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Herzblind

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So~ ich mag das Kapitel sehr, aber ich muss am Anfang erwähnen, dass ein paar Sätze auf englisch gesprochen werden und zudem eine Triggerwarnung geben, die allerdings auch spoilert, deshalb:

Spoiler & Triggerwarnung:

erwähnter Suizid
(falsche!) Anschuldigung von Missbrauch/Vergewaltigung
Erpressung Komplett anzeigen

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»Geht er nicht dran?«

Brummend schüttle ich den Kopf und lege auf, bevor ich Mathis sein Handy zurückgebe. Gestern Abend hat Elyas wieder einen Grillabend bei sich veranstaltet. Diesmal habe ich es zwar nüchtern nach Hause geschafft, weil ich Fahrdienst gemacht habe, aber blöderweise trotzdem mein Handy bei ihm vergessen. Da ich wusste, dass er heute Morgen noch mit Elisa verabredet war zur letzten Anprobe des Hochzeitsgewandes von Elisa – nur Elyas als ihr Trauzeuge weiß, ob es ein Kleid oder ein Anzug oder was auch immer es genau ist – habe ich ausgeschlafen und mich um Bad und Küche gekümmert. Doch jetzt ist später Nachmittag und weil es morgen weiter geht mit den Vorbereitungen – irgendwelche Sitzordnungen und Kärtchen die geschrieben werden müssen – ist jetzt die einzige Möglichkeit es mir abzuholen. Ich seufze schwer und reibe mir über die Augen. Die letzte Woche war anstrengend, denn Mark hat sich überlegt, dass er sich jetzt, wo er seine Prüfung bestanden und den Übernahmevertrag unterzeichnet hat, so ganz nebenbei outen könnte. Diesen so offensiv flirtenden Kunden gibt es nämlich wirklich. Er heißt Alex und arbeitet in einem Krankenhaus und steht mehr auf Mark als gut für dessen Ego ist. Als Alex also die Woche vorbeikam um bei Mark etwas abzuholen, hat der ihn zum Abschied fast demonstrativ geküsst und während Alex leicht benebelt und mit roten Wangen aus der Halle stolperte, durfte ich mir anhören was ein Teil unserer Kollegen davon hielt.

Diplomatisch gesagt: Gar nichts.

Dass sie Mark nicht gleich verprügelt haben war gefühlt auch alles positive, was man daraus ziehen konnte und während Herr Fechter sich deshalb einschalten musste und Mark umgehend in sein Büro zitierte, wetterten die anderen vor sich hin. Ich fühlte mich extrem unwohl. Auch, weil ich mir ebenfalls ein paar Sprüche anhören durfte als ich es wagte mich für Mark aussprechen zu wollen. Ich bin zwar mit meiner Meinung nicht alleine, wie ich nach Feierabend von zwei anderen Kollegen gesagt bekam, aber sie halten sich dezent aus der ganzen Sache raus und deshalb ist es zurzeit ein nicht ganz so angenehmes Arbeiten. Herr Fechters Meinung zu dem Ganzen kenne ich nicht, aber Mark hat mir auch noch nicht erzählt was er und unser Chef in dessen Büro besprochen haben.

Ich kann nur abwarten und mich für den Moment darum kümmern mein Handy zurück zu bekommen, denn in der nächsten Woche werde ich es definitiv brauchen.

Nuri kommt zurück und ich habe ihr zugesagt sie vom Flughafen abzuholen. Und nächstes Wochenende ist dann die Hochzeit von Elisa und Anna zu der wir netter Weise alle eingeladen sind.

»Momo hat nicht zufällig Annas Handynummer, oder?«, frage ich dann und beobachte Mowgli dabei, wie er eine Fliege durch den Flur jagt. Es ist nur eine Frage der Zeit bis er sie erwischt oder doch die Lust verliert.

»Nicht das ich wüsste, im Moment ist er aber auch mit den Zwillingen im Kino«, erklärt Mathis und ich blinzele verdutzt. Ich weiß zwar, dass Momo und die Zwillinge letzte Woche Geburtstag hatten und weil die Tage nur zwei oder drei auseinander liegen, die beiden Kleinen unbedingt mit ihrem so heißgeliebten Lieblingsfreund zusammen feiern wollten, aber ich hätte sicher nicht erwartet, dass sie dafür Mathis zu Hause lassen.

