme, der es mühelos gelang, die Ruhe zu übertönen: »Alles wird gut werden, du musst keine Angst haben.«

Wie einem Zauberspruch gelang es dieser Erinnerung, sie wieder tief durchatmen zu lassen. Sie konnte das schaffen – und selbst wenn nicht, wäre immer noch Sabia hier, um ihr zu helfen. Zusammen könnten sie das schaffen, sie musste nur endlich herausfinden, worum es sich bei der Störung genau handelte.

Um den Feind nicht sofort auf sich aufmerksam zu machen, umrundete Nerida mit neu gewonnenem Vertrauen den Tisch so leise wie es ihr möglich war. Ein Überraschungsangriff könnte ihr den sofortigen Sieg einbringen, so hoffte sie – aber vor allem wollte sie sich nicht ahnungslos in den Kampf stürzen.

Als sie ihren Feind schließlich sehen konnte, zuckte sie unwillkürlich zurück. Sie hatte die mögliche Höhe der Störung tatsächlich unterschätzt; auf einem Stuhl hinter dem Tisch saß ein alter Mann mit gräulicher Haut, die sich von seinem hellen Hemd abhob, und der etwa sechs Meter groß war, Reste weißen Haares rahmten seinen Kopf ein. Er konzentrierte sich vornübergebeugt auf seine Papiere, schrieb unablässig mit seinem Bleistift darauf und atmete dabei schwer; alle paar Sekunden rasselte seine Lunge dabei, als stünde sie kurz vor dem Aufgeben, doch er fing sich immer wieder.

Noch hatte er sie nicht bemerkt. Ihr blieb Zeit, nachzudenken, wie sie ihn angreifen sollte.

Sie wich zurück – und da fiel ihr noch etwas anderes ins Auge: Um die Füße des Mannes hüpften unbekümmerte Wesen – etwa sechs davon –, die entfernt an Zahlen mit Gliedmaßen erinnerten; sie waren stark verfremdet, es war kaum noch auszumachen, welche Nummer oder vielleicht Buchstaben sie ursprünglich hatten sein sollen, deswegen war es lediglich eine Art innerer Instinkt, der ihr verriet, dass es so sein musste.

Während Nerida sie anstarrte, in einem unbewussten Versuch sie zu erkennen und einzuordnen, hielten sie alle abrupt in ihren Bewegungen inne. Selbst jene, die gerade in die Luft gesprungen waren, verharrten dort, ohne dass die Schwerkraft einzuschreiten gedachte. Andere waren so sehr zur Seite geneigt, dass sie eigentlich umfallen müssten, taten dies aber nicht.

Neridas Augen huschten über die einzelnen Wesen, verwirrt über diese Bewegungslosigkeit, da sie keinerlei Grund dafür erkennen konnte.

Mit einem Ruck wandten die Zahlen sich ihr zu – obwohl das schwer zu sagen war, da sie keine Gesichter besaßen – und stießen einen lauten Schrei aus. Selbst ohne irgendeine Art von Mund erklang ein ohrenbetäubendes Geräusch, das aus einer einzigen Kehle zu stammen schien, die keineswegs menschlich sein konnte.

Neridas Ohren pulsierten schmerzhaft, ihre Sicht verschwamm ein wenig; sie glaubte zu spüren, wie sogar ihr Gehirn zu vibrieren begann und dabei immer wieder an ihren Schädel stieß. Doch sogar das geriet sofort in Vergessenheit, als der Mann, die Störung, ebenfalls aufmerksam wurde. Er setzte sich aufrecht hin – wodurch er noch riesiger wirkte – und sah nach unten. Der Zwicker, die kleine bügellose Brille auf seiner Nase, reflektierte das Kerzenlicht.

Nerida wich zurück, den Kopf in den Nacken gelegt, um die Störung weiter zu beobachten. Der Mann betrachtete sie ausdruckslos, als wüsste er nicht, worum es sich bei ihr handelte.

