Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 66: Gregor ------------------ Der Knall der zugeschlagenen Tür hallte noch immer in meinen Ohren, obwohl Mel schon seit fast einer Stunde weg war. Ich hatte mich kaum einen Millimeter bewegt und starrte noch immer auf den leeren Fleck, an dem sie vorher gesessen hatte. Jede Bewegung schien mir unmöglich. Ich war ein hohler Turm ohne Fundament, nur einen Windhauch davon entfernt, vollständig in sich zusammenzufallen. „Ich hasse dich! Du bist widerwärtig!“ Ich hatte immer gewusst, dass sie sich wegen meiner Gefühle für sie vor mir ekeln würde, doch ich hatte niemals geahnt, dass es so schlimm werden würde. „Du hast zugelassen, dass ich mich in dich verliebe!“ Die Worte tropften wie hochprozentige, dickflüssige Säure durch mein Gehirn und zerstörten alles, mit dem sie in Berührung kamen. Wieso hatte ich das nicht gemerkt, dass sie sich auf den gleichen, schmerzhaften Weg ohne Ziel begeben hatte wie ich? Obwohl... Hatte ich es wirklich nicht gemerkt? Dieser angedeutete Kuss im Schwimmbad hätte meine Alarmglocken zum Schrillen bringen müssen, doch ich hatte nicht reagiert. Hatte ich nichts tun wollen oder hatte ich einfach nicht daran geglaubt, dass Mel genauso verflucht sein könnte wie ich? Kraftlos sackte ich in mich zusammen und starrte mit stumpfem, ausdruckslosen Blick an die Decke. Im Grunde konnte ich mich jetzt auch gleich umbringen. Ich war doch eh schon tot – für eine einzige Sünde gestorben. Aber wenigstens hatte es sich gelohnt... Denn was war schon ein Leben voller Leid, wenn man dafür ein paar Stunden lang erfahren durfte, was wahres Glück ist? Plötzlich hatte ich eine Zeile aus einem Lied von „die Ärzte“ im Kopf, das ich öfter bei Vroni gehört hatte: „Ja, das befriedigt meine Triebe – Geschwisterliebe, Geschwisterliebe...“ War ich einfach nur krank? Hätte ich mich nach jeder meiner Schwestern so sehr verzehrt, wenn ich noch mehrere gehabt hätte? Oder war es einfach Mel? In meiner Jugend hatte ich mich eine Zeit lang mit Religionen beschäftigt, die an Wiedergeburt glauben. Es gibt Menschen, die behaupten, dass man an Versprechen aus früheren Leben gebunden ist. Hatten Mel und ich uns schon in einem früheren Leben geliebt und hatten dann ein schreckliches Verbrechen begangen, weshalb wir jetzt dadurch bestraft wurden, dass wir in Körpern von Geschwistern wiedergeboren worden waren? Ich schüttelte matt den Kopf. Das war doch alles Blödsinn. Im Grunde spielte es auch gar keine Rolle, warum ich mich in sie verliebt hatte. Es war halt einfach so und ich musste damit leben. Doch anstatt das Beste daraus zu machen und ihr der beste große Bruder zu sein, den man nur haben konnte, hatte ich mich von meiner Libido ausbooten lassen und alles für ein paar Stunden Ekstase aufs Spiel gesetzt – und spektakulär verloren. Ich rollte mich auf die Seite und beobachtete ein paar Regentropfen, die langsam an der Scheibe meines Fensters hinab liefen, so als würde das Glas weinen. Bei all dem Unglück und bei all den unsäglichen Schmerzen, die ich über Mel und mich gebracht hatte, hatte das Ganze wenigstens etwas Gutes: Jetzt, wo Mel mich hasste, würde ich wenigstens problemlos wieder abreisen können. Ich würde aus ihrem Leben verschwinden und nie wieder zurückkommen. Das war ich ihr schuldig. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich tatsächlich auf Vronis Versprechen, bei mir zu bleiben, eingehen sollte. Für mich wäre es natürlich sehr viel einfacher, aber ich käme mir dabei irgendwie schäbig vor. Vroni hatte einfach einen besseren Mann verdient als mich... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)