Black Magic: Night Stallion von Arianrhod- ([NaLu, Stingue]) ================================================================================ Kapitel 3: Bloody Walls ----------------------- Draußen wurde es langsam hell. Es war ein grauer Tag, der Himmel bedeckt von tiefhängenden Wolken, so dass die Sonne keine Chance hatte durchzudringen. Vermutlich würde es im Laufe des Tages wieder schneien, doch auch diese Aussicht hob die gedrückte Stimmung, die über dem kleinen Esszimmer lag, nicht an. Oder nein, nicht gedrückt, eher nachdenklich, gedankenvoll. Doch niemand dachte mehr an Schlittenfahrten oder Spaziergänge durch den Schnee oder Touren mit dem Pferdeschlitten. All das, auf das Lucy sich schon seit Wochen freute und von dem sie gedacht hatte, sie könnten es heute ausgiebig genießen. Aber daraus wurde wohl sobald nichts. Lucy zog die Schultern hoch und riss den Blick von der verschneiten Landschaft los, um zu den anderen zu schauen. Sie saßen am Tisch, auf dem noch die Reste des Frühstücks und das benutzte Geschirr standen, und sahen mitgenommen und übermüdet aus. Alle außer Natsu natürlich, der trotz allem nicht seinen Optimismus verloren zu haben schien und vergnügt drei Brötchen verputzt hatte. Alle anderen, Lucy eingeschlossen, hatten eher keinen Appetit gehabt. Nach den Enthüllungen der letzten Nacht war das auch kein Wunder. Immerhin hatte sich ihren Eltern und Capricorn eine völlig neue Welt erschlossen, allerdings keine sehr freundliche, etwas, das sehr offensichtlich gewesen war – spürbar bis tief in die Knochen. Lucy fuhr es noch immer kalt den Rücken hinunter, wenn sie auch nur daran dachte. Ihr Vater wirkte auch noch blass, doch bereits wieder gefasst. Den Ohnmachtsanfall schien er zum Glück gut überstanden zu haben und sie hatte eigentlich ein wenig mehr … Panik oder zumindest Aufregung erwartet. Er war immer ein sehr weltlicher Mensch gewesen, ein Atheist durch und durch, der keine Geduld für Aberglauben und Mystizismus hatte. Oder sie unterschätzte einfach, wie gut er darin war, eine unerschütterliche Fassade zu wahren. Im Moment stellten er und Capricorn ihrem Freund nun eifrig Fragen, die dieser beantwortete, während er sich sein inzwischen viertes Marmeladenbrötchen einverleibte. Natsu hatte eindeutig zu viel Spaß an der Sache. Layla dagegen sagte schon eine ganze Weile nichts mehr, völlig versunken in ihren Gedanken. Sie war blasser als sie alle und in ihren Augen saß ein ferner Blick, der Lucy Angst machte. Wenn die Berührung des Todes sie selbst derartig mitgenommen hatte, wie sehr musste er ihrer Mutter zugesetzt haben…? Lucy hatte das Gespräch längst ausgebblendet und versuchte es zu ignorieren. Sie hatte ihre Eltern und deren Haushalt nie damit hineinziehen wollen. Halloween hatte ihr eine Lektion darin erteilt, wie gefährlich das Wissen war und welche Gefahren in der Magie lauerten. Oder nicht Halloween, sondern eher Erza und ihr Schicksal… Das Buch, so tückisch. Ihre Eltern hatten außen vor bleiben sollen, ahnungslos und sicher. Aber diese Illusion war augenscheinlich brüchiger, als sie gedacht hatte, fadenscheinig und dünn. Logisch gesehen wusste sie, dass die Magie und ihre Gefahren nicht verschwanden, nur weil man nichts von ihnen wusste, im Gegenteil. Doch sie hatte es sich leichter vorstellen können, dass das alles nicht existierte – die wahren Ereignisse von Halloween, Hexen, Vampire, der Dämon – wenn sie die Einzige im Raum war, die darüber Bescheid wusste. Das war vielleicht ein trügerisches Gefühl, doch was schadete es, sich das vorzustellen? Zumal es sowieso nichts gab, was sie tun konnte und nicht sowieso schon tat. Doch dies war jetzt nicht mehr möglich und ein weiterer Beweis, wie nah es alles war und in welcher Gefahr die ganze Welt schwebte. Vielleicht war doch etwas dran daran, das Unwissenheit schützte…? Denn eigentlich war es ein Wunder, dass hier noch menschliches Leben herrschte, mit Kreaturen wie dem Hohen Dämon da draußen. Bei diesem Gedanken rann Lucy ein kalter Schauer über den Rücken und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. „Lucy?“ Laylas Stimme riss sie aus den Gedanken und sie blickte auf. „Was ist, Mama?“ Ihre Mutter sah sie aus nachdenklich verengten Augen an, die Stirn gerunzelt, und fuhr schon fort, ehe sie fortfahren konnte. „Heißt das, dass diese Frau gar nicht verrückt war?“ Welche Frau? wollte Lucy fragen, doch dann fiel ihr ein, dass nur eine gemeint sein konnte. Die, die Lucy in all das hineingezogen hatte Layla bestätigte diesen Verdacht sofort, als sie fortfuhr: „Hat sie tatsächlich einen Dämon beschwören wollen?“ Lucy schloss einen Moment ergeben die Augen, aber eigentlich hätte sie damit rechnen sollen, dass ihre Mutter diese Verbindung sofort knüpfte. „Ja.“, gestand sie nach einem Augenblick, nur um gleich darauf hastig hinzuzufügen: „Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen! Ich lebe offensichtlich noch, ihr Vorhaben schlug fehl, mir geht es gut und der Dämon wurde gebannt, ehe er ganz herübertreten konnte! Wir hatten da echt gute Hilfe!