»Ohne dich?«

Mathis räuspert sich und weicht meinem Blick schuldbewusst aus.

»Was hast du angestellt?«

»...meine Masterarbeit etwas zu sehr schleifen lassen. Ich hinke hinterher«, gibt er zu und seufzt schwer. Ich brumme ungnädig und schüttle den Kopf.

»Selbst Schuld. Okay, ich versuche jetzt einfach mein Glück«, murmle ich dann, greife doch wieder zu Mathis Handy und schreibe Momo eine Nachricht. Es dauert eine Weile, die Mathis und ich in der Küche verbringen und schweigen. Vermutlich will er nicht riskieren, dass ich noch einen Kommentar zu seinem Aufschieben abgebe.

Dann aber kommt eine Nachricht zurück, die mir sagt, dass Momo nicht nur wirklich Annas Handynummer hat sondern auch die Antwort bekommen hat, dass Elyas zu Hause sein müsste. Ich bedanke mich und gebe Mathis sein Handy endgültig zurück.

»Was hast du jetzt vor?«

»Zu Elyas fahren und mein Handy holen. Wenn er nicht da ist, hab ich halt Pech gehabt«, brumme ich dann und stehe auf. Im Flur fange ich meinen Kater ein, den ich Mathis in den Arm drücke, als der mir folgt.

»Weiß nicht, wann ich wieder da bin, aber wartet nicht mit dem Essen auf mich, okay? Wer ist eigentlich dran?«

»Marie, aber ich hab keine Ahnung wo die sich wieder rum treibt, deshalb werde ich mir entweder eine Pizza bestellen oder hoffen, dass Momo mir was mitbringt.«

Ich schnaube belustigt, bevor ich meinen Autoschlüssel greife und in meine Schuhe schlüpfe.

»Verdient hast du es ja nicht. Gib ein bisschen Kniegas, sonst müssen wir dich unter Momo-Entzug setzen.«

Mathis brummt nur, weshalb ich Mowgli mit einem Grinsen kraule und dann durch die Tür nach draußen verschwinde. Hoffentlich ist Elyas wirklich da.
 

~
 

Leicht fröstelnd reibe ich mir über die Oberarme, während ich darauf warte, dass mir jemand aufmacht, aber im Haus ist es nicht nur unheilverkündend dunkel sondern auch still. Allerdings steht Elyas silbergrauer Opel auf seinem Stellplatz neben dem Haus und ich bin mir sicher, dass er mal erwähnt hat nur in der Stadt selbst mit der Bahn zu fahren, aber nicht in die Stadt rein. Das müsste doch eigentlich bedeuten, dass er da ist, oder?

Leise seufzend schiele ich zu meinem Wagen, der hinter Elyas steht und ich überlege angestrengt. Es ist unglaublich nervig so abhängig von einem kleinen, dummen Stück Technik zu sein.

Ich drücke wieder auf die Klingel, doch es passiert nichts. Erst. Dann glaube ich ein leises Rumpeln zu hören. Die Augenbrauen zusammenziehend lehne ich mich näher an die Tür, aber es ist wieder still.

»Elyas? Ich bin es Gabriel, bist du zu Hause?«, rufe ich laut und klopfe gegen das eingelassene Glas der Haustür. Für einen Moment ist es wieder still, dann höre ich Schritte. Die Tür geht auf und Elyas blinzelt mich an. Ich verziehe die Nase, als mir eine unverleugbare Fahne entgegenweht.

»Bist du betrunken?«

»Jus’ tipsy«, nuschelt er und ich brauche einen Moment um zu verstehen was er jetzt eigentlich gesagt hat.

»So beduselt, dass du Englisch sprichst, ja?«, frage ich seufzend. So habe ich ihn wirklich noch nicht erlebt. Er trinkt zwar auch so ein zwei Bier oder anderweitigen Alkohol, aber wirklich betrunken habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat sich immer unter Kontrolle.

