Herzblind von Schwarzfeder ================================================================================ Kapitel 9: .neun ---------------- Elyas PoV »Du kannst manchmal echt ein Arsch sein, weißt du das?« »Und trotzdem liebst du mich«, entgegne ich frotzelnd, aber seufze leise und sehe rüber zu Anna, die auf der kleinen Holzbank am anderen Ende des Gartens sitzt und telefoniert. Mit Gabriel. Irgendwie kann ich den Gedanken immer noch nicht leiden, dass sie ihm anscheinend besser helfen kann als ich. Andererseits war eine meiner ersten Anekdoten ihm gegenüber mein damals ausschweifendes Liebesleben und wie locker ich auch jetzt noch damit umgehe. Dass er dann eher die so ruhige und liebe Anna um Hilfe bittet wundert mich nicht mal. Auch weil er sich seit dem Kuss nicht ein einziges Mal von sich aus gemeldet hat. Dabei steht noch das Versprechen eines Feierabendbiers aus. Ich hege nur die Befürchtung, dass er absagen könnte, wenn ich frage. Elisa brummt ungehalten und fährt sich durch ihre kurzen, karottenroten Haare. »Gabriel ist echt süß, du hättest nicht so gemein zu ihm sein dürfen. Er ist der Ich bin sensibel und weiß es nicht einmal Typ. Ihn zu küssen wenn er so verwirrt ist, ist einfach nur mies«, erklärt sie zum gefühlt tausendsten Mal. Einerseits bin ich ja froh, dass meine engsten Freundinnen Bescheid wissen und ich es so nicht für mich behalten musste um Gabriels Privatsphäre zu wahren, aber andererseits ist es irgendwie unfair, dass beide so klar Partei für ihn ergreifen und mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit deshalb ausschimpfen und ihn in Schutz nehmen obwohl sie ihn erst seit meinem Geburtstag kennen. Ich komme mir vor wie der böse Wolf, der sich an Rotkäppchen vergreifen will. »Das Problem ist doch, dass er so süß ist. Als Marie erzählt hat, dass ihr Mitbewohner Autos repariert, hätte ich sicherlich nicht ihn erwartet«, brumme ich abwehrend, bekomme aber nur einen bösen Blick unter hochgezogener Augenbraue. »Wenn du weiter solchen Stuss laberst, dann erzähle ich rum, dass der Sex mit dir so schlecht ist, dass er mich lesbisch gemacht hat«, droht sie knurrend und ich seufze, wie so oft in letzter Zeit. »Hör doch auf zu lügen! Außerdem ist das Jahre her, das glaubt dir eh keiner mehr. Schon allein weil jeder weiß, dass du Anna auf den sprichwörtlichen Händen trägst.« »Dein Vater hat es geglaubt! Aber davon ab, nur weil Gabriel Mechaniker oder Mechatroniker oder wie die sich schimpfen, ist, darf er doch süß sein!? Du hast dir bestimmt so einen Klischeedeutschen mit Bierbauchansatz und Bauarbeiter Dekolleté vorgestellt, oder?« Ich hüstele leicht, weil meine Vorstellung zwar nicht so schlimm, aber in die Richtung ging. Deshalb war ich wirklich verdutzt als er in den Behandlungsraum kam. Und noch dazu mit einem ausgesetzten Kätzchen im Karton. Es hätte nur noch Regen gefehlt um das Klischee perfekt zu machen Elisa schlägt mir empört auf den Oberarm. Das kann sie leider sehr gut und schmerzhaft, denn als Sportlehrerin weiß sie einfach wo es weh tut. »Aua~«, jammere ich lachend und sie schnaubt abfällig. »Du bist manchmal so… so… ätzend! Warum sind wir noch mal befreundet?« Ich lache leise. Sie hat nicht ganz Unrecht, das weiß ich auch. Aber ich bin seit langem auf keine derart spannende Person mehr getroffen wie Gabriel eine ist. Durch die ganzen Erzählungen von Marie über ihre Mitbewohner habe ich einfach einiges im Vorfeld schon erfahren und mir unwillkürlich ein Bild gemacht, dass einfach nicht auf das passt, wie er wirklich ist. Und mit jeder Begegnung tauchen neue Facetten auf, die nicht aufhören wollen mich zu beschäftigen. »Bist du jetzt eigentlich irgendwie verknallt oder wie darf ich dein Interesse an ihm verstehen?