Herzblind von Schwarzfeder ================================================================================ Kapitel 12: .zwölf ------------------ Mein Blick geht raus in den Regen, während ich Mowgli an mich drücke und Gedankenverloren aus dem Fenster sehe. Mittlerweile ist es Ende September und der Sommer wirklich merklich vorbei. Anna und Elisa hatten mit dem Wochenende ihrer Hochzeit wirklich Glück, denn es war das letzte wirklich warme und durchgehend sonnige Wochenende, was wir aber auch mit einer rauschenden Party gefeiert haben. Zumindest nach der tränenreichen Zeremonie davor. Die halbe Gästeschar hatte Bedarf an Taschentüchern und ich musste ebenfalls mehr blinzeln als eigentlich notwendig. Und auch wenn er es geleugnet hat, ich könnte schwören, dass Elyas auch eine Träne verdrückt hat, aber er hat es sehr überzeugend geleugnet, weshalb ich ihn nicht mehr weiter drauf festnageln wollte. Und eigentlich auch konnte, denn Elisa hat sich sehr Mühe gegeben den Alkohol an alle zu verteilen und deshalb sind meine Erinnerungen leider nicht mehr so klar, wie ich es mir wünschen würde. Doch zum Glück gibt es Fotos. Und Videos. Allerdings habe ich diese noch nicht gesehen und bin mir deshalb nicht so ganz sicher ob ich wirklich froh darüber bin. Die beiden sind jetzt aber im Moment in den Flitterwochen und haben die Hoheitsgewalt über das ganze Material, weshalb ich frühestens damit rechnen kann die Sachen zu sehen, wenn sie wieder da sind. Mein Handy piepst leise und ich setze Mowgli auf meinen schändlich vernachlässigten Zockersessel. Durch die Freundschaft zu Elyas und seinen beiden Lieblingsdamen, wie er sie gerne mal bezeichnet, habe ich den Sommer über nämlich erschreckend viel außerhalb unternommen, auch weil Anna und Elisa es nie müde geworden sind mich zu irgendwelchen Dingen einzuladen. Nicht zuletzt zu den ständig stattfindenden Grillpartys in Elyas‘ Garten. Mittlerweile habe ich mich an diese Freundschaft auch gewöhnt. Jetzt ist er ein Freund, der deshalb auch meine Wahl als Tierarzt wäre, aber da Mowgli nur einmal noch zu einer Kontrolle musste, überwiegt da doch der Freundschaftsfaktor maßgeblich. Auch, weil er mir diese ganze Sache mit Summer anvertraut hat. Nach diesem Samstag haben wir nicht noch einmal über sie oder ihren Selbstmord gesprochen. Den Abend haben wir mit guter Pizza und schlechten Filmen verbracht, die durch ihre Lächerlichkeit für jede Menge böser Kommentare und noch viel mehr Gelächter gesorgt haben. Letztendlich bin ich über Nacht geblieben, weil ich auf der Couch irgendwann eingeschlafen bin. Am nächsten Morgen wurde ich von einem Frühstück und zwei elend gut gelaunten Bräuten in spe geweckt, die mit ihren Sitzplatzkärtchen und Sitzordnungsplänen in Elyas‘ Haus einfielen. Dadurch und den einnehmenden Alltag danach, gab es auch nicht mehr wirklich die Gelegenheit, aber von Elisa weiß ich, dass es Elyas anscheinend wirklich geholfen hat, dass ich für ihn da war. Er hatte ihr wohl irgendwann davon erzählt und gleichzeitig erlaubt, dass Elisa und ich uns darüber austauschen dürften, wenn Bedarf bestehen würde. Ich hege zwar den Verdacht, dass er nicht mehr darüber reden will und es verdrängt, aber andererseits scheint es ihm wirklich gut zu gehen. Neben Elyas‘ bester Freundin und seinen Eltern bin ich aber auch der einzige, der davon weiß. Selbst Anna weiß nicht alles und Marie im Grunde nur, dass Elyas Ärger hatte und seine Mutter deshalb wollte, dass er nach Hamburg geht. Seine