Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 8: Eis am Stiel ----------------------- Am nächsten Morgen kroch ich müde und kaputt aus dem Futon. Hätte es nicht an meiner Tür geklopft, hätte ich wahrscheinlich verschlafen. Ich konnte die letzte Nacht einfach kein Auge zutun und bin erst vor wenigen Stunden eingeschlafen. Immer wieder schwirrten mir Gedanken an die vergangenen Ereignisse durch den Kopf und ließen einen erholsamen Schlaf nicht zu. Masamis Worte nagten an meinem Verstand. Was wäre, wenn sie ihre Vermutung mit Vater teilte? Und was genau hatte sie damit gemeint, als sie meinte: Du bist genauso krank wie er. Das ergab für mich einfach keinen Sinn. Es klopfte unerbittlich weiter an der Tür, als würde jemand direkt gegen meinen Schädel hämmern. Meine Füße verhedderten sich in der Decke und ich stolperte zur Tür. „Ja, verdammt! Ich bin ja schon auf!“, brummte ich und riss die Tür auf. Ayumi sah mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf. „S-sorry“, murmelte sie und senkte den Blick, „du hast zuerst nicht reagiert und wir müssen gleich los.“ Immer, wenn ich sie sah, überkam mich eine innere Ruhe. Mein Ärger und meine Gereiztheit schwanden mit einem Mal dahin. „Ich komme gleich“, meinte ich ruhiger und fuhr mir durchs Haar. Ayumi nickte und wandte sich zum Gehen. „Danke“, rief ich ihr hinterher, „dass du mich geweckt hast.“ Dann verschwand ich wieder auf meinem Zimmer. Nachdem ich in der Hektik meine Schuluniform angezogen hatte, putzte ich mir noch schnell die Zähne. Natürlich musste ich mein weißes Hemd mit Zahnpasta bekleckern. Ich fluchte, während ich versuchte die Zahnpasta mit Handtuch und warmen Wasser aus dem Stoff zu schrubben. Der Tag fing ja toll an. In der Küche traf ich auf Vater. Er saß am Küchentisch mit einer Zeitung in der Hand und trank Tee. Die letzten Jahre hatten ihm hart zugesetzt. Er hatte graues Haar, dunkle Augenringe und tiefe Falten zierten sein Gesicht. Seine Haltung war ein wenig krumm und eine Rasur hätte er auch vertragen. Von seiner Erhabenheit und seiner Autorität schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Der Mann, der er einst war, schien nach und nach verschwunden zu sein. Er hob seinen Blick und rückte seine Brille zurecht, bevor er mir einen guten Morgen wünschte. „Morgen“, sagte ich zurück und wollte mir noch schnell ein Brot machen, bevor wir losmussten. „Ayumi hat dir bereits eins bemacht“, hörte ich ihn hinter meinen Rücken sagen. Ich entdeckte erst jetzt das fertig belegte Brot auf dem Tisch. Sie dachte immer an mich, egal wie ich mich aufführte. Ich griff danach und machte Anstalten die Küche zu verlassen, doch seine Worte hielten mich auf. „Sie ist ein liebes Mädchen, sorgt sich immer um dich. Ich weiß, ihr habt ein enges Verhältnis, aber vergiss nicht, wer sie für dich ist.“ Seine Worte schnürten mir die Kehle zu, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Es war ein seltsames Gefühl, es aus seinem Mund zu hören. Mir lief der Schweiß kalt über meinen Rücken. Masami hatte ihm bestimmt ihre giftigen Worte zugeflüstert. „Keine Sorge, Vater“, presste ich hervor, doch schaffte es nicht ihm in die Augen zu sehen. Ich wusste, wer sie für mich war. Das brauchte er mir nicht zu sagen. „Ich meine es ernst, Hyde. Sollte ich je etwas erfahren...“ Seine Worte ließen mich aufhorchen und ich wandte mich endlich zu ihm um. „Was, Vater? Wirst du mich bestrafen? Mich schlagen? Was? Was könntest du mir schon antun, was ich nicht schon erlebt habe?!“ Er sah mich überrascht an, da er mit meinem Ausbruch nicht gerechnet hatte. Doch im nächsten Augenblick verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck. Er erhob sich mit einem Ruck und überwand den Abstand zwischen uns mit wenigen Schritten. „Halt dich einfach von deiner Schwester fern, hast du mich verstanden?“ Irgendwann hatte ich Respekt vor ihm. Irgendwann... Doch jetzt machte mich seine ganze Präsenz nur noch aggressiv. „Und was, wenn nicht?“ Ich hatte es gar nicht sagen wollen, doch die trotzigen Worte verließen meinen Mund schneller, als ich denken konnte. Seine Augen funkelten wütend, entsetzt. Erst als ich Blut schmeckte, realisierte ich, dass er mir mit seiner flachen Hand ins Gesicht geschlagen hatte. Mein Ohr dröhnte. Er hatte mich noch nie geschlagen. „Tut… mir leid…“, stammelte er und ich hob benommen meinen Blick. Seine Hand zitterte und er starrte sie an, als würde er nicht begreifen, was hier eben passiert war. „Tu einfach… was ich dir… gesagt habe…“, sagte er abgehackt und verließ fluchtartig die Küche. Ich stand im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachtete meine aufgeplatzte Lippe. Ich hatte nicht erwartet, dass er zuschlägt, und offensichtlich ging es ihm nicht anders. Sein geschockter