»Has’ mich doch verstand’n. Was machsu hier?«

»...ich habe mein Handy gestern hier vergessen«, erkläre ich langsam. Mich beschleicht ein mehr als ungutes Gefühl. Irgendwas muss zwischen gestern Abend und jetzt passiert sein, denn Elyas ist nicht nur betrunken sondern auch merklich abweisend. Sein Gesichtsausdruck kommt mir fast fremd vor. Er brummt nur, wankt aus dem Weg und wedelt in Richtung Hausinneres.

»Take it ‘n hit the road«, nuschelt er und stolpert wieder ins Haus. Ich habe das unbändige Bedürfnis Elisa anzurufen, aber allein dafür brauche ich mein Handy, doch so weit komme ich gar nicht, weil Elyas strauchelt und droht zu stürzen. Schon aus Reflex laufe ich zu ihm und kann ihn grade so abfangen. Er flucht leise auf Englisch, bevor er sich von mir auf die Treppe drücken lässt, die nach oben führt.

»...ich mach dir einen Kaffee, okay?«

»I don’t need coffee, jus’ go«, brummt er und reibt sich irgendwie erschöpft über das Gesicht.

Ich seufze leise.

Ich bin mir sicher, dass da irgendwas ist, dass ihn dazu getrieben hat sich Samstagnachmittags zu betrinken, aber ich bin mir nicht sicher wie ich nachfragen soll. Ich bin nicht Elisa. Aber Elisa ist auch nicht hier und bis sie kommen würde...

Ich brumme leise, bevor ich der vielleicht dummen Idee nachgehe. Seinen Arm greifend helfe ich Elyas wieder hoch und bugsiere ihn, nicht auf seine Flüche achtend, in Richtung Wohnzimmer. Hier ist es auch diesig, fast dunkel, weil ein Teil der Rollläden runtergelassen ist. Ihn zur Couch lenkend, sehe ich das noch leicht gefüllte Glas und die dafür zu zwei Dritteln geleerte Whiskeyflasche. Ich schüttele leicht den Kopf, lasse Elyas auf die Couch sinken und drücke ihn auf die Sitzfläche, damit er sich hinlegt, bevor ich das Glas und die Flasche nehme und in Richtung Küche davon gehe. Zwar brabbelt er unwillig vor sich hin, aber ich schenke dem keine größere Beachtung und mache mich daran Kaffee zu kochen. Starken Kaffee.

Der hoffentlich hilft.
 

~
 

Es ist dunkel draußen und regnet. Der Kaffee hat nicht ganz die erwünschte Wirkung gehabt, weil Elyas nach einer Tasse eingeschlafen ist und mir so nicht erklären konnte was los ist, aber da er wenigstens nicht weiter trinken konnte, habe ich ihn schlafen lassen und nur eine Wolldecke geholt, damit er nicht auskühlt. Weil ich ihn partout nicht allein lassen konnte, sitze ich seit bestimmt zwei Stunden im Wohnzimmer auf dem Sessel und mache im Grunde nichts. Eine Weile habe ich mich mit diesen Zeittotschlägern von Match-3-Handyspielen beschäftigt, nachdem ich mein Handy in der Küche neben dem Kühlschrank gefunden habe und dann noch hier und da ein paar Forenbeiträge auf den Seiten gelesen, die Anna mir empfohlen hatte. Auch aufgrund des Gespräches mit ihr, bin ich mir mittlerweile sicher, dass ich raus gefunden habe wie ich ticke und was ich brauche, aber laut ausgesprochen habe ich es im Grunde noch nicht. Wenn man dieses Gespräch vor zwei Wochen zählen kann, dann nur vor Anna. Meinen Gedanken nachhängend beobachte ich die Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben trommeln.

»Du bist ja noch da«, nuschelt eine raue Stimme von der Seite und leicht erschrocken zucke ich zusammen. Mein Blick bleibt auf Elyas hängen, der sich müde über sein leicht zerknautschtes Gesicht reibt.

»Es sieht dir nicht ähnlich dich zu betrinken und deine Freunde los werden zu wollen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden dich allein zu lassen«, sage ich leise und er seufzt, bevor er lacht.

»Du bist wirklich zu gut für den ganzen Scheiß«, brummelt er und rappelt sich auf. Etwas unstet. Ich verlasse meine Position im Sessel, gieße ihm etwas Wasser ein und reiche es ihm, während ich mich jetzt neben ihn setze.

