Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 17: Eine andere Art von Nähe ------------------------------------ „Ich hab Hunger. Lass uns was essen gehen“, verkündete Chandra nuschelnd gegen die weiße, voluminöse Decke, die sie gegen ihren Körper gepresst hatte. In der letzten halben Stunde war dieser ziemlich erhitzt gewesen, aber allmählich fing sie ein wenig zu frösteln an, so ganz ohne Kleidung auf ihrer Haut. Das Kissen neben ihr raschelte, als Zayn seinen Kopf zu ihr drehte. „Ist das etwa eine Einladung?“, fragte er neugierig. Sie rollte sich auf die linke Seite und grinste ihrerseits verschlagen. „Möchtest du etwa für deine überaus guten Dienste mit einem Essen bezahlt werden?“ Er gab einen Seufzer der Zufriedenheit von sich und sah anschließend nach oben. „Klingt nach einer guten Idee.“ Chandra murmelte eine Zustimmung und grub sich noch tiefer in ihre Decke. Sie war Zayn sehr nahe – und das nicht nur körperlich, wie sie in einem Anflug von Erschrockenheit feststellte –, aber es durchströmte sie zugleich die Erkenntnis, dass ihr das erheblich weniger ausmachte als noch vor einigen Wochen. Bei ihrem letzten gemeinsamen, wohlgemerkt notwendigen, Aufenthalt in einem Hotel hatte sie den Gedanken, mit ihm in einem Bett zu schlafen, als fürchterlich empfunden, und nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hatte sie ihm danach auch nicht näher als nötig sein wollen. Aber jetzt fand sie vielmehr den Gedanken komisch, bewusst auf Abstand zu gehen, ganz so, als wollte sie leugnen, dass ihr Interesse zuvor ein ganz anderes gewesen war. Das war doch albern; sie musste sich nicht für etwas schlecht fühlen, das ihr Spaß machte. Hatte sie ja sonst auch nie. Und deswegen musste sie sich auch nicht fragen, weshalb sie so häufig Zayns Nähe suchte, während sie diese vor wenigen Wochen noch nicht länger als nötig hatte dulden wollen. Die eine Tatsache bedingte nun mal unweigerlich die andere. Aber als sie mit fast schon nervöser Inbrunst versuchte, sich dies einzureden, musste sie auch begreifen, dass sie das keinesfalls grundlos tat. Es beschlich sie nämlich allmählich eine leise Furcht davor, was sie tun sollte, wenn alles ganz anders wäre, als sie es sich einzureden versuchte. Was sollte sie tun, wenn … „Wieso starrst du mich mit diesem ernsten Gesichtsausdruck an? Das ist fast ein bisschen unheimlich“, rissen sie Zayns irritierte Worte aus ihrem inneren Wirrwarr. Ertappt zuckte Chandra zusammen und begriff, dass sie ja nach wie vor zu ihm sah. Dabei hatten ihre Gedanken in den letzten Minuten das Bild vor ihren Augen überschattet – sie hatte ihn nicht wirklich angestarrt, aber für ihn musste es so wirken, als könnte sie sich gar nicht von seinem, zugegebenermaßen sehr ansehnlichen, Anblick lösen. Verdammt, schon wieder so eine peinliche Aktion ihrerseits. Stumpf in der Gegend umherstarren, und zu allem Überfluss kündigte sich nun mal wieder auf verräterischste Weise eine altbekannte Röte auf ihren Wangen an. „Ist doch egal“, murrte sie und fügte, erleichtert, dass ihr das einfiel, hinzu: „Du solltest vielleicht deiner Mutter Bescheid sagen, dass wir erst morgen wiederkommen. Das letzte Mal, als du ohne eine Erklärung gegangen und nicht wiedergekommen bist, warst du in Pyritus – ich denke nicht, dass du ihr diesen Schrecken noch mal bereiten willst.“ Sie war bereits vom Bett aufgestanden, die Decke eng um sich gezogen. Sie belegten zwar ein Zimmer in einer sehr hohen Etage und es war ausgeschlossen, dass sie durch die Fenster irgendjemand sehen würde, aber nun behagte ihr der Gedanke doch nicht mehr so, ohne Decke durch das Zimmer zu laufen. „Hm, stimmt wohl“, meinte Zayn und ergab sich in sein Schicksal, während sie bereits mit ihren Sachen das Bad gegenüber ansteuerte. „Aber was soll ich ihr schreiben?“ Als hätte sie ihn bereits nicht mehr gehört, schob sie sich mit der Decke durch die Tür und schloss diese hinter sich. Das war glücklicherweise nicht ihr Problem. Schließlich war das alles seine Idee gewesen – hierherzukommen, hierzubleiben. Nachdem sie an den großen, kreisrunden Spiegel getreten war, stellte sie fest, dass sie doch etwas zerzaust und mitgenommen aussah. Positiv mitgenommen zwar, aber dennoch. Sie machte sich an die Entwirrung ihrer Haare und vermied dabei den Blick in ihre grünen Augen. Irgendwie war es ihr unangenehm, sich länger als nötig anzusehen. Ein wenig genervt über ihre neuartige Empfindlichkeit wusch sie sich – wobei sie feststellte, dass die Handtücher hier im Badezimmer gelagert waren, sehr schön – und seufzte dabei. „Scheiß auf die Prinzipien.“ Als sie sich etwas frischgemacht und vor allem wieder angezogen hatte, wagte sie doch wieder den Blick in ihr Gesicht. Sie nahm es in die Hände und wiegte es zu allen Seiten, betrachtete sich gründlichst. Sie sah aus wie immer und doch erschien ihr ein Teil von ihr fremd, sie erkannte sich kaum wieder. So vieles hatte sich zuletzt geändert, in einem enorm schnellen Tempo. Besonders deutlich wurde das, als sie einfach, ohne sich eines Grundes bewusst zu sein, anfing zu lächeln. Wie eine Idiotin stand sie hier, lächelte ihrem Selbst entgegen und fühlte angenehme Wärme auf ihren Wangen. Dann aber riss ein Klopfern an der Tür Chandra aus ihrer Seligkeit, und sie schreckte auf. „Hey, du meintest, du hast Hunger, also nicht wieder drei Stunden! Zufälligerweise habe ich nämlich auch Hunger“, hörte sie Zayns latent genervte Stimme durch die Tür. Augenverdrehend schnappte sie sich ihren Kram, öffnete die Türe und drückte ihm die Decke entgegen, die sie ja mit ins Bad geschleppt hatte. „Hey!“, protestierte er mit dumpfem Ton hinter der Decke. „Du wolltest, dass ich rauskomme“, trällerte sie fröhlich und flog förmlich zu ihrer Handtasche. Zayn warf die Decke auf das strahlendweiße Doppelbett, das ebenso hell war wie der Rest des Mobiliars, während die Wände und die seidenen Vorhänge vor den Fenstern in einem beruhigenden Anthrazit gehalten waren. Auf einem runden Glastisch, flankiert von zwei ebenso transparenten Stühlen und links vor dem Fenster gelegen, stand ein roséfarbenes Blumengesteck, das dem Zimmer einen unzweifelhaften Farbklecks verlieh. Während Chandra im Bad gewesen war, hatte Zayn sich ebenfalls wieder angezogen, was ihr sehr recht war, und das nicht etwa, weil sie die Nervosität überfiel. Alles andere wäre nur einfach sehr … komisch gewesen. „Ich meinte nicht, dass du mich ersticken sollst.“ „Mhm“, nickte Chandra und wühlte in ihrer Tasche. Draußen über dem Ozean ging bereits die Sonne unter und tauchte das Wasser in ein feuriges Farbspiel, aber mit ihr schwand auch die angenehme Wärme des Tages. Also schlüpfte sie in ein Paar hoher Kniestrümpfe, ehe sie in ihre Schuhe sprang. Sie sah Zayn ins Bad verschwinden und nahm sich das Recht heraus, ihn nachzuahmen: „Aber keine drei Stunden, ja?“ Seltsam erheitert warf sie sich auf das Bett und starrte hinauf zu dem runden Kronleuchter an der Decke. Sie vermochte nicht zu sagen, wann sie sich das letzte Mal so leicht und beflügelt gefühlt hatte. Vielleicht noch nie. „Bist du dann so weit?“ Chandra kam in die Gegenwart zurück, in der Zayn bereits wieder vor ihr stand. „Oh ja!“ Ehe er sich versah, war sie bereits aus dem Zimmer auf den Gang getreten. „Los, ich sterbe bereits vor Hunger.“ „Himmel, seit wann hast du denn so gute Laune?“ Zayn betrachtete sie äußerst skeptisch, während er sich seine dünne Jacke überwarf und dann die Tür zuschloss. „Hast du nach gutem Sex etwa keine gute Laune? Fände ich ziemlich merkwürdig.