“ Jude, seine Aufmerksamkeit nun ebenfalls voll und ganz auf seiner Tochter ruhend, zog skeptisch die Augenbrauen hoch und auch den anderen beiden war anzusehen, dass sie ihr nicht unbedingt glaubten. Zumindest erkannten sie, dass sie nicht die volle Wahrheit sagte. Natsu, obwohl verwirrt darüber, dass sie derartig rigoros abblockte, kam ihr zur Hilfe. „Scarlet hat das Buch nicht mehr, das sie dafür benutzt hat. Und ich meine, sie war schon verrückt, nur etwas anders als alle Welt glaubt.“ „Es gibt sicher noch mehr Bücher zum Dämonenbeschwören als dieses eine.“, wandte Jude logisch ein. „Ja, schon, irgendwie.“, gab Natsu zu und machte eine wegwerfende Handbewegung, bei der ihm beinahe der Rest seines Brötchens aus den Fingern rutschte. „Aber das war ein ganz besonderes und ohne das… Sagen wir, von Scarlet geht jetzt keine Gefahr mehr aus. Wir sollten uns lieber auf unser aktuelles Problem konzentrieren.“ Weder Jude noch Layla noch Capricorn sahen wirklich überzeugt aus, aber sie ließen das Thema fallen. Vorerst zumindest – da war der Geist wohl doch zu etwas gut. Auch wenn sie es ihm überhaupt zu verdanken hatte, dass sie mit der Sprache herausrücken musste. Lucy warf ihrem Freund einen dankbaren Blick zu und kam an den Tisch zurück, während Jude fragte: „Was genau ist das für ein Problem?“ Jetzt horchte auch Lucy auf und sie ließ sich neben Natsu wieder auf ihren Stuhl fallen. Das war eine gute Frage, denn hatte er nicht schon früher selbst Geister ausgetrieben? „Kannst du ihn nicht vertreiben?“, sprach sie ihre Gedanken aus. „Ich meine, du hast mir erzählt, dass das Teil deines Jobs ist.“ Doch Natsu rieb sich das Gesicht und dachte sogar erstmal nach, ehe er antwortete: „Das stimmt schon, aber wir haben hier mehr als ein Problem… Erstmal ist dieser Geist nicht gerade ein Nullachtfünfzehn-Gespenst, die man überall trifft. Ich habe noch niemals einen gesehen, der solche Auswirkungen auf das Diesseits hat. Und wohlgemerkt, er ist noch schwach.“ Er machte eine Pause, so dass sie sich alle an das Bild erinnern konnten, das die Erscheinung zurückgelassen hatte. Die Eingangshalle war im Moment nicht nutzbar, da überall noch Scherben herumlagen. Die zerschmetterten Lampen, die freiliegende Elektrik und nicht zuletzt der völlig zerstörte Kronleuchter hatten dafür gesorgt, dass Capricorn das Foyer abgesperrt hatte und den Fußverkehr – im Moment vor allem das Personal – über eine Seitentür umgelenkt hatte. Sie konnten wohl von Glück reden, dass alle Fenster heil geblieben waren. „Was meinst du mit ‚schwach‘?“, verlangte Jude sofort zu wissen. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte er irgendwie mit Natsu handeln, dass der seine Einschätzung änderte, von ‚schwach‘ zu ‚recht stark‘ vielleicht. Doch Natsu schien das nicht einmal zu bemerken; er lehnte sich nur zurück und starrte nachdenklich an die Decke, sein Brot unsicher in der Hand balancierend. „Ein Geist hat ein wenig zwei verschiedene Stärken. Da ist einmal, nennen wir es seine Macht, also die Auswirkungen, die er auf das Diesseits haben kann und sowas halt. Und dann ist das seine Körperlichkeit – also wie sehr er bereits im Diesseits ist. Je höher die Körperlichkeit, desto mehr kann er tun, so Dinge bewegen und so. Je mehr Macht, desto stärker kann er Einfluss nehmen. Habt ihr das verstanden?“ Lucy nickte und die anderen taten es ihr gleich. Bis jetzt hatte sie der Erklärung gut folgen können. Wer hätte gedacht, dass in Natsu ein kleiner Lehrer steckte? „Okay, dieser Geist war nicht sehr körperlich. Er hat kaum seine Stimme übertragen können und seine Erscheinung war nur vage. Kaum hier. Aber seine Macht…“ Natsu verzog ärgerlich das Gesicht und gestikulierte wild mit seinem Marmeladenbrot. Capricorn sah aus, als wollte er ihn rechtmäßigen, ehe es auf den teuren Teppich fiel, unterließ es dann aber. Vielleicht, um die Erklärung nicht zu unterbrechen, mit der Natsu fortfuhr: „Er hat die ganze Eingangshalle in Schutt und Asche gelegt. Ich will gar nicht wissen, zu was er fähig ist, wenn er komplett übergetreten ist. Das könnte ganz schön ins Auge gehen.“ „Und darum wäre es besser, ihn gar nicht so weit kommen zu lassen.“, wies Jude logisch auf und Natsu nickte. „Aber je mehr Macht, desto schwerer ist es, ihn zu vertreiben. Ich weiß ehrlich nicht, ob ich es überhaupt hinkriegen kann, ihn rauszuwerfen. Und ich hab keinerlei Ausrüstung da.“ Er zuckte mit den Schultern und Layla und Jude wechselten Blicke. Capricorn wirkte, als wollte er etwas sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf. Lucy fragte sich, wie sie vor diesem Hintergrund das friedliche Weihnachten haben sollten, das sie sich vorgestellt hatte. Das war jetzt vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber aufzuregen, aber sie war einfach so enttäuscht! „Vielleicht ist es ein Poltergeist.“, sinnierte Natsu, klang aber eher, als sprach er mit sich selbst. Lucy fragte nicht nach, was der Unterschied zwischen einem Gespenst und einem Poltergeist war. „Ich werde sehen, ob ich hier auftreiben kann, was ich für eine Austreibung brauche oder nochmal nach Mangolia muss.“ Lucy seufzte ergeben. „Wollen wir mal hoffen, dass der Geist uns in der Zwischenzeit allein lässt und vor allem nicht so blutrünstig ist, wie er klang.