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Noise Break

[Demonic Reverie]
von

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Kapitel 10: Du hast dich gut geschlagen


 

»Deine Eltern wollen mich also kennenlernen?« Sabia neigte den Kopf ein wenig, sie wirkte nachdenklich. »Du hast es wirklich nicht so mit Freunden, hm?«

Nerida gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Wie versprochen hatte sie ihren Eltern von Sabia erzählt, worauf diese sich darin einig gewesen waren, ihre Freundin treffen zu wollen. Diese Art übereifrige Eltern kannte Nerida normalerweise nur aus Büchern, aber nun war sie betroffen und sie verstand endlich, weshalb es den Kindern so unangenehm sein konnte.

Warum sie es Sabia ausgerechnet erzählt hatte, während sie sich auf dem Weg zum Einkaufszentrum befanden, wusste sie auch nicht. Das, was sie dort erwarten würde, machte sie wohl derart nervös, dass sie sich hatte ablenken wollen – es funktionierte allerdings nicht sehr gut, in ihrem Inneren fühlte sie immer noch eine unangenehme Leere, die sich auszubreiten schien.

Das endete allerdings sofort, als Sabia ihr endlich eine Antwort gab: »Ich komme gern.«

Die Erleichterung vertrieb die Leere augenblicklich. Doch dann kam eine andere Sorge in ihr auf, die von ihren Eltern in ihrer Begeisterung vermutlich nicht bedacht worden war: »Ich muss dir dazu noch sagen, dass wir in einer ungewöhnlichen … Gegend wohnen.«

Keiner von ihnen hatte bislang Freunde mit nach Hause gebracht, die nicht bereits von Traumbrechern und Athamos wussten. Spätestens wenn man die Eingangstüren hinter sich ließ, erkannte man, dass das Gebäude etwas Besonderes war; da wollte Nerida sie lieber vorwarnen. Sabia vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon okay. Noch ungewöhnlicher als das, was wir hier tun, kann es ja kaum sein.«

In ihrer Stimme lag ein Unterton, der verriet, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. Dann müsste Nerida sie eben aufklären, sobald sie dort waren. Sobald sie in der Eingangshalle standen, kamen bestimmt Fragen auf.

An diesem Nachmittag kamen sie aber zuerst am Einkaufszentrum an. Statt den verlassenen Gang anzustreben, in dem sich der Zugang zur Welt der Störungen befand, ließ Sabia aufmerksam ihren Blick durch das Atrium schweifen. Die verschiedenen Ebenen des Gebäudes waren so aufgebaut, dass die Mitte des Erdgeschosses freilag. Dort war eine Naturanlage errichtet worden; kunstvoll gestutzte junge Bäume und Büsche wurzelten in einer flüssigen Nährlösung, die durch LED-Lichter in unterschiedlichen Farben beleuchtet wurde. Darum herum waren Bänke aufgebaut, die den einkaufenden Besuchern etwas Ruhe gönnen sollten. Von oben fiel zwar natürliches Sonnenlicht durch eine gläserne Kuppel, es wurde jedoch von all der künstlichen Beleuchtung verdrängt, so dass es vollkommen unerheblich geworden war. Nerida mochte diesen Ort nicht, aber sie stellte ihn sich schön vor, wenn man nachts dort war und keine anderen Lichter mehr brannten.

Andererseits wäre es sicher auch unheimlich.

Und das vermied sie dann lieber.

Gemeinsam mit Sabia saß sie auf einer der Bänke und beobachtete die anderen Menschen. Sie spürte das charakteristische Prickeln auf ihrem Rücken, also musste wirklich eine Störung in der Nähe sein, aber bislang war es ihr nicht gelungen, herauszufinden, wer von all diesen Leute sie verursachte. Es wurde nicht stärker, aber auch nicht schwächer, und sah dadurch wie eine Zeitverschwendung aus.

»Normalerweise«, erklärte Sabia, »ist es fruchtlos, auf diese Art und Weise eine Störung zu suchen, aber bei unseren letzten Besuchen habe ich sie bereits gespürt.«

An diesem Tag sollte Nerida erstmals die Störung einer Person beseitigen, was sie weiterhin nervös machte. Was, wenn sie einen Fehler beging? Oder sie nicht gegen den Feind ankam, weil er stärker war als die herumwandernden Wesen auf der anderen Ebene? Am liebsten hätte sie mit jemandem darüber gesprochen, der bereits solche Fragen mit sich ausgemacht hatte, aber das war ihr nicht möglich, ohne anderen zu verraten, was sie tat – und das ging auf keinen Fall, sonst erfuhr am Ende ihr Vater etwas davon. Seine Enttäuschung wollte sie sich gar nicht ausmalen, so sehr wie er sich dafür einsetzte, dass Konflikte mit anderen Wesen auch gewaltlos beigelegt werden könnten. Sabia konnte sie deswegen auch nicht fragen, denn diese schien sich mit so etwas gar nicht auseinanderzusetzen, genau wie Darien vermutlich. Also blieb sie damit vollkommen allein.