ganzen anderen Freunde und Bekannten ahnen es nicht einmal und ich bin sicherlich der letzte, der darüber ein Wort verlieren würde. Denn so von ihm ins Vertrauen gezogen worden zu sein hat dieser ganzen Freundschaftskiste einen Wert gegeben, den ich definitiv nicht erwartet hätte. Er ist mir so wichtig geworden, dass ich Marie manchmal am liebsten dafür drücken könnte, dass sie diese ganze Sache überhaupt erst angeleiert hat. Allerdings sehen wir uns in letzter Zeit gefühlt gar nicht. Sie hat die Prüfungen inzwischen zwar endlich hinter sich bringen können, aber trotzdem so viel zu tun, dass wir uns immer nur einmal kurz hier und da sehen, aber Zeit zum Reden bleibt da nicht und der meiste Austausch findet eigentlich übers Handy statt. Aber ich kann ihr leider nicht dabei helfen, bei was auch immer und da ich selbst jede Menge zu tun habe und hatte – wie zum Beispiel die eher unfreiwillige Beteiligung an den letzten Hochzeitsvorbereitungen, bei denen ich mich immer mal wieder gefragt habe, wieso man sich diesen ganzen Stress eigentlich antut – versuche ich mein zwischendurch schlechtes Gewissen damit zu beschwichtigen, dass ich ab und zu Sachen übernehme wie die Spülmaschine oder gleich die ganze Küche. Denn im Gegensatz zu ihr, die nur einmal zu einem dieser so regelmäßig gewordenen Verabredungen zu einem Feierabendbier mitkommen konnte, schaffen es die anderen öfter uns zu begleiten. Immer mal wieder ist jemand anderes dabei, sei es Momo oder Mathis oder Elyas‘ Lieblingsdamen. Einmal war sein Vater mit, was an sich ganz witzig war, weil er Geschichten aus Elyas Kindheit erzählt hat, aber vermutlich auch deshalb nicht mehr danach. Zwei Mal hat auch Nuri sich dazu durchgerungen es in ihren engen Terminplan zu stopfen, denn seit sie aus Afrika zurück ist, arbeitet sie wie verrückt in drei oder vier Jobs um ihre Finanzen wieder auszugleichen, wie sie es gern nennt. Manchmal frage ich mich wirklich ob sie irgendwann auch mal vorhat einen geregelten Job anzunehmen, aber sie fühlt sich so wohl und liebt ihre Freiheiten, die sie sich ermöglicht. Ich bin mir zwar nicht sicher wie genau sie das alles schafft, aber sie schafft es. Muss mit ihrer Friss oder Stirb Mentalität zusammen hängen. Mir wäre das zu stressig und zu wenig Freizeit. Auch weil ich so auf die Verabredungen mit Elyas verzichten müsste und auf die will ich bestimmt nicht verzichten, denn auch wenn wir die anderen Male allein waren, bin ich gerne mit ihm unterwegs. So hatte er auch die Gelegenheit sein Versprechen wahr zu machen und für mich da zu sein um mich abzulenken, wenn ich es brauchte. Mittlerweile brauche ich es nicht mehr in der Art, denn das Chaos in meinem Kopf ist gelichtet, aber trotzdem lasse ich mich nur zu gern irgendwohin mit schleppen. Zumindest, wenn er nicht irgendeine Gelegenheit nutzend mit jemandem vor meiner Nase flirtet. Denn das bringt mich selbst jetzt noch irgendwie aus dem Konzept. Ich kann es im Grunde einfach nicht leiden, auch wenn ich sicherlich kein Recht habe ihm das zu verbieten. Bis auf diese Sache mit Summer habe ich es nämlich vermieden ihn auf irgendwelche Partner oder Eroberungen oder so etwas anzusprechen und dankenswerter Weise hat er auch nicht einen Ton darüber verloren oder es sonst wie erwähnt. Denn bis auf diese kleine Sache kann ich über alles mit ihm reden. Er hat zu allem, was mich beschäftigt oder grade passiert eine Meinung und witziger Weise ist die genauso oft die gleiche, wie sie sich von