«, fragt sie dann und ich wiege den Kopf hin und her. »Vielleicht ein bisschen. Es ist eher so, dass ich ihn spannend finde. Erst taucht er mit einem Kater auf, den er nur gefunden hat und den er dann aber aus lauter Gutmütigkeit sogar behält und jetzt hängt er so an ihm, dass er ihn zu mir bringt weil auch nur die Möglichkeit besteht, dass er etwas abbekommen hat. Ich kann mich gut mit ihm unterhalten, weil er irgendwie immer etwas interessantes zu erzählen hat und diese Aktion mit der Ohrfeige...« Elisa lacht lauthals. Jedes Mal, seit ich es den beiden erzählt habe, lacht sie immer wieder wenn es zur Sprache kommt. Da es nicht mehr weh tut, muss ich auch schmunzeln, aber Elisa hat beim ersten Hören sogar Tränen gelacht und sich die Seiten gehalten. »Das ist immer noch zu gut, wirklich. Und dann auch noch so wirkungsvoll. Diese Frau ist ja wirklich nicht einmal mehr in der Klinik aufgetaucht, richtig?« »Ist sie nicht. Ja«, bestätige ich und muss unwillkürlich dran denken wie er mich angesehen hat. Er sieht sogar niedlich aus, wenn er wütend ist. Oder spielt, wütend zu sein. Aber er hat es sehr gut gespielt und sehr überzeugend und sich dann sofort danach ganz besorgt und hinreißend um mich gekümmert. Wirklich schlimm. Und da spielt dann noch nicht rein wie viel Spaß wir auf meiner Geburtstagsparty hatten und die anderen Begegnungen danach. Als Anna zurück kommt, sehe ich automatisch zu ihr auf. »Was war?«, frage ich direkt, aber sie lächelt schief und setzt sich erst einmal schweigend neben ihre Verlobte. Ich bezweifle schon, dass sie überhaupt etwas mitteilen wird, als sie doch den Mund aufmacht. »Das werde ich euch nicht sagen, ich hab es versprochen. Diesmal werde ich es dir auch nicht sagen, Eli, tut mir leid«, erklärt sie dann ruhig und Elisa blinzelt ebenso verdutzt wie ich. Doch im Gegensatz zu mir, zuckt sie nur mit den Schultern. »Ist auch okay. Wie schon gesagt, Gabriel ist garantiert sensibler, als er sich selbst bewusst ist«, behauptet sie und nimmt sich wieder eine der klein geschnittenen Möhren. Wir haben geplant nachher mit ein paar anderen Freunden zu grillen, aber die beiden haben schon vor einer Weile zu mir gefunden und da alles vorbereitet ist, war es mir gleich. Gedanklich bin ich eh damit beschäftigt raus zu finden, was ich davon jetzt halten soll. »Hatte er denn gestern Spaß auf der Party?«, fragt Elisa dann und Anna lächelt leicht. »Er hat wohl jemanden getroffen, den er kennt und war sehr überrascht, aber hat sich gut mit ihm unterhalten«, erzählt sie und betrachtet etwas verträumt ihr Handy. »Ich mach mir ein bisschen Sorgen um ihn. Das alles nimmt ihn ganz schön mit und wenn du mit deinem Verdacht richtig liegst, Eli, dann sollten wir wirklich auf ihn aufpassen.« »Welchen Verdacht?«, frage ich irritiert und will grade nicht einmal wissen von welcher Art Party sie überhaupt sprechen. Die beiden sehen sich kurz an, bevor Elisa mich forschend mustert. »Wie viel hat er dir über diese Sophie erzählt?« »Im Grunde alles, was es zu wissen gibt.« »Auch, wie es mit der körperlichen Anziehung war?