Nimbus Magnus von Valenfield ================================================================================ Kapitel 2: Solstitium --------------------- Zum ersten Mal seit Tagen waren es warme Sonnenstrahlen, die Joshua den nötigen Anreiz gaben, sich aus dem Bett zu schälen. Das war schon insofern ironisch, dass es ebenfalls das erste Mal seit Tagen war, dass er in einem Bett in einem zumindest halbwegs anständigen Haus lag. Es hatte jedoch den entscheidenden Vorteil, dass es ihm somit leichter fallen würde, in den Tag zu starten, der viel versprach. Lenora war, und damit hatte er bereits gerechnet, am Küchentisch eingeschlafen, mit dem Kopf auf eine Zeitung gebettet, die, auch wenn ihr langes, rotes Haar das Meiste verdeckte, schon mindestens eine halbe Woche alt sein musste. Für Joshua war es absolut unbegreiflich, wie sie sich den endlosen Terror auch noch in ihrer Freizeit zu Gemüte führen konnte, ohne völlig durchzudrehen, aber sie plädierte immer wieder darauf, dass es ihr ein eigenartiges Gefühl von Sicherheit gab, wenn an anderen Enden der Stadt schlimmere Dinge geschahen als hier. Er beschloss, sie nicht zu wecken, da er ohnehin wusste, wie gering ihre Begeisterung über seine Tagesplanung ausfallen würde. Aufhalten würde sie ihn nicht, oder es zumindest nicht schaffen, aber ihm fehlte generell die Energie für ihre Kommentare dazu und die allgemein schlechte Stimmung, die sich dann grundsätzlich zwischen ihnen breitmachte. Vorsichtig, darauf bedacht, sie nicht aus ihrem offen gesagt eher wenig gemütlich wirkenden Schlaf zu reißen, erlaubte er es sich, aus ihrer Jackentasche einige der Lebensmittelkarten zu nehmen, die sie von wo auch immer bekommen hatte. Eigentlich hätte eine Karte für den Moment gereicht, und Joshua war grundsätzlich nicht wohl dabei, zu viele mit sich zu tragen. Es fühlte sich an wie eine Handvoll Geldscheine, wobei die Karten heutzutage sogar noch weit mehr wert waren als das. Aber besonders die letzten Wochen waren derart chaotisch gewesen, dass es ihm davor graute, möglicherweise morgen nicht nach Hause kommen zu können und sich bis dahin auch keine eigenen Karten zu erarbeiten. Er wollte vorsichtig sein und nichts riskieren. Für eine kleine handgeschriebene Notiz nahm er sich jedoch noch die Zeit, ließ seine Erklärung mit Ich muss los, wir sehen uns später aber weitaus vager ausfallen als beabsichtigt. Lenora würde ohnehin wissen, was genau das bedeutete, die Notiz zerknüllen, wieder auseinander falten und dann auf dem Tisch liegen lassen. Es war ein repetitives Szenario. Die Sonne hatte nicht zu viel versprochen, es war sehr warm und wenn man es geschafft hätte, die Trümmer auf den Straßen auszublenden, hätte man tatsächlich behaupten können, dass es ein schöner Tag war. Aber Joshua blendete nichts aus. Er sog den Anblick eines jeden umgefallenen Autos, die Skurrilität von grün überwachsenen Straßenbänken und Haustrümmern, die endlose Einsamkeit der Straßen in sich auf, denn all das war es, was ihm den Antrieb gab, etwas ändern zu wollen. Es war egal, wie groß seine Chancen standen, und auch, ob es irgendeinen Haken gab, den er bisher übersehen hatte. Nur der Gedanke daran, etwas ändern zu können, hielt ihn davon ab, endgültig aufzugeben und sich einzugestehen, dass es möglicherweise keinen Ausweg aus dieser Situation gab. Er folgte der Straße in Richtung Innenstadt, bog jedoch in den Park am Cricketplatz ein, da es der kürzeste Weg zu seinem Ziel war. Zugegeben, es war weit hergeholt, es als Park zu bezeichnen, denn primär wirkte es inzwischen wie ein kleiner mitt-städtischer