meiner unterscheidet. Auf meine Erkenntnis, dass ich mir sicher bin demisexuell zu sein, hat er nur grinsend das Glas gehoben und mit mir angestoßen, während er bezogen auf das immer noch eher negative Verhalten meiner Arbeitskollegen auf ihren neuerdings geouteten Kollegen, gedroht hat ihnen Elisa vor zu stellen. Ich musste sehr lachen, bevor ich ihm erklären konnte, dass es fast schon etwas Amüsantes hat dabei zu zusehen, wie ein Teil der Vollpfosten sich damit quält, während Mark schamlos offen damit umgeht. Und unseren Kollegen wurde von unserem Chef nur zu deutlich gemacht, wie sie darauf zu reagieren haben und mit ihrer aufgezwungenen Toleranz machen sie sich doch ganz schön zum Affen. Denn Mark hat das Glück, dass ausgerechnet Herr Fechter die Hand über ihn hält und notfalls auch Ermahnungen ausspricht, wenn Beleidigungen in Marks Richtung fallen, egal ob der es hört oder nicht. Es gab auch schon ein paar Abmahnungen, auch wenn ich nicht weiß an wen genau und wie viele. Im Grunde ist es mir auch egal, aber mein Respekt für meinen Chef ist seitdem gefühlt unerschütterlich. Tief durchatmend öffne ich die Mitteilung, die ich bekommen habe und verziehe irritiert die Augenbrauen. Tabea hat mir ein Bild von sich und Ruth geschickt, aber ich kann kaum erkennen was das im Hintergrund sein soll und wieso ist es mit Überraschung untertitelt? Als wäre das eine Antwort klingelt es an der Tür und mir rutscht das Herz in die Hose. Die beiden sind doch nicht etwa... Es klingelt wieder und diesmal Sturm. »Komm’ ja schon, komm’ ja schon«, höre ich Mathis fauchen. Weil er den Sommer über seine Beziehung zu Momo ausgelebt und vertieft hat, hinkt er mittlerweile mit seiner Masterarbeit so hinterher, dass wir ihn und auch er sich selbst unter Momo–Entzug gestellt hat. Der Kurze sitzt seitdem gern bei mir im Zimmer rum, bis Mathis ihn zu sich lässt, und beschäftigt sich mit meinem Kater. Mowgli kann deshalb mittlerweile ganz schön viele Tricks, auch weil ich ebenfalls mit ihm trainiere. Es quietscht und rumpelt und ich höre Mathis ächzen und dann Tabea. »Du bist ja gar nicht Gabriel«, stellt sie verdutzt fest und ich raufe mir die Haare. Diese beiden... Meine Schritte führen mich in den Flur, indem Mathis liegt und auf ihm drauf Ruth, die wegen Tabea nicht hoch kommt. »Da ist Gabriel«, stellt sie begeistert fest und in der nächsten Sekunde hängt sie um meinen Hals. »Was macht ihr hier?«, frage ich angefressen und schiele zur immer noch weit offenen Haustür. Mowgli ist seit dem einen Mal nicht wieder abgehauen, aber auch nur weil ich jedem empfindliche Strafen angedroht habe, wenn sie das noch einmal verursachen. »Dich besuchen, natürlich. Im Sommer hat es ja irgendwie nicht geklappt mit dem herkommen«, erklärt meine kleine Schwester mir, während sich mich knuddelt und ich nur zusehen kann, wie Mathis nun Ruth aufhilft, die ihn dankbar anlächelt. »Mach mal einer bitte die Tür zu?«, knurre ich dann und zum Glück reagiert Ruth und setzt es um. Nicht ohne vorher noch eine riesige Reisetasche in den Flur zu ziehen. Mir schwant Übles. »Wir müssen doch deinen Kater endlich auch einmal kennen lernen und Ruth hatte Angst, dass wir dich nicht wieder erkennen, wenn wir dich nicht einmal im Jahr sehen«, tönt sie und kassiert deshalb direkt einen empörten Schlag von Ruth, bevor sie mit ihren Händen sehr deutlich macht, was die Wahrheit ist. Ich seufze schwer und reibe mir übers Gesicht. »Setzt euch in die Küche, aber zieht vorher um Himmelswillen die nassen Sachen aus und dann erklärt ihr mir bitte, was ihr wirklich hier wollt«, knurre ich und schubse sie beide zumindest in die Richtung. So viel zu meinem ruhigen Wochenende. ~ »Das ist ja wirklich super spannend. Und du bist dann echt für 18 Monate in Schweden? Was ist mit deinem Studium in der Zeit?