« Ich nicke stumm und hoffe, dass sie endlich mit der Sprache raus rücken. Anna nickt leicht und Elisa seufzt. »Von dem abgeleitet was ich jetzt gehört habe, glaube ich, dass Gabriel demisexuell sein könnte. Also, dass er eine emotionale Bindung braucht und möchte, bevor er sich überhaupt zu jemandem sexuell hingezogen fühlen kann. Da er aber mit seiner Freundin anscheinend wenigstens Sex haben konnte, wenn sie es wollte, ist es vielleicht nicht so stark ausgeprägt, dass es direkt auffällt. Das Spektrum ist ja sehr vielfältig. Vielleicht ist Sex ihm nicht unangenehm, aber er hat auch nicht die Art Freude daran, wie jetzt du oder Anna und ich. Abgeleitet von seiner Ausdrucksweise halte ich das für möglich. Er scheint nämlich nicht viel von Sex zu halten. Oder er hatte bis jetzt einfach noch nie genug Bindung in einer Beziehung um diese Anziehung zu entwickeln. Jedenfalls legt er einfach keinen Wert auf Sex und seine ganze Art ist so...harmlos. Er achtet nicht auf das was man trägt oder wie jemand aussieht und glotzt Anna auch nicht in den Ausschnitt wie gefühlt jeder andere Kerl. Er scheint für diese ganzen Reize von Äußerlichkeiten nicht empfänglich zu sein, wenn keine Emotionen dabei sind. Gleichzeitig ist er so feinfühlig, dass er für andere da sein möchte, wenn sie seine Hilfe brauchen. Allein sein Kater ist so ein Hinweis. Aber auch seine Freunde und wie er mit ihnen umgeht. Wenn er etwas falsches tut oder glaubt getan zu haben, wie er sich entschuldigt. Hinzu kommt auch wie schwer er sich getan hat damit, seiner Exfreundin zu unterstellen, dass sie ihn bescheißt. Wenn eine Vertrauensbasis für ihn da ist, dann versucht er Vertrauen auch umzusetzen. Er war an deinem Geburtstag zwar nett und freundlich, aber gleichzeitig hat er immer irgendwie eine Distanz gewahrt. Seitdem Anna ihn in der Stadt getroffen hat und sie ihm ihre Hilfe und Freundschaft angeboten hat, stehen die beiden in so regelmäßigem Kontakt, dass ich fast eifersüchtig geworden wäre. Allerdings ist er so aufrichtig und einfühlsam, dass er direkt Anna die Erlaubnis gegeben hat, dass sie mir von allem erzählt, damit wir auch ja keine Probleme kriegen. Das hat jetzt weniger mit Demi sein zu tun. Da ist auch viel von seinem Charakter drin. Aber da er so sensibel ist und auf andere reagiert, fällt dieses auf sexuelle Reize nicht reagieren zumindest mir mehr auf. Ich bin mir aber auch nicht sicher und ich werde ihm das auch nicht unter die Nase reiben, weil ich der Meinung bin, dass er selbst rausfinden muss, wie er sich identifiziert, aber es kommt mir sehr plausibel vor«, erklärt sie mir dann und ich bleibe erst einmal stumm. Durch Elisa und unsere langjährige Freundschaft weiß ich, was sie meint, aber was das bedeutet macht mich jetzt doch etwas sprachlos. »Deshalb sind Eli und ich der Meinung, dass du dir um seinet willen auch gut überlegen solltest, was du von Gabriel möchtest. Denn wenn Eli Recht hat, dann kannst du mit ihm nicht so umgehen wie mit deinen anderen Affären. Er hat nämlich trotz der wohl eher geringen Bindung zu seiner Exfreundin echt unter dem Betrug gelitten und tut es vielleicht selbst jetzt noch«, gibt Anna zu bedenken und bringt mich zum seufzen. »Also entweder du verliebst dich in ihn und lässt dich auf diese ganze Beziehungssache ein und reitest mit ihm in den Sonnenuntergang oder du lässt die Finger von ihm und ihr bleibt Freunde«, sagt Elisa entschieden und ich brumme lang gezogen. Na ganz klasse. Ich, der bis jetzt alle Beziehungen nach nur ein paar Wochen in den Sand gesetzt hat? Meine längste Beziehung hatte ich mit Elisa während meiner Schulzeit und das auch nur vier Monate, weil wir rechtzeitig die Notbremse gezogen haben und sie durch unsere Beziehung auch gemerkt hat, dass sie Männern einfach nichts abgewinnen kann. »Er ist zwar wirklich süß, aber dann sollten