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Am Rand der Welt

von

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Im Hafen von Seyðisfjörður

Die Wolken hingen tief an den Bergen auf der Ostseite der Insel und ließen es wirken, als würden sie in eine Nebelwand hineinfahren.

Sie waren beinahe da. Vielleicht noch fünf Minuten, dann würden sie in den Fjord fahren und in weiteren zwanzig, dreißig Minuten sollten sie da sein – in ihrer Heimat.

Dagny stand an der Reling der Fähre und konnte ihre Begeisterung nicht gänzlich unterdrücken. Sie wippte auf den Füßen etwas vor und zurück. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen und nun, da sie wieder hier war, schien eine unbeschreibliche Freude sie zu erfüllen. Es würde so schön sein, die Insel Abby zu zeigen.

„Wir brauchen noch etwa eine halbe Stunde, sagen sie“, meinte Tristan und sah tatsächlich für einen Moment auch einmal von seinem Handy auf.

„Ich weiß“, erwiderte Dagny und bemühte sich, nicht wie ein begeistertes Kind zu klingen. Sie strahlte den Jungen an. „Du weißt nicht, wie lang ich nicht mehr hier war.“

„Sechs Jahre“, antwortete Tristan faktisch. „Das letzte Mal war ich dabei, wenn du dich erinnerst.“

Dagny sah ihn an und ließ ein langes Seufzen hören. „Ach, jetzt verdirb' mir nicht die Freude.“

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht mein Plan.“ Damit sah er wieder auf sein Handy und gab mit unglaublicher Geschwindigkeit eine Nachricht ein. Wahrscheinlich auf WhatsApp.

„Du könntest das Handy auch einmal weg legen“, meinte nun Casey, die mit Abby an der Hand sich über das Deck zu ihr durch drängelte, da auch die anderen Passagiere nun an der Reling standen und die halb von Nebel verdeckte Landschaft bewunderten, die sich nun vor ihnen zeigte. Für diejenigen, die das erste Mal herkamen, musste die Aussicht beinahe erschlagend wirken.

Die Berge der Küste waren am Fuße von Gräsern und Moosen bewachsen, während das vulkanische Gestein der Spitze schwarz und ungewöhnlich Rund aus den Wolken hervorragte. Sie hatten auf Menschen eine mystische Wirkung, hatte man Dagny gesagt. Sie selbst war davon nicht betroffen und doch schlug ihr Herz schneller.

Heimat.

„Auf der Insel werde ich Ja kaum Data Roaming haben“, meinte Tristan. „Und wenn wir …“ Er senkte die Stimme. „Wenn wir dahin gehen erst recht nicht.“

„Dafür werden wir ein gemeinsames Abenteuer haben“, erwiderte Casey und zog ihren vierzehnjährigen Sohn übertrieben energisch an sich heran. „Als Familie.“

„Toll.“ Der Sarkasmus tropfte nahezu aus seiner Stimme.

„Möwe!“, rief Abby derweil aus und zeigte zu einem der Vögel, der – wie diese Tiere es taten – parallel zu der großen Fähre, die eigentlich eher einen Kreuzfahrtschiff glich, flog. Die Augen des Vogels waren dabei fest auf die Menschen gerichtet, offenbar nur darauf wartend, dass etwas zu essen für ihn anfallen würde.

Casey hob das kleine, blonde