Sie wurde aus diesen Gedanken gerissen, als Sabia ihr vorsichtig gegen die Stirn tippte.

»Manchmal«, sagte sie leichthin, lächelnd, »runzelst du die Stirn, als ob du alle Sorgen der Welt auf deinen Schultern trägst.«

Nerida blinzelte und versuchte, ihre Stirn wieder zu glätten. »Das ist übertrieben.«

»Finde ich auch«, stimmte Sabia zu, schien aber etwas anderes zu meinen, wie Nerida schnell klar wurde, als sie fortfuhr: »Du hast die Möglichkeit, in einer so friedlichen Zeit zu leben, in Freiheit, du solltest das genießen, statt dir immer Sorgen zu machen.«

Während sie das sagte, wanderte ihr Blick über all die Leute, die ihren eigenen Existenzen nachgingen. Man mochte es ihnen nicht ansehen, weil die meisten von ihnen gerade müde wirkten, aber Nerida glaubte, dass sie zufrieden waren. Das war nicht dasselbe wie glücklich, aber es war besser als unglücklich.

Mehr Gedanken machte sie sich aber über den Ton in Sabias Stimme. Es klang, als spräche sie aus Erfahrung und hätte selbst einmal erlebt, wie es war, in einem Kriegsgebiet zu leben. Dabei wurde ihr bewusst, wie wenig sie eigentlich über Sabia wusste. Hatte sie schon immer hier gewohnt? Was war mit ihrer Familie über die sie nie sprach? Und wie war sie zur Störbrecherin geworden?

Es erschien ihr angebracht, Sabia einmal danach zu fragen, aber vielleicht nicht gerade in diesem Moment, da sie schließlich nach einer neuen Störung suchten, die sie beheben könnten. Auf dieses Thema sollte Nerida die Unterhaltung auch wieder lenken, bevor sie zu sehr abdrifteten, selbst wenn dadurch die Nervosität wieder in ihr entflammte: »Du sagtest vorhin, du hättest es schon die letzten Male gespürt. Vielleicht ist es dann ja kein Besucher, sondern ein Angestellter.«

»Oh.« Sabia fuhr sich mit einer Hand über die Wange. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Gut, dass du das übernimmst.«

Es war eigenartig, für ihre Gedanken gelobt zu werden, vor allem wenn sie nur derart offensichtlichen Wegen folgten. Aber möglicherweise wanderten die von Sabia in gänzlich anderen Sphären, weswegen sie dieses Offensichtliche nicht sehen konnte. Wo genau befanden sie sich wohl in diesem Moment? Irgendwann müsste Nerida versuchen, auch das zu lernen.

Sabia erhob sich abrupt. »Gut, finden wir mal heraus, wo die Person arbeitet. Wenn wir das erledigt haben, können wir dann auch noch was essen gehen.«

Nerida wäre gern ebenso zuversichtlich gewesen, stattdessen war sie immer noch besorgt. Doch dafür war nun keine Zeit. Sie schloss sich ihrer Freundin direkt an, als diese loslief, an den einzelnen Läden – hauptsächlich Bekleidungsgeschäfte oder kleinere Restaurants – vorbei. In der unteren Etage änderte sich nichts an dem Prickeln, hier war wohl niemand die gesuchte Person, weswegen sie in den ersten Stock hinauf gingen. Dort – zwischen Multimedia-Läden, Friseuren und Reisebüros – wurde es ein wenig intensiver, erreichte jedoch immer noch nicht den Grad, der mit Störungen normalerweise einherging.

»Sabia«, begann Nerida vorsichtig, nachdem sie eine Weile schweigend umher gelaufen waren, »glaubst du, ich kann das wirklich schaffen?«

Ihre Freundin wandte sich ihr zu, mit einem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht. »Warum zweifelst du immer so sehr an dir? Du hast dich in den Tests gut geschlagen, also sollte es keine Probleme dabei geben, wenn du dich einer richtigen Störung entgegenstellst.«

Woher nahm Sabia nur diese Zuversicht, besonders wenn sie selbst diese nicht empfand?