« Ich verdrehe genervt die Augen. Mathis hat nach nur ein paar Minuten entschieden, dass er lieber meine Schwestern kennen lernen will, anstatt seine Arbeit weiter zu schreiben. Ich überlege ernsthaft ob ich das Momo petzen soll. Da ich sonst immer nach Hause gefahren bin, wenn meine Familie nach mir verlangte, kennen meine Mitbewohner die beiden nur von Fotos und aus meinen Erzählungen. Ich will gar nicht wissen, wie Nuri und Marie auf die beiden reagieren, wenn sie denn mal nach Hause kommen, irgendwann heute Abend. Während ich mich an etwas essbarem versuche, streichelt Ruth mit Begeisterung meinen Kater und Tabea erzählt von ihrer geplanten Mission. Seit drei Wochen weiß sie, dass sie nach Schweden gehen wird, was Mathis natürlich hat hellhörig werden lassen und sich jetzt alles von dieser freiwilligen Verpflichtung erklären lässt. Im Gegensatz zu mir sind Ruth und Tabea beide sehr aktiv in der Religion unserer Familie und praktizieren den Glauben daran mit großer Leidenschaft. Dass es für mich nichts ist, finden sie zwar schade, aber haben nicht ein einziges Mal daran gedacht mich irgendwie belehren oder noch besser bekehren zu wollen. Ebenso wie meine Eltern und dafür bin ich ebenso dankbar, denn ich weiß, dass es, wie bei anderen Religionen auch, Familien gibt, die da anders drauf reagieren. »Naja, erst mal komme ich in eine Art Training. Ich muss ja die Sprache lernen, was ich jetzt aber schon mache und je nachdem wie schnell und gut ich das mache, komme ich dann nach Schweden und für die Zeit nehme ich einfach ein paar Urlaubssemester, das ist auch schon alles mit der Uni geregelt«, höre ich sie grade sagen, als die Eieruhr klingelt, weil die Nudeln fertig sind. Ich kann keine Nudeln kochen ohne die Zeitangabe der Packung zu beachten. Entweder sie sind noch zu hart oder so weich gekocht, dass man schon gar nicht mehr rein beißen möchte. Als ich die Nudeln abgieße, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass Ruth ihre große Schwester auf sich aufmerksam macht und dann zeigt, was sie sagen will. Ich bin wirklich nicht stolz drauf, aber im Gegensatz zu Tabea bin ich nicht so gut, was die Gebärdensprache betrifft. Und da Ruth noch hören kann war nie die Notwendigkeit da mehr zu lernen als das verstehen. Das liegt aber auch daran, dass ich einfach früh ausgezogen bin und Ruth ihre Stimme mit 9 bei einem Fahrradunfall verlor. Da war ich 17 und zwei Jahre später zog ich aus. Im darauffolgenden Jahr wiederum zogen meine Eltern nach Flensburg. Es ist nicht aus der Welt, aber auch nicht mehr um die Ecke. »Ach ja, stimmt. Gut, dass du es sagst. Gabriel?« »Hmm?« »Morgen ist ein Ausverkauf zu dem Ruth und ich wollen, deshalb nimm dir nichts vor, okay?« Ich schnaube unüberhörbar und sehe die beiden strafend an. »Nur deshalb seid ihr überhaupt hier, gebt‘s zu! Von wegen Mowgli kennen lernen«, knurre ich und Ruth lächelt schuldbewusst, während Tabea unbeeindruckt aussieht. »Jetzt stell dich mal nicht so an, okay? Du warst das letzte Mal zu Ostern zu Hause, selbst an deinem Geburtstag bist du hier geblieben.« »Du klingst wie Mama.