Totgeglaubte leben länger! von Annoia ================================================================================ Kapitel 2: Anderes: _____ ------------------------- "Verdammt, Matsuda! Was ist denn heute nur mit Ihnen los?", knurrte Mogi, während er versuchte wichtige Kira-Akten vom Tisch der Ermittlungszentrale zu retten. Mineralwasser flutete die gesamte Holzplatte und schwemmte einzelne Dokumente davon. Doch Mogi wühlte sich wie ein Schaufelraddampfer durchs Chaos und schnappte Papierstapel, von denen einige knisternd, andere platschend auf dem Boden der Zentrale landeten. Weit entfernt vom sprudelnden Nass und demjenigen, der die Getränke umgestoßen hatte.   Statt seinem Kollegen zu helfen, hob Matsuda entschuldigend die Hände und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Flaschen aneinander kullerten.  "Es tut mir leid", versuchte er die Lage mit einem müden Lächeln zu beruhigen, das kaum an sein sonst überschwängliches Auftreten erinnerte, "wirklich, wirklich leid."   L betrachtete die Szene aus dem Augenwinkel, analysierte das Geschehen und stellte fest, dass es keine Bedeutung für ihn hatte. Daher widmete er sich wieder den Datensätzen, die vor ihm über den Monitor huschten.   "Ich bin heute irgendwie nicht ganz auf der Höhe", murmelte Matsuda und ließ das Lächeln endgültig fallen. Seine Stimme erhob sich zu einem Seufzen, das durch den Raum hallte. "Seit dem Vorfall vorgestern, da ..."   "Jetzt sagen Sie nicht, Sie haben Angst", fiel Mogi ihm ins Wort. "Immerhin haben Sie sich selbst in diese missliche Lage gebracht! Sollten Sie also nicht eher glücklich sein, dass Sie lebend von diesem Balkon entkommen konnten?"   "Das ist es ja!"   Matsudas Ausruf lockte Ls Neugier nun doch hervor. Mit gespitzten Ohren und einem Daumen zwischen seinen Lippen wandte er sich den Polizisten zu.   "Ich meine", fuhr Matsuda ruhiger fort, fasste sich ins Haar und erklärte: "dass wir alle in großer Gefahr sind, weiß ich ja. Und das bringt mich auch sicher nicht davon ab, Kira überführen zu wollen, aber ... " Sein Kinn sackte auf die Brust. "... bis gestern war mir irgendwie nicht klar, wie schnell alles vorbei sein kann. In einem Moment steht man auf einem Balkon und im nächsten liegt man auf der Straße." Er seufzte erneut. "Da kommt man einfach ins Grübeln. Über sein bisheriges Leben, seine Mitmenschen, verpasste Gelegenheiten ..."   "Matsuda", vernahm L eine weitere Stimme. Unterstützt vom Klirren einer Metallkette, zwang diese jegliche Aufmerksamkeit auf sich. "Uns ist allen bewusst, wie knapp Sie aus dieser Sache herausgekommen sind. Zudem ist es vollkommen verständlich, dass Sie sich im Nachhinein Gedanken über Ihr Leben machen, nur ..."   Während die Worte in einer Kombination aus Verständnis und Missbilligung gesprochen wurden, strich ihr Redner den Stoff seiner Hose auf überschlagenen Beinen glatt.    L lugte zu Light.   "... bedenken Sie bitte, dass Sie Ihre Ängste hinter die Bedürfnisse dieser Taskforce stellen müssen. Wenn Sie unachtsam werden, oder sich sogar noch einmal derart unvorbereitet einmischen, riskieren Sie unsere Ermittlungen."   "Wie man sieht", knurrte Mogi und unterbrach damit kurzzeitig seinen Versuch ein durchtränktes Blatt Papier trocken zu pusten. Nach einem tiefen Atemzug machte er weiter.   "Es tut mir wirklich leid", verneigte Matsuda sich demütig, "ich reiße mich jetzt zusammen. Ganz sicher sogar! Glauben Sie mir bit-" Brechendes Glas schnitt ihm die Worte ab, als eine Wasserflasche vom Tisch auf die Fliesen schepperte. "Oh blöder Mist", verfluchte er die Scherben zu seinen Füßen. Ruckartig richtete er sich auf, bis er Mogi Auge in Auge gegenüberstand, um ihm wie ein Mädchen zuzukreischen: "Das tut mir auch leid. Mir tut alles leid! Ich hole sofort einen Besen." Quietschende Sohlen trugen ihn aus der Zentrale.   