wir wohl echt nur Freunde bleiben«, gebe ich seufzend zu und obwohl ich mir sicher bin, dass es die richtige Entscheidung ist, schmeckt es mir nicht. ~ Gabriel PoV Die Erkenntnis, dass ich mir mit Elyas vorstellen könnte Intimitäten zu teilen, die mich sonst bei keinem zuvor interessiert haben, löst bei mir die nächste Krise aus, weshalb ich mich in mein Zimmer einschließe und leicht in Panik Anna anrufe. Nuri und Marie in allen Ehren, aber die beiden sind mir zu direkt und zu ehrlich um mit ihnen darüber zu reden. Bei den beiden kann ich mir nämlich nur allzu gut vorstellen, dass sie es in einem Anflug von, wir müssen Gabriel helfen Elyas erzählen und das will ich auf gar keinen Fall. Vielleicht tue ich ihnen damit auch Unrecht, aber ich bin ein viel zu großes Nervenbündel um es ausprobieren zu wollen. Dass Anna ausgerechnet bei ihm im Garten sitzt, weil sie und Elisa zum Grillen eingeladen sind sorgt allerdings nur dafür, dass aus meiner leichten Panik eine totale Panik wird und zum ersten Mal seit 5 Jahren muss ich wieder zu meinen Atemübungen greifen um nicht völlig durch zu drehen. Ich kann mich zwar nicht erinnern, dass Identitätskrisen Prüfungsangst auslösen können, aber wer bin ich schon, als das ich bestimmen kann was was auslöst? Ich hab ja anscheinend von nichts eine Ahnung. Anna bleibt die ganze Zeit am Handy und redet beruhigend auf mich ein. Es dauert eine Weile, aber dann kann ich loswerden weshalb ich angerufen habe und sie fragen was das zu bedeuten hat. Sie befindet es als süß, dass ich sowas denke, was mich verlegen macht, weil ich mit 27 definitiv nicht mehr süß bin. Mit sieben war ich es vielleicht aber jetzt? Anna ist zwar älter als ich, aber trotzdem... Sie verspricht mir es niemandem zu sagen und diesmal entgegne ich nichts, als sie Elisa damit einschließt. Ich muss ihr unbedingt einen Strauß Blumen schenken als Dankeschön. Oder eine Gratisinspektion für ihr Auto, wenn sie eines hat. Als sie zum Ende hin fragt, ob ich noch irgendwas wissen will, liegt mir zwar die Frage auf der Zunge wo Elyas sich eigentlich einordnet, aber ich verkneif es mir und weil ich mittlerweile wenigstens weiß, dass man andere nur auf deren Erlaubnis hin outen sollte, wenn überhaupt. Am besten lässt man es aber bleiben. Deshalb lege ich auf und versuche mich den Rest des Tages mit meinem Kater zu beschäftigen. Der ist irgendwann so genervt von meinen Animationsversuchen, dass er sich bei Mathis unterm Bett verkriecht und weil Mathis‘ Zimmer zu unordentlich ist, als das ich da rein will, gehe ich einfach früh schlafen. Erst am Montagmorgen geht mir auf, dass ich gar nicht weiß, wie ich auf Mark reagieren soll, weil ich vergessen habe zu fragen. Er hatte mich samstags nach Hause gebracht, weil ich nach meinem Tränenausbruch wirklich nicht mehr weiter feiern wollte und Nuri nur eine Nachricht aufs Handy geschickt hatte, dass ich schon mal gehen würde. Vor der Haustür hatte er mich zwar noch mal umarmt, aber wir haben wenn überhaupt nur über meinen Kater gesprochen. Deshalb bin ich auch irgendwie angespannt, als ich am Montag im Pausenraum sitze und warte, dass er auftaucht. Ich kann nicht verhindern leicht rot zu werden, als er mich angrinst, doch im Vorbeigehen flüstert er mir zu, dass alles okay wäre und ich nicht so angespannt sein müsste, was mich doch wieder beruhigt und schon beim ersten Auftrag für den Tag habe ich mich wieder eingekriegt. Zwar merke ich, dass ich mit Mark nicht mehr ganz so streng sein kann wie vorher, aber er verhält sich auch wesentlich kooperativer, was