« »Dann ist das gut so, die ist nämlich auch nicht begeistert davon, dass du nie zu Hause bist. Arbeit gut und schön, aber du müsstest eigentlich mindestens 30 Urlaubstage im Jahr haben und dann sind da noch die Feiertage und Wochenenden und du schaffst es nicht die paar Kilometer bis nach Flensburg?« »Bevor du dich in Rage redest, Essen ist fertig«, murre ich nun selbst etwas schuldbewusst und stelle Nudeln und Soße auf den Tisch. »Ich will es nur noch mal gesagt haben, okay?«, sagt Tabea schnippisch, aber greift wirklich zu. Sie war zum Glück schon immer eine begeisterte Esserin. ~ »Willst du es ihnen eigentlich sagen?« Verdutzt aufsehend fällt mein Blick auf Momo, der ein paar der übrig gebliebenen Nudeln verspeist. Es ist spät und weil sie müde waren, sind Ruth und Tabea schon schlafen gegangen. Dankenswerter Weise hat Momo ihnen sein Zimmer drüben überlassen, weil das größer ist als meins und so nur eine zusätzliche Matratze rein passen muss. Da er eh meist hier schläft, waren es auch nur ein paar Handgriffe und ich habe dadurch zumindest jetzt meine Ruhe um wieder etwas runter zu kommen. Ich freue mich zwar irgendwie die beiden zu sehen, aber grade Tabea ist immer wieder eine Herausforderung. Auch da sie meist für Ruth übersetzend spricht und dadurch quasi für zwei und selbst aber für sich auch leidenschaftlich gern irgendwelche Dinge erzählt und sich dadurch wiederum auf andere Gedankenblitze bringt, die sie ebenfalls mitteilen muss. Ich bin immer wieder beeindruckt davon, dass Ruth so viel Geduld hat das auszuhalten. Vielleicht weil sie einen größeren Sturkopf hat als Tabea und sie so in die Schranken weisen kann? Ich weiß es nicht. »Was sagen?« »...Moritz meint deine neuste Erkenntnis über dich selbst«, erklärt Mathis leicht abwesend, weil er grade noch abgelenkt ist durch irgendein Schriftstück, dass er lesen muss und es für Momo in dessen Gesellschaft liest. »Das wissen sie schon«, erkläre ich und gähne unterdrückt. Vielleicht sollte ich auch schlafen gehen, wenn ich morgen zum Shoppen mitgehen muss? Mathis hebt verdutzt den Kopf. »Echt?« Ich nicke und grinse schief. »Sie konnten zwar nichts damit anfangen, aber nach etwas Recherche meinte meine Mutter, dass eigentlich alle so empfinden sollten, dann würde nicht so viel Mist mit Sex und so gemacht werden. Ich weiß nicht ob andere das beleidigend finden oder so, aber ich hab mich irgendwie gefreut. Allerdings weiß ich nicht, ob ihnen klar ist, dass das zumindest in meinem Fall auch auf einen Mann zutreffen könnte. Da haben wir gar nicht drüber gesprochen«, erzähle ich leise und beobachte Mowgli dabei, wie er seinen Schmalen Weg unter der Decke entlang geht um zu seiner Hängematte neben dem Fenster zu kommen. Mittlerweile sieht jeder direkt nach Betreten der Wohnung, dass hier eine Katze wohnt. »Willst du das nicht klar stellen?«, hakt Mathis nach und ich zucke mit den Schultern. »Bei Bedarf vielleicht. Im Moment bin ich nur froh, dass ich das meiste hinter mir habe und wieder mit mir klar komme«, antworte ich ruhig und sehe dann zu Momo, der jetzt wieder nur geschwiegen hat. »Darf ich fragen, was deine kleine Schwester hat? Weil, hören kann sie ja anscheinend, oder?