Sie wollte weglaufen, gleichzeitig aber auch diesen Auftrag erfüllen, um der Person zu helfen, die unter der Störung zu leiden hatte. Außerdem – und noch viel wichtiger – ging es hier darum, auch ihr selbst zu beweisen, dass sie das alles schaffen konnte, genau wie Sabia. Sie war würdig, an der Seite ihrer neuen Freundin zu kämpfen, sie musste sich das nur selbst beweisen.

Damit spannte Nerida ihren Körper an. Im selben Moment hob die Störung die Hand und deutete auf sie – und die kleinen Wesen schnellten ihr entgegen.

Sie wich mit einem Sprung zur Seite aus, die Zahlen flogen an ihr vorbei. Doch zwei von ihnen streiften sie, ließen eine Linie brennenden Schmerzes auf ihrer Wange entstehen. Die Wunde war nur oberflächlich – das sagte sie sich jedenfalls –, darum sollten ihre passiven Heilkräfte sich kümmern. Mit ihrer aktiven Macht beschwor sie den Revolver und schoss damit auf die kleinen Störenfriede, die sich bereits zu einem weiteren Angriff zusammenrauften. Sie traf zwei von ihnen, aber die anderen sprangen davon, während ihre Kameraden sich in glitzernde Funken auflösten.

Das Gewicht der Waffe war immer noch ungewohnt, egal wie viel Training sie damit inzwischen absolviert hatte, deswegen empfand sie es als Glücksfall, überhaupt damit zu treffen.

Da! Eine Bewegung von der Störung selbst!

Mit einem kurzen Sprint brachte Nerida sich in Sicherheit, kurz bevor die Hand des Riesen den Boden zermalmte, wo sie eben noch gestanden hatte. Ihr blieb jedoch keine Zeit, durchzuatmen: Eine der Zahlen traf auf ihren Rücken, Schmerzen explodierten an dieser Stelle, rosa Sterne zerplatzten vor ihren Augen. Innerlich fluchend wirbelte sie herum und riss den Arm mit ihrem Schild hoch. Die drei anderen Wesen prallten an einem Netz aus wabenförmigen Lichtern ab.

Ich muss aufpassen, sagte sie sich selbst. Wenn sie mich richtig erwischen, genügen meine Heilkräfte auch nicht mehr.

Die Störung sagte etwas, unbekannte Worte, deren Sinn sich Nerida nicht erschlossen, aber als sich der Fuß des Riesen hob und bedrohlich über ihr zum Schweben kam, konnte sie sich bereits denken, was der Inhalt gewesen war: Störende Made!

Eine der verbliebenen Zahlen – möglicherweise jene, die ihren Rücken getroffen hatte – wagte einen erneuten Satz in ihre Richtung. Nerida duckte sich, spürte den Windhauch, als das Wesen über sie hinwegfegte, dann sprang sie selbst nach vorne. Ihr Körper rollte sich wie von selbst ab und richtete sich auch wieder auf, noch bevor sie selbst genau wusste, was passiert war.

Der Fuß der Störung kam wieder auf dem Boden auf – und zerquetschte die Zahl, die sie gerade angegriffen hatte.

Damit habe ich die Hälfte bereits. Aber das reicht nicht.

Sie musste auch die anderen noch töten, bevor sie sich gänzlich ihrem eigentlichen Feind widmen konnte.

Die Störung stieß einen frustrierten Schrei aus, der die verbliebenen drei Wesen zu einem Angriff ermutigte. Nerida hob den Schild, um sie abzuwehren, während sie gleichzeitig den Revolver in der anderen Hand durch ihren Stab mit den Kreisklingen ersetzte. Kaum prallten die Feinde auf ihre Abwehr, riss sie ihre Waffe hoch – und in einem außergewöhnlichen Glücksfall gelang es ihr, direkt zwei Zahlen zu zerschneiden. Wie ihre Kameraden zuvor, lösten sie sich in glitzernde Funken auf, die für einen Moment in der Luft verblieben und dann einfach verglühten.