aber keinem außer mir auffällt. Erst ein paar Tage später, als er mir von einem Kunden erzählt, der ganz schön heftig mit ihm geflirtet haben soll, fragt er andeutungsweise wie es bei mir aussehen würde. Ich zucke nur mit den Schultern, weil ich zum einen nichts zu sagen habe und zum anderen auch keinen wirklichen Kontakt mehr zu Elyas hatte. Deshalb frage ich Elyas in einer Kurzschlussreaktion per SMS wann er denn gedenken würde mein überfälliges Feierabendbier-Versprechen einzulösen und bekomme eine Stunde später die Antwort mit einem »Am liebsten sofort, aber ich muss noch bis 5 arbeiten« Ich brauche 5 Anläufe um zurück zu schreiben, dass mich das nicht stören würde und plötzlich hab ich wieder eine Verabredung zum Feierabendbier. Ich bin ja so ein Held. Da Freitag ist und ich früher Schluss habe als Elyas fahre ich nach Hause und gehe erst einmal duschen. Um meine Nerven zu beruhigen kuschel ich dann für eine halbe Stunde mit meinem Kater, der sich dank Leckerli auch wunderbar dazu breitschlagen lässt. Erst als die Wohnungstür aufgeht und Nuri mit einem »Bin wieder da« mein Zeitgefühl zurück holt, ziehe ich mich an und mache mich dann zu Fuß auf den Weg in Richtung Bar. Ich will vermeiden, mein Auto noch einmal irgendwo abholen zu müssen oder jemanden anderen darum an zu betteln und weil ich mein Vorhaben definitiv nicht nüchtern durch ziehen kann, sollte ich wirklich besser mit der Bahn nach Hause fahren. Elyas ist schon da, als ich ankomme und unter Anstrengung kriege ich es hin nicht rot zu werden, als ich ihn entdecke. Zittrig durchatmend, reibe ich meine Handflächen an meiner Jeans ab, bevor ich mich durch die Menge schiebe zu dem kleinen Stehtisch. »Hey«, meine ich leise, aber er hört mich trotzdem und grinst wieder so verschmitzt wie sonst. Zum ersten Mal spüre ich, wie mein Herz einen Hüpfer deshalb macht. Ob das an meinen unangebrachten Gedankenzug von Sonntag liegt? Ich will gar nicht daran denken. Nicht dran denken, Gabriel. Das ist völlig unangebracht. »Hi, lang nicht mehr gesehen. Ich freu mich, dass du doch noch dran gedacht hast«, begrüßt er mich und deutet auf die Flasche Cola die einsam neben seinem Bierglas steht. »Ich hatte schon Durst und war so frei, ich hoffe Cola ist okay?« Verdammt, er hat sich gemerkt, was ich eigentlich immer zuerst trinke? Ich ringe mir ein lächelndes Nicken ab und verkneife mir zu sagen, dass ich vor hatte etwas Alkoholisches zu trinken. »Danke«, murmle ich und atme tief durch. Also wohl doch nüchtern. Die Flasche ansetzend nehme ich einen Schluck um mir hoffentlich Placebo-Effekt-mäßigen Mut anzutrinken und ich glaube fast, dass es klappt, als Elyas mich anspricht. »Übrigens, wegen dem Kuss...« Ich verschlucke mich heftig und während ich hustend nach Luft schnappe und doch nur noch mehr husten muss, klopft Elyas mir auf den Rücken und entschuldigt sich immer wieder. Irgendwann wedele ich mit der Hand, damit er aufhört und mir über die Augen reibend stelle ich meine Cola lieber wieder ab. »Schon gut«, krächze ich noch leicht heiser und räuspere mich, »Ich wollte das ehrlich gesagt auch ansprechen«, gebe ich zu und mustere sehr interessiert den feuchten Ring auf meiner Serviette, den meine kalte Flasche Cola dort hinterlassen hat. »Ach echt?