“ „Er klang sehr danach.“, bemerket Layla und erschauderte sichtbar. In ihre Wangen war noch immer keine Farbe zurückgekehrt. Nicht nur Lucy warf ihr einen besorgten Blick zu, auch Jude wirkte, als wollte er aufstehen, seine Frau in eine Decke wickeln und sie vor allen Gefahren der Welt beschützen. Dann rieb er sich durch das Gesicht. „Ich werde dem Personal freigeben, bis wir die Sache geklärt haben. Damit es zumindest da keine Probleme gibt.“ „Gute Idee.“, stimmte Natsu zu und stopfte sich nun endlich den Rest seines Brötchens in den Mund. Capricorn entspannte sich geringfügig als sein Teppich endlich außer Gefahr war, doch so leicht ließ er Natsu nicht davonkommen: „Sagtest du nicht etwas von mehreren Problemen?“ Erneut richteten sich alle Blicke auf den Angesprochenen. „Hm, ja…“, gab dieser nach einem Moment zu. „Es ist so, dass… etwas Dunkles liegt über Heartphilia Manor und sind nicht die Energien des Geistes. Zumindest nicht nur. Da ist noch etwas anderes…“ Natsu runzelte die Stirn und spielte jetzt mit seinem Messer, noch beschmiert mit Marmelade. „Dieser Geist ist noch nie zuvor aufgetaucht, oder?“ „Nein.“, antwortete Lucy sofort und Layla hob die Schultern. „Zumindest nicht, solange ich denken kann. Vielleicht wusste meine Großtante etwas über ihn.“ „Ich werde die Bücher heraussuchen, sobald ich die Zeit dafür habe.“, erklärte Capricorn sich bereit und beugte sich vor, um Natsu das Messer wegzunehmen. Der schenkte ihm nur einen verwirrten Blick. „Gute Idee!“, stimmte er dann zu und griff nach seinem Laptop, der am unteren Tischende stand. „Und solange werd ich mal sehen, was Cana für uns so auftreiben kann. Wenn es hier auf dem Anwesen mal echte Geistererscheinungen gab, wird sie es herausfinden. Oder irgendetwas anderes.“ Er tippte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum, während der kleine Computer hochfuhr, aufgeregt über den neuen, interessanten Fall, der ihm so unverhofft in den Schoß gefallen war. Seine Lippen wurden sogar von einem kleinen Lächeln umspielt. Denn eins war Lucy schon eine Weile klar: Natsu hatte keine Angst, da war nicht einmal das kleinste Fünkchen Furcht zu sehen. Im Gegenteil, er freute sich geradezu auf dieses Rätsel um den Geist, das ihnen das besinnliche Weihnachten verdarb, auf das Lucy sich so gefreut hatte. Verdrossen sank sie tiefer in den Stuhl und fragte sich, wo das noch hinführen würde. Überrascht war sie über seine Reaktion nicht. Warum hatte sie sich ausgerechnet so in diesen Typen verliebt, der so ganz anders war als sie und für den anscheinend schon ein Tag Ruhe zu viel war? Sie zuckte zusammen, als Capricorn abrupt aufstand. Doch er sah weder sie an noch jemand anderen, als er begann, den Tisch abzuräumen und seinen üblichen Pflichten nachzugehen. Verdutzt schaute sie zu, wie er mit sichtbar beherrschten, akkuraten Bewegungen die Teller zusammenräumte und die Reste des Frühstücks auf ein Tablett stellte. Obwohl sein Gesicht unbewegt war, konnte sie an seinem starren Blick und daran, dass er sich standhaft weigerte, mit jemandem Augenkontakt zu halten, sehen, wie sehr ihn die Ereignisse aufgewühlt hatten. Doch die Routine schien ihm zu helfen, sich wieder zu sammeln. Jetzt, da keine Ablenkung mehr da war, schien alle Haltung zusammenzufallen. Das Gleiche galt auch für Jude, der sich neben seiner Frau auf der kleinen Bank niedergelassen hatte. Sie beiden redeten leise miteinander, eng zusammengedrängt und die Hände miteinander verschlungen. Jude wirkte blass und mit jeder Sekunde schien er fahriger und nervöser zu werden. Er wrang die Hände, raufte die Haare, spielte mit einer Serviette und zupfte an seinen Ärmeln und dem Kragen herum, obwohl alles bereits saß. Seine Frisur wirkte durcheinander, was einen seltsamen und vor allem ungewohnten Anblick darstellte. So kannte man ihn gar nicht, selbst Lucy hatte Probleme, dieses Verhalten mit ihrem Vater in Verbindung zu bringen. Erstaunlicherweise war es Layla, die mit den Ereignissen am besten fertig wurde. Ihre Umgebung, zumindest jene, die von ihrer Depression wussten, tendierte dazu, sie wie eine zarte, zerbrechliche Puppe zu behandeln. Lucy wusste, dass sie sich dieses Verhaltens selbst auch schon schuldig gemacht hatte, obwohl sie Mal um Mal zugesehen hatte, wie ihre Mutter sich wieder zurück ans Leben gekämpft hatte. Wir Heartphilia-Frauen sind hart im Nehmen, hatte ihre Großmutter gepflegt zu sagen, eine Frau, die Lucy als winzig und zittrig im Gedächtnis geblieben war, kaum dazu in der Lage, ein Glas zu heben. Wir sind aus ziemlich zähem Stoff gemacht. Damals hatte sie nicht gewusst, was ihre Großmama ihr damit hatte sagen wollen. Denn Lucy hätte keine von ihnen, weder sich noch Layla noch deren Mutter, als ‚hart im Nehmen‘ beschrieben. Layla war Layla, die für immer die Narben selbst zugefügter Wunden an ihren Handgelenken tragen würde, und Lucy selbst hatte sich damals vor Insekten, Mäusen, Schmerzen und abgebrochenen Fingernägeln gefürchtet. Doch jetzt sah sie das alles in einem anderen Licht und vielleicht war ihre Großmutter auf dem richtigen Weg gewesen. Sie blickte auf, als Tamino auf den Tisch sprang und an der Butter schnupperte. „Nein, lass das sein.