Urwald, was gleichermaßen passte wie völlig Fehl am Platz wirkte. Im Gegensatz zu den industriell verseuchten, und gleichsam von der Natur übergrünten Straßen, fühlte sich das hier normal, nahezu gut an, weil es Joshua an Waldwanderungen erinnerte, und das verkorkste Leben um ihn herum dabei völlig ausblendete. Er folgte so gut wie möglich dem sandigen Weg, und stellte gedanklich fest, dass dieses Jahr vielleicht das Letzte war, in dem ihm das möglich sein würde, egal wie viele er noch hier verbringen würde. Gras und Unkraut wuchsen wild und unkontrolliert darüber, und hätte Joshua nicht gewusst, dass genau hier einmal der Weg durch den Park gelegen hatte, hätte er es vielleicht gar nicht erkannt. Aber es war alltäglich für ihn, er war schon unzählige Male hier lang gelaufen, und egal wie sehr sich alles veränderte, er konnte und er wollte die Erinnerungen nicht loslassen. Einer der höchstwahrscheinlich ältesten Bäume hier, so stellte er fest, hatte den mehrtägigen Sturm offenbar nicht überlebt. Das war irgendwo niederschmetternd, aber andererseits zu erwarten gewesen. Und wenn er so genau darüber nachdachte, war ein derart natürlicher Tod das mit Abstand Utopischste, was er sich vorstellen konnte. Absolut erstrebenswert. Die Lichter des alten Gemischtwarenladens am anderen Ende des Parks waren zum ersten Mal seit langem nicht das, was die Straße erleuchtete, und für einen Moment war Joshua nicht sicher, ob er überhaupt geöffnet hatte, sah jedoch bei näherem Herantreten, dass sich Menschen darin zu befinden schienen. Wie auf Kommando knurrte sein Magen unkontrolliert, und er hätte mit Worten nicht beschreiben können, wie glücklich ihn die Lebensmittelmarken in seiner Hosentasche machten. Es war eine absurde Form von Seligkeit, aber es war eine. „Hey, Joshua mein Bester, lange nicht gesehen!“, grüßte ihn der Ladenbesitzer, Harry, euphorisch, und erhielt wie auf Knopfdruck ein schmales Grinsen als Antwort. Er war ziemlich klein und für die existentiellen Umstände beinahe dick. Denn auch er kam nicht drum herum, seine Lebensmittel mit Lebensmittelmarken zu erwerben, und niemand wehrte sich gegen dieses Konzept, wenn ihm irgendetwas an seinem Leben lag. „War in den letzten Tagen völlig unmöglich, hierher zu gelangen“, erklärte Joshua knapp und ließ sich aufmunternd auf die Schulter klopfen. Der ältere Mann war das genaue Gegenteil von ihm selbst, sowohl äußerlich als auch charakterlich. Es war wahrscheinlich ein ulkiger Kontrast, sie nebeneinander zu sehen, wobei die meisten anderen Menschen sich gar nicht die Zeit nahmen, dafür auch nur kurz stehenzubleiben. Nicht, dass man ihnen dies verübeln könnte. „Ja, ja. Furchtbar, diese Stürme. Wird immer schlimmer“, murmelte Harry vor sich hin und nickte dabei wie in Trance. „Also, wohin geht’s?!“ Joshua verstand es nicht ganz, aber obwohl ihm überhaupt nicht danach war, über seine Pläne zu reden, als gäbe es irgendeinen guten Grund für Plaudereien, antwortete er schon, bevor er darüber wirklich nachdenken konnte. „Zu Onkel Thomas. Habe ihn schon seit Wochen nicht gesehen.“ Er bekam einen mitleidigen Blick zugeworfen und wusste auch sofort, warum. Jemanden für längere Zeit nicht zu sehen schloss in den seltensten Fällen aus, dass diese Person inzwischen gestorben sein könnte. Es war unangenehm, darüber so trocken nachzudenken, aber er konnte das durchaus nachvollziehen. Wenn es jedoch um Onkel Thomas ging, kamen ihm diese Gedanken nie. Vielleicht wollte er sie einfach nur nicht denken, aber allem voran hatten sie gemeinsam schon so vieles überlebt, immerhin fast fünfzehn Jahre lang, dass es ihm unnatürlich schien, ihn ausgerechnet jetzt zu verlieren. „Ich bin mir sicher, ihm geht’s gut. Ich war nur lange nicht zuhause, und wenn, dann habe ich es gerade noch so geschafft, völlig ausgelaugt ins Bett zu fallen.