»Welchen Scheiß?«, frage ich, nachdem Elyas das Glas geleert hat. Er brummt nur, mustert mich und sieht tief durchatmend raus in den Regen. Ich weiß nicht was los ist, aber diese extrem miese Stimmung in der er grade zu sein scheint, macht mir echt Sorgen. An Elisa oder Anna kann es nicht liegen, denn von Elisa habe ich vor einer halben Stunde ein Foto bekommen von Anna, die über dem Schreiben irgendwelcher Karten eingeschlafen ist. Ich hab nur einen amüsiert lachenden Smiley zurück geschickt, damit Elisa nicht merkt, dass etwas nicht stimmt.

Plötzlich kramt Elyas sein Handy aus der Hosentasche, tippt kurz drauf rum und hält es mir dann einfach entgegen. Es ist eine SMS seiner Mutter. Für einen Moment bin ich versucht zu sagen, dass ich sowas nicht lesen sollte, aber eines der englischen Wörter springt mir ins Auge wie eine Leuchtreklame.

Ich schlucke schwer und lese die ganze Nachricht. Mein Englisch ist wirklich etwas eingerostet, aber es reicht um den Sinn und das wichtigste zu verstehen.

»...wer...wer ist Summer?«, frage ich leise, bevor ich ihm das Handy wieder zurück gebe. Elyas seufzt schwer, während er die ganze Zeit raus in den Regen sieht.

»Streng genommen der Grund, warum ich überzeugt bin, dass ich nicht fähig bin eine gute Beziehung zu führen«, murmelt er ruhig. Fast zu ruhig.

»Ich weiß nicht, ob Marie oder die Mädels es dir schon mal erzählt haben, aber dass ich hier nach Hamburg gekommen bin war nicht wirklich freiwillig«, murmelt er dann. Ich muss daran denken, was Marie mir kurz nach Elyas' und meinem Kennenlernen von ihm erzählt hat. Seine Mutter hatte ihn hier her zu seinem Vater geschickt, weil Elyas Schwierigkeiten hatte und sie nicht wollte, dass er abrutscht.

»Jedenfalls...wäre ich lieber bei meiner Mutter geblieben als hier her zu kommen in ein Land, dass mir nichts bedeutet und dessen Sprache ich kaum sprechen kann, aber eine wirkliche Wahl hatte ich auch nicht«, murmelt er und wirkt, als ob er mit seinen Gedanken ganz tief in alten Erinnerungen steckt. Erinnerungen, die alles andere als schön sind.

»Was ist passiert?«, frage ich leise. Elyas lacht. Freudlos. Ich mag dieses Lachen nicht. Er soll nicht so lachen.

»Es hat eigentlich ganz unschuldig angefangen. Diese typisch romantisierte Story von Nachbarskindern, die sich ineinander verlieben. Ich war der Nachbarsjunge und Summer...das Mädchen. Allerdings hatte ihre Mutter extrem etwas dagegen, dass wir uns anfreundeten, weil sie erst 14 war und ich schon 15. Es ist nur ein Jahr Unterschied, aber Summers Mutter war einfach...für sie war ich der Feind. Ich wollte ihr unschuldiges Mädchen verführen und sie ihr weg nehmen. Meine Ma hielt das für völlig übertrieben, aber weil sie nicht wollte, dass mir die Mutter Dinge unterstellt, hat sie mich gebeten um Sumer einen Bogen zu machen und Summers Mutter hat wirklich alles dafür getan, dass Summer auch nicht in meine Nähe kam. Ich war fürchterlich in sie verschossen und hab ihr das ganze Jahr nachgehechelt und ihr ganzes Verhalten für mich so gedeutet, dass es ihr auch so ging. Deshalb war ich zwar überrascht, als sie es geschafft hat kurz nach meinem 16. Geburtstag sich an einem Abend plötzlich in mein Zimmer zu schleichen, aber hatte alles andere als etwas dagegen und ich muss gestehen, dass ich in der Nacht auch direkt mit ihr geschlafen habe«, murmelt er und fährt sich unruhig durch die Haare, »aber ich war so unfassbar verknallt, dass ich nichts hinterfragt habe und einfach alles angenommen habe, was sie mir geben wollte. Nur dummerweise fand meine Mutter es kurze Zeit später raus und weil sie Angst hatte, das Summers Mutter mir eine Klage wegen Vergewaltigung anhängt hat sie verlangt, dass wir uns nicht mehr sehen. Im Gegenzug versprach sie Summer, dass sie ihrer Mutter nichts sagen würde. Mir ist klar, dass Ma mich einfach nur schützen wollte, aber mit 16 und so vielen Hormonen im Kopf, dass man nicht klar denken kann, war das einfach absolut das schlimmste, was meine Mutter mir hätte antun können. Und um sie zu bestrafen, schwänzte ich die Schule und machte Mist wo es nur ging. Ich bin wirklich nicht stolz drauf so dämlich gewesen zu sein.«