Bleibt nur noch einer.

Wieder sagte die Störung etwas, das sie nicht verstehen konnte, aber diesmal wurde es nicht von einer Bewegung begleitet, deswegen ignorierte sie diese erst einmal und konzentrierte sich auf die noch verbliebene Zahl. Diese stand in einiger Entfernung zu ihr, bewegungslos, als ob sie Nerida zu mustern versuchte. Glaubte sie, eine Lücke in der Verteidigung gefunden zu haben? Wartete sie auf einen Moment der Unachtsamkeit?

Inzwischen kribbelte Neridas Rücken nur noch ein wenig. Wenn alles richtig funktionierte, würden keine Narben zurückbleiben, nichts, was sie irgendjemandem erklären müsste.

Sofern ich hier wieder herauskomme.

Woher kam dieser plötzliche Selbstzweifel? Fünf ihrer Feinde hatte sie bereits ausgeschaltet, es gab keinen Grund, zu glauben, dass sie nicht auch die letzten beiden schaffen könnte – selbst wenn einer von ihnen riesig war.

Die Störung keuchte laut, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.

Die Zahl schnellte wieder vor. In einem Reflex riss Nerida das Schild hoch. Doch diesmal traf ihr Feind nicht einfach nur auf die leuchtenden Waben: plötzlich aus dem Körper gewachsene Stacheln zerschmetterten das schützende Netz regelrecht, ohne das Wesen wirklich aufzuhalten.

Für einen Wimpernschlag schien es Nerida, als geschähe alles nur noch in Zeitlupe. Die leuchtenden Splitter ihres Schutzschildes schwebten federgleich durch die Luft, ihr Angreifer näherte sich ihr millimeterweise, seine Stacheln reflektierten das sie umgebende Licht, und im Hintergrund krümmte sich die Störung noch immer wegen seines Hustens.

Nerida wirbelte ihre Waffe. Die erste Kreisklinge prallte von den metallenen Auswüchsen ab, beschrieb einen viel zu großen Bogen und erwischte dabei fast Nerida selbst. Nur das rechtzeitige Zurücklehnen ihres Kopfes bewahrte sie vor einem sicherlich tiefen Kratzer auf der Wange.

Die zweite Kreisklinge traf das Wesen dafür perfekt. Mit einem letzten, verzweifelten Schrei löste es sich auf. Diese Funken verweilten für einen kurzen Moment mit den Splittern ihres Schildes und wirkten dabei wie ein überirdischer Zauber, dessen Leuchten dem von unzähligen Diamanten im Sonnenlicht gleichkam. Unwillkürlich streckte Nerida ihre Hand danach aus, um diesem Glanz nahekommen zu können. Doch kaum waren ihre Fingerspitzen davon eingehüllt, lösten sich die Funken und die Splitter gemeinsam auf.

Einen kurzen Moment blieb Nerida noch so stehen, dann ließ sie ihre Hand langsam wieder sinken. Sie konnte es sich nicht erklären, denn sie hatte nichts erwartet, aber sie war doch ein wenig enttäuscht, dass nichts geschehen war und dass sie nichts gespürt hatte.

Doch dieses Gefühl wurde sofort von einem anderen ersetzt, als ihr die Anwesenheit der Störung wieder bewusst wurde. Der Riese hatte sich von seinem Hustenanfall erholt – und in einer viel zu schnellen Bewegung beugte er sich vor und ergriff Nerida. Das geschah alles derart abrupt, dass sie es erst verstand, als sie den Boden unter ihren Füßen verlor, weil die Störung sie hochhob.

Panik nahm ihr gesamtes Innerstes ein. Ohne darüber nachzudenken schlug sie mit ihrer Faust auf die Hand der Störung ein, gleichzeitig versuchte sie mit ihrer Waffe Schaden anzurichten – doch aufgrund des wenigen Spielraums trafen die Kreisklingen hauptsächlich Nerida selbst und schnitten ihr dabei mehrere Haarsträhnen ab.