Mogi sah ihm nach und stöhnte auf. "Ich begleite ihn lieber." Seine Miene spiegelte erst den Ausdruck einer ausgelaugten Mutter, dann den Tadel eines Vaters wider. "Bei seiner momentanen Stimmung würde es mich nicht wundern, wenn er das Gebäude einreißt." Schnellen Schrittes folgte er seinem Kollegen durch die Tür, welche kurz darauf in den Rahmen klickte und die letzten beiden Anwesenden vom drohenden Chaos abschirmte.   "Gewiss täte es ihm aber leid", meinte L monoton wie eh und je, als er sich zum Bildschirm umwandte.   "Erstaunlich, dass dir deine spitzen Bemerkungen bisher nicht die Zunge abgeschnitten haben", schnaufte Light und widmete sich ebenfalls wieder den Ermittlungen.    ~   "Eine abgetrennte Zunge ziehe ich grundsätzlich einer gespaltenen vor", erklärte L auf dem Weg zu den Schlafgemächern. Nackte Füße schlurften über die Flurteppiche, dicht gefolgt von Lederhalbschuhen.   Light blieb stehen. "Wie bitte?" Kettenglieder klimperten, als er einfach weiter gezogen wurde, um die letzten Meter bis zu der Tür zu überwinden, hinter der sich ihre gemeinsame Unterkunft befand.    Aus den Tiefen seiner Jeans zupfte L die Schlüsselkarte, hielt sie vor den Scanner und steckte sie zurück. Sofort klackte das Schloss, was Light als Signal nutzte, um sich an seinem Mitbewohner vorbei ins Zimmer zu schieben.    L notierte dieses Verhalten mental auf der Liste der Eigenschaften, die er Kira zutraute, und konzentrierte sich anschließend auf das aktuelle Gesprächsthema. "Du meintest, meine Bemerkung bezüglich Matsuda sei derart spitz gewesen, dass meine Zunge Gefahr laufen könnte, abgetrennt zu werden. Daher sagte ich gerade -"   Lights erhobene Hand stoppte ihn. "Das war vor", spähte er auf die Uhr an der Längsseite des Raums, "drei Stunden."   Dass Tageszeiten für L keine Rolle spielten, verdeutlichte er mit dem Zucken seiner Schultern. "Die Ermittlungen hatten Vorrang und sollten nicht aufgrund einer zwecklosen Unterhaltung verzögert werden."   Die Tür klappte zu und Lights Unterkiefer für einen Sekundenbruchteil nach unten. Mit einem kraftlosen Kopfschütteln rückte er ihn wieder zurecht, als er vollends das Schlafzimmer betrat.   Ls Aufmerksamkeit folgte ihm und suchte bei jedem Schritt nach einer Regung, die den Verdacht gegen Light erhärten konnte. Seit Wochen lauerte er wie ein Schatten hinter ihm, doch bisher hatte sich noch nicht einmal das kleinste Indiz abgezeichnet, aus dem sich schließen ließ, dass Light Kira war - oder zumindest einst gewesen ist. Trotzdem hegte L keinerlei Zweifel an seiner Theorie, wenngleich sich ihm der Zusammenhang zwischen einem begabten Studenten und dem gefürchteten Massenmörder nicht offenbarte. Er überlegte zum wiederholten Mal, welches Detail ihm entging, während er einen Daumen an die Oberlippe schob und darüber hinweg seinen derzeitigen Zimmergenossen fixierte.    Light zog sich die Krawatte vom Hals. "Ryuzaki", schluckte er ein Gähnen herunter, "da ich im Gegensatz zu dir noch einen einigermaßen regulären Biorhythmus besitze, würde ich allmählich gern schlafen gehen." Er winkte mit der Kette, deren Klirren das Schlafzimmer flutete.   Automatisiert fischte L den Schlüssel aus seiner Hosentasche und trat damit an seinen Hauptverdächtigen heran, der wie gewohnt seinen Arm ausstreckte und darauf wartete kurzzeitig von der Fessel erlöst zu werden. Zwei mal täglich nutzte er Gelegenheit, um sein Handgelenk zu massieren, während L sie seinerseits nutzte, ihn dabei genau im Auge zu behalten, obwohl er längst begriffen hatte, dass das Reiben einiger Finger an einem Handgelenk keine Menschen tötete. Routine begleitete sie durch Lights Feierabende, die aus nichts anderem bestanden, als sich aufs Schlafen vorzubereiten. L hingegen gönnte sich seit Jahren noch nicht einmal das.   "Wirst du vom ständigen Beobachten niemals müde?", murrte Light, ehe er sein Jacket auszog und es samt der Krawatte auf einen Bügel in den Kleiderschrank neben der Zimmertür hängte. Unter strengster Aufsicht nahm er einen Pyjama aus dem obersten Schrankfach, schlüpfte anschließend aus seinen Schuhen und platzierte sie akkurat im untersten Fach. Satin raschelte zwischen seinen Fingern, als er L einen Seitenblick zuwarf.  "Ryuzaki", schnaufte er und zerknitterte den Pyjama in der Faust, "ist es wirklich notwendig, auch jetzt jede meiner Bewegungen zu studieren? Im Laufe der letzten Wochen sollte dir doch bereits aufgefallen sein, welchem Ablauf ich Abend um Abend folge, daher dürfte es gewiss möglich sein, mich ab sofort dabei weitestgehend in Ruhe zu lassen."   L sah von Lights verkrampfter Hand in dessen bemüht entspannte Miene. "Falls du glaubst, mir läge etwas daran, dir beim Umziehen zuzusehen, muss ich dich enttäuschen", erklärte er emotionslos. "Dies dient einzig meiner Sicherheit."   "Denkst du allen Ernstes, ich könnte dich töten, während ich mir den Pyjama anziehe?", gab Light in einem Ton zurück, den L irgendwo zwischen Sarkasmus und Verzweiflung einordnete.   "Ich denke, Kira würde es versuchen, ja."   "Ich bin aber nicht Kira!" Nun war Lights Stimmlage unschwer einzuschätzen. Wut schoss in seine Worte und in seinen Arm, mit dem er die Schranktür zuknallte, um anschließend mit dem Echo durch den Raum zu stürmen. Vor dem Bett blieb er stehen wie vor einer imaginären Wand. Sein Blick glitt ins Leere, der Pyjama aus seiner Hand auf die Matratze.    L fragte sich, welcher Gedanke Light davon ablenkte, den allabendlichen Disput fortzuführen, der üblicherweise erst endete, sobald er sich schlafen legte. Heute jedoch schienen ihn Ls Anschuldigungen bloß halbherzig zu belasten, während ihn etwas bewegte, das seine motorischen Fähigkeiten einschränkte. Mit bebenden Fingern fummelte er an seinen Hemdknöpfen und brauchte zum Umziehen bedeutend länger als sonst. Darauf, seine Kleidung sorgsam auf dem Bett zu falten, verzichtete er und ließ das Hemd sogar einfach zu Boden fallen, wo es von L gemustert, dann aber umgehend ignoriert wurde. Ihn interessierte kein zerknitterter Stoff, sondern, was hinter Lights gekräuselter Stirn vor sich ging. Allerdings würde er ihn nicht auffordern sich dazu zu äußern, da Light eh ausweichen würde, sollte er darüber nicht sprechen wollen. Doch daran hegte L Zweifel. Lights angespannter Körper schrie regelrecht danach, endlich etwas sagen zu dürfen, wenngleich ausgerechnet seine Lippen zu einer Grenzlinie verschmolzen waren, über die kein Wort flüchtete. Wie lang man einem inneren Zwist standhalten konnte, wusste L nicht zu sagen, also schwieg er ebenfalls, um Lights Kampf gegen sich selbst nicht zu stören, aus dem früher oder später ein Sieger hervortreten musste. Reden oder Schweigen.    L erlaubte seinen Lidern einen Wimpernschlag, bevor er sein Gegenüber erneut fixierte. Der entblößte Oberkörper stach ihm ins Auge und zwang L ein Zitat auf, welches sich häufig in seinen Gedanken manifestierte, sobald er über seinen Hauptverdächtigen sinnierte. "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust". Light, der sich bereits zu Beginn ihrer Bekanntschaft als möglicher Kira herausgestellt hatte, - und ein anderer Light, dessen Persönlichkeit erst im Laufe einer selbstauferlegten Gefangenschaft hervorgetreten war. Nur welcher von ihnen war der, der letztendlich über die menschliche Hülle herrschen würde?   "Ryuzaki?", überwand Light sich zögerlich, nachdem er in den Pyjama geschlüpft war. Routine kehrte zurück, indem er L ein Handgelenk entgegenstreckte, um die gewohnte Fessel angelegt zu bekommen.    Metall klackte. "Ja, Light?"   "Ich weiß zwar, dass ich Matsuda vorhin zurechtgewiesen habe, aber, um ehrlich zu sein, gehen mir seine Worte seitdem nicht aus dem Kopf." Er wich Ls eindringlichem Blick aus und stieg ins Bett, drapierte die Kette über der Decke und fuhr mit dem Finger ihre Glieder nach, als könne er seine Gedanken dadurch aneinanderreihen. "Er hat seine eigene Sterblichkeit leibhaftig vor Augen geführt bekommen und, wenn ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass ich dies bisher wie er ebenfalls ausgeblendet habe. Natürlich war mir von Anfang an klar, worauf wir uns alle einlassen, doch jetzt fühlt sich alles so real an."   "Fürchtest du deinen Tod?" L verzichtete darauf, Mitleid vorzuheucheln, da Light diese Verhörmethode eh durchschaut und anschließend abgeblockt hätte. Ob es ihm gelungen war, auch das Erstaunen aus seiner Stimme fernzuhalten, wusste L jedoch nicht. Lights Offenheit wunderte ihn und schürte zugleich sein Misstrauen.   "Es geht dabei nicht wirklich um mich", senkte Light langsam den Kopf und wirkte dabei aufrichtiger denn je. "Ich dachte eher an meinen Vater. Letztendlich ist er in seinem Herzen noch Polizist und würde sich sicher jederzeit in Gefahr begeben, wenn es darum ginge Kiras Spuren zu verfolgen."   Würde Kira Sorge um seine eigene Familie zeigen, fragte L sich. Oder würden sie ihm als Mittel zum Zweck dienen? Ja, kalkulierte er. Aber wie stand es um Light? Versuchte er seinerseits Mitleid zu erwecken, um den Verdacht, ein Massenmörder zu sein, von sich zu schieben? Sollte er nicht allmählich verstanden haben, dass L sich von keinerlei Emotionen beeinflussen ließ? Rationales Denken hatte Vorrang. "Deinem Vater sowie allen anderen Ermittlern war die Gefahr von Anfang an bewusst. Sie haben ihre Leben in die Waagschale gelegt. Auch Matsuda. Dass ihm das Ausmaß seiner Entscheidung erst jetzt einleuchtet, sollte dich dabei genauso wenig überraschen wie mich."   "Und du solltest nicht so abfällig reden, Ryuzaki." In Lights Augen erlosch etwas, ehe L es deuten konnte. Eine zweite Chance bot ihm der Student auch nicht, da er sein Gesicht bereits halb mit der Bettdecke verhüllte, und seine Stimme durch die Daunen verzerrte. "Immerhin hat Matsuda vorgestern seinen eigenen Tod mit ansehen müssen. Die falsche Leiche auf der Straße ... Das ist wahrlich kein Anblick, den man häufig ertragen muss, oder?"   "Ich weise darauf hin, dass dieser Anblick Matsuda letztendlich gerettet hat." Ls eigene Stimme wurde von Unverständnis verzerrt. Falls Light auf Mitleid für diesen voreiligen Polizisten plädiert hatte, war er kläglich gescheitert.   Aus den Daunen drang ein dumpfes Seufzen. "In dem Punkt hast du recht, Ryuzaki", meinte Light, "nur vergisst du dabei, dass manche Menschen so sensibel sind, dass sie kaum die Vorstellung, die eigene Leiche sehen zu müssen, ertragen. Einige verkraften noch nicht einmal den Gedanken an ihren Tod. Und Matsuda zählt definitiv zu den emotionalsten Personen, denen ich jemals begegnet bin, also wird der Vorfall auf dem Balkon zumindest kleine Spuren bei ihm hinterlassen. Möglicherweise fühlt er sich demnächst durch alles und jeden an seine Sterblichkeit erinnert, was wir natürlich unterbinden müssen, aber nicht verurteilen dürfen."   "Deine Empathie rühmt dich, Light." L bemühte sich weder, den passenden Unterton in seine Aussage zu legen, noch darum, das Gespräch fortzusetzen. Es schien ihm so nutzlos wie der Versuch, Lights Mimik unter der Bettdecke lesen zu wollen. Daher wandte er sich ab und ließ seinen Blick in die Richtung der Fensterfront schweifen.    "Das hat nichts mit Empathie zu tun, Ryuzaki", murmelte Light in den Kissenbezug. "Da gehört immerhin nicht viel zu, sich in Matsudas Lage hineinzuversetzen. Und, wenn ich meinen Vater und die anderen Ermittler richtig einschätze, spukt ihnen das Thema momentan gewiss ebenfalls durch die Köpfe. Also beschäftigt es nicht bloß mich, sondern jeden von uns. Nun ja", gähnte er, "dich wohl eher weniger, nach deinen Aussagen zu urteilen. Wobei mich das nicht sonderlich wundert. Was interessieren dich schon die Sorgen normaler, fühlender Menschen, hm?"   Lights letzte Worte drückten wie Ziegelsteine auf Ls Schultern, obwohl er angenommen hatte, eine ausreichend hohe Mauer gegen solche Vorwürfe errichtet zu haben. Dass dem nicht so war, spürte er in jedem Wirbel, der seinen Rücken krümmte, in jedem überspannten Muskel und jedem Gefäß, durch das sein Blut lautstark pulsierte. Er tastete nach dem Pochen seiner Halsschlagader und zwang sich zu konstanten Atemzügen, während er sich auf die nächtliche Skyline vor dem Fenster konzentrierte. Tokios bunte Lichter schafften es sogar bis ins oberste Stockwerk des Ermittlungsgebäudes, brachen durch die Glasscheiben und teilten sich in unzählige, feine Strahlen, die wie Fäden im Wind an den Wänden entlang schwebten. Ls Puls beruhigte sich so weit, dass er ihn nicht mehr hören konnte und schließlich vollends von Lights leisem Schnarchen übertönt wurde.    ~   Light lag falsch. Sein Körper war mit der Daunendecke zu einem Knäuel verschmolzen, aus dem die Kette so knapp herausguckte, dass L wie jeden Abend dazu genötigt war, seiner Arbeit vom Bett aus nachzugehen. Er lehnte am Kopfende, hatte die Beine angezogen und balancierte seinen Laptop auf den Knien. Tastenanschläge klackerten durchs Schlafzimmer und gaben den Takt für ein melodisches Schnarchen, zu dem gewiss nur Japans Musterstudent fähig war.    L hörte nicht zu. In seinem Kopf schwirrten Wortfetzen, von denen er schon nicht mehr sagen konnte, wie oft er sie mental Revue passieren lassen hatte. Lights Stimme echote: "Möglicherweise fühlt er sich demnächst durch alles und jeden an seine Sterblichkeit erinnert."   Mit einem Klick wechselte L von der Yotsuba-Akte, die er hatte lesen wollen, zu den eMails, die von Watari vorab nach Priorität sortiert und auf den geschützten Server weitergeleitet worden waren. Anfragen an Deneuve waren in blau unterlegt, die für Coil bestimmten in gelb. L überflog sie und schickte sie mit knappen Vermerken an Watari zurück, der sich zu gegebener Zeit um die Beantwortung der eMails kümmern sollte. Anschließend öffnete L die grün markierte Nachricht von Roger Ruvie und kam nicht umhin, über seinen für ihn typischen Telegrammstil zu schmunzeln. Roger war definitiv kein Freund des elektronischen Schriftverkehrs. "Ns Erfolgsquote unverändert Hundert Prozent. M erwartet Entscheidung. Angeordnete psychologische Betreuung der Bewohner erfolgreich initiiert. Gestiegene Fähigkeiten bei Li, Ma und Ro festgestellt."   L nickte und entschied, sich vom Wammy's House vorläufig fernzuhalten, um Linda, einem Mädchen, dessen Portraits längst mit der Qualität von Fotografien konkurrierten, aus dem Weg zu gehen. Denn, wenngleich niemand wusste, um wen es sich bei dem Fremden handelte, der ein Mal im Jahr durch das Waisenhaus streifte, musste vermieden werden, dass Linda sich sein Gesicht einprägte. Ihr Talent entsprach momentan einem Fluch. Bedauerlich, dachte L, als er die Nachricht schloss. Er hatte die kurzen Besuche stets genossen, während derer er sich einen Überblick über die Entwicklung der Kinder verschaffen konnte. Zudem war es ihm eine willkommene Abwechslung gewesen, zu rätseln, welche Lebenswege die Waisen einschlagen