“, rügte sie ihn und stand auf, um sie ihm wegzunehmen. Wo kam er eigentlich so plötzlich her? „Das ist nichts für dich.“ Beleidigt sah er sie an und maunzte. Sein Blick richtete sich begehrlich wieder auf die Butter, dann auf den Rest Milch im Krug und den Schinken, den Capricorn gerade wegnahm. Der Butler schmunzelte fast unmerklich und machte sich dann ein zweites Mal auf den Weg nach draußen. „Du hast schon gegessen.“, klärte Lucy Tamino auf und ihr Kater konnte sich wohl kaum beschweren. Er musste nicht mal Katzenfutter essen, sondern bekam nur echtes Rohfleisch und -fisch in den Napf. „Außerdem hast du dich heute Nacht sicher an diversen Mäusen oder Vögeln gütlich getan, darauf möchte ich wetten.“ Tamino starrte sie pikiert an, ließ aber ohne Proteste zu, dass sie ihn auf den Schoß nahm und streichelte. Schnurrend rieb er das Köpfchen an ihrer Hand. Sein Körper war warm und tröstlich und endlich fühlte sie, wie auch der letzte Rest der Todeskälte aus ihren Knochen verschwand. Es gab doch nichts Besseres gegen niederdrückende Gefühle als eine Katze zum Schmusen. „Na endlich!“, verkündete Natsu in diesem Moment und Lucy richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Laptop, dessen Bildschirm sie von ihrem Platz gut sehen konnte. Dort hatte ihr Freund inzwischen Skype geöffnet und loggte sich ein. Er warf einen kurzen Blick in die Runde, während das Programm lud. „Cana wartet sicher schon.“ Tatsächlich blickte die Sekretärin von Slayer Investigations ihnen bereits ziemlich unbeeindruckt entgegen, als sie die Verbindung endlich hergestellt hatten. „Ihr habt mich ganz schön lange wa- Hey, ist das Tamino?“, unterbrach Cana sich selbst, ehe sie überhaupt ‚Hallo‘ sagte. Ihr neugieriger Blick war auf den Kater gerichtet, der noch immer auf Lucys Schoß saß und die Fremde auf dem Bildschirm mit gespitzten Ohren anstarrte. „Der ist ja noch niedlicher, als ich mir ihn vorgestellt habe! Ich möchte ihn knuddeln!“ „Das geht jetzt nicht.“, grummelte Natsu. „Außer, du hast eine Möglichkeit gefunden, durch einen Bildschirm zu greifen.“ „Du kannst mich mal besuchen kommen, wenn wir wieder in Magnolia sind.“, bot Lucy an und Cana grinste. „Das musst du mir nicht zweimal sagen! Wir können-“ Sie wurde unterbrochen, als Natsu beleidigt die Arme verschränkte und erklärte: „Jaja, ignorier deinen Boss einfach.“ „-zusammen brunchen gehen.“, redete Cana ungerührt weiter. Sie grinste über das ganze Gesicht, heute nur leicht geschminkt, dafür mit einem tiefroten Lippenstift, der alle Blicke auf sich zog. Dazu trug sie einen enganliegenden Rollkragenpullover in Türkisblau, über den sich ihre dunkelbraunen Locken ringelten. Jude zog eine Augenbraue hoch – keiner seiner Angestellten hätte je gewagt, so mit ihm zu umzugehen und er hätte es auch niemals zugelassen. Disziplin und Respekt waren für ihn das A und O im Geschäftsleben. Doch glücklicherweise sagte er nichts dazu. Vielleicht hatte er längst erkannt, dass Natsu nicht nur der unkonventionelle Typ war, sondern mit ähnlich freien Geistern arbeiten musste, um sein volles Potential ausschöpfen zu können. „Können wir“, stimmte Lucy schmunzelnd zu „aber erst haben wir hier ein kleines Problem zu lösen.“ Cana stützte das Kinn auf die Hand. „Ach ja, das gibt es ja auch noch. Wo brennt’s?“ Sie klang äußerst unzufrieden damit, von so etwas Unwichtigem wie Arbeit dabei unterbrochen zu werden, einen Katzen-Knuddel-Termin auszumachen. „Gestern Nacht ist hier eine ziemlich merkwürde Erscheinung aufgetaucht.“, erklärte Natsu, jetzt professionell. Er schilderte kurz die Ereignisse und schloss mit: „Ich tippe auf einen Poltergeist, aber das war irgendwie sein Debüt – hier weiß niemand etwas von überirdischen Erscheinungen.“ „Und ich soll herausfinden, ob es doch welche gibt?“, brachte Cana die Sache auf den Punkt und nickte. Sie hatte sich nebenher eifrig Notizen auf einem Block gemacht. Oder vielleicht hatte sie auch nur darauf herumgekritzelt, das Papier war über das Video nicht zu erkennen. Da sie aber so oder so Ergebnisse lieferte, war Lucy das herzlich egal. „Kann aber etwas dauern, ich sitz hier gerade noch an einem anderen Job.“ Natsu kratzte sich an der Stirn. „Anderer Job. Du willst mir doch nicht erzählen, dass Romeo und Gray so viel bei dieser kleinen Überwachung ausgraben.“ Cana rollte die Augen. „Blödsinn. Romeo macht das jetzt allein, der freut sich wie ein Schneekönig darüber und das ist so ein langweiliger Scheiß.“ Sie griente bei der Erinnerung. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Bildschirm und ihr Grinsen wurde breiter. „Aber kaum warst du vorgestern weg, ist hier eine verirrte Gothicprinzessin durch die Tür gewandert und nimmt jetzt Gray in Beschlag.“ Sie kicherte. „Gothicprinzessin.“, wiederholte Natsu ungläubig und auch Lucy zog eine Augenbraue hoch. „Klingt … aufregend.“ Cana zuckte mit den Schultern, aber schaffte es, sich nicht das Grinsen vom Gesicht zu halten. „Superblass und zart, ganz in Schwarz und mit Korsett und allem. Ich dachte erst, ein Vampir hätte sich verlaufen, aber es war helllichter Tag und die Sonne war draußen.“ Dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung. „Egal. Geister in Heartphilia Manor also.“ „Wir haben noch die Notizbücher.“, warf Capricorn von der Seite ein. Lucy zuckte zusammen; sie hatte gar nicht mitgekriegt, dass er zurückgekommen war. „Vielleicht bieten sie ein paar Anhaltspunkte.“ „Warum hat mir niemand gesagt, dass ich noch mehr Publikum habe als euch zwei Banausen?“, beschwerte sich Cana sofort, die jetzt aufrecht in ihrem Stuhl saß und sich umsah, als könnte sie dadurch den Sprecher erkennen. „Und wer ist das überhaupt?“ Lucy lächelte entschuldigend und erklärte: „Nur meine Eltern und unser Butler.“ „Butler?“, wiederholte Cana verdutzt und zog beide Augenbrauen hoch. Dann beugte sie sich mit einem breiten Grinsen vor. „Sag mal, Lucy, bist du in einem Schloss aufgewachsen oder was?“ „Nein.“, antwortete sie, während Natsu im gleichen Moment erklärte: „Ja, absolut!“ Cana griente, Layla schmunzelte und Jude stützte den Kopf in die Hände, als fragte er sich Wohin soll das denn führen? Lucy schmollte, doch sie wurde rasch wieder ernst. „Können wir uns um die wichtigen Dinge kümmern?“ „Wie etwa dein Schloss von einem Geist befreien?“, zog Cana sie auf und grinste breit. Lucy rollte mit den Augen. „Es ist kein Schloss.“ Es war nur ziemlich groß. Und hatte nur kleine Türmchen. Und einen gigantischen Garten, den manch einer als ‚Park‘ bezeichnen würde. Aber ein Schloss war es nicht, verdammt noch mal! Aber alles, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte, war recht schwach… „Wie auch immer.“, schob Jude das Thema vom Tisch und erhob sich, um sich hinter Lucy zu platzieren. Sie konnte ihn von ihrem Platz nicht sehen, aber sie konnte sich denken, wie er dort stand; der Rücken gerade, die Hände dahinter verschränkt, sein strenger Blick auf den Bildschirm gerichtet. Von seiner Beunruhigung war ganz sicher nichts mehr zu sehen. Canas Augen weiteten sich, als sie zu ihm aufblickte und ihr Gesichtsausdruck änderte sich innerhalb der drei Sekunden etwa zehn Mal, was es unmöglich machte, ihn zu bestimmen. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Lucy. „Hey, Süße.“, begann sie langsam. „Irgendwie habe ich es zwar gewusst, aber es nie so richtig verknüpft, dass dein Vater eine Fortune 5oo Firma leitet, die immer ganz oben dabei ist. Was geht, Sir?“ Lucy schmunzelte und ihr Vater zog skeptisch eine Augenbraue hoch ob der lapidaren Ansprache. Aber heute schien er tatsächlich sehr lax eingestellt zu sein, denn er hielt auch Cana keinen Vortrag über Höflichkeit. „Warum nennst du mich nie ‚Sir‘?“, beschwerte Natsu sich sofort und schmollte. Cana schenkte ihm einen Blick und zuckte mit den Schultern, als wüsste sie nicht, von was er sprach. „Sie können uns also helfen herauszufinden, was hier vor sich geht?“, brachte Jude das Gespräch wieder auf das wichtige Thema zurück. Anscheinend hatte er beschlossen, Canas respektlose Art zu ignorieren und geschäftlich zu bleiben. Lucy war ihm dankbar dafür – er konnte ziemlich verbohrt sein, aber Cana war niemand, der einfach so klein beigab. Und irgendwie konnte sie sich die kesse Sekretärin auch nicht anders vorstellen. Sie war einfach eine Persönlichkeit. Doch riss sie sich sichtbar zusammen und nickte. „Ich werde tun, was ich kann, aber ich kann nichts versprechen. Wir werden sehen, was die Suche ergibt. Wobei ich ziemlich gut bin in dem, was ich tue.“ Sie grinste selbstbewusst. „Neben meiner Bescheidenheit eines meiner herausragendsten Talente.“ Natsu nickte und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wir werden in der Zwischenzeit sehen, was diese Notizbücher ergeben.“ Er blickte zu Capricorn hinüber, der zustimmend nickte. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“, versprach er. „Es sollte nicht allzu lange dauern, die Notizbücher zu finden.“ „Gut, ich-“ Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach Cana, die sich erstaunt umblickte. Doch das Geräusch kam nicht von ihrer Seite und Capricorn durchmaß den Raum bereits mit langen Schritten, um die Tür zu öffnen. „Ja, bitte?“ Draußen stand der Stallmeister, ein kleiner, drahtiger Mann mit schlohweißem Haar und wettergegerbtem Gesicht, das selbst im Winter eine kräftige Farbe hatte. Er wirkte stets ein wenig ruppig, aber tatsächlich hatte er immer ein Lächeln oder ein freundliches Wort übrig und er war phantastisch mit Pferden. Doch jetzt war er kalkweiß im Gesicht, seine Augen so weit, dass man das Weiße um die Iris sehen konnte, und seine Hände kneteten nervös den Beanie, den Lucy ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sein straßenköterblondes Haar war noch wirrer als sonst und die Furchen in seinem Gesicht wirkten tiefer, als sie es gewohnt war. „Hannigan?“, entfuhr es Jude verdutzt, selbst er wirkte völlig überrascht über das Auftauchen des Mannes – oder besser sein Auftreten. Dessen Augen richteten sich sofort auf ihn. „Sir!“, rief er und seiner ansonsten so ruhigen Stimme war anzuhören, wie aufgewühlt er war. „Es ist etwas Fürchterliches passiert!“ Jude blinzelte verwirrt, doch er fasste sich rasch und trat zu dem Stallmeister. „Etwas Fürchterliches? Worum geht es?