Der Riese ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hob sie noch höher, brachte sie näher zu seinem Gesicht, um sie eingehender zu betrachten. Sein viel zu heißer Atem strich über sie, brannte in ihrer Nase, ihrer Lunge. Sie hustete, spürte dabei, wie fest er sie in seinem Griff hielt.

In seinen wässrigen Augen lagen keinerlei Gefühle, keine Gnade, kein Erkennen, worum es sich bei ihr handeln mochte. Für ihn musste sie gerade wirklich ein einfacher Störenfried sein, ein Insekt, das es loszuwerden galt.

Zum dritten Mal sagte er etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann erhöhte sich der Druck seiner Hand. Die Panik flammte ein weiteres Mal in Nerida auf, sie musste entkommen, egal, was es kostete.

Sie verwandelte den Stab wieder in den Revolver, doch ihre Schüsse verpufften wirkungslos an seiner dicken Haut, schienen ihn nicht einmal zu interessieren.

Das kann nicht sein!

Etwas in ihrem Körper knackte, ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Lunge. Und die Störung zeigte kein Anzeichen, wieder lockerzulassen.

Panik wurde von Reue verdrängt. Warum hatte sie sich hierauf eingelassen? Warum gab es Menschen, die kämpften, wenn es so schnell gefährlich werden konnte? Warum wollte Darien das?

Ich hätte auf Papa hören sollen.

Sie war noch nicht bereit, aufzugeben, vor allem nicht, da Sabia sich auf sie verließ – wo war sie überhaupt? –, doch die Schmerzen wüteten wie ein Feuer in ihrem Inneren, um dort alles auszulöschen, was sie ausmachte. Es war eine Erlösung, als sie nach einem weiteren Knacken, das Messerspitzen durch ihren Rücken zu jagen schien, jegliches Gefühl in ihren Beinen verlor.

Sie hustete, glaubte, dass ihre Lungen explodieren wollten, schmeckte Blut. Die Kräfte verließen ihre Arme, der ohnehin nutzlose Revolver fiel ihr aus der Hand.

Ich kann nichts tun, absolut nichts.

Doch als ob irgendjemand wirklich ihre Gedanken hätte hören können, erklang plötzlich eine andere, ihr unbekannte Stimme in ihrem Inneren: »Gib nicht auf. Es ist noch nicht vorbei.«

Mit diesen Worten leuchtete der Kristall an ihrem linken Arm auf. Das lilafarbene Licht schien ihr Bewusstsein noch einmal stabilisieren zu wollen, für den Moment waren sogar die Schmerzen in ihrem Oberkörper nur noch ein fernes Pochen. Seit ihrer ersten Verwandlung hatte Nerida diesem Kristall, der ihr Schild materialisierte, nicht mehr viel Beachtung beigemessen, doch nun fiel ihr auf, dass der untere Teil der eckigen Acht mit glitzerndem lila Sand gefüllt war.

Während sie sich fragte, was das bedeutete, spürte sie plötzlich eine Veränderung: ihre Schmerzen ließen nach, bis sie nicht mehr existierten, dafür kehrte das Gefühl in ihren gesamten Körper zurück – und dann stand sie wieder auf dem Boden, in Freiheit, vor dem glitzernden Spektakel, das sich nach dem Tod der Zahl gebildet hatte.

»W-was ist gerade passiert?«, murmelte sie.

Der Sand im Kristall war noch immer im unteren Bereich, aber er leuchtete nicht mehr.

Hatte sie gerade die Zeit zurückgedreht? Oder war es nur ein Traum gewesen, dass er sie in der Hand hielt?

Beides ergab für sie keinen Sinn – aber sie wusste, dass ihr keine Zeit mehr zum Überlegen blieb, als die Funken und die Splitter sich auflösten.