Sie kam nicht dazu, sie das selbst zu fragen, denn plötzlich wurde das Prickeln derart intensiv, dass Nerida unwillkürlich ihren Arm verdrehte, um sich selbst an den Rücken zu greifen. In dem Moment blieb Sabia stehen und musterte das Geschäft vor dem sie gelandet waren. Es war ein Buchladen, der sich auf wissenschaftliche Literatur spezialisiert hatte, wie es aussah. Da er mit Ausnahme eines Verkäufers jedoch vollkommen leer war, sah es nicht nach einer sehr ertragreichen Idee aus. Hinter dem Tresen saß ein Mann mittleren Alters, unablässig auf einen Monitor starrend, während er sich hin und wieder an seinem stoppeligen Kinn kratzte.

»Das muss er sein«, sagte Sabia. »Bei einem so erfolglosen Geschäft muss man wohl durchdrehen.«

Dutzende von Leuten liefen an den offenen Türen vorbei, aber niemand beachtete den Laden.

Natürlich, fuhr es Nerida durch den Kopf. Die Leute wollen sorglos einkaufen und sich nicht um die Wissenschaft kümmern.

Ganz davon abgesehen wie teuer einige der Exemplare waren, die im Schaufenster ausgestellt wurden. Wie konnte jemand auch nur denken, das sei eine gute Idee? Nerida empfand durchaus Neugierde, was einzelne Themen anging, aber leisten konnte sie sich kein einziges dieser Bücher – und außerdem hätte Darien schon ihr Interesse daran als Faktor gewertet, dass dieses Geschäft zum Scheitern verurteilt war.

»Sollen wir uns darum kümmern?«

»W-während der Laden offen ist?«

Sabia sah Nerida lächelnd an. »Es wird niemand bemerken, vertrau mir. Also?«

Sie ging bereits einen Schritt auf die Tür zu, da wurde sie noch einmal von Nerida aufgehalten: »Was soll ich tun, um die Störung hervorzurufen?«

»Keine Sorge.« Sabia warf einen Blick über ihre Schulter. »Darum kümmere ich mich schon.«

Ohne jedes weitere Wort zuzulassen schritt Sabia voran in den Laden, Nerida folgte ihr schnell, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beachtete.

Der Mann löste sich von dem Bildschirm und sah sie entgeistert an. Sicher konnte er nicht nur nicht fassen, dass er Kunden haben sollte, sondern dass es sich dabei um zwei so junge Mädchen handelte. Nerida sah verlegen von einem Regal zum anderen und entdeckte dabei weitere Bücher, die ihr gefallen könnten, wenn sie nicht derart teuer wären; sie müsste in der Bibliothek nach ihnen Ausschau halten.

»Wie kann ich euch helfen?«, fragte er freundlich, wenngleich die Überraschung immer noch deutlich in seiner Stimme mitschwang.

»Wir sind wegen einer dringenden Angelegenheit hier«, erklärte Sabia. »Ich möchte Sie deswegen um Ihre Kooperation bitten.«

Er runzelte die Stirn, genau wie Nerida.

»Was soll das denn heißen?«, hakte er nach.

In einer lautlosen Lichtexplosion nahm Sabia ihr Aussehen als Störbrecherin an und hielt dem Mann dann die Pistole entgegen. »Das dauert nur eine Sekunde.«

Seine Augen weiteten sich, er wich zurück, hob die Arme und wollte scheinbar noch etwas sagen, genau wie Nerida – doch da gab Sabia bereits einen Schuss ab. Die helle Energiekugel fegte durch seinen Kopf, gleichzeitig verlor die Welt ihre Konturen und verschwamm vor Neridas Augen.

Plötzlich gab es kein Oben oder Unten mehr, keinen festen Punkt, den sie fixieren konnte. Es war vollkommen anders als der Übergang in Bernices Störung und es erfüllte sie mit einer Furcht, die so riesig wurde, dass sie Nerida zu übernehmen, zu ersticken drohte. Sie glaubte, dass sie fiel, in alle Richtungen gleichzeitig, so dass ihr Körper auf unnatürliche Weise gestreckt wurde. Vielleicht hatte Sabia einen Fehler gemacht, und sie würde nun dafür hier sterben. Oder – noch schlimmer – für immer in dieser Ebene existieren müssen.