“ „Ich bin heute Morgen ganz normal in die Ställe, um nach den Pferden zu sehen, sie waren in der Nacht so unruhig und sind es jetzt immer noch und-“ Hannigan unterbrach sich und erschauderte sichtlich. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte…“ Seine Stimme verklang verwirrt und er starrte verloren auf den Boden. Dann blickte er abrupt wieder auf. „Aber es ist fürchterlich und ich kann nicht-!“ „Beruhige dich erst einmal, Hannigan.“, mische Layla sich ein und trat zu ihm, um ihn beruhigend die Hand auf den Arm zu legen und ihn zu dem nächsten Stuhl zu führen. „Bitte setz dich. Capricorn, kannst du…?“ „Natürlich.“, bestätigte der Butler sofort und machte Anstalten, zum Alkoholkabinett hinüberzugehen. Doch der Stallmeister schüttelte ihre Hand ab. „Nein, dazu ist jetzt keine Zeit. Sie sollten sich das selbst ansehen, Sir, ich kann es nicht beschreiben.“ „Aber…“, versuchte Layla es erneut, doch Jude nickte, die Sache resolut in die Hand nehmend. „Also gut, geh voraus.“ Lucy wechselte einen Blick mit Natsu. Zwei außergewöhnliche Ereignisse in einer Nacht? Das war ein sehr seltsamer Zufall… Und sie hatte gelernt, Zufällen nicht zu vertrauen. Also sprang sie auf und machte Anstalten, ebenfalls zur Tür zuzustreben. Anscheinend war sie nicht die einzige, die auf diese Idee gekommen war, denn alle anderen bis auf Capricorn folgten ihrem Beispiel. Hannigan, der den Raum schon halb verlassen hatte, hielt inne. „I-ich weiß nicht, das ist kein Anblick für Sie, Ma’am, Miss Lucy.“ „Glaub mir, mich kann so leicht nichts mehr schocken.“, wischte Lucy den Einwand beiseite. Sie hatte nackte Trolle gesehen, war über eine Müllhalde voller Knochen geklettert und hatte miterlebt, wie ein Höherer Dämon versucht hatte, in ihre Welt einzudringen. Was auch immer Hannigan im Stall gefunden hatte, konnte nicht so schlimm sein. Doch Jude wirkte nicht überzeugt. „Du solltest trotzdem hierbleiben.“, meinte er. „Und du auch, Layla, du musst dir das nicht antun. Es reicht vollkommen, wenn ich mich darum kümmere.“ Seine Frau runzelte die Stirn und kniff starrköpfig die Lippen zusammen. Für einen Moment wirkte sie, als wollte sie heftig widersprechen. Doch dann lockerte sich ihre Miene wieder und sie nickte. „Also gut, wenn du dich dadurch besser fühlst.“ Jude nickte und sein Blick wanderte zu Lucy, abwartend. Doch sie verschränkte widerborstig die Arme vor der Brust. „Ich bleibe nicht hier.“, erklärte sie fest. Sie konnte sehen, wie ihr Vater nach den richtigen Worten suchte, um sie doch umzustimmen. Es war ja süß, wie er versuchte, sie zu beschützen, aber dazu war es längst zu spät. „Lucy kann das ab.“, kam Natsu ihr zur Hilfe und sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Dann blickte sie zu ihrem Vater auf. „Ich glaube, ich kann das ganz gut selbst einschätzen. Vielleicht besser als du.“, fügte sie vielsagend hinzu und er sank in sich zusammen, wohl wissend, worauf sie anspielte. „Also gut…“, gab er zögerlich nach und wandte sich dann wieder zu dem Stallmeister um, der den Wortwechsel mit großen Augen mitverfolgt hatte. „Geh voraus, Hannigan.“ Dieser warf ihm einen zweifelnden Blick zu, sagte aber nichts mehr, sondern folgte der Anweisung. „Was ist los?“, wollte Cana wissen; sie klang aufgeregt, aber gleichzeitig auch verärgert, dass sie nichts tun konnte. „Ist was passiert?“ Natsu bückte sich hastig, damit sie sein Gesicht sehen konnte. „Das wissen wir noch nicht. Bleib dran, vielleicht hängt das alles zusammen. Hier, rede mit Lucys Mutter.“ Damit schob er diese auf den Stuhl, von dem sie den besten Blick auf den Bildschirm hatte. „Cana, das ist Layla. Layla, Cana. Sie weiß ziemlich viel über ziemlich alles, du kannst ihr also jede Frage stellen. Viel Spaß zusammen!“ Damit schloss er sich Lucy an, die ungeduldig im Türrahmen auf ihn gewartet hatte, und sie stürzten den Gang entlang, den Jude und Hannigan bereits zur Hälfte hinter sich gebracht hatten. Er brachte sie auf dem schnellsten Wege zum Hinterausgang, wo sie in bereitstehende Gummistiefel schlüpften. Sie hielten sich nicht mit Jacken auf, sondern folgten Hannigan hastig durch den verschneiten Park zu den Ställen hinüber, die mit einem großen Schuppen und der Garage für Kutschen ein eigenes Geviert bildeten. Von außen wirkten sie so alt wie das Gebäude, doch innen hatte Jude sie auf den modernsten Stand bringen lassen. Anders als Lucy angenommen hatte, führte Hannigan sie nicht zu den eigentlichen Ställen, sondern auf direktem Wege zu dem langgezogenen Haus hinüber, das eher als Verwaltungsgebäude diente. Tatsächlich wurde nicht einmal die Hälfte davon von Pferdeboxen eingenommen, dazu die Sattelkammer. Im anderen Teil des Gebäudes befanden sich die kleine Wohnung, die der Stallmeister bewohnte, sowie ein paar Büroräume und dergleichen. In der Regel war der Stall dort allerdings leer und diente dafür, um Tiere aus der Herde zu entfernen, sollte das nötig sein. Als Lucy noch leidenschaftlich gern geritten war, hatte sie immer gewusst, wo welches Pferd gestanden hatte, und ob es irgendwelche Neuzugänge gegeben hatte. Inzwischen hatte sie dieses Hobby stark zurückschrauben müssen und konnte ihm nur noch nachgehen, wenn sie in Heartphilia Manor weilte. „Ist etwas mit Sultan?