“ Er warf einen Blick den Gang entlang, aber da war niemand, der ihre Worte hätte hören können. „Stimmt wohl“, schmunzelte er. Nach einigen Minuten, eine recht lange Fahrt mit dem Aufzug nach unten und die Durchquerung der Eingangshalle später, schritten sie durch die gläsernen Drehtüren nach draußen in die frische Abendluft. Der Bereich vor dem Hotel bestand aus einer kleinen Parkanlage mit einem gepflegten, grünen Rasen. Der mit hellen Pflastersteinen bedeckte Weg vor ihnen war zu beiden Seiten mit den unterschiedlichsten Blumengestecken geschmückt und nach etwa der Hälfte zierte ein runder Springbrunnen den Pfad. Besagter Springbrunnen war Chandra bereits ins Auge gestochen, als sie vorhin beim Hotel angekommen waren – oder besser gesagt, was sich im Brunnen befand. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, sich die Figur genauer anzuschauen, aber so wie vorhin durchdrang sie auch jetzt ein merkwürdiges Gefühl, als sie die steinerne Skulptur ins Auge fasste, die beinahe majestätisch in die Höhe ragte. Sie war die Abbildung eines schlangenartigen, anmutigen Pokémon, aus dessen geöffneten Maul in ruhiger Gleichmäßigkeit Wasser in den Brunnen plätscherte, wo es den rötlich schimmernden Himmel spiegelte. Ein Horn zierte den schmalen Kopf des Wesens und aus dem Wasser ragte ein fächerartiger Schweif. Nach wie vor war sich Chandra sicher, dass sie dieses Pokémon noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte, nicht einmal in Büchern oder im Fernsehen, aber schon vorhin war ihr blitzartig die Erkenntnis gekommen, dass es sich bei dem dargestellten Geschöpf um ein Milotic handelte. Dabei hatte sie doch auch nie von diesem Namen gehört … Und doch schien es ihr seltsam vertraut, als würde sie es von irgendwoher kennen. Oder bildete sie sich ihr Wissen nur ein? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Du, Zayn, sag mal, welches Pokémon ist das?“ Sie blieben für einen Moment neben dem Brunnen stehen. „Ein Milotic.“ Dann unterlag ihr Geist also keinen sonderbaren Fantasien. Erklären ließ sich ihr Wissen allerdings nicht. „Es sieht sehr schön aus“, meinte sie, als sie weitergingen. „Milotic gilt seit jeher als das schönste aller Pokémon, es ist, beziehungsweise seine Vorentwicklung Barschwa, sehr selten und es ranken sich viele Sagen und Mythen um seine Gestalt. Man spricht ihm eine beruhigende Wirkung zu, mit der es ihm möglich sein soll, die Gemüter von Menschen und Pokémon zu besänftigen“, erklärte Zayn. Erneut war ihr, als sei dieses Wissen nichts Neues für sie, doch sie hätte es zuvor nicht selbst benennen können. „Du weißt ganz schön viel über Milotic, dafür, dass es so selten ist.“ Er lachte verschmitzt. „Na ja, vielleicht nicht so selten, wie du jetzt denkst. Alyssa hat ein Milotic. Wenn du also mal eines in echt sehen willst, frag sie einfach.“ Damit hatte sie wiederum nicht gerechnet. Fast wäre sie versucht gewesen, zu sagen: ‚Das schönste Pokémon für das schönste Mädchen‘, aber Zayn hätte es entweder überhaupt nicht oder aber zu gut verstanden, außerdem wollte sie die Stimmung nicht trüben, so verkniff sie sich jene Worte lieber. „Vielleicht mache ich das ja mal.“   ******   Der Abend verlief bis zu einem gewissen Punkt hin großartig. Zayn war zwar niemand, der seinen Gefühlen allzu überschwänglich Ausdruck verlieh, aber eine angemessene Menge Alkohol konnte selbst bei ihm für Erheiterung und ein Nachlassen diverser Hemmungen sorgen. Kein Wunder also, dass er bereits beim zweiten Cocktail angekommen war. Nachdem sie das Hotel verlassen hatten, hatten sie ein kleines, aber atmosphärisch sehr angenehmes Restaurant an der Promenade gefunden, in dem sie sehr gut, wenn auch nicht gerade günstig gespeist hatten. Im Anschluss daran hatte Chandra vorgeschlagen, sie könnten doch noch in eine Bar gehen, schließlich war der Abend noch jung. Zayn hatte zugestimmt – er verbrachte sehr gerne Zeit mit Chandra und wenn es nach ihm ging, dann hätte der Abend noch eine kleine Ewigkeit lang gehen können. Zwei Straßen von der Promenade entfernt hatten sie schließlich eine schnuckelige Bar gefunden, die ideal war, um ein wenig zu trinken und sich dabei zu unterhalten, ohne einem Hörschaden zu erliegen, denn die Musik hier war in angenehmer Lautstärke gehalten. Ganz anders als in dem Club, in dem sie neulich gewesen waren. Zayn ging nur bedingt gerne in Clubs. Meist wurde er von Vince mitgeschleppt und dieser lamentierte jedes Mal über Zayns geringe Bereitschaft, dort zu feiern, aber er fand nun mal keine Begeisterung daran, wildfremden, betrunkenen Menschen nahezukommen, die ihre Hände nicht bei sich behalten konnten. Da war es ihm doch wirklich viel lieber, hier mit Chandra zu sitzen und zu reden, schon allein deshalb, weil er so ihr Lächeln sehen konnte, das ihre Augen jedes Mal dazu brachte, im dämmrigen Licht der Deckenleuchten wie geheimnisvolle, dunkle Smaragde zu funkeln. In einer anderen Situation hätte es ihn womöglich nervös gemacht, ihr auf so eine persönliche, nicht intime Art nahe zu sein, aber der Alkohol verrichtete einen guten Dienst und legte sich in seinem Inneren wie ein wärmender Mantel um alle unangenehmen Gefühle. „Hey, bist du noch da? Hallo?“ Chandras Hand wedelte plötzlich vor seinem Gesicht herum, und er schärfte seinen Blick wieder. Sie hatte sich über den runden, holzfarbenen Tisch gebeugt. „Was? Ja, klar, natürlich.“ Er grinste schief und hoffte, nichts Wichtiges von dem, was sie zuletzt gesprochen hatte, überhört zu haben. „Mensch, so viel hast du doch gar nicht getrunken, dass du hier schon wegtreten kannst“, zog sie ihn auf. „Ich bin ja auch gar nicht weggetreten. Ich bin hier über absolut alles perfekt im Bilde. So zum Beispiel auch darüber, dass der Kellner vorhin ganz schön mit dir geflirtet hat.“ Zayn hatte das gar nicht anmerken wollen, doch nun waren ihm die Worte entwichen. Allerdings so souverän, dass Chandra unmöglich eine tiefere Bedeutung in sie hineininterpretieren konnte. Was sie augenscheinlich auch nicht tat. Sie grinste lediglich, nahm einen Schluck ihres orangeroten Cocktails und fragte: „Ist da etwa jemand eifersüchtig?“ Er lehnte sich seinerseits zurück und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das jeden Zweifel mit sich trug. „Natürlich nicht.“ „Gut.“ Ihm kam etwas anderes in den Sinn, wie er sie so betrachtete. „Das neulich im Club tut mir leid.“ Nun hob Chandra irritiert den Kopf. „Was meinst du?“ „Dass Alyssa dich einfach allein gelassen hat. Du kanntest schließlich niemanden außer uns und ich war auch nicht da“, erklärte er. Auf seine Worte hin machte sie einen seltsam ertappten Eindruck und zuckte mit den Schultern, wobei es ihm nicht entging, wie sie seinen Blick zu meiden versuchte. „Ach, ist schon okay …“ „Dennoch. Sie hätte das nicht tun sollen. Immerhin waren wir diejenigen, die dich mit dorthin geschleppt haben.“ Chandra schüttelte den Kopf und entgegnete: „Na ja, genaugenommen hat Vince uns alle mit dorthin geschleppt. Das ist nicht dasselbe.“ „Das stimmt allerdings.“ „Und außerdem“, fuhr Chandra mit einem gesteigerten Engagement wieder fort, als hätte sie den kurzen Anfall von Unsicherheit hinter sich gelassen. „Es ist ja nicht so, als wäre ich eine Anfängerin, was Clubs und dergleichen angeht. Ich mein, ich finde mich da schon zurecht. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich auch ohne euch Spaß haben können.