“ Dabei beließ er es nun endgültig, bezahlte einen Laib Brot mit drei seiner Brotmarken, und hob zum Abschied kurz die Hand, bevor er den Laden verließ. Die befremdliche Normalität hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, gerade im Anblick des Chaos' außerhalb, aber Joshua versuchte, darauf nicht zu viele Gedanken zu verschwenden. Er bog in die nächste Seitenstraße ein und folgte ihr geduldig bis zum Ende. Bis hierher schaffte es die Sonne kaum noch, denn aktuell stand sie im Südosten und wurde daher von den Überresten der alten Häuser und der Bäume abgefangen. Es wirkte beinahe ein wenig paranoid, sich hier hinten zu verschanzen, gerade weil auch die zentraleren Straßen kaum noch bewohnt waren, und das war vielleicht auch einer der Gründe, warum er es hier nie sonderlich lang aushält. Es war auslaugend, deprimierend und würde ihm auf Dauer höchstwahrscheinlich jedes letzte Bisschen seines Antriebs nehmen. Er klopfte drei Mal kurz an die Tür des Hauses, als er endlich angekommen war, und wartete geduldig auf das Geräusch sich nähernder Schritte. Sie waren heute verabredet, deswegen machte er sich keine großen Sorgen, und es dauerte auch nicht lange, bis der dumpfe Schall zu ihm hervordrang. Die Tür öffnete sich langsam, vorsichtig, ging jedoch schnell weiter auf, als er entdeckt wurde. „Gut, dich zu sehen, mein Junge. Sehr gut! Ich habe großartige Neuigkeiten!“ Er ließ sich in eine herzliche Umarmung ziehen, und war wirklich froh darüber denn dieses Bisschen Zwischenmenschlichkeit hielt ihn förmlich am Leben. Nichtsdestotrotz war seine Verwirrung über die Wortwahl zu groß, als dass er sich auf etwas Anderes hätte konzentrieren können. „Großartige Neuigkeiten?“ „Ja, ja. Setz' dich erstmal. Trink einen Tee.“ Sein Onkel war besessen von Tee, und höchstwahrscheinlich einer der wenigen Menschen, die für eine Teekarte mehrere Brotkarten eingetauscht hätten. Für Joshua war das nicht begreiflich. Ihm war sogar das eine Brot, was er nun auf den Tisch vor dem Sofa legte, mehr wert als eine Teekarte. Es schien schon alles vorbereitet zu sein. Auf dem Tisch war eine Stadtkarte ausgebreitet, auf der alle Kontrollpunkte eingezeichnet waren. Es bestand gar kein Zweifel an ihrer Vollständigkeit – eine Dedikation, der Joshua viel Respekt zollte. „In drei Tagen feiert diese schmierige Obrigkeit irgendein großes Fest. Frag mich nicht, was genau. Vielleicht das Fest zur fünfzehnjährigen Versklavung. Ist auch irrelevant.“ Onkel Thomas zeigte auf einen der Kontrollpunkte südlich von ihrem eigenen Standpunkt, der mit einem blauen Punkt markiert war. „Das hier wird dann die einzige starke Kontrolle im Süden der Stadt sein, die noch verbleibt. Wahrscheinlich, weil sie auf direktestem Wege aus der Stadt führt.“ Sein Finger wanderte über die Karte zu einem Punkt weiter östlich, und beinahe enthusiastisch tippte er mehrmals darauf. „Das hier jedoch ist was ganz Anderes! Sie ziehen einen Großteil der Wachen ab, um ihre bescheuerte Obrigkeit zu beschützen. Vor dem bösen, bösen Volk, nehme ich an. Wäre wohl einfacher gewesen, hätten sie die Wachroboter bereits fertiggestellt.“ Joshua erinnerte sich an eben jene Wachroboter. Sie waren vor Jahren erstmalig zum Einsatz gekommen, hatten innerhalb kürzester Zeit unzählige Fehlfunktionen aufgewiesen, waren willkürlich Amok gelaufen und schlussendlich wieder aus dem Verkehr gezogen worden. Seitdem hatte man nie wieder einen gesehen, wahrscheinlich waren sie immer noch in der Überarbeitungsphase. „Verstehe ich das also richtig?