Er schweigt eine Weile. Es ist dieses angespannte Schweigen, dass einen kaum wagen lässt Luft zu holen, aber gibt mir die Zeit um zumindest das, was ich schon gehört habe etwas zu verdauen.

»Jedenfalls kam ich dadurch ganz schön rum und durfte dann einen Tag plötzlich beobachten, wie das Mädchen, in das ich so hoffnungslos verschossen war sich mit einigen zwielichtigen Jungs, die noch eine Ecke älter waren als ich, traf und sich nicht nur ungeniert Drogen einwarf sondern dann mit einem der Kerle auch noch ins Auto stieg und weg fuhr und so wie er sie angefasst hatte, war mir klar, was sie vor hatten. Ich war völlig durch. Und erst Recht, als ich sie darauf ansprach und sie mir sagte, dass sie sicherlich einen Besseren als so ein ängstliches Muttersöhnchen wie mich verdient hätte. Mich so in ihr geirrt zu haben war echt ein Schock und um das zu verdauen hab’ ich es meiner Mutter erzählt. Zum Glück, denn ein paar Wochen später kam Summer plötzlich wieder an und verlangte von mir Hilfe, weil sie schwanger war und Geld für eine Abtreibung haben wollte. Als ich sagte, dass sie ein Kind nicht einfach abtreiben könne nur weil sie Angst hat es ihrer Mutter oder ihrem Freund zu erzählen, hat sie damit gedroht zu behaupten das Kind sei von mir und überhaupt sei es auch nur meine Schuld, dass sie schwanger geworden wäre, weil ich kein Kondom benutzen wollte. Ich habe mich erst trotzdem geweigert, aber deshalb drohte sie mir dann, dass sie ihrer Mutter alles erzählen würde, was ihr einfiele, damit diese mich anzeigt. Ich hatte so Angst vor den Konsequenzen, die eigentlich nicht einmal wirklich meine Verantwortung waren, dass ich meiner Mutter das Geld klauen wollte, aber dabei hat sie mich erwischt und alles aus mir raus gequetscht. Nicht einmal einen Tag später saß ich in einem Flugzeug nach Europa. Ma versprach mir das alles zu regeln, aber sie wollte mich aus der Schusslinie raus haben. Und die Entscheidung war sogar besser, als meine Eltern und ich gedacht hätten, denn während ich in Hamburg plötzlich in eine fremde Schule mit fremder Sprache und in eine fremde Familie geworfen wurde und versuchte mich zurecht zu finden für die Zeit, die ich hier absitzen müsste, versuchte Summer in einem Drogenrausch das Kind selbst abzutreiben. Dabei ist sie fast gestorben, weshalb dann auch ihre Mutter alles raus fand. Summer behauptete wirklich, dass ich der Vater gewesen wäre, weshalb ihre Mutter auch so wie befürchtet eine Anzeige machte und meine Auslieferung in die Staaten verlangte, aber weil meine Mutter sich quasi darauf vorbereitet hatte, konnte mit Blutproben und einem DNA-Test nachgewiesen werden, dass ich nicht der Vater bin, wodurch ihr ganzes Lügenkonstrukt aufflog. Weil das alles aber über Anwälte und ein Gericht lief, dauerte es fast ein halbes Jahr indem ich jeden Tag irgendwie befürchtet habe, dass die deutsche Polizei plötzlich vor der Tür steht und mich mitnimmt. Es war die Hölle. Ich glaube, wenn ich die Tiere in der Klinik und Elisa nicht gehabt hätte, wäre ich letztendlich richtig durch geknallt. Nachdem das Urteil dann endlich gefällt wurde und rechtskräftig war, war ich aber schon längst 17 und hatte mich hier so eingelebt, dass ich erst einmal hier bleiben und meine Schule machen wollte. Aber aus dem nur mein Abi machen wurde dann auch ein das Studium hier vollenden und letztendlich bin ich ganz hier geblieben und wenn überhaupt nur für einen Besuch mal rüber geflogen. Aber Summer habe ich seit damals nicht mehr gesehen oder gesprochen. Ich wollte einfach keinerlei Kontakt mehr zu ihr. Es kam auch nie eine Nachricht oder Entschuldigung oder irgendetwas...bis...bis jetzt...«, murmelt er heiser und reibt sich über die Augen. Ich seufze schwer und atme tief durch.