«, fragt er dann, als er meinen Blick merkt. Ich lächle schief. »Als sie neun war, hatte sie einen Fahrradunfall. Wir wissen nicht ob sie mit dem Kehlkopf auf die Lenkerstange geknallt ist oder woanders gegen, Ruth konnte sich nicht erinnern und es hatte auch keiner gesehen. Passanten haben sie kurz danach erst gefunden und den Krankenwagen gerufen, aber der Hals war auf alle Fälle irgendwie gequetscht und bei dem Versuch sie zu retten wurden ihre Stimmbänder irreparabel beschädigt. Ich hab den ganzen medizinischen Kram damals nicht richtig mitbekommen, weil ich so Angst hatte, dass sie stirbt. Jedenfalls hätte es die Möglichkeit gegeben ihr dieses künstliche Stimmending zu geben, aber das wollte sie nicht und deshalb hat sie keine Stimme mehr«, erkläre ich und seufze tief. Rückblickend betrachtet war das vielleicht einer der Gründe, warum ich mit dem ganzen Kirchenzeug nichts mehr zu tun haben wollte. »Ganz schön heftig«, murmelt Mathis und ich kann sehen, dass er an seine kleinen Geschwister denkt, die in etwa demselben Alter sind wie Ruth damals. »Schon, aber weil Ruth sich dafür entschieden hatte auf ihre Stimme zu verzichten, kam sie wesentlich besser damit klar als alle anderen. Einige lagen ihr Monate lang in den Ohren damit, dass sie doch lieber diese künstliche Stimme wählen sollte, weil es besser ist als gar keine. Aber nur weil sie keine Stimme hat heißt es ja nicht, dass sie sich kein Gehör verschaffen kann«, sage ich leise und muss schmunzeln, weil ich weiß, dass sie das kann. Sie hat ihr Abi als Beste im Jahrgang auf einem ganz normalen, staatlichen Gymnasium bestanden und auch in ihrem angestrebten Kunststudium wird das kein Problem. Sie wird es zumindest nicht zu einem Problem werden lassen. Es hat sie schließlich auch nicht davon abgehalten sich mit Tabea zu streiten. Grade in der Pubertät nicht. Dafür sind die beiden jetzt ein Herz und eine Seele. Ich frage mich wirklich wie das wird, wenn Tabea so lange weg ist. Vielleicht sollte ich doch öfter nach Hause fahren? »Ich glaube, ich geh‘ besser schlafen. Ausverkauf klingt anstrengender als Schlussverkauf«, sage ich dann und sehe kurz zu Mowgli rauf, der aber in seiner Hängematte döst. Dann sollte ich besser die Tür auflassen, damit er nachher reinschlüpfen kann. Mathis und Momo wünschen mir eine gute Nacht und nach einem kurzen Besuch im Bad verziehe ich mich in mein Zimmer, lasse aber meine Tür wirklich einen Spalt breit geöffnet. Mich unter meine Decke kuschelnd muss ich grinsen, als ich höre, dass Mathis aufgebend seine Sachen weg schiebt. Es ist so still in der Wohnung, dass ich sie gut hören kann. Marie ist mit irgendwem ausgegangen und Nuri noch am Arbeiten. »Ich hab’ keine Lust mehr...« »Du weißt, dass du so nie fertig wirst, oder? Du hast schon eine Verlängerung beantragt« »...ich werde morgen wieder fleißig sein, versprochen. Aber heute hab’ ich echt genug. Erzähl mir lieber wie es auf der Arbeit war. Gibt es etwas Neues?« Eigentlich gehört es sich wohl nicht dem Pärchengeplänkel der beiden zu lauschen, wenn sie es nicht merken, aber jetzt noch auf zu stehen um die Tür doch zu schließen, will ich auch nicht. Vor allem, weil Mowgli dann heute Nacht nicht mehr zu mir kommen würde. Er kann Türklinken zwar öffnen, aber da er überall seine Plätze zum Schlafen hat, muss er es nicht und tut es deshalb nicht. Er neigt zu Faulheit wenn man ihn nicht lockt. Allerdings schlafe ich besser, wenn er bei mir liegt. Ich mache wirklich drei Kreuze und eine Riesenfete, wenn die 6 Monate endlich vorbei sind. »...Dr. Schäfer hat glaube ich eine Freundin«, höre ich Momo sagen und etwas in mir zieht sich zusammen. Bitte? »Ach echt?