würden. Immerhin gab es nur einen Nachfolger unter ihnen. Die anderen erwartete eine Zukunft, die sie selbst bestimmen durften. L erinnerte sich an einen brünetten Jungen namens Stanley, dem er vor zwei Jahren begegnet war. Stanley belegte bis dahin den dritten Platz der Nachfolger und hätte mit etwas Mühe vermutlich um den zweiten Platz konkurrieren können, wenn er sich nicht spontan entschieden hätte, Konditor zu werden. Seither war er laut Rogers Aussage hauptsächlich in der Küche anzutreffen, und jeder akzeptierte das. Allen voran L, was er aber nicht mit der Aussicht auf Süßigkeiten begründete, sondern mit A. Denn niemals wieder sollte sich ein Wammy so sehr unter Druck gesetzt fühlen wie dieses Kind, dessen Selbstmord schon damals Grund genug hätte sein sollen, die Waisen ständig unter psychologischer Betreuung zu halten. L bereute seine verspätete Anordnung seit nunmehr sieben Monaten. Wäre sie früher umgesetzt worden, hätte sie vielleicht einen weiteren Selbstmord verhindert.   Nach einem tiefen Atemzug zwang L seine Aufmerksamkeit zurück zu Stanley, dessen Talent nicht nur im Backen lag, sondern offenbar auch darin, die Vorlieben von ihm unbekannten Personen zu erahnen. Ls Hand folgte dem Gedankengang und wanderte zur Schublade des Nachttischs, aus der sie eine weiße Schachtel mit blauer Samtschleife beförderte. Lautlos segelte das Band zu Boden, ehe L den Deckel hob, um den Inhalt der Schachtel zu inspizieren. Handgefertigte Pralinen waren darin auf transparenten Papier gebettet und lockten mit Kakaoduft, dem L nicht widerstand. Er fischte die erste Praline zwischen Daumen und Zeigefinger heraus und brachte sie ohne Umwege in seinen Mund. Sofort entfaltete sich ein Geschmackserlebnis, dem selbst Ls zuckergewohnte Zunge Hochgenuss bescherte. Erstaunlich, dachte L, dass Stanley ausgerechnet ihm die Pralinen zukommen ließ, obwohl er nicht wissen konnte, wie häufig er Süßigkeiten vertilgte. Womöglich war das detektivische Gespür des Jungen ausgeprägter als erwartet. Vielleicht handelte es sich auch nur um Zufall. L konnte es nicht beurteilen, schätzte die Pralinen aber definitiv als freundliche Geste, von einem Jugendlichen, der L eine Freude hatte machen wollen.   Der ersten Schokoladenkugel schloss sich eine weitere an und landete zwischen Ls Lippen. Vollmilch schmolz, während er unwillkürlich an den Jungen denken musste, dem diese gewiss ebenfalls zusagen würden. Mello teilte Ls Geschmacksnerv, wenn es um Schokolade ging, aber - im Gegensatz zu Stanley - teilte er auch den Wunsch, ein Detektiv zu sein.  "M erwartet Entscheidung", fiel L Rogers Nachricht ein. Mellos Drängen war nicht ungewöhnlich, hatte jedoch keinen Einfluss. Wer letztendlich Ls Nachfolge antrat, durfte nicht übereilt beschlossen werden, da der Posten mit Konsequenzen behaftet war, die niemand vorab einschätzen konnte. Weder Mello, noch Near wussten, worauf sie sich einließen. Und zwar auf eine Existenz, die es erforderlich machte, einen Nachfolger für sich selbst zu finden.   Zwei Pralinen wanderten in seinen Mund, wurden zerbissen und verschlungen, ehe eine dritte folgte, die gegen die Bitternis in Ls Speiseröhre ankämpfen sollte.   "... an seine Sterblichkeit erinnert", hallte Lights Stimme plötzlich wieder in seinem Kopf, als L begriff, warum ihm diese Aussage zuvor schon keine Ruhe gelassen hatte. Matsuda war nämlich nicht der Einzige, der mit seiner Sterblichkeit konfrontiert worden war. Nur musste L keine Leiche betrachten, um sich darüber klar zu werden, denn sein Sinnbild für Vergänglichkeit zeigte sich in den Kindern, von denen eines irgendwann den Platz des weltbesten Detektiven einnehmen würde. Irgendwann. Oder bald.   