Als Marie meinte, dass Elyas in Schwierigkeiten gesteckt hatte, hätte ich sicherlich niemals einen derartigen Brocken erwartet.

»...und jetzt...nimmt dich was daran am meisten mit?«

Elyas schnaubt kurz, was wie ein missglücktes Lachen klingt.

»Ein normaler Mensch würde jetzt wohl sagen, dass sie sich ‘ne Kugel in den Kopf gejagt hat. Aber...ich weiß es nicht. Vielleicht, dass sie auf so eine feige Weise versucht sich zu entschuldigen. Oder das alles jetzt, nach so vielen Jahren wieder hoch zerrt. Ich mein, ich hatte damit abgeschlossen und jetzt bringt sie sich um, weil sie mit ihrem Leben nicht mehr klar kommt und hinterlässt nur eine Nachricht mit, I’m sorry Mom, I’m sorry, Elyas? Als ob diese ganze Story nicht schon genug schlechte Krimielemente in sich vereint, nein, jetzt holt sie alles wieder hoch und ich hab das Gefühl ich darf nicht mal sauer auf sie sein, denn anscheinend war sie psychisch so krank, dass sie nur diesen Ausweg gesehen hat. Das ist so...so...gosh darn it. I’m really furious right now, but it’s inappropriate to–«

»Elyas! Hey, Elyas, sieh mich an, okay?«, sage ich ruhiger, als ich mich fühle. Er schluckt schwer und blinzelt mich an. Ich lächle ihn sacht an, bevor ich einfach das mache, was mir als erstes einfällt. Das, was Anna auch bei mir macht, wenn sie mich beruhigen möchte. Ich schlinge meine Arme um ihn und drücke ihn sanft an mich. Es muss wirklich seltsam wirken, weil Elyas merklich größer ist als ich, aber es scheint ihn zumindest etwas zu beruhigen, denn er lehnt sich in die Umarmung und drückt sein Gesicht auf meine Schulter.

»Es ist okay...wirklich. Ich bin der Meinung, dass man sehr wohl sauer auf eine Tote sein darf. Und wenn man einen so guten Grund hat, erst Recht. Plötzlich nur Gutes über sie zu sagen, wenn sie dir solche Dinge angetan hat, wäre unaufrichtig und ich weiß, dass das nicht deine Art ist«, sage ich leise.

»Aber–«

»Kein Aber. Es ist okay, sauer zu sein, wirklich. Es wäre auch okay, wenn du gar nichts fühlst oder so. Der Punkt ist, dass du irgendwann auch wieder loslassen solltest. Es für dich abschließt. Sonst trägst du es für immer mit dir rum und irgendwann macht es dich vielleicht kaputt und das will keiner deiner Freunde, mich eingeschlossen, okay?«

Elyas sieht mich einfach nur an. Ich kann seinen Blick nicht komplett deuten, aber er sieht mich so aufgewühlt an, dass ich einfach weiter verharre. Irgendwann schnauft er angestrengt und lässt sich wieder und diesmal ganz gegen mich fallen, weshalb ich leicht zurück kippe. Mir entwischt ein leises Keuchen, aber ich lasse ihn nicht los, auch wenn ich mir nicht sicher bin ob ich grade überhaupt hilfreich bin oder alles nur schlimmer mache.