Die Störung beugte sich vor und griff nach ihr. Doch diesmal wich Nerida mit einem Sprung zur Seite aus, dann folgte sie einem Gefühl in ihrem Inneren, das ihr zu helfen versuchte, wie sie hoffte. Sie mobilisierte die Störbrecher-Kräfte, die ihr einverleibt worden waren und sprang auf die Hand des Riesen. Ehe er sie abschütteln konnte, rannte sie den Arm hinauf, direkt auf die Schulter ihres Feindes. Erst hier wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht wusste, was sie nun tun sollte. Ihr Revolver richtete nicht genug Schaden an, könnte ihr Stab da überhaupt etwas ausrichten?

Denk nicht darüber nach, versuch es einfach!

Also folgte sie ihrem eigenen Vorschlag und ließ ihre Waffe wieder erscheinen. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk kreiselte sie den Stab, doch die Klingen kratzten die Haut des Riesen nicht einmal an.

Einen wunden Punkt suchend, bewegte sie sich auf seiner Schulter vorwärts. Er griff wieder nach ihr, verfehlte sie aber, weil es ihr gelang, ein Stück zur Seite auszuweichen. Und dabei entdeckte sie genau das, was sie gesucht hatte: seine Schwachstelle. Direkt auf seinem Nacken prangte eine rot glühende Stelle unter seiner Haut, stach wie ein Stück Kohle in einem erlöschenden Haufen Asche hervor.

Ihr Gehirn wollte ihr direkt ein Dutzend Gründe liefern, weswegen ein solches Geschöpf so etwas haben könnte, ohne dass es als Angriffspunkt diente. Aber ihr Instinkt unterdrückte all das. Sie schwang die Waffe – und die Kreisklingen bohrten sich beide mühelos in die rote Stelle. Eine glühende Flüssigkeit spritzte hervor und traf zischend auf die Haut der Störung.

Der Riese schrie auf, schlug wild mit der flachen Hand nach ihr, doch diesen ungelenken Bewegungen konnte Nerida leicht ausweichen.

Noch einmal trieb sie die Kreisklingen tief in die schwache Stelle, dann riss sie die Waffe gemeinsam mit einigen Fleischbrocken wieder heraus.

Die Arme ihres Feindes fielen herunter, ehe er selbst in die Knie ging. Neridas Füße rutschten aufgrund der Erschütterung unter ihr weg. Panisch griff sie nach einem Halt – und bekam das Hemd zu fassen. Sie klammerte sich daran fest, als der gesamte Körper zu Boden stürzte.

Ihre Hände verkrampften sich, während sie darauf wartete, dass noch etwas geschah, dass er sich wieder aufrichtete oder sie doch noch einmal herunterzuschlagen versuchte.

Doch er rührte sich nicht mehr.

Stattdessen stiegen glühende goldene Funken von ihm auf. Nerida atmete durch, erlaubte sich endlich, ihn wieder loszulassen und vorsichtig von ihm herunterzuklettern. Erst als sie selbst wieder auf dem sicheren Boden stand, wurde ihr bewusst, wie weich sich ihre Knie nun anfühlten. Sie hatte gehofft, sich erfolgreich und großartig zu fühlen, aber im Moment wünschte sie sich nur sehnlichst nach Hause, am besten in ihr Bett, am besten für immer.

Nach und nach verschwand mehr von dem Riesen, zurück blieb eine rote Scherbe, ein Splitter, genau wie bei Bernice. Nerida sog tief die Luft ein – und es kam ihr vor, als atmete sie dieses Ding selbst ein. Es brannte nicht, sondern fühlte sich wunderbar an, erfrischend, stärkend, es gab ihr ein plötzliches Hochgefühl und verscheuchte sogar die Schwäche in ihren Beinen.