“, wollte Jude wissen und Hannigans Schultern versteiften sich. „Sie müssen sich das selbst ansehen.“, lenkte er ab, während Natsu Lucy einen fragenden Blick zuwarf. „Sultan?“ „Der neue Zuchthengst.“, antwortete diese, wobei sie das edle Tier, ein echtes Dragnofer Purebred, noch nicht gesehen hatte. „Aha.“, antwortete ihr Freund, wobei sie seiner Stimme anhören konnte, dass das für ihn keine Bedeutung hatte. Vermutlich hätte sie hinzufügen müssen, dass ein solches Pferd mit einer guten Abstammung zwischen zwanzig- und fünfzigtausend Jewel gehandelt wurde und damit mehr wert war als sein geliebtes Auto. Doch dazu fehlte jetzt die Zeit, denn sie hatten bereits die offene Stalltür erreicht, vor der Hannigans zwei Helfer warteten, ein junger Mann, der mit Pferden aufgewachsen war, und eine Frau Anfang Dreißig, der so leicht niemand etwas vormachte. Auch sie waren blass, einer von ihnen zitterte sogar wie Espenlaub, der andere weinte. Lucy wurde es nun doch unwohl zumute. Was war geschehen, dass ausgerechnet diese drei resoluten, standhaften Leute so emotional reagierten? Jude hielt sich jedoch nicht mit den beiden auf, sondern folgte Hannigan in den offenen, freundlichen Raum. Die Wände waren geweißelt, die Boxentüren und die Streben und Säulen aus hellem Holz gearbeitet. Durch die langen Scheiben in der Decke fiel helles Licht, ebenso durch die Fenster, die die Hälfte der Türen einnahmen, die in jeder Box in der Stallrückwand eingelassen waren. Dort konnte man die Tiere im Sommer hinaus in einen kleinen, abgesperrten Bereich lassen, wenn es möglich war. Es gab nur acht Boxen hier, je vier auf jeder Seite, und nur eine davon war belegt. Doch statt des vertrauten Geruchs nach Pferd und Heu schlug ihnen der süßlich-metallische Gestank von Blut entgegen. Lucy würgte und schlug sich die Hand vor den Mund. Was war geschehen?! Die Antwort bekam sie schneller, als ihr lieb war, und sie fragte sich, ob sie doch bei Cana und Layla hätte bleiben sollen. Doch jetzt war es zu spät dafür, schoss es ihr durch den Kopf, während sie mit weit aufgerissenen Augen versuchte, die grausame Szene zu erfassen, die sich ihr bot. Ein einzelnes Pferdebein lag in der Stallgasse, aus dem noch der Knochen ragte. Eine Blutlache hatte sich darum ausgebreitet, teilweise schon zu rostigem Rot getrocknet. Weiteres Blut bedeckte die Wände und den Boden und selbst Teile der Decke; es war meterweit gespritzt. Die Tür von Sultans Box stand sperrangelweit offen und gab den Blick frei auf … etwas, das kaum mehr als Pferd zu identifizieren war. Es war nur noch eine Masse rohen Fleisches, die teilweise bedeckt war von Flecken dunklen Fells und aus der blanke Knochen ragten, gesplittert und scharfkantig. Gedärm, abgerissene Körperteile und herausgerissene Brocken Fleisch waren in der ganze Box verteilt und teilweise auch darüber hinaus. Blut tränkte die Einstreu und das Heu, das quer über die Stallgasse verteilt war. Die Hufeisen waren fein säuberlich über die Boxentür gehängt worden, alle exakt im gleichen Abstand. Lucy starrte sie für einen Moment verwirrt an und fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Eine Heugabel steckte tief in den Resten des Kadavers und auf dem Stiel steckte wie eine makabre Verzierung der Kopf des Pferdes. Die lange Zunge hing aus dem geöffneten Maul heraus, die gebrochenen Augen waren weit aufgerissen vor Angst und Blut verklebte das dunkle Fell. „Oh mein Gott.“, entfuhr es Lucy und am liebsten hätte sie sich übergeben. Stattdessen schrie sie erschrocken auf, als etwas zwischen ihren Beinen hindurchglitt. Doch es war nur Tamino. Hastig bückte sie sich und fing den Kater ein. Das hätte gerade noch gefehlt, wenn er durch das Blut gelaufen oder noch schlimmer, sich über den Kadaver hergemacht hätte. „Manchmal wünschte ich, du würdest auf mich hören, Lucy.“, belehrte Jude sie und spähte besorgt auf sie hinunter. Doch sie schüttelte eigensinnig den Kopf und drückte ihren Kater enger an sich. Seltsamerweise wehrte er sich nicht, sondern schnurrte nur und rieb seine Stirn an der weichen Haut unter ihrem Kinn. Es half ihr, sich zu sammeln. Natürlich war diese … diese Schlachtung kein angenehmer Anblick, doch sie musste es mit eigenen Augen sehen. Obwohl eine Schlachtung vermutlich sehr viel humaner gewesen wäre und ganz sicher keine solche Schweinerei hinterlassen hätte… Aber wenn Jude wirklich glaubte, dass es hier mit rechten Dingen zuging, dann hatte er sich geschnitten. War es einem Geist möglich, so etwas anzurichten? Nach dem, was Natsu vorhin erzählt hatte, zumindest nicht dem, den sie in der letzten Nacht gesehen hatten. Kam es vor, dass mehrere Gespenster an der gleichen Stelle spukten? Sie blickte sich nach ihrem Freund um, eine entsprechende Frage auf den Lippen, doch Natsu war näher an die Szene herangetreten und betrachtete alles mit schiefgelegtem Kopf. Als wäre es ein besonders interessantes Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments und nicht so widerlich, dass sie sich am liebsten übergeben hätte. Ganz zu schweigen davon, dass es sich um sinnlose Grausamkeit gegenüber einem unschuldigen Tier handelte. „Hey, gehen Sie nicht so nah ran.