Wieder ist es eine Weile ruhig.

Ich höre nur den Regen gegen die Scheiben klatschen und Elyas ruhigen Atem. Grade, als ich vermute, dass er vielleicht wieder eingeschlafen sein könnte, atmet er tief durch und setzt sich wieder auf um sich neben mir gegen die Rückenlehne zu lehnen.

»...du hast Recht«, sagt er entschieden und sieht zu seinem Handy. Er greift danach und tippt eine Antwort ein und schickt sie ab, bevor er es mir wieder hin hält.

»So angemessen?«

»Thank you for telling me, mom, but I think we shouldn’t concern ourselves anymore with that. It’s the past and I want to let bygones be bygones, don’t you think?«

Diesmal brauche ich etwas länger um die Nachricht für mich zu übersetzen. Das Elyas mich abwartend ansieht macht es nicht viel einfacher, vor allem als er leise gluckst.

»Vielleicht sollte ich ab jetzt nur noch in Englisch mit dir kommunizieren, was? Dabei dachte ich, dass du Englisch als LK im Abi hattest«, sagt er zergelnd. Ich gebe ihm einen Stoß in die Seite und brumme ihn verlegen an.

»Das ist 8 Jahre her, okay?«, versuche ich mich zu verteidigen und er lacht. Diesmal nicht so freudlos wie vorhin noch. Diesmal wieder so wie er sonst auch ist. Ich bin so erleichtert, dass mir irgendwie schwindlig wird.

»Da steht im Grunde, dass wir uns nicht mehr damit beschäftigen sollten und ich die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen will. Es ist vielleicht herzlos, aber ich glaube ich schulde weder Summer noch ihrer Mutter noch irgendetwas«, erklärt er überraschend ruhig. Ich nicke langsam, bevor ich ihn wieder direkt ansehe.

»Verzeihst du ihr?«

»Huh?«

»Ob du ihr verzeihst, irgendwann. Sie hat in ihrer Abschiedsnotiz doch geschrieben, dass es ihr leid tut.«

Elyas blinzelt mich irritiert an.

»Was hat das hinter mir lassen mit Verzeihen zu tun?«

Ich lache leise, bevor ich tief durchatme und nun selbst wieder raus in den Regen sehe.

»Wenn ihr Tod dich genug erschüttert, dass du sauer wirst und dich betrinkst, dann denke ich schon, dass es dir helfen würde«, sage ich leise.

»...ehrlich gesagt hab ich getrunken, weil ich sauer war und angefressen, dass sie sich so feige davon gemacht hat mit dieser Notiz. Es hat sich angefühlt, als ob ich jetzt gar keine andere Wahl habe, als nicht mehr sauer auf sie sein zu dürfen. Und sie ist tot. Da gibt es nichts mehr dran zu rütteln oder zu ändern oder zu verzeihen. Und du hast doch noch gesagt, dass ich sauer sein darf.«

»Darfst du ja auch. Aber wenn du jemand anderem wirklich verzeihst, dann befreist du dich selbst auch davon. Wenn du ihr irgendwann verzeihst, was sie getan hat, dann ist es wirklich nur noch ein Teil deiner Vergangenheit.«

Elyas‘ Blick ist wieder sehr nachdenklich, als ich zur Seite sehe. Dann seufzt er leise.

»...hast du Sophie verziehen?«, fragt er dann. Ich blinzle verdutzt, bevor ich langsam nicke.

»Sie hat mich nicht drum gebeten, aber ich für mich habe entschieden, dass ich ihr das verzeihen will. Es würde mich nur mehr belasten, wenn ich es nicht getan hätte. Und letztendlich tut es mir nur noch leid, dass es so geendet ist. Denn eigentlich könnte sie in ihrer Situation vielleicht ein zwei gute Freunde gebrauchen, wenn man bedenkt, dass sie mit mir zusammen war, damit ihre Eltern nicht raus kriegen, dass sie lesbisch ist«, erkläre ich langsam und merke dabei selbst, dass ich es wirklich abgehakt habe. Unter dumm gelaufen und hoffentlich draus gelernt.