Gerade, als sie befürchtete, niemals wieder in irgendeine Realität zurückzukehren, formten die ineinander überfließenden Farben eine neue Welt, die feste Punkte bot, an denen sie sich orientieren konnte. Riesige Bücherregale verloren sich in der Unendlichkeit, in der es keinerlei Boden zu geben schien, im Hintergrund, vor wellenschlagenden Aquarellfarben, schwebten offene Bücher umher als wären sie Mauersegler.

Nerida selbst stand nun auf Papier, das sich um die Regale wand und damit einen Weg durch diese Welt bildete; ein genauerer Blick offenbarte Nerida, dass es sich um eine Rechnung handelte, deren Betrag allerdings nur aus unsinnigen Zeichen bestand.

Als sie sich umsah, entdeckte sie dann auch ihre Freundin, die immer noch neben ihr stand, als wäre sie nie fort gewesen. Sabia hatte eine Hand in ihre Hüfte gestemmt und sah in die Ferne. Mit ihrer anderen Hand wirbelte sie die Feuerwaffe immer wieder in die Luft, um sie dann aufzufangen. Ihr Gesicht verriet keinerlei Reue, sondern eher ungebrochenen Stolz.

»War das wirklich der richtige Weg?«, fragte Nerida. »Hätten wir die Störung nicht anders hervorrufen können?«

Ihre Freundin richtete ihre Aufmerksamkeit nun endlich auf sie. »Das geht natürlich, aber es hätte ewig gedauert. Schau dir nur an, wie lange es bei Bernice dauerte.«

Nerida wollte ihr erwidern, dass es nur wenige Minuten gedauert hatte, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie das nicht wissen konnte. Vielleicht war Bernices Zustand nicht so überraschend gekommen, wie sie glaubte, und sie hatte die Anzeichen nur nicht bemerkt. Wie sollte sie auch?

»Hast du den Übergang gut überstanden?«, fragte Sabia, als keine Erwiderung mehr kam.

Nerida nickte, murmelte ein undeutliches »Es ging so« und legte sich eine Hand auf ihr Herz. Sabias Blick wurde ein wenig weicher. »Daran gewöhnt man sich nach einer Weile. Ich hätte dich vorgewarnt, aber man kann es so schlecht erklären.«

Nerida war sich selbst nicht sicher, ob sie es verstanden hätte. Vermutlich war es dasselbe mit Athamos und da hatte sie auch bereits beschlossen, abzuwarten, bis ihre Freundin es einmal selbst sehen konnte. Also verstand sie diese Erklärung gut.

»Jetzt mach dich fertig«, forderte Sabia. »Dann sehen wir mal, wie du dich gegen eine ausgewachsene Störung schlägst.«

Nerida fühlte sich immer noch unsicher, aber wenn sie die Mission erfüllte, käme sie auch bald wieder in die wirkliche Welt zurück. Also verwandelte sie sich endlich selbst. Mit ihrer Waffe in der Hand wurde sie tatsächlich auch ein wenig selbstsicherer. Sie könnte das schaffen, sie müsste nur daran glauben und sich Mühe geben.

Sichtlich zufrieden deutete Sabia in die Entfernung. »Ich spüre die Störung dort hinten.«

Ansonsten sagte sie nichts mehr. Nerida nahm das als Aufforderung wahr und folgte der Anweisung sofort. Mit vorsichtigen Schritten lief sie auf dem unebenen Boden los, bis sie sicher war, dass sie nicht einfach stürzen würde, dann rannte sie. Das Ziel schien ihr noch in weiter Ferne zu liegen und sie wollte das so schnell wie möglich ändern.

Es war ihr bereits beim Training aufgefallen, aber die Kräfte, die ihr verliehen worden waren, mussten auch ihre unsportliche Seite ausgeglichen haben. Selbst nach mehreren hundert Metern fühlte ihr Körper sich noch leicht an, ihre Knie schmerzten nicht und ihre Lungen versorgten sie zuverlässig mit Sauerstoff ohne zu brennen und nach Erlösung zu betteln. Daran könnte sie sich tatsächlich gewöhnen, glaubte sie.