“, hakte Joshua vorsichtig nach, und spürte, wie Euphorie in ihm empor kroch, wollte sich aber noch nicht ganz von ihr vereinnahmen lassen. „Völlig richtig. Das wird die mit Abstand beste, sicherste Möglichkeit seit...seit vielleicht immer, die Stadt zu verlassen.“ Auch wenn er sich dagegen zu wehren versuchte, sein Bestes tat, rational zu denken und mögliche Gefahren zu bedenken, blieb es nicht aus, dass sich Hoffnung in Joshua breitmachte. Seit Jahren, unzähligen Jahren, hatten sie gemeinsam die Stadtkontrollen beobachtet, dokumentiert und analysiert, alles nur für die Chance auf einen Tag wie diesen. Es gab mehrere aufeinanderfolgende Kontrollen, und für jeden weniger ambitionierten Menschen wäre alleine der Gedanke, auch nur eine Einzige davon zu umgehen, schon wie Selbstmord gewesen. Aber für Joshua war der Gedanke an die Freiheit auf der anderen Seite wie eine lebensrettende Infusion, auf die er so lange hatte warten müssen. „Ich...bin ein bisschen überwältigt“, gab er zu, gerade weil diese Möglichkeit sich so kurzfristig auftat, und er damit absolut nicht gerechnet hatte. Und auch nicht alles daran war simpel und ideal. „Ich werde keine andere Möglichkeit haben, als Lenora davon zu erzählen.“ Und er wusste bereits, dass sie spätestens dann ihren kühlen Kopf verlieren würde, den sie sonst immer hatte. Genau wie sie ihm gestern vorgeworfen hatte, sentimental zu werden, fiel es ihr selbst manchmal schwer, ihre unkontrollierte Wut über diese Dinge zurückzuhalten. Du bringst dich nur ins Grab!, würde sie zum wiederholten Male sagen, vielleicht brüllen oder kreischen. Er würde mit den Schultern zucken, und sie ihn dafür so fest schlagen, dass er sich auf die Innenseite seiner Wange beißen würde. Bis dahin war alles noch vorhersehbar, wobei er wirklich nicht einschätzen konnte, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er nun nicht mehr nur plante, zu fliehen, sondern es einfach tun würde. Zu zögern lag Joshua nicht im Blut, hatte es nie, zumindest nicht dann, wenn die Entscheidung eine derart wichtige war. Diese Chance wirkte so einmalig, so perfekt, dass er es sich nie verzeihen würde, sie verstreichen zu lassen, auch wenn er sich ob der mit ihr verbundenen Gefahren bewusst war. „Du willst sie doch wohl nicht mitnehmen?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen, und senkte mit einem Schmunzeln den Blick. „Das wird sie ohnehin nicht wollen. Sollte sie sich aber doch dafür entscheiden, werde ich sie auf keinen Fall hier zurücklassen. Ich weiß, ihr verabscheut euch, aber ihr habt beide viel für mich getan, und wenn ich die Möglichkeit habe, euch beide aus dieser Hölle mitzunehmen, dann werde ich sie ergreifen.“ Onkel Thomas' Unmut war durchaus nachvollziehbar für ihn. Nachdem Joshuas Eltern gestorben waren, hatten sie sich für die längste Zeit zu zweit durchgekämpft, und ihr Wunsch nach Freiheit war es vielleicht gewesen, was sie so weit gebracht hatte. Wenn die landesweite Bevölkerungsdezimierung auch nur ansatzweise mit der hier in Cantery konform ging, war die Zahl der lebenden Menschen in den letzten fünfzehn Jahren um etwa fünfundneunzig Prozent zurückgegangen. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie bei neunundneunzig ankämen? Es war also verständlich, dass ihm die Tatsache, mit einer Person gleichgestellt zu werden, die Joshua erst seit wenigen Jahren kannte, nicht wirklich passte. Gerade deshalb, weil Lenora ihre Absichten überhaupt nicht teilte. Vielmehr noch als die meisten Menschen, denen die Angst, gefasst und qualvoll hingerichtet zu werden, jeglichen Mut nahm, auch nur über eine Flucht nachzudenken, sträubte sie sich vehement gegen den Gedanken, dass es irgendeinen Vorteil haben könnte, von hier zu entkommen. Warum glaubst du, sollte es außerhalb besser sein? Er wusste keine Antwort auf diese Frage, und vielleicht gab es keine, aber was er schlussendlich sagte, war immer das Gleiche. Kann es wirklich schlimmer werden? Und ebenfalls gleich war immer ihre Reaktion. Ein müdes, unbelustigtes Schnauben, ein Kopfschütteln, bevor sie den Blick abwenden und stunden-, vielleicht tagelang kein Wort mehr mit ihm wechseln würde. Der Gedanke daran war beängstigend, gerade weil ihm die Möglichkeit fehlte, so lange darauf zu warten, dass sie sich wieder beruhigte. Ihm verblieben drei Tage, sie davon zu überzeugen, dass die Freiheit zum Greifen nah war. Dass sie wirklich die Chance hatten, aus diesem Käfig ohne Gitter zu entfliehen und irgendwo, weit weg von hier, einen Neuanfang zu starten. „Du bist und bleibst eben ein Sturkopf. Hier, ich habe alle wichtigen Punkte inklusive der genauen Route noch mal auf dieser Karte eingezeichnet.“ Ihm wurde ein zusammengefaltetes Blatt Papier in die Hand gedrückt, und erneut war er schlicht und ergreifend dankbar für die Hingabe seines Onkels, und gleichsam benebelt von den Träumen, Wünschen und Vorstellungen, die er an eine Zukunft hatte, die immer unendlich weit weg gewirkt hatte und nun zum Greifen nah war. „Danke, Onkel Thomas. Hätte nicht gedacht, dass ich das so bald sagen würde, aber: Es scheint, als sei die Zeit reif.“ Zum ersten Mal seit langem wirkte das breite Grinsen auf seinen eigenen Lippen echt und vollkommen ehrlich, und Joshua konnte schon jetzt kaum erwarten, es zur Alltäglichkeit werden zu lassen. Erst als die wenigen Sonnenstrahlen, die es bis hierher schafften, nach und nach verblassten, waren sowohl Joshua als auch Onkel Thomas derart ausgelaugt von ihren Planungen und Besprechungen, dass sie beschlossen, den Tag ausklingen zu lassen und morgen genauere Vorbereitungen zu treffen. Selbst unter der Voraussetzung, dass alles nahezu perfekt nach Plan verlaufen würde – und keiner von ihnen war naiv genug, zu glauben, dass nichts schiefgehen würde – stand ihnen eine anstrengende Zeit bevor. Ihr Ziel war der Hafen am südöstlichen Ende Englands, der es ihnen ermöglichen würde, innerhalb nur weniger Stunden mit einem Schiff bis nach Frankreich überzusetzen. Prinzipiell sollte das nicht allzu schwierig sein, da zwischen den Ländern ein enges Handelsverhältnis bestand, jedoch hatte Joshua keine genaue Vorstellung davon, wie es außerhalb seiner Heimatstadt aussah, und ob Menschen überhaupt noch auf den Schiffen mitreisen durften. Es war beängstigend, wie wenig er eigentlich über irgendetwas wusste, das über einen bloßen Überlebenskampf für sich selbst hinausging. Und trotz der Hoffnung, ja beinahe der Vorfreude auf das, was ihn vielleicht erwarten würde, sollten sie es wirklich schaffen, das fremde Ufer zu erreichen, ließ ihn gleichsam auch nicht der Gedanke los, die einzige Person, die er als Freundin bezeichnen konnte, egal wie schwierig ihre Situation oft war, egal ob sie anderer Meinung waren oder andere Ziele hatten, im Laufe dessen möglicherweise zu verlieren. Und obwohl er sich wirklich viele Gedanken über ihre Reaktion gemacht hatte, den ganzen Weg zurück durch den Park über, sich mental darauf vorbereitet hatte, wie er ausweichen müsste, damit sie ihm nicht die