« »Ich glaube schon. Er ist immer wieder mit seinem Handy zu Gange und hat auffallend gute Laune. Sonst ist er immer gereizt, wenn ihm ein Fall von Vernachlässigung anvertraut wird, aber letztens, als wir die ganzen Hasen und Meerschweinchen behandeln mussten, hat er nur kurz mit irgendwem geschrieben und war danach wieder ganz normal« »Das klingt wirklich verdächtig. Ne Ahnung wer es ist?« »Nein, irgendwie nicht. Normalerweise würde ich Marie fragen, aber solange die Ergebnisse vom Examen nicht da sind, hat sie ja quasi Urlaub. Es muss ja ein neuer Vertrag abgeschlossen werden und alles.« »Mhmm~ mal gucken. Vielleicht findest du das ja raus, sonst frag ich Gabriel, dass er seine neuen besten Freundinnen mal aushorcht.« »Interessiert dich das echt?« »...eifersüchtig?« Momos peinlich berührtes Gestammel ausblendend ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Elyas hat eine Freundin? Sonst betont er doch immer, dass er kein Beziehungstyp ist. Mir ist vollauf bewusst, dass ich eigentlich keinen Wert drauf gelegt habe zu wissen, wie es in Elyas’ Liebesleben aussieht, aber jetzt tut es trotzdem weh, dass ich es nicht gewusst habe. ~ »Oh man, du bist so lahm, jetzt mach doch echt mal schneller«, murrt Tabea genervt und schiebt mich weiter. Weil ich gestern Abend noch länger wach war, als mir lieb ist, hab ich heute Morgen den unsanften Weckdienst von Tabea abgekriegt. Sie hat sich auf mich drauf geschmissen. Und fand das genauso lustig wie Nuri und Ruth, die sich das schadenfroh angesehen haben. Während des Frühstücks haben Nuri und meine Schwestern sich kennen lernen können, während Marie immer noch verschütt war, doch da wir laut Tabea spät dran waren, konnte ich mich nur anziehen und dann von den beiden mitschleifen lassen. Wir schmissen Nuri bei der Gelegenheit in der Nähe eines Starbucks raus, indem sie anscheinend im Moment auch arbeitet, und fuhren dann weiter. Wer schon einmal in Hamburg war weiß, dass die Stadt sehr beliebt bei Touristen ist und kann sich demnach vorstellen, wie voll sie samstagmittags ist. Und dabei spielt es kaum eine Rolle zu welcher Jahreszeit. Die Innenstadt von Hamburg ist immer überlaufen. Das das Geschäft, das den eigentlichen Ausverkauf macht in einer Seitenstraße liegt hilft wenig und das ich dumm genug war mich dazu überreden zu lassen mein Auto zu nehmen, noch viel weniger. Deshalb bin ich grade extremst genervt und will am liebsten wieder nach Hause, während Tabea noch viel drängelnder schiebt. Da ich keine andere Wahl habe, lasse ich mich schieben und bin froh, als der Laden in Sicht kommt und die beiden sich schon am Eingang absetzen und mich stehen lassen. Weil es erwarteter Weise völlig überlaufen ist, gehe ich wieder raus und stelle mich mit einem schiefen Grinsen zu ein paar anderen potenziellen Taschenschleppern, die ebenfalls schon hier stehen und warten. Da es in diesem Klamottenladen wirklich alles gibt, was die Herzen meiner Schwestern zum hüpfen bringt, erwarte ich nicht sie in der nächsten Stunde wieder zu sehen, weshalb ich mich umsehe und im nächstgelegenen Café dann einen Macchiato zum Mitnehmen bestelle. Während ich warte, beobachte ich die Leute um mich rum und auch die, die draußen vorbei laufen. Grade als ich den Becher entgegen gehalten bekomme, entdecke ich Elyas, der draußen vorbei geht. Für einen Augenblick spüre ich überraschte Freude, dann rutscht mein Blick runter auf die Person neben ihm, die sich bei ihm eingehakt hat und mit einem Blick ansieht, den ich so nur von Momo kenne und ich wünsche mir augenblicklich das nie gesehen zu haben. Elyas und Marie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)