Noch während sie dieses euphorische Gefühl genoss, änderte sich etwas an der Atmosphäre des Ortes. Bislang war sie angespannt, aber friedlich gewesen – nun wurde sie bedrohlich. Die Aquarellfarben des Hintergrunds verdeutlichten dies, indem sie rötliche Töne annahmen und keine Wellen mehr schlugen, sondern gezackte Linien erschufen, ehe sie ineinander verschmolzen. Nerida blieb abrupt stehen und sah zu den gleitenden Büchern hinauf. Plötzlich schienen sie ihr wesentlich größer als noch zuvor – und auf ihnen befanden sich verzerrte Störungen, ähnlich des weißen Rauschens eines Fernsehers, aus denen schwarze Gelenke wuchsen. Sie waren grobe Striche, die aneinanderhingen, als hätte ein Kind versucht, ein Strichmännchen zu malen und die Bücher dabei als Körper verwendet.

Neridas Hand verkrampfte sich um ihre Waffe. Die Bücher – es mochten etwa ein halbes Dutzend sein – schienen sich ihr zuzuwenden. Für einen Wimpernschlag musterten sie Nerida – und dann rasten sie gemeinsam auf sie zu.

Ihrem Instinkt folgend sprang sie zur Seite und riss gleichzeitig ihre Waffe hoch. Das Sägeblatt an einem Ende zerfetzte den Einband des ersten Buches. Ihre Brust zog sich ein wenig zusammen, aber für Sentimentalität blieb ihr keine Zeit. Zwei weitere Bücher hatten sie bereits erreicht, scheiterten jedoch an ihrem Schild, als sie den Arm hochriss. Benommen taumelten sie zurück und wurden ein leichtes Ziel für einen Schlag ihres Stabs. Sie wirbelte die Waffe in ihrer Hand, so dass die Sägeblätter rotierten und ihre Angreifer regelrecht zerfetzten. In den nun um sie schwebenden Blättern wurde es schwerer für sie, die anderen Bücher zu sehen, deswegen konzentrierte sie sich auf ihr Gehör. Glücklicherweise war dieses besser als ihre Augen; sie warf zwei weitere Bücher mit einfachen Schlägen beiseite – und spürte dann einen Schlag in ihren Rücken. Im nächsten Moment packte etwas ihr Haar und zog mit voller Wucht daran, ihr gesamter Kopf schien in Flammen aufzugehen. Sie stieß einen Schrei aus und griff automatisch mit der freien Hand über ihre Schulter, doch das Wesen entging ihrem hektischen Tasten.

Etwas Spitzes stach in ihre Schulter, klebrige Flüssigkeit breitete sich unter ihrer Kleidung aus. Gemeinsam damit wuchs die Anspannung in ihrem Inneren, es nicht schaffen zu können, egal wie gut der Großteil bislang verlaufen war. Wenn sie diesen Kampf schon verlor, wie sollte sie dann für irgendjemanden nützlich sein? Das durfte einfach nicht sein.

Du kannst das ganz einfach ändern, flüsterte ihr die altbekannte Stimme in ihrem Inneren ihr zu. Du musst dafür nur deine ganze Kraft erwecken.

So weit wollte sie es nicht kommen lassen. Vor allem nicht jetzt schon, wenn sie nicht mal ihren ersten richtigen Kampf beendet hatte. Mit dem Teil ihres Verstands, der noch nicht von den Schmerzen vereinnahmt worden war, kämpfte sie gegen diese Stimme an.

Doch das Flüstern wurde immer eindringlicher und das Stechen immer schmerzhafter; das Buch biss in ihre tastenden Finger, ein leises Knirschen erklang dabei. Wie sollte sie dem noch lange standhalten? Sie war nur eine einfache Person, niemand, der so etwas hier tun sollte, und -

Ein Schuss unterbrach ihre Gedanken. Das Ziehen an ihrem Haar ließ augenblicklich nach. Schmollend verschwand die Stimme wieder tief in ihrem Inneren.

»Alles okay?« Sabia trat neben sie. Sie hielt die Pistole immer noch in ihrer Hand, mit der anderen richtete sie Neridas zerzaustes Haar.

Es fiel ihr noch ein wenig schwer, wieder in die Realität zurückzukehren, in der es keinen Kampf gab, in der sie in Sicherheit war. Die Finger ihrer rechten Hand waren schmerzhaft um ihre Waffe verkrampft, die ihrer linken waren leicht angeschwollen. Auf dem Boden lag das nun zerfledderte Buch neben seinen Artgenossen, die von Nerida besiegt worden waren.