“ „Aber du hast nicht gewollt? Also, ich meine, du hättest ruhig … was auch immer tun können …“ Zayn stockte, denn er wurde sich mitten in seinen Worten bewusst, dass er deren implizite Aussage gar nicht vertrat. Aber er stand ihm auch nicht danach, seinen Gedanken zu Ende auszuführen. Zumal dies ohnehin Chandra übernahm, die erneut gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Was? Mich betrinken und an den nächstbesten Typen ranschmeißen für eine schnelle Nummer? Ja, in Pyritus vielleicht, aber nicht hier – außerdem wär das verdammt seltsam gewesen. Du musst dir also gar keine Gedanken machen.“ Sie nahm einen raschen Schluck aus ihrem Glas und musterte im Anschluss, mit zusammengezogenen Brauen, den Tisch, während ihr Gesicht von einem nicht zu übersehenden rötlichen Schimmer heimgesucht wurde. Zayn fühlte sich nicht weniger unbehaglich, als sie aussah. „Ich mache mir keine Gedanken“, stellte er klar, bemüht um einen lockeren Tonfall, was ihm nur mäßig gelang. Es klang vielmehr abstreitend als beschwichtigend. Ehrlich gesagt interessierte ihn das Thema ja schon. Damals in Pyritus, als Chandra ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte, hatte sie das Ganze nur knapp angeschnitten – wie sie ihre Zeit verbracht hatte, nachdem Ray ihr eine eigene Wohnung besorgt und sie von da an ein mehr oder weniger freies Leben hatte führen können. Er wusste um ihr bislang freizügiges Leben und dementsprechend wenig verwundert war er über ihre Offenheit ihm gegenüber gewesen. Allerdings hatte er seither nicht mehr viel über ihre Lebensweise nachgedacht; andere Sachen hatten schlichtweg Vorrang. Und bei ihrem damaligen Gespräch wäre es ihm falsch erschienen, sich an diesem Aspekt festzuklammern. Mal abgesehen davon, dass er zu beschäftigt gewesen war, gedanklich all die Gräuel zu verarbeiteten, von denen Chandra ihm berichtet hatte. Sicherlich hätte er es seitdem ansprechen können, immerhin war Sex zwischen ihnen nun wirklich kein unbekanntes Thema. Aber einerseits wollte er ihr nicht das Gefühl geben, sie nur darauf zu reduzieren, und andererseits war er sich bislang selbst nicht sicher gewesen, ob er unbedingt mehr darüber wissen musste. Zayn wollte aber gerne nach wie vor mehr von Chandra wissen. Noch viel mehr als das, was er bisher wusste, wovon ihn bereits so vieles faszinierte. Er konnte ihr stundenlang zuhören und zurzeit war es ihm unvorstellbar, dass ihn etwas derart abschrecken konnte, dass er dieses Interesse verlieren würde. „Wie war das eigentlich in Pyritus, wenn du dort in Clubs gegangen bist? Das war vermutlich anders als hier.“ Chandras ertappter Gesichtsausdruck offenbarte, dass sie nicht mit dieser Frage gerechnet hatte. „Was willst du denn wissen?“ „Egal was. Mich interessiert alles“, lächelte er. „Hm, ich glaube, diese Ansicht wirst du noch ändern …“ „Lass es uns doch herausfinden. Was könnte es bitte an der absolut faszinierenden Chandra geben, das mich abschrecken könnte?“ Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. „Man, du bist so bescheuert. Einiges gibt’s da, einiges!“, klagte sie. Nach einer kurzen Pause allerdings richtete sie sich wieder auf. „Natürlich war das in Pyritus anders. Weißt du, ich bin nicht fast jeden Abend in Clubs gegangen, weil ich mein Leben so toll fand und unbedingt Spaß haben wollte. Im Gegenteil. Mindestens die Hälfte der Zeit, wenn nicht sogar mehr, wollte ich einfach nur vergessen. Ich war auch nicht jedes Mal betrunken. Oft hat es gereicht, angetrunken zu sein. Das hat mich bereits den Großteil meiner Probleme vergessen lassen und den Rest hat dann meist irgendein Kerl gemacht. Gott, das klingt so billig. Ist es vermutlich auch, ich weiß.“ Sie unterbrach sich und sackte wieder etwas in sich zusammen. „Blödsinn. Red weiter“, forderte Zayn sie auf. „Na gut. Also, weißt du, ich bin ja nicht blöd. Es kann in Pyritus schon gefährlich sich, sich wahllos zu betrinken. Irgendwelche Ärsche, die das ausnutzen, gibt’s immer. Deswegen habe ich immer aufgepasst. Na ja, meistens. Ein paar Idioten habe ich über die Zeit schon erwischt. Aber da ist nix passiert, bis wir bei mir waren und dort haben Sunny und Lunel jeden Idioten gehörig in seine Schranken verwiesen. Und glaub mir, wer einmal Bekanntschaft mit ihrer dunklen Seite gemacht hat, der kommt nicht mehr wieder.“ Sie lachte über ihre eigenen Worte, als dachte sie an etwas zurück. „Na ja, jedenfalls … Nach so einem Ereignis habe ich mich immer erst mal etwas komisch gefühlt und bin ins Grübeln gekommen. Aber am nächsten Tag war dann meist alles wieder vergessen. Ich wusste mir eben nicht anders zu helfen. Wenn ich mich wirklich betrunken habe, dann meist nur, wenn Devin noch da war. Wir haben immer auf einander aufgepasst.“ „Und er hat das nicht ausgenutzt?“, fragte Zayn in so normaler Tonlage, dass er sich die Gleichgültigkeit selbst abkaufte. In Wahrheit brütete bereits seit dem Tag, an dem er diesem Devin begegnet war, die Frage in ihm, was für eine merkwürdige Freundschaft das zwischen ihm und Chandra doch war. Er jedenfalls traute es sich zu, es zu bemerken, wenn jemand, der ihm nahe war, seine persönliche Hölle durchmachte. „Natürlich nicht!“, fuhr Chandra ihn an. „Da lief nie etwas.“ „Klar, tut mir leid. Ich wollte ihm nichts unterstellen“, erwiderte Zayn besänftigend. Insgeheim war er doch ziemlich erleichtert über ihre Worte. „Und gab’s nicht auch Male, wo du des Spaßes wegen in einen Club gegangen bist?“ „Kommt drauf an, was du unter Spaß verstehst. Selbst wenn ich traurig war und vergessen wollte, kam der Spaß meist mit dem Alkohol. Außerdem hat es mir immer Freude bereitet, mit Devin zusammen zu sein. Und na ja, Sex macht auch ziemlich Spaß, ist ja nicht so, als hätte ich mich dazu zwingen müssen. Ganz im Gegenteil. Aber ich denke, das weißt du selbst.“ Sie schenkte ihm ein wissendes Grinsen. „Wie könnte ich das vergessen?“, erwiderte er. „Du hattest also immer nur unverbindlichen Sex – ohne irgendwelche Gefühle? Nie eine Beziehung?“ „Ja zu deiner ersten Frage und nein, ich hatte noch nie eine Beziehung.“ „Ah, wow. Wie war das?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es war vermutlich ziemlich unkompliziert. Nur Sex, keine Gefühle. Etwas, das viele Menschen nicht auseinanderhalten können. Aber wenn man gar nicht erst anfängt, in das Verhalten der anderen Person etwas Tieferes hineinzuinterpretieren, dann klappt das ziemlich gut. Und ich habe auch nie angefangen, in irgendeinem Kerl etwas zu sehen, das ohnehin nicht da war. Die wollten immer nur meinen Körper, nicht meine Persönlichkeit. Aber ist schon okay. Ich wollte ja auch nicht mehr von ihnen. Gewissermaßen habe ich sie nur benutzt, um mich zumindest kurzzeitig wichtig zu fühlen. Und nicht einsam.“ Das Lächeln, welches sie ihm nun zuwarf, schaffte es nicht ansatzweise bis zu ihren Augen. Es schien brüchig und erzwungen. Zayn wollte etwas sagen, um sie aufzumuntern, wie er es sonst vermochte, doch er wusste schlicht und ergreifend nicht, was das Richtige war. Es war keinesfalls so, dass sich sein Bild über sie geändert hätte. Er hatte nämlich durch und durch ein sehr positives Bild von ihr, er bewunderte und faszinierte sie und immer, wenn er sie ansah, stellte er fest, was für ein Glück ihm doch zuteil geworden war, sie an jenem schicksalshaften Tag getroffen zu haben. Ständig formten sich seine Lippen ohne sein bewusstes Zutun zu einem Lächeln, wenn er bei ihr war, und er konnte jede freie Minute mit ihr verbringen, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Ihn irritierte bloß das Gefühl, das bei seinen Worten in ihm aufgekeimt war. Es ließ ihn sich unwohl fühlen, gar ein wenig unzulänglich. Etwa Eifersucht? Aber weshalb? Ehe er dem Gefühl weiter folgen konnte, sprach Chandra wieder. „Und, hältst du mich jetzt für eine Schlampe?