“, verlangte Hannigan aufgebracht, die Augenbrauen zornig zusammengezogen und der Mund verkniffen. „Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun!“ Überrascht blickte Natsu auf. Über sein Gesicht huschte für einen Moment ein verwirrter Ausdruck. „Ich schaue mir die Sachlage an. Ich meine… Das Pferd ist nicht von allein explodiert.“ Der Stallmeister sah aus, als würde er gleich einen Wutanfall kriegen – oder in Tränen ausbrechen. Doch Jude trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass ihn, er hat mit solchen Sachen mehr Erfahrung als wir.“ Damit führte er ihn auf die Seite, während Natsu sich schulterzuckend wieder dem Tatort zuwandte und sein Handy aus der Tasche zog. „Hast du schon dem Sheriff Bescheid geben?“, lenkte Jude Hannigans Aufmerksamkeit noch weiter ab. Der brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann schüttelte er abgehakt den Kopf. „Ich bin direkt zu Ihnen gekommen.“ „Gut, ich werde mich selbst darum kümmern. Bis dahin sollten wir es unberührt lassen.“ Jude warf einen kurzen Blick auf den Kadaver, ehe er sich rasch wieder abwandte. „Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Tier dies angerichtet haben könnte. Und das auch noch, ohne dass jemand es bemerkt hat. Aber gleichzeitig wüsste ich auch nicht, wie ein Mensch das bewerkstelligt haben sollte.“ Er rieb sich das Gesicht und wechselte einen Blick mit Lucy, die hilflos mit den Schultern zuckte. Natürlich war ihrem Vater nicht entgangen, dass es keine einfache Erklärung für diesen Vorfall gab. Vielleicht nicht einmal eine, die ohne das Übernatürliche auskam. Hannigan jedoch bekam davon nichts mit; er nickte. „Ich werde die Heizung ausstellen, damit es nicht noch mehr anfängt zu stinken.“ „Was ist mit den anderen Pferden?“, schaltete Natsu sich aus Sultans Nachbarbox ein, von wo aus er auf das Blutbad hinunterblickte. „Mit ihnen ist alles okay. Was soll schon sein?“, grantelte Hannigan; anscheinend hatte er Natsu gefressen. Vermutlich betrachtete er es als Affront, wie sorglos dieser mit der Ermordung Sultans umging und dann auch noch sensationslüstern Fotos machte. Doch der schien das nicht einmal zu bemerken, denn er nickte nachdenklich und kam endlich zurück. „Wollen wir hoffen, dass es auch so bleibt.“ „Was soll das heißen?!“, entfuhr es dem Stallmeister heftig, der jetzt auch noch seine anderen Schützlinge in Gefahr sah. „Dass wir nicht wissen, was hier vor sich geht, und wir uns darum kümmern werden, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“, beruhigte Lucy ihn und drehte ihn um, so dass er mit dem Rücken zum Kadaver stand. Das war gar nicht so einfach, da sie noch immer Tamino im Arm hielt, doch irgendwie schaffte sie es. Sie schenkte Hannigan das beste Lächeln, das sie in dieser Situation zustande brachte, und versuchte, so beruhigend wie möglich zu klingen, als sie weitersprach: „Natsu ist da echt der Beste für diese Situation. Er war mal Polizist.“ Das zumindest schien Hannigan ein wenig zu beruhigen und er ließ sich von ihr nach draußen bugsieren, wo er sich seinen noch immer wartenden Untergebenen anschloss. „Könnt ihr euch um die anderen Pferde kümmern?“, schlug Lucy vor und Jude nickte bestätigend. „Ich werde sofort Sheriff Sands benachrichtigen. Überlasst den Rest uns.“ Für einen Moment wechselten die drei nur unentschlossene Blicke. „Also gut, Sir.“, antwortete Hannigan schließlich und seine Mitarbeiter nickten zögerlich. Dann eilten sie über den Hof zu dem nächsten Stalltor hinüber, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Vermutlich waren sie froh, sich wieder den vertrauten Arbeiten widmen zu können um zu versuchen, den grausigen Anblick des abgeschlachteten Pferdes aus dem Gedächtnis zu löschen. „Und?“, wollte Lucy sofort von Natsu wissen, als sie sicher sein konnte, dass die drei außer Hörweite waren. „Denkst du, das hat etwas mit dem Geist zu tun?“ Auch Jude wirkte äußerst interessiert an der Antwort. Doch Natsu zuckte nur mit den Schultern; er wirkte noch immer abgelenkt. „Wenn, dann nicht direkt. Er konnte sich ja noch nicht mal richtig manifestieren. Unmöglich, dass er einen echten körperlichen Einfluss hatte und schon gar keinen, der ein Pferd derartig in seine Einzelteile zerlegt. Und…“ Er unterbrach sich und warf einen besorgten Blick zum Haus zurück. Es sah aus wie immer, doch Lucy konnte nicht den Schauer unterdrücken, der ihr über den Rücken rann und sie erinnerte sich an seine Worte bei seiner Ankunft. Irgendetwas Dunkles hängt über dem Anwesen. Heute morgen hatte sie noch angenommen, dass es sich dabei um die plötzliche Präsenz des Geistes gehandelt hatte. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Natsu hatte anscheinend den gleichen Gedanken gehabt, denn er schüttelte den Kopf und erklärte: „Hier geht sehr viel mehr vor, als wir jetzt sehen können, und ich bin mir nicht sicher, ob wir alleine damit fertig werden können.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)