Sie nahm den Splitter an sich und plötzlich fühlte sich alles Schreckliche, das sie erlebt hatte, so vollkommen unbedeutend an. Es war einfach nicht mehr wichtig, alles war nun in Ordnung – und sie müsste nur mehr von diesen Bruchstücken sammeln. Mehr, bis endlich fertig war, was auch immer es einmal gewesen war.

»Du hast es geschafft!«

Nerida drehte sich in Richtung des Ganges, der zwischen den Bücherregalen entlangführte. Sabia kam ihr von dort entgegen – und allein ihr Anblick beantwortete die Frage, wo sie gewesen war: Ihr Kleid wies Risse und Flecken auf, während sich einige Strähnen ihres Haares aus ihrer Frisur gelöst hatten.

In Sabias Augen lag ein begeistertes Glühen, als sie Nerida und den Splitter musterte. »Du hast es wirklich ganz allein geschafft!«

Das Bruchstück verschwand, doch das dadurch hervorgerufene Gefühl blieb in Neridas Inneren verankert. Sie nickte. »Es hat gut funktioniert. Kein Problem.«

Jedenfalls war ihr Selbstvertrauen gerade an einem solchen Höhepunkt angelangt, dass sie nicht mehr daran zweifelte, dass der Kampf viel besser gelaufen war, als ihre Erinnerung es ihr sagte.

Sabia umarmte sie für einen Moment. »Ich bin wirklich stolz auf dich. Ich hatte schon Angst, nachdem ich mit den kleinen Laufburschen der Störung beschäftigt gewesen bin und dir deswegen nicht helfen konnte.«

Sie sah sie um Verzeihung heischend an und Nerida musste nicht lange darüber nachdenken. »Ich bin froh, dass dir auch nichts passiert ist. Aber das war wirklich aufregend.«

»Ja, nicht wahr?« Sabias ganzes Gesicht schien zu strahlen. »Endlich verstehst du es~.«

Während sie sich noch so gegenüberstanden, löste die Störung um sie herum sich gänzlich auf. Sie befanden sich wieder in der immer noch leeren Buchhandlung, selbst von dem Verkäufer war nun nichts mehr zu sehen. Gemeinsam warfen sie einen Blick über den Tresen, wo sie den Mann auf dem Boden liegend entdeckten.

»Er atmet noch«, stellte Sabia fest. »Wir werden einem Sicherheitsmann des Einkaufszentrums Bescheid geben, dann gehen wir etwas essen.«

»Geht das wirklich so einfach?«

Lachend tippte Sabia ihr gegen die Brille. »Du bist mal wieder so niedlich besorgt. Natürlich geht das. Wir dürfen das nur nicht zu oft machen, sonst fällt irgendjemandem noch ein Muster auf.«

Tatsächlich war Nerida eher besorgt gewesen, ob sie den Mann einfach auf dem Boden liegen lassen konnten, ohne sicherzustellen, dass es ihm auch wirklich gut ging. Lediglich zu wissen, dass er atmete, beruhigte sie nicht wirklich.

Dann war da aber auch noch dieses absolute Hochgefühl, das von ihr verlangte, ihn zu ignorieren und den errungenen Sieg einfach zu feiern, so wie es ihr zustand.

Schließlich gab Nerida nach und nickte. »Okay, machen wir das so.«

Sabia drückte sie noch einmal, dann ging sie bereits voraus nach draußen. Nerida warf einen letzten Blick auf den Mann hinunter, ehe sie ihrer Freundin folgte. Für den Moment wollte sie nur noch feiern und sich nicht mehr mit anderen Dingen abgeben – besonders da sie ihn nicht einmal kannte.

Deswegen verdrängte sie jeden Gedanken an das Geschehene und behielt lediglich die Hochstimmung in ihrem Inneren, gemeinsam mit dem Wunsch, noch viel mehr davon zu erleben.
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Letztes Kampf-Kapitel für eine laaaange Zeit. Zurück zur Story, die ich jetzt gern vorantreiben würde. :,D Komplett anzeigen

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