Während L die Pralinenschachtel auf den Nachttisch stellte, wanderte sein Blick zu dem schlafenden Mann an seiner Seite. Lights unschuldige Miene ruhte auf einem Kissen, welches die Hälfte seines Gesichts verschwinden ließ und erneut den Vergleich mit einer zwiegespaltenen Persönlichkeit weckte. Unweigerlich drängten sich L die Fragen auf: Falls es nicht gelang, Kira rechtzeitig zum Schafott zu führen, würde es dann tatsächlich Light Yagami sein, der die Notwendigkeit eines Nachfolgers bestätigte?  War ihm sein eigener Mörder derzeit so nah?    Das melodische Schnarchen stoppte, als Light im Tiefschlaf durchatmete. Warme Luft wirbelte gegen Ls Hand und jagte kalte Schauer seinen Arm hinauf. Er rückte beiseite, um den Abstand zu dem zu vergrößern, der ihn möglicherweise töten würde, und, um sich genug Platz zu verschaffen, den L für die mentale Mauer brauchte, hinter der er seine Emotionen verschlossen hielt. Gefühle durften nicht durchbrechen. Sonst würden sie ihn brechen.   L lenkte sich ab, indem er seinen Blick wieder auf den Laptop lenkte. Im Monitor spiegelten sich Augen, die selbst für Ls Verhältnisse ungewöhnlich weit aufgerissen waren, wodurch die Ringe darunter schwarzen Furchen glichen. Er versuchte sie mit Zucker zu füllen, tastete nach den Pralinen und steckte sich drei in Mund, biss, kaute, absorbierte Saccharose, um seinen Verstand gegen Kira zu wappnen, um den Mörder aufzuhalten und um ...   L schluckte.   ... zu überleben - eine Existenz weiterzuführen, die ihn als Wesen bestimmte, dessen Intellekt von wenigen erreicht und von vielen gebraucht wurde. So definierte sich L. L kannte seine Aufgabe.   Seine Finger rauschten über die Tastatur, schlossen das eMail-Postfach und holten die Yotsuba-Akte in den Vordergrund. Der Cursor des Schreibprogramms blinkte in Erwartung der Notizen, die L während seiner Recherchen vermerken wollte, als am unteren Bildschirmrand etwas aufploppte, das Ls Eifer zum Stolpern brachte. Ihm glotzte eine animierte Büroklammer entgegen.   Ls Kopf neigte sich unter ehrlicher Verwunderung von einer Schulter auf die andere, doch - egal aus welchem Winkel er ihn betrachtete - der virtuelle Besucher war nicht aus der Ruhe zu bringen. Einzig seine Kulleraugen blinzelten.   Watari hatte sich mit diesem Programm einen Scherz erlaubt, dachte L.   "Sollst du mir Gesellschaft leisten?" Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten seine Mundwinkel in die Höhe, glitten dann aber wieder hinab, als L sich zwang die Sinnlosigkeit seiner Befragung einzugestehen.   Dennoch antwortete die Büroklammer mit einer Sprechblase.   ( Wie kann ich dir helfen? Möchtest du:) ( - Einen Brief schreiben?                       ) ( - Freunde kontaktieren?                       ) ( - Anderes: ___________________      )     L lugte zu einer der Überwachungskameras über dem Bett und fragte sich, ob Watari ihn dabei filmte, wie er gerade von dieser Spielerei verpönt wurde. Galt es als witzig, L mit solchen Auswahlmöglichkeiten zu konfrontieren? Briefe schreiben? Freunde kontaktieren? Nichts davon war jemals wirklicher Bestandteil seines ... L erwiderte das Blinzeln der Klammer und las die Vorschläge erneut. Sein Verstand riet ihm, sich nicht auf dieses Spiel einzulassen, doch sein Körper stellte sich taub. Mechanisch schwebte Ls Hand über die Tastatur, sein Zeigefinger senkte sich und tippte fünf Buchstaben in das freie Feld, bis sie schließlich ein Wort bildeten: Leben.   Es fühlte sich richtig an, obwohl L wusste, wie falsch es in Anbetracht seiner Aufgabe war, überhaupt darüber nachzudenken. Aber, inmitten seiner emotionalen Mauer, keimte leider ein Wunsch, von dem einzig diese unschuldige Büroklammer erfahren durfte. Ja, L wollte leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)