Gesichtsausdruck hatte ihn verraten, dass er mit seinem eigenen Ausbruch nicht gerechnet hatte. Aber vielleicht hätte ich das an seiner Stelle auch getan. Diesmal hatte ich es wirklich verdient. Ayumi war meine Schwester. Meine Halbschwester zwar, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Gefühle wider Natur durfte ich nicht für sie hegen. Es ist Sünde, sagte eine Stimme in mir und ich wusste, dass sie recht hatte. Innerlich gab ich ein Versprechen ab, ich würde dem Verlangen nie nachgehen. Denn ich wusste, es wäre mein Untergang. Und auch der ihre. Ayumi wartete draußen auf mich. Die Sonne strahlte bereits am frühen Morgen hell und warm. Wir waren spät dran und ich für meinen Teil würde wahrscheinlich nachsitzen müssen, was nicht hieß, dass ich das auch wirklich tun würde. „Was hast du denn da?“ Ayumi streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus und inspizierte meine Lippe. „Ist nicht schlimm.“ „War das Masami?“  Ich schüttelte den Kopf und entfernte sanft ihre Hand, die immer noch auf meinem Gesicht lag. Ayumis Augen weiteten sich, als Erkenntnis darin eintrat. „Vater?“ „Mach dir keine Sorgen, ja“, sagte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Lass uns gehen.“ Ehrlich gesagt, hatte ich gar keine Lust auf Schule, auf diesen langweiligen Trott. Tag ein, Tag aus. Immer dasselbe. Es war zum Kotzen. „Lass uns schwänzen“, schlug ich vor, als wir den halben Weg hinter uns hatten. In der Regel schwänzte ich immer alleine. Ich wollte ihr keine Schwierigkeiten bereiten. Außerdem dachte ich nicht, dass sie meinen Vorschlag befürworten würde. Umso überraschter war ich, als sie einwilligte. „Ich habe noch nie geschwänzt“, meinte sie aufgeregt, „was wollen wir denn machen?“ „Ich hab‘ da schon eine Idee.“ Wir schmuggelten uns in den Bus und fuhren Richtung Innenstadt. Am frühen Morgen durch die Straßen von Tokyo in einer Schuluniform zu laufen, brachte uns eine Menge schräger Blicke ein. Ich hoffte nur, wir trafen auf keinen Ordnungshüter, der uns in die Schule schleifen wollte. Aber wir hatten Glück und keiner sprach uns an. Wir schlenderten durch die Läden und ich merkte Ayumis sehnsuchtsvolle Blicke, als wir an hübschen Kleidern vorbeigingen. Ich wünschte, ich hätte genug Geld, um ihr etwas davon kaufen zu können. Vielleicht war das doch keine so gute Idee hierherzukommen. Hier gab es alles, was wir nicht haben konnten. Es war ganz schön heiß, sodass wir uns ein schattiges Plätzchen suchten. Auf einer Bank unter einem großen Baum ließen wir uns nieder. Es war bereits Mittag und die Straßen füllten sich immer mehr mit Menschen. Eine Mutter ging mit ihrem Kind vorbei, das ein Eis in der Hand hatte. Plötzlich schoss mir eine Idee durch den Kopf. „Warte mal kurz hier“, sagte ich zu ihr und ließ meine Schultasche neben ihr liegen. „Wohin gehst du?“ „Bin gleich zurück.“ Ich schlenderte wieder Richtung Passage und sah mich nach einer Eisdiele um. Es gab zig Eisläden, doch ich suchte mir den einen aus, in dem ein alter Opa arbeitete. Er nahm freundlich lächelnd meine Bestellung auf, sodass ich schon ein schlechtes Gewissen bekam, bei dem, was ich vorhatte. Doch als er mir das Eis gereicht hatte, lief ich los. Ich lief so schnell mich die Beine trugen. Hinter mir hörte ich ihn schimpfen, aber er nahm nicht die Verfolgung auf. Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Tut mir leid, Onkelchen. Völlig aus der Puste kam ich bei Ayumi an und reichte ihr das Eis, das nur leicht geschmolzen war. „Was...“, fragte sie völlig verwundert und nahm zögernd das Eis in ihre Hand, „wo hast du das denn her?“ „Stell keine Fragen und iss“, sagte ich und setzte mich zu ihr. Das Eis schmeckte köstlich und nach kurzem Überlegen fing auch Ayumi an zu essen. Wir lehnten uns zufrieden zurück. „Mein Bruder ist also ein Dieb“, neckte sie mich und warf mir einen wissenden Blick zu. „Hm, so würde ich das nicht nennen. Ich bin nur... erfinderisch.“ „Erfinderisch?“ Sie lachte. „So nennt man das also.“ Mir fiel auf, dass wir wieder ausgelassen miteinander sprachen. Die Anspannung zwischen uns fiel wie eine tonnenschwere Last von unseren Schultern. Die Sonne schien sanft zwischen den Bäumen auf uns herab. Mein Blick wanderte nach oben und betrachtete die im Wind raschelnden Blätter. Der Tag hatte scheiße angefangen, aber sich zum Glück zum Guten gewendet. Auf einmal spürte ich etwas Kühles auf meiner Wange. Ayumi hauchte mir einen Kuss darauf. „Danke für das Eis, Brüderchen.“ Mein Blick wanderte zu ihr, während sie ihren bereits abgewandt hatte. Es prickelte angenehm auf meiner Haut. „Nicht dafür“, erwiderte ich und hoffte, dass sie mein heftiges Herzklopfen nicht hörte, jenes so laut in meiner Brust zu schlagen schien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)