»Manchmal kann ich kaum glauben, dass es dich wirklich gibt. Bist du wirklich echt, oder hat das was mit deinem Namen zu tun?«, fragt Elyas und lacht, weil ich in nun wirklich verwirrt ansehe.

»Was? Wieso?«

»Na wenn ich mich richtig erinnere, dann kommt der Name doch von einem Engel, oder nicht? Und sind Engel nicht übermenschliche Wesen?«

Ich werde verlegen und wende den Blick ab, während meine Ohren heiß werden.

»M–Meine Eltern haben sich die Namen meiner Schwestern und mir aus der Bibel ausgesucht und Gabriel ist ein Engel, ja, aber deshalb bin ich noch lange keiner und ich bin definitiv nicht übermenschlich, okay?«

Elyas piekst mir leise lachend in meine Wange, bevor er sich vorlehnt und meinen Blick sucht.

»Das muss dir nicht peinlich sein, mein Name ist auch aus der Bibel abgeleitet und ich find deinen Namen gut. Es ist nur einfach so, dass du mich immer wieder überraschst und manchmal weiß ich echt nicht was da in deinem hübschen Köpfchen vor sich geht«, erklärt er und ich schnappe erschrocken nach Luft.

»Du bist ja noch betrunken! Was redest du da?«, krächze ich und er lacht wieder.

»Im Wein liegt die Wahrheit«, scherzt er und streckt sich.

»...das war Jack Daniels.«

»Wein, Whiskey, beides Alkohol. Ich würde vorschlagen, weil es spät ist und draußen regnet, bestellen wir uns eine Pizza und du bleibst heute hier und leistest mir Gesellschaft, na?«

Ich schnaube und sehe zur Uhr, bevor ich brummig zustimme, weil er Recht hat, aber trotzdem bin eigentlich ich der Verwirrte. Vorhin war er noch so niedergeschlagen, gefühlt am Boden und jetzt? Das ging so schnell. Und da sagt er, dass er nicht weiß, was in meinem Kopf vor sich geht? Er ist doch das viel größere Rätsel.

»Ich sag nur eben Mathis und den anderen Bescheid«, sage ich betont ruhig und greife nach meinem Handy. Elyas nickt nur, gibt mir einen Klaps auf die Schulter und läuft in Richtung Küche.

»Dann trinke ich noch einen Kaffee und suche schon mal das Prospekt«, erklärt er und hantiert dann schon an der Maschine herum. Ich beobachte ihn einen Moment, bevor ich davon abgelenkt werde, weil Mathis antwortet. Ich schicke nur einen Smiley zurück und sperre dann den Bildschirm.

»...Gabriel?«

»Ja?«

»Danke«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Surprise~
Das war im wahrsten Sinne ein dunkles Kapitel, aber hopefully...hat es trotzdem Anklang gefunden!? Lasst es mich wissen und bis Sonntag ;3 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Yamasha
2017-11-16T19:42:50+00:00 16.11.2017 20:42
Ich bin ein schlechter Mensch. Hab das Kapitel gestern schon gelesen, komme jetzt aber erst zum antworten
Aber es ist auch ein schweres Kapitel. Ich dachte, als Marie Elyas Schwierigkeiten erwähnt hat, dass er irgenwie ein bisschen geklaut oder harmlose Drogen genommen hat. Aber das... Vor allem, wenn es nach all den Jahren nochmal hochkommt. Schon heftig. Aber trotzdem erstaunlich, dass er noch so ein vergleichsweise fröhlicher Mensch sein kann. Wobei die Schlussfolgerung keine Beziehung führen zu können aus dieser Sache sich mir nicht wirklich erschließt. Aber gut
Aber ich find gut, dass Gabriel Sophie anscheinend auch verzeiht. Ich finde, daran merkt man richtig was für ein guter Mensch er ist :D
Antwort von:  Schwarzfeder
17.11.2017 10:43
Bist du nicht!
Und es erschließt sich Gabriel auch nicht so ganz und ich hatte auch das Bedürfnis omg, du Feigling, zu sagen, aber...im Grunde ist es einfach ein...*Mund zukleb um nicht zu spoilern*
Sorry, erfährt man noch x'D
Danke, dass du Feedback gegeben hast, ich freu mich jedesmal!


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