“ Zayn schreckte auf angesichts ihrer Worte. Sie deutete sein Schweigen völlig falsch! Ihr Tonfall war nicht länger gleichgültig. Eine Spur Traurigkeit hatte sich in ihn eingenistet – dieselbe Traurigkeit, die ihre grünen Augen tränkte. „Was? Nein, natürlich nicht! Wieso sollte ich?“ „Na ja, weil das eigentlich fast alle denken. Das ist halt so.“ Sie spielte beim Reden sichtlich nervös mit ihren Händen. „Und denkst du das etwa auch?“ „Weiß nicht. Manchmal schon.“ Ihr Blick senkte sich. „Zum Beispiel dann, wenn Ray mir sagt, wie wenig er von mir hält.“ Auf diese Worte hin konnte Zayn nur mit dem Kopf schütteln. Ray. Wie er diesen Namen mittlerweile verabscheute. Es war ihm unvorstellbar, wie viel Hass man für eine Person empfinden konnte, der man noch nie persönlich gegenübergestanden hatte. Aber all das, was er bereits über Chandras Bruder erfahren hatte, ob von ihr direkt oder von anderen, war ausreichend, um sich ein Bild von ihm zu machen. Ein Bild, welches ihm verhasst war. Jedes Mal, wenn Chandra seinen Namen erwähnte, blitzte ein sorgenvolles, ängstliches Leuchten in ihren Augen auf, und bei jedem Mal schwor Zayn sich, den dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Aber sein Zorn war jetzt fehl am Platz. Er lehnte sich über den Tisch und hob Chandras Kinn mit dem Zeigefinger an, bis sich ihre Blicke trafen. Dann ergriff er ihre Hände. „Ray hat keine Ahnung. Er kennt dich nicht. Du bist nichts von dem Schlechten, das er in dir zu sehen behauptet, sondern all das Gute, das er zu sehen nicht fähig ist, weil er ein eiskaltes Arschloch ist. Aber ich sehe dieses Gute in dir. Und ich würde dich nie für eine Schlampe oder dergleichen halten, denk das bitte nicht. Wie ich schon sagte, du kannst mich nicht abschrecken. Mit absolut gar nichts.“ Mit seinen Worten erhielt ihr Gesicht wieder etwas Farbe zurück, welche es zuvor verloren hatte. „Sicher?“ „Klar! Wir könnten ein Spiel daraus machen. Du versuchst, Dinge zu finden, die mich an dir abschrecken könnten, und ich sage dir meine Meinung dazu. Aber ich garantiere, dass ich haushoch gewinnen werde, Chandra.“ Er bemerkte, wie sie bei seiner Aussage kaum merklich zusammenzuckte. Selbst nach all den Malen reagierte Chandra noch immer so verlegen, ja fast schon erschrocken darauf, wenn er ihren Namen aussprach, als wäre sie es nicht gewöhnt, dass ihn jemand ohne düstere Hintergedanken in den Mund nahm. Vermutlich war das auch gar nicht so abwegig. Trotz des traurigen Gedankens musste Zayn lächeln, denn er genoss es jedes Mal, sie verlegen zu sehen. Anfangs hätte er es nicht für möglich gehalten, dass jemand wie Chandra verlegen oder gar beschämt sein konnte, aber sie konnte es sehr gut und er wurde nicht müde, dabei zuzusehen. „Vielleicht“, sagte sie. Sie entzog ihm ihre Hände, doch es wirkte nicht so, als wollte sie Abstand suchen. Sie griff lediglich nach ihrem Glas, das, wie er erst jetzt bemerkte, beinahe leer war. Mit seinem war es nicht anders. Er hatte den Cocktail zuletzt ganz vergessen, doch das war kein Wunder. Während ihres doch recht ernstes Gespräches war ihm sein Kopf recht klar erschienen, fast schon nüchtern. Aber womöglich hätte Chandra ihm nüchtern nicht so viel Intimes über sich erzählt und er hätte nüchtern nicht den Mut gehabt, konkret nachzufragen. „Aber genug von meinem Drama, Zayn. Wie sieht das bei dir aus? Wie viele nette Bettgeschichten hattest du denn schon? Und du kannst mir nicht erzählen, dass da keine waren – das wirkt nämlich ganz anders.“ Als hätte sie ihn nicht gerade sehr direkt nach seinen sexuellen Erfahrungen gefragt, winkte sie besagten Kellner heran, der sie schon den ganzen Abend über förmlich mit seinen Blicken auszog und welcher erstaunlich schnell an ihrem Tisch stand. Natürlich Chandra zugewandt. Bei dem Lächeln, das Chandra dem jungen Mann zuwarf, verwunderte es Zayn nunmehr nicht im Geringsten, dass sie bislang so viel Erfolg bei seinem Geschlecht gehabt hatte. Es hatte auf jeden Fall etwas Verführerisches inne, doch vor allem strahlte es tiefe Sympathie und Liebenswürdigkeit aus. Auch wenn Chandra etwas anderes behauptete, war es für Zayn unvorstellbar, dass alle Männer, mit denen sie jemals intim war, nur an ihrem Körper interessiert gewesen waren. Da waren mit Sicherheit einige dabei gewesen, die sich mehr als Sex erhofft, sich aber schlichtweg nicht getraut hatten, dies zu zeigen, da Chandra von vorneherein ausgestrahlt hatte, dass sie sich nicht auf mehr einlassen wollte. Und wenn Chandra nicht gerade bedrückt war wegen ihres Bruders oder verlegen wegen Zayn, dann strahlte ihr Auftreten viel Selbstbewusstsein aus. Zayn schreckte dies nicht ab, vermutlich aber viele andere Männer. Ihm war überdies nicht entgangen, mit welch verzehrendem, sorgenvollem Blick Devin Chandra bei ihrer Begegnung betrachtet und dass er in Zayn eine Bedrohung wahrgenommen hatte, als hätte dieser sich in sein Revier gewagt. Dies schien Chandra aber nicht bewusst zu sein, und wenn sie sich wirklich nie auf etwas Ernsteres hatte einlassen wollen, hatte sie vermutlich auch bezüglich Devin dichtgemacht und war so völlig blind gewesen für sein Interesse an ihr. Zayn hätte sie darauf hinweisen können, aber zum einen wollte er sie nicht vor den Kopf stoßen und zum anderen war es einfacher, wenn sie es gar nicht wusste. Chandra hob derweil ihr Glas an und sagte: „Noch einen, bitte.“ Nach ihr wandte der Kellner seinen plötzlich missmutigen Blick ihm zu. „Und für dich?“ „Ich nehme dasselbe wie die Dame“, grinste Zayn betont freundlich. Er konnte es dem jungen Herrn ja nicht verübeln, dass Chandra ihm den Kopf verdrehte und er selbst war zu gut erzogen, um sich auf das Niveau des eifersüchtigen Kellnern herab zu begeben. Also beobachtete er nur schmunzelnd, wie dieser zurück zur Bar huschte. „Der Arme“, kicherte Chandra. Zayn konnte nur zustimmen, dann sah er auf sein nun leeres Glas. „Der wievielte wird das denn jetzt? Der dritte, oder?“ „Joa. Aber die zwei waren relativ schwach. Also zumindest meine.“ „Stimmt“, erwiderte er, obwohl ihm seine Cocktails gar nicht so leicht erschienen waren. Womöglich reagierte Chandra einfach langsamer auf den Alkohol darin, schließlich hatte sie in der Vergangenheit öfter und mehr getrunken als er. „Vielleicht hat er einfach Angst, ich könnte dich abfüllen und sagt dem Barkeeper immer, er soll bloß nicht zu viel reinmachen.“ Chandra lachte. „Ach ja? Und was wäre, wenn?“ „Na ja, ich könnte ziemlich unanständige Dinge mit dir anstellen, wenn du betrunken bist.“ „Zum Beispiel?“ „Ich könnte dich in das unsagbar schöne Zimmer dieses viel zu teuren Hotels führen, schon wieder, ich könnte dich aufs Bett schmeißen und ausziehen, schon wieder. Und ich könnte –“ Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, erschien der Kellner wieder und tauschte die leeren Gläser gegen volle aus. Nachdem er fort war, grinste Zayn selbstsicher. „Aber er weiß ja nicht, dass ich all das und mehr auch ohne Alkohol vermag.