« Elyas klingt wirklich verdutzt. Aber auch erfreut. Kann er nicht einfach mal aufhören mich zu verwirren? »Ja, weil...ich muss zugeben, dass ich deshalb nur geantwortet und eigentlich gar nicht geschrieben habe, weil ich nicht wusste...u–und auch jetzt immer noch nicht weiß, wie...ich den Kuss verstehen soll«, erkläre ich langsam und bin fast stolz auf mich, dass ich es in einem graden Satz geschafft habe. Elyas seufzt leise und als ich wage zu ihm rüber zu schielen, hat er ein sehr entschuldigenden Ausdruck im Gesicht. »Elisa und Anna haben mich deshalb ganz schön ausgeschimpft und ich muss mich auch noch mal dafür entschuldigen, aber ich dachte, dass ich dir so eine Hilfestellung geben könnte, weil es mir damals auch geholfen hat. Ich wollte dich damit nicht noch weiter überfordern«, erklärt er und ich bekomme große Augen. Bitte? Verstehe ich das grade richtig? »Ehm!?«, mache ich heiser, Elyas lacht. »Ich war 18 und hab bei einem Wahrheit oder Pflicht einen Azubi aus der Praxis meines Vaters küssen müssen. Und es war überraschend gut, deshalb hab ich mit ein paar anderen Jungs auch testweise geknutscht und danach war mir klar, dass ich bi bin. Allerdings hat mich das nicht überfordert oder so. Ich hab es einfach hingenommen und meinem Vater ein paar Tage später an den Kopf geknallt, damit er sich nicht wundert, falls er morgens mal einen Kerl in der Küche trifft«, erzählt er und ich bin fast neidisch, dass er davon berichtet wie von einem langweiligen Vortrag aus der Uni. Ich schlucke schwer. Irgendwie ist das peinlich. Wieso tue ich mich denn so schwer damit? Und warum höre ich das grade absolut nicht gerne, obwohl ich Anna am Sonntag sogar noch danach fragen wollte? Ich greife fahrig nach meiner Cola und nehme nun doch wieder einen tiefen Schluck, in der Hoffnung, dass ich danach weiß, wie ich darauf reagieren soll. »Gabriel?«, sagt Elyas dann aber sanft, als ich die Flasche doch wieder abstelle. Ich schiele zu ihm rüber und er lächelt ebenso sanft, wie seine Stimme grade klang. »Du musst dich nicht schlecht deshalb fühlen, okay? Jeder ist anders und jeder hat eine andere Geschichte und grade wenn man anders fühlt als die Gesellschaft es einem vorschreibt, kann es manchmal wirklich schwer sein raus zu finden was man braucht und möchte. Und nur weil es bei dir jetzt passiert und nicht schon passiert ist, musst du dich nicht schämen. Es gibt genug, die sich ein Leben lang vormachen alles haben zu wollen, was gesellschaftlich akzeptiert ist und eigentlich totunglücklich damit sind. Es ist wirklich mutig, dass du dich versuchst mit dir selbst auseinander zu setzen und das heraus zu finden, anstatt so zu tun, als ob nichts wäre, okay? Nimm dir einfach die Zeit die du brauchst und finde heraus was du möchtest und wenn du jemanden brauchst um mal davon Pause zu machen oder darüber zu reden, dann kannst du mich gerne anrufen oder anschreiben oder vorbei kommen. Und für Anna und Elisa gilt das auch. Mach dich nicht so fertig nur weil du ein bisschen durcheinander bist. Das ist wirklich jeder Mal.« Obwohl es um uns herum so laut ist und so viele Stimmen den Geräuschpegel sehr hoch halten, verstehe ich jedes Wort und es beruhigt mich extrem. Erleichterung durchflutet meinen ganzen Körper und meine Augenwinkel fangen so heftig an zu brennen, dass ich hastig blinzle und an die Decke starre. Elyas lacht leise und drückt mich seitlich kurz an sich, bevor er mir auf die Schulter klopft. »Du musst da wirklich nicht allein durch, echt. Dafür sind Freunde doch da«, schiebt er amüsiert nach und ich lache. Es ist ehrlich paradox. Ich finde einen ausgesetzten Kater und Wochen später stelle ich plötzlich meine Sexualität in Frage und trinke mit dem Tierarzt dieses Katers ein Feierabendbier, weil er mein Freund geworden ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)