»Du hast dich gut geschlagen«, versicherte Sabia ihr, als sie wieder von ihrem Haar abließ. »Das letzte war nur ein schlechter Verlierer.«

»Ja.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder, so leise und brüchig wie sie war. »W-warum sind diese Gegner so … anders als die auf der anderen Ebene?«

Dort wären sie nicht auf die Idee gekommen, sie von hinten anzugreifen, während sie mit den anderen Feinden beschäftigt war. Sie schienen eher dumm.

Sabia stemmte eine Hand in ihre Hüfte, sie zog ihre Brauen zusammen. »Ich schätze mal, das hängt damit zusammen, wie stark verbunden die Störung mit ihrem Wirt ist. Unser Trainingsplatz ist ja losgelöst von einzelnen Menschen. Aber wenn sie derart verbunden bleiben, gewinnen sie wohl schneller an Stärke.«

Die Antwort war nicht zufriedenstellend, was Sabia ihr offenbar ansah: »Es wäre viel einfacher, wenn wir einen Forscher hätten, der sich damit auseinandersetzt. Ich bin darin leider nicht so begabt.«

Sie lachte und zwinkerte Nerida zu. »Dabei sind meine Eltern beides Forscher; ich bin eine ganz schöne Enttäuschung, nicht wahr?«

Endlich erfuhr sie mehr über Sabia! Nerida hätte am liebsten einen euphorischen Schrei ausgestoßen, so wie Darien in ihrer Situation wohl, aber zum einen war sie nicht so – und außerdem blieb ihr dafür keine Zeit, da ein wildes Grollen durch diese Welt hallte.

»Die Störung wird sauer.« Sabia hob ihre Pistole. »Wir sollten uns um sie kümmern.«

Neridas fragender Blick wurde von ihr direkt beantwortet: »Ich werde dich natürlich erst einmal allein kämpfen lassen, aber wenn ich merke, dass du meine Hilfe brauchst, werde ich dich nicht einfach im Stich lassen.«

Das zu hören beruhigte Nerida tatsächlich. Selbst wenn sie wieder in eine solche Situation kämen, könnte sie erneut auf ihre Freundin vertrauen. Deswegen nickte sie motiviert, statt sie zu bitten, sie einfach nach Hause gehen zu lassen. Sie steckten gemeinsam in dieser Sache. Und gemeinsam setzten sie ihren Weg über den unebenen Boden fort, weitere Angriffe blieben aus.

Je näher sie dem Kern kamen, desto finsterer wurde die Umgebung. Die riesigen Bücherregale rückten dichter zusammen, bildeten Labyrinthe, deren finstere Gänge wie tödliche Fallen schienen. Nerida sah in einen solchen hinein, entdeckte aber nur Dunkelheit, die jedes Licht verschluckte. Zwei glühende Kohlen starrten ihr entgegen, begleitet von einem leisen Knurren. Sie zuckte zurück, richtete den Blick wieder nach vorne und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Wenn sie sich zu viele Sorgen um das machte, was in den Schatten lauerte, störte sie das nur bei ihrer Aufgabe.

Kurz bevor selbst der Hauptgang in Finsternis getaucht wurde, als nur noch ein diffuses Licht wie von unzähligen Kerzen alles erleuchtete, knickte der Weg nach rechts ab. Sabia blieb stehen. »Wenn du weitergehst, triffst du auf die Störung.«

Nerida zögerte. Wieder kam ihr der Gedanke, dass sie hierfür nicht geeignet war, dass sie lieber zu Hause oder in der Bibliothek sitzen sollte. Doch ehe die Stimme sich wieder melden konnte, tippte Sabia ihre inzwischen nicht mehr schmerzende Schulter an. »Denk daran: Du gehst nur vor. Ich bin direkt hinter dir. Sobald ich sehe, dass du es nicht unter Kontrolle hast, werde ich eingreifen.«

Da Nerida sich weiterhin nicht rührte, lächelte Sabia wieder herzlich. »Alles wird gut werden, du musst keine Angst haben. Ich bin bei dir.«

Das war sie wirklich. Nerida wusste das, es gab keinen Grund, zu zweifeln. Das Gefühl erfüllte ihre Brust mit Wärme und gab ihr die Sicherheit, es wirklich schaffen zu können. Wenn nicht allein, dann doch mit Sabia – und so könnte der Kampf enden. Für diesen Weg hatte sie sich entschieden, nun sollte sie ihm auch folgen.

»Gut«, sagte sie daher schließlich, »ich gehe vor.«

Diesen Vorsatz setzte sie sofort in die Tat um, sie lief weiter, um sich der Störung zu stellen, egal in welcher Form sie sich zeigen würde.
 



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