“ Er hob sein Glas und sie stießen an. Die schier elektrisierende Spannung, die dabei zwischen ihren Blicken hin und herflog, war für Zayn gewiss nicht zum ersten Mal spürbar. Er vernahm sie seit dem Abend, an dem sie sich kennengelernt hatten, wenngleich sie da verhältnismäßig distanziert zueinander gewesen waren. Jedes Mal, wenn sie miteinander schliefen, entlud sie sich, nur um danach noch aufgeladener zurückzukehren. Er war sich sicher, dass Chandra sie ebenfalls wahrnahm, allerdings war es fraglich, wie sie sie interpretierte. Jede neue Information, die er über sie erhielt, stärkte das Bild, das er von ihr hatte, nur noch. Sie war stets sehr misstrauisch – nicht verwunderlich, wenn man den schändlichen Verrat bedachte, den ihre Familie an ihr begangen hatte – und war nie in der Lage gewesen, jemanden näher an sich heranzulassen als rein körperlich. Andere Menschen aus reinem Selbstschutz wegzustoßen, das kannte er zu gut. Sie hatte ihm schon nach einem Tag mehr Vertrauen entgegengebracht als jedem anderen zuvor und er wusste um die Kostbarkeit dieses Geschenks – ihres Vertrauens. Doch obwohl sie ihn so nahe an sich heranließ, fiel es ihr sichtlich schwer, mit den Gefühlen umzugehen, die aus ihrem Beisammensein entstanden. Auch das wunderte ihn nicht; Sex war für sie stets bedeutungslos gewesen und eine Beziehung hatte sie nie geführt. „Hey, aber jetzt nicht von meiner Frage ablenken!“, betonte Chandra. „Also, wie sieht’s aus? Gab’s bei dir ein paar nette Abenteuer oder bist du doch eher der Typ für feste Sachen? Schwer zu sagen. So oder so denke ich, dass du bestimmt schon einigen Mädels das Herz gebrochen hast, wenn auch nicht absichtlich.“ Er hob interessiert eine Augenbraue. „Ach ja? Was macht dich da so sicher?“ „Das sagt mir meine weibliche Intuition.“ „Ach so, na klar. Dumme Frage. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich hatte bislang nur eine Beziehung und nicht ansatzweise so viele nette Bettgeschichten wie du.“ „Aber da waren welche“, schlussfolgerte Chandra. „Erzähl mir von der Beziehung. Ich bin neugierig und du erzählst ohnehin viel zu selten etwas von dir.“ „Da gibt’s auch nicht viel zu erzählen. Die Beziehung ging zwei Jahre lang, ist jetzt ungefähr anderthalb Jahre her. Viel Wissenswertes ist da nicht“, erläuterte Zayn ungezwungen. In Wahrheit war der Knackpunkt viel eher der, dass er ihr nicht mehr erzählen wollte. Für sie schien es, als wollte er nie von sich reden, doch tatsächlich gelang es ihr einfach immer wieder, sich für das zu interessieren, worüber er nur ungern sprach. Und in diesem Fall war das Thema auch noch denkbar ungeeignet für dieses Gespräch. Das Ding war nämlich, die besagte Beziehung hatte er nicht mit irgendeinem Mädchen geführt, das danach wieder aus seinem Leben getreten war. Sondern mit Alyssa. Die er schon sein ganzes Leben lang kannte, die ebenfalls im Labor lebte und die er jeden Tag sah. Das allein war an manchen Tagen schon kompliziert genug. Er konnte sich wirklich Besseres vorstellen, als Chandra zu sagen, dass seine Ex im selben Haus wie er und momentan auch sie lebte. „Wer hat schlussgemacht?“, fragte Chandra. „Ich.“ „So viel zum Thema Herzensbrecher“, grinste sie. „Und wieso, wenn ich fragen darf?“ „Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich ihre Gefühle nicht mehr teilte … oder zumindest, dass ich sie nicht auf die Art liebte wie sie mich.“ Seine Stimme klang träge, als er sich in den wirren Erinnerungen verlor. „Wir waren zusammen, als ich diese beschissene Phase hatte. Du weißt schon, die, von der ich dir heute erzählt habe. Nur gewinnen wollen, zu jedem ein Arsch sein und so. Jedenfalls, in der Zeit kamen wir zusammen und waren dann auch die ganze Zeit zusammen. Aber nachdem mir bewusst wurde, wie falsch mein Verhalten war, fing ich endlich wieder an, nachzudenken und alles zu hinterfragen. Und na ja, so kam es dann. Mir wurde klar, dass ich sie nicht liebte.“ Er zögerte für einen Moment, Chandra beobachtete ihn mit großen Augen. „Aber das Schlimme daran ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie jemals wirklich geliebt habe. Auf diese romantische, hingebungsvolle „Für immer“-Art. Oder doch nur freundschaftlich. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich war damals nicht ich selbst. Es war, als hätte ein anderer in mir gelebt. Und dennoch, ich habe es versucht, ich wollte ihre Gefühle teilen. Aber es hat nicht funktioniert. Es war also nur fair, das Ganze zu beenden.“ Es erstaunte ihn selbst, wie viel plötzlich aus ihm herausgekommen war. Aber er hatte all das loswerden müssen. „Oh. Hm, ich denke, du musst dich nicht schlecht fühlen. Manchmal ist es schwer, zu wissen, was man fühlt. Das richtig zu deuten.“ „Vielleicht. Vielleicht habe ich die Beziehung auch nur akzeptiert, weil sie mir irgendwie in den Kram gepasst hat. Es war angenehm, ich konnte mich nicht beschweren.“ Er zuckte mit den Schultern, ehe er seufzte und sich durch die Haare fuhr. „Aber das macht es nicht weniger falsch. Man sollte immer ehrlich sein, mit sich und mit anderen.“ Chandra stimmte ihm nur verhalten zu. Vielleicht verlor sie ja nun wieder das Interesse. Zayn wollte weder länger über seine Beziehung mit Alyssa nachdenken noch weiterhin mit Chandra darüber reden. Es war damals schon schwer genug gewesen, Aly möglichst schonend klarzumachen, dass seine Gefühle nicht mehr für eine Beziehung reichten, und er war mehr als froh, dass sie mittlerweile wieder normal miteinander umgehen konnten. Wie Freunde. „Und sonst? Wie kamst du dazu, es auf meine Art auszuprobieren?“ „Deine Art? Ich weiß nicht, ich hab’s einfach ausprobiert. Ich dachte mir, vielleicht ist es ohne Gefühle einfacher und auf eine Beziehung hatte ich danach sowieso keine Lust mehr. Ein paar Mädels gab es und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass es schlecht gewesen wäre – aber irgendwie war es auch nicht wirklich gut.“ „Ich wusste gar nicht, dass du so kritisch sein kannst“, neckte Chandra ihn. „Lass es mich anders ausdrücken. Es war gut, aber es fühlte sich falsch an. Nach jedem Mal fühlte ich mich irgendwie schlecht. Also habe ich für mich beschlossen, dass ich es sein lasse. Ich kann Sex und Gefühle nicht so gut voneinander trennen, und manchmal will ich es auch einfach nicht“, schloss Zayn seine Ausführungen. Er realisierte erst, was er zuletzt gesagt hatte, als ihm Chandras Blick auffiel. Er zeigte eine konfuse Mischung aus Irritation und Schock, sofern er ihn richtig deutete. Fieberhaft überlegte er, wie er seine Aussage noch ändern könnte, doch vergebens. Und er wollte es auch gar nicht. Er mochte Chandra, und es war ihr gerne nahe, weil er sie mochte und nicht nur des Spaßes wegen. Nicht einmal ansatzweise deswegen. Genau das hatte ihn sich immer merkwürdig fühlen lassen. Körperliches bereitete ihm weder genug Spaß noch konnte er sich vollständig fallen lassen, wenn ihm die Person auf der anderen Seite egal war. Außerdem – irgendetwas musste man doch immer empfinden, sondern man kein emotionsloser Stein war. Selbst Chandra konnte das nicht leugnen. Zayn war sich nur noch nicht sicher, was genau er fühlte. Neben der außerordentlich starken Anziehung, die er so noch nie zuvor verspürt hatte. „Und wie ist es mit mir? Fühlt es sich auch falsch an?“, fragte Chandra zaghaft. Sie hatte sich ganz augenscheinlich Mut angetrunken, denn in ihrem Glas fehlte plötzlich eine beachtliche Menge. Zayn lächelte leicht. „Nein, im Gegenteil. Es fühlt sich verdammt richtig an.“ Sie nickte daraufhin nur ganz langsam, als wäre sie in einer Trance gefangen. Wenig später fuhr sie hoch. „Ich muss mal für kleine Mädchen.