Nase brach, denn das konnte er gerade jetzt überhaupt nicht zulassen, so war er auf das, was wirklich passierte, absolut nicht vorbereitet gewesen. Für den Bruchteil eines Momentes spiegelte ihr Blick blanken, unverblümten Horror wider. So weit, so erwartet. Dann jedoch, entgegen seiner Erwartungen, dass sie schreien und ihn schlagen würde, passierte für einen sehr langen Moment, vielleicht eine Sekunde, Minute oder Stunde, überhaupt nichts. Ihre Augen strahlten Leere aus, beinahe Gleichgültigkeit, dann jedoch senkte sie schnaubend den Blick und schüttelte den Kopf. „Ich wusste ja, dass es irgendwann passieren würde. Also. Wann gehen wir?“ Joshua wusste nicht, was er sagen sollte. Das ergab alles keinen Sinn. Wieso gab sie einfach nach, obwohl sie sich die gesamte Zeit über so vehement dagegen gewehrt hatte, mitzuziehen? Lag es daran, dass es nun förmlich unausweichlich war, und ihr bewusst wurde, dass sie keinerlei Möglichkeit hatte, ihn umzustimmen? War irgendetwas vorgefallen, dass auch bei ihr den Wunsch, all diesem Horror zu entfliehen, so sehr verstärkt hatte, dass sie sich nicht mehr vor den Gefahren fürchtete? „Es sei denn, du willst mich nicht dabei haben?“, fügte sie fragend hinzu, grinste dabei aber schmal, und er schüttelte sofort den Kopf. „Das ist es nicht und das weißt du. Ich hätte nur nicht damit gerechnet, nicht betteln zu müssen, dass du uns begleitest.“ Sie wandte den Blick zum Fenster, sah vielleicht zum Haus der Mytens herüber, deren Tod sie gestern noch als vorhersehbar bezeichnet hatte, und schien sich ihrer eigenen Worte nicht ganz sicher, als sie antwortete. „Denk bloß nicht, dass sich meine Meinung dazu geändert hat. Ich bin mir immer noch sicher, dass es draußen schlimmer sein kann als hier. Aber ob ich nun alleine zusehen muss, dass du geschnappt und öffentlich brutal hingerichtet wirst, oder wenigstens mein Bestes gebe, dir über die Grenzen zu helfen, damit es nicht so weit kommt...ich möchte nicht mehr allein sein, Joshua. Selbst wenn es mein Leben kostet.“ Ein unerwartet großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als sie ihn wieder anblickte, denn so offen und persönlich hatte sie das noch nie gesagt. Sicher, auf rationaler Ebene hatte sie ihm schon mehrfach an den Kopf geworfen, dass es töricht wäre, es überhaupt zu versuchen. Aber ihre ganz eigene Angst, niemanden mehr zu haben, war etwas, was Joshua viel besser nachvollziehen, nachempfinden konnte, und beinahe fühlte er sich ein wenig schlecht dafür, sie in diese Lage mit hineinzuziehen. Doch gleichzeitig war der Wunsch, sein eigenes Leben – und damit verbunden dann natürlich auch das ihre – zum Besseren zu wenden, so unglaublich viel stärker, vereinnahmte ihn bis ins Blut und verbat es ihm, jetzt Zweifel an seinem Vorhaben zu hegen. „Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, was all das hier einfacher macht, aber ich glaube nicht, dass es etwas gibt. Ich hätte deine Bedenken ernster nehmen sollen, bin aber einfach nur froh, dass wir an einem Strang ziehen. Danke, Lenora.“ Sie nickte knapp, schmunzelte leicht und ging an ihm vorbei, nicht jedoch ohne ihm auf die Schulter zu klopfen, was ein wenig ulkig wirkte, da sie fast zwei Köpfe kleiner war als er. „Ich denke, ich werde dann mal diese ganzen Lebensmittelmarken für das Nötigste einlösen, hm? Ist sicher ein weiter Weg nach draußen.“ „Ja, es wird nicht einfach werden.“ Aber mit ihr an seiner Seite, dessen war er sich sicher, war er so nah an einer vielversprechenden Zukunft wie schon lange nicht mehr. 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