“ Dann war sie auch schon weg. Daraufhin konnte Zayn nur leicht den Kopf schütteln, aber er lächelte nach wie vor. Manchmal war Chandra so einfach und dann wieder so komplex und auch kompliziert, wenn sie vor ihren eigenen Gefühlen davonrannte. Aber er verstand das, sehr gut sogar. Wie sie selbst gesagt hatte – Gefühle waren manchmal schwer zu durchschauen und noch schwerer zu verstehen. Nach eine Weile kam Chandra wieder, sie schien sich erholt zu haben und fing ein anderes Thema an, als hätte der Moment zuvor nie stattgefunden, und Zayn ließ das Ganze unkommentiert. Immerhin wollte er sie nicht in Bedrängnis bringen. So verging der Rest des Abends und als ihre Gläser leer waren, bezahlten sie und beschlossen, zum Hotel zurückzugehen. Chandra wollte noch einmal zur Toilette und Zayn entschied sich dazu, draußen auf sie zu warten. Mittlerweile fühlte er sich gut erheitert und die stickige Luft verhalf seinem Kopf nicht gerade, sich weniger zu drehen, als er aufstand. Kaum dass er draußen vor den Türen der Bar angekommen war, machte sich eine deutliche Besserung in ihm breit. Die kühle Brise, erfüllt von einem leichten Hauch Meer, durchwehte ihn förmlich und ordnete seine Gedanken wieder, nachdem diese zuvor etwas ineinander verflossen waren. Er hätte noch ewig mit Chandra so weiterreden können. Nach der vorherigen, etwas unangenehmen Situation hatte sich die Stimmung wieder gebessert und er hatte sich rundum wohlgefühlt in ihrer Gegenwart. Er vergaß den Gedanken daran, als zwei lauter werdende Stimmen zu ihm drangen. Sie gehörten zu der Frau und dem Mann, die ebenfalls draußen vor Bar standen, etwas abseits von ihm, und je eine Zigarette rauchten. „Ja, gut, in Pyritus vielleicht, aber hier? Bei uns? Im schönen Portaportus!“, klagte die Frau hörbar besorgt. „Was soll es sonst gewesen sein?“, erwiderte ihre Begleitung ernst. „So ein Pokémon habe ich hier noch nie zuvor gesehen. Es hat sogar den Trainer des anderen Pokémon angegriffen. Welches Pokémon macht so etwas freiwillig?“ Zayn wurde hellhörig und wandte den Blick zu ihnen. Auf einen Schlag schien sämtlicher Alkohol aus seinem Gehirn verschwunden zu sein. „Nur diese ekligen, bösartigen Viecher“, grummelte die Frau. „Außerdem hat man in Newina neulich auch so ein Pokémon gesehen. Ein Voltenso. Darüber wurde sogar kurz im Fernsehen berichtet. Es war unfassbar stark, nach Einschätzungen erheblich stärker als andere seiner Art.“ „Schrecklich. Wieso auf einmal hier? Können diese grausamen Pokémon nicht einfach in dieser Drecksstadt bleiben und uns in Ruhe lassen?“ „Das löst das Problem nicht im Geringsten“, murmelte Zayn, während seine rechte Faust an seiner Seite zitterte vor unterdrückter Wut. Cryptopokémon. In Portaportus. In Newina. Vielleicht sogar bald in Veralia und dann war es nur noch ein kleiner Sprung bis zum Labor. Seit zwei Jahren hatten sich die Cryptopokémon nur in Pyritus selbst vermehrt und in den Gebieten und Städten östlich von Pyritus. In Phenac beispielsweise hatte das Erscheinen dieser Pokémon vor einem Jahr erheblich zugenommen, obwohl die Stadt eigentlich, vor allem verglichen mit Pyritus, ein Quell an Lebensfreude war. Es war schwer vorstellbar, dass sich dort auffällig viele Cryptopokémon tummelten. Doch Phenac war von Veralia aus sehr weit weg und da es hinter Pyritus lag, war es als zweitgrößte Stadt in der östlichen Hälfte der Region ohnehin ein wenig abgekapselt. Zayn bemerkte, dass die beiden Unbekannten ihn mit großen Augen anschauten. Offenbar hatte er doch lauter gesprochen als gedacht. Er schenkte ihnen ein verlegenes Grinsen und wandte sich ab. Nicht viel später stolperte Chandra von hinten gegen ihn, während er grübelnd vor sich hin gestarrt hatte. „Man, wieso stehst ‘n du hier wie so ein Baum rum? Und wieso hast du nicht gewartet? Ich musste dich suchen“, nuschelte sie hörbar angetrunken. Ohne Umstände packte er sie am Handgelenk und zog sie von der Bar fort und die Straße hinunter. „Mensch, du hast es aber eilig“, stellte sie irritiert fest. In der Tat hatte er es eilig. Denn er wollte vermeiden, dass Chandra irgendetwas über Cryptopokémon hörte. Nicht hier, nicht in diesem Moment, nicht an diesem Tag, der so rundum gut verlaufen war und der sich so richtig angefühlt hatte in all seiner Sorglosigkeit. Sie hatte es schlicht nicht verdient, dass ein perfekter Tag zum Schluss hin doch noch von der Finsternis jener Pokémon getrübt wurde, die ihr die Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie so mühsam aufgebaut hatte, wieder nehmen würden. Es genügte vorerst, dass Zayn Hörer dieser höchst unheilvollen Botschaft geworden war. Nach ein paar Minuten erreichten sie ihr Hotel und begaben sich nach oben. Chandra hatte einen müden Eindruck auf ihn gemacht und tatsächlich warf sie sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und stöhnte erschöpft in die Decke. „Geil. Das kann bitte immer so bleiben“, vernahm man ihre gedämpfte Stimme. In dieser schwang so viel Glückseligkeit mit, dass Zayn schon bei dem bloßen Gedanken, ihr von dem eben Gehörten zu erzählen, einen Knoten in der Brust fühlte. Nein. Er musste das zur Seite schieben und durfte sich nichts anmerken lassen. Erst musste er selbst diesbezüglich nachforschen. Wie schön wäre es, sollte sich herausstellen, dass die beiden Fremden lediglich etwas verwechselt hatten. Aber er bezweifelte es. „Wir sollten schlafen“, meinte er und entledigte sich seiner Jacke. „Oh ja.“ Chandra erhob sich und ließ ihre eigene Jacke zu Boden gleiten. „Kannst du mir mal helfen?“ Sie deutete auf ihren Rücken. Er trat zu ihr, um ihr bei dem Reißverschlusses ihres Kleides behilflich zu sein. Sie hatte ihr Haar nach vorne geworfen und bot ihm ihren entblößten Nackten und die leicht hervorstechenden Schulterblätter da, über die sich recht helle, aber zarte Haut spannte. Er wusste selbst nicht, weshalb, aber statt unmittelbar den Reißverschluss herunterzuziehen, legte er eine Hand in ihren Nacken und fuhr mit den Fingern ihre Wirbelsäule entlang, was sie leicht erzittern ließ. Wie ihr Körper auf die empfindliche Berührung ansprang, wurde er sich seiner eigenen Nervosität bewusst. Die Erkenntnis überrascht ihn ungemein. Mit Sicherheit war er zuvor schon mal nervös gewesen in ihrer Nähe, das sollte kaum verwunderlich sein. Doch so, dass er sich des Gefühls und seiner Bedeutung bewusst war, war es erst seit heute. Bereits ihre Gegenwart am Strand, bevor sie ins Hotel gegangen waren, hatte ihn sich innerlich reichlich flatterig fühlen lassen, doch wie so oft war es ihm gelungen, das mit lockeren Sprüche zu überspielen. Jetzt stand er einfach nur hinter ihr, fühlte ihre Wärme dicht an sich und ihr wertvoll gehütetes Vertrauen, welches sie ihm zum Geschenk gemacht hatte, war beinahe greifbar. Endlich zog er den Reißverschluss nach unten, bis hinunter in ihr Kreuz, wenn auch langsam. Chandra drehte sich zu ihm, nachdem er fertig war. Eigentlich hätte das Kleid nun zu Boden segeln können, aber sie hielt die Arme gegen ihren Oberkörper gepresst. Das war überraschend zurückhaltend für sie. „Wieso bist du so still?“, fragte sie. „Ich genieße nur den Moment“, entgegnete Zayn wahrheitsgemäß. Sie lächelte minimal. „Danke für den schönen Tag.“ „Immer wieder gern.“ Nun schien Chandra unschlüssig, was sie tun sollte. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, nach unten, zur Seite, wieder zu ihm. Bevor er ihr die Entscheidung abnehmen konnte, entzog sie sich der Situation, indem sie ins Badezimmer flüchtete. Er vernahm überdeutlich das Geräusch des zuschließenden Türriegels und warf sich daraufhin völlig fertig aufs Bett.   ******   Einige Zeit später wurde das Zimmer nur noch von dem leichten Licht des Mondes erhellt, der durch die großen Fensterscheiben fiel und insbesondere die weiße Bettwäsche hervortreten ließ. Chandra lag neben Zayn und schlief bereits, weshalb er die Gunst der Stunde nutzte, um unbemerkt seinen Durst nach Aufklärung zu stillen. Er konnte nicht bis zum nächsten Tag warten. Er saß aufrecht im Bett, das schwache Licht seines PDAs schien ihm ins Gesicht. Wenn hier in näherer Umgebung in letzter Zeit Cryptopokémon gesichtet worden waren, dann ließ sich dazu sicherlich etwas im Internet finden. Zu seinem Bedauern brauchte er nicht lange, um fündig zu werden. Zu dem erwähnten Voltenso in Newina fand er mehrere Meldungen, die alle von vor drei Tagen waren. So große Wellen geschlagen hatte das Auftauchen diesen Pokémons wohl deshalb, weil es von seinem Trainer in einem Kampf eingesetzt worden war, bei dem es recht viele Zuschauer gegeben hatte. Es fand sich sogar ein amateurhaftes Video des Kampfes, aufgenommen von einem Schaulustigen, das zeigte, wie das Elektropokémon seinen Gegner mit einer für Zayn unbekannten Attacke besiegte. Bei der Attacke war das Voltenso in einen finsteren, wabernden Nebel eingehüllt worden, mit dem es angegriffen hatte. Zayn wusste, dass Chandra diesen Schatten immer um die Pokémon herum sah, gewöhnliche Menschen jedoch nur dann, wenn er sich in Form von Angriffen manifestierte. Dieser Umstand tilgte aber auch jeden Zweifel; dieses Voltenso war kein normales Pokémon. Aber mit der Dunkelheit nicht genug. Nach seinem Sieg hatte sich das in Rage geratene Pokémon sogar auf den gegnerischen Trainer gestürzt und es konnte nur aufgehalten werden, als sein eigener Trainer es panisch in seinen Ball geholt hatte. Voltensos Trainer sah absolut nicht aus wie jemand, dem man solch ein Pokémon zutrauen würde. Das war niemand, der aus Pyritus kam, da war sich Zayn sicher. Er konnte nur mit dem Kopf schütteln bei den verschiedenen Aussagen in den Artikeln. In einem wurde hinter Voltensos merkwürdiger Attacke eine Anomalie der Natur vermutet, ein anderer sprach dem Wesen geradezu Lob aus für diese ‚respektheischende Stärke‘. Aber das Schlimmste: Nur einer von fünf Artikeln setzte überhaupt einen Bezug zu Pyritus und erwähnte, dass dort derartige Pokémon längst keine Seltenheit waren. Zayn suchte noch ein wenig weiter. Tatsächlich fand er noch Berichte zu einigen anderen Sichtungen. In Baltum, das war eine Stadt sehr nördlich gelegen und von Veralia aus betrachtet hinter dem Duellberg und damit ziemlich weit entfernt, hatte man ebenfalls ein ungewöhnlich starkes und aggressives Pokémon gesichtet. Außerdem in Ruvera und in Emeritae. In Emeritae! Dem friedlichsten und geruhsamsten Ort von ganz Orre. Und Ruvera lag zwischen Veralia und Emeritae und damit durchaus in ernstzunehmender Nähe. Zudem fand Zayn einen allgemeinen Artikel, der von den Sichtungen berichtete – und sie sogar in einen Zusammenhang zu Pyritus setzte! – und dort wurde leider auch ein Crypto-Igelavar in Portaportus erwähnt. Getrieben von innerer Unruhe suchte Zayn explizit danach, ob es Sichtungen in Veralia gegeben hatte, fand aber zum Glück nichts. Das musste jedoch nichts bedeuten und schmälerte das Problem auch nicht wirklich. Die Cryptopokémon waren nicht länger nur im Osten. Plötzlich tauchten sie sogar in Städten auf, in denen es sie zuvor nie gegeben hatte. Das konnte nur eines bedeuten. Es war mittlerweile beinahe ein Monat vergangen, seit Zayn Chandra getroffen und sie mit zu sich genommen hatte. Einige Wochen waren verstrichen, in denen ihr verrückter Bruder sie nicht gefunden hatte – und auf einmal tauchten hier Cryptopokémon auf. Diese entstanden aber nicht von selbst und gehörten in allen Fällen zu Trainern. Der logische Schluss daraus war nicht zu ignorieren. Die Pokémon wurden gezielt hier und anderswo verteilt – oder verkauft; allein der Gedanke daran erzeugte Abneigung in Zayn. Viele Menschen waren allerdings zu blind, um genau hinzusehen und verbannten Pyritus gerne aus ihrem Gedächtnis. Wenn man ihnen ein überdurchschnittlich starkes Pokémon anbot, lehnten die meisten nicht ab. Fast alle Trainer strebten nun mal nach großer Stärke und manchen war es unwichtig, wie sie diese erlangten. War das Rays Plan, um Chandra zu finden? Indem er plötzlich Cryptopokémon wie aus dem Nichts überall auftauchen ließ? Gut möglich. Dumm war der Gedanke ja nicht. Allein Zayn fiel es schwer, so etwas zu ignorieren, aber Chandra hatte ja gar nicht die Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Sie würde in Angst verfallen, sollten immer mehr bösartige Pokémon hier anzutreffen sein, und das nicht zwangsläufig wegen der Wesen selbst. Sondern wegen desjenigen, der ihr dieses Leid überhaupt erst antat. Sich als Antwort darauf nur noch zu verstecken, war keine Lösung, aber sollte Chandra wieder das Drängen verspüren, den Cryptopokémon zu helfen, war das ebenfalls besorgniserregend. Als sie dem Waaty geholfen hatte, war ihm das Herz in die Hose gerutscht vor Angst um sie. Und wenn es immer so schien, als würde sie an der dunklen Energie beinahe sterben … Er zuckte zusammen, als ihn etwas am Arm berührte. „Hey, wieso schläfst du nicht?“, fragte eine schläfrige Chandra, die durch halb geschlossene Lider zu ihm hochsah. „Nicht so wichtig. Schlaf weiter.“ Zayn legte seinen PDA weg, um sich anschließend ebenfalls hinzulegen, sein Gesicht ihrem zugewandt. „Okay …“ Kaum hatte sie das Wort genuschelt, da schlossen sich ihre Augen und sie schien sofort wieder eingeschlafen. Im schwachen Licht konnte er ihr Gesicht betrachten. Es sah so friedlich und entspannt aus, kein Leid zeichnete die feinen Konturen. Sie lag dicht an ihm und schien sogar noch näher herangerutscht zu sein. Je länger er sie ansah, umso wohliger fühlte er sich, weil er ihre Nähe selbst so sehr genoss, aber im selben Maße wuchs auch das Gefühl der Sorge. Und Angst. Er strich einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und lächelte schwach. Einem so wunderbaren Menschen durften nicht so grausame Dinge widerfahren. Zayn würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Chandra zu beschützen. Aber er war sich ja bis zum jetzigen Zeitpunkt auch noch nicht bewusst, mit wem er sich eigentlich angelegt hatte.   ******   Chandra wusste nicht, warum, doch Zayn war auffallend schweigsam, seit sie am Morgen aufgewacht waren. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich nicht wohl fühle, was er verneint hatte. Er war zwar nicht anders zu ihr als sonst, aber im Allgemeinen sprach er eigentlich nur, wenn sie etwas zu ihm sagte und den Rest der Zeit versteckte er seine Gedanken und Gefühle unter einer starren, für sie nicht lesbaren Maske. Letzen Endes hatte sie es dabei belassen, allzu genau nachzufragen. Er erzählte sowieso nur dann, was in ihm vorging, wenn er das wollte. Das hatte sie mittlerweile begriffen. Aber vielleicht beschäftigen ihn auch lediglich dieselben Gedanken wie sie, die sich allesamt um den vergangenen Abend drehten. Chandra für ihren Teil wollte da allerdings nicht so ausgiebig drüber nachdenken. Sie verschob diese Angelegenheit lieber auf einen Moment, in welchem sie allein war und peinlich berührt in ihr Kissen jammern konnte. Nachdem sie aus dem Hotel ausgecheckt hatten, machten sie sich auf den Weg zur Straßenbahn und fuhren mit dieser zum Hauptbahnhof von Portaportus. Chandra hatte nicht damit gerechnet, dass auf dem Weg zum Bahnhof etwas Außergewöhnliches passieren würde. Schließlich war es ein sonniger Samstag in einer hellen, freundlichen Stadt, in der es zu dieser Mittagsstunde vor Touristen und allgemein Menschen, die ihren freien Tag genossen, nur so wimmelte – und natürlich erhaschte man immer mal wieder einen Blick auf ein Pokémon, das in Begleitung eines Menschen war. Auch nichts Ungewöhnliches. Eigentlich. Sie liefen gerade über den Bahnhofsvorplatz und Chandra ließ ihre Augen ohne ein bestimmtes Ziel durch die Gegend schweifen. Dabei erfasste sie einige umherlaufende Menschen, ein paar Pokémon und für einen Sekundenbruchteil blitzte zwischen all den Körpern ein schwacher, violett schimmernder Schemen auf. Er fiel ihr auf, weil er im Kontrast stand zu all den hellen, warmen Farben, die sich in der Umgebung sammelten. Der Platz war lichtgefluchtet und ein Fleck Dunkelheit konnte ihr da nicht entgehen. Als Chandra begriff, was sie da gesehen hatte, sah sie sogleich wieder dorthin, diesmal konzentrierter, und in dem Moment, als sie es endlich in aller Vollständigkeit verstand, setzte ihr Verstand aus und sie blieb einfach stehen – starrte bloß durch die Menschenmengen hindurch zu dem Punkt, der sicherlich an die fünfzehn Meter entfernt von ihr war. „Was ist los?“ Das war Zayns Stimme, aber sie klang einige Meter entfernt, als hätte er erst jetzt begriffen, dass sie nicht mehr neben ihm war. Dann stand er wieder an ihrer Seite. „Da.“ Mehr sagte sie nicht, deutete lediglich auf das Pokémon in der Ferne. Es war eher klein, stand auf zwei Beinen und sie erkannte hauptsächlich sein orangebraunes Fell. Eine Frau stand unmittelbar in seiner Nähe und schien mit ihm zu reden, was aber nur mäßig Erfolg zu haben schien. Das Pokémon stand stumpf vor ihr. „Ein Bamelin“, entgegnete Zayn. Das ‚Und?‘ hing unausgesprochen in der Luft. Dort blieb es, denn er begriff, weshalb Chandra mit verunsichertem Ausdruck wie hypnotisiert auf das Wesen sah. „Es ist … ein Cryptopokémon.“ Der dunkle Schatten, der an dem Bamelin haftete, waberte ein wenig über den Boden, als wartete er darauf, anzugreifen. Chandra war zu weit weg, um viel von seinen destruktiven Gefühlen einfangen zu können. Sie verspürte nur eine minimalen Kummer. Die Angst war ohnehin erheblich präsenter. „Wenn hier so ein Pokémon ist, dann …“ Sie sprach nicht zu Ende, sie konnte nicht. Zayn neben ihr sagte auch kein Wort, allerdings sah sie sowieso nicht zu ihm und wusste nicht, wie er die Erkenntnis aufnahm. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder wie beim letzten Mal, als sie in Pyritus ein Cryptopokémon gesehen hatte. Auf dem Markplatz, mit Zayn. Das schien ihr eine Ewigkeit her. Wie damals erfasste sie auch in diesem Augenblick eine immense Unruhe, die sich wie ein schweres Gewicht auf ihre Schultern senkte und sie zu erdrücken versuchte. In diese Unruhe mischte sich ein Gefühl von Niedergeschlagenheit. Denn diese Begegnung erschien ihr beinahe so alltäglich wie all die unzähligen Male, in denen sie in Pyritus ein Cryptopokémon gesehen hatte und das war, trotz aller Bemühungen, es zu vermeiden, viel zu oft geschehen. Die Pokémon waren nun mal da gewesen und sie hatte nicht das Geringste dagegen tun können, musste es immer akzeptieren. Es hatte nie in ihrer Macht gelegen, es zu ändern. Es war normal gewesen; ihr Leben, ihr krankes, armseliges Schicksal. Hoffnung darüber, dass sich eines Tages etwas ändern könnte, hatte es für sie nie gegeben. Und jetzt stand sie hier und fühlte genau so. Als hätte sich das Ganze nur wieder bestätigt. Sie hatte diesen finsteren Pokémon achte Jahre lang nicht entfliehen können und auch jetzt vermochte sie es nicht. Sie waren wie ihr verdammter Schatten, wortwörtlich. Immer präsent und noch deutlicher, wenn sie sich dem Licht zuwenden wollte. Letzten Endes kamen sie wieder hervorgekrochen, um sie zu quälen. Aber dann erschien für eine Millisekunde Waaty vor ihrem geistigen Auge und zeitgleich strömte die Erinnerung daran, wie sie dessen gepeinigte Seele zurück in eine lebensfrohe verwandelte hatte, in ihr Bewusstsein. Vielleicht konnte sie das wieder tun – „Hey, was hast du vor?!“ Eine Hand schlang sich um Chandras Unterarm, so fest, dass sie sich unter anderen Umständen lautstark beschwert hätte. Zayn zog sie zurück zu sich und sie wurde sich wieder bewusst, wo sie war. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie offenbar ein paar Schritte von ihm fortgemacht hatte. „Ich muss ihm helfen“, hörte sie ihre eigene Stimme sagen, die allerdings merkbar monoton und fremd klang. „Bist du verrückt?“, fuhr Zayn sie an. „Wenn du hier auf einem öffentlichen Platz mal eben zu einem Cryptopokémon hin spazierst, es in den Arm nimmst, um es von seinem Zorn zu befreien und es danach völlig normal und glücklich erscheint, während du in Ohnmacht fällst, dann kannst du dich Ray genauso gut auf dem Silbertablett servieren!“ Chandra stutzte, als sie zu ihm hochsah. So viel hatte er gefühlt den ganzen Vormittag lang nicht gesagt. „Aber irgendwas muss ich doch tun“, meinte sie zappelnd. Er ließ ihren Unterarm los, um stattdessen ihre Oberarme zu umfassen. „Jetzt kannst du nichts tun. Sieh es dir an.“ Daraufhin drehte er sie zurück in Richtung des Bamelin. Es war mittlerweile in eine leichte Rage geraten, die sich aber nur darin äußerte, dass das Pokémon wie wild Wasser aus seinem Maul auf den Boden schoss. Vielleicht ein Versuch, sich von den wirren Gefühlen in seinem Inneren abzulenken. Seine Trainern schien sichtbar verzweifelt und wollte es in seinen Ball holen, doch da attackierte das Bamelin sie mit seiner Aquaknarre und rannte daraufhin davon. Nach einem Moment der Empörung rannte die Frau ihm hinterher, anschließend verschwanden beide aus Chandras Sichtfeld. Wie in Zeitlupe drehte sie sich wieder zu Zayn. „Warum sind die hier?“, fragte sie wie ein kleines Kind. Ihr abstruses Bedürfnis, sich in die Dunkelheit des Pokémon zu stürzen, um diesem all seinen Schmerz zu nehmen, war plötzlich verschwunden. Sie verstand das ohnehin nicht. Jetzt war sie nicht mal in unmittelbarer Nähe gewesen und dennoch war da dasselbe Drängen gewesen wie bei Waaty. Vor einem Monat noch hätte sie vor einem Cryptopokémon stehen können und hätte nicht einen Gedanken daran verschwendet, dieses zu berühren. Zayn zögerte mit seiner Antwort. Stattdessen musterte er ihr Gesicht, über dessen Wangen genau dann einige Tränen ihren Weg fanden. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schlicht. Ihr fiel auf, wie müde er klang. Müde und womöglich auch verzweifelt. Sie sah nach unten. Wenn selbst er überfordert schien, dann war sie es erst recht. „Wir sollten jetzt gehen. Wir können zu Hause überlegen, was wir tun.“ Zayn nahm ihre rechte Hand in seine und zog sie fort in Richtung Bahnhof. Zuhause. So etwas hatte Chandra seit elf Jahren nicht mehr gehabt. Man war schließlich gerne in seinem Zuhause und fühlte sich dort wohl. Fühlte sie sich in Zayns Zuhause wohl? Sie fühlte sich bei ihm wohl. Vielleicht war das ja dasselbe. Und das Wissen darum, dass sie nicht mehr so schrecklich allein war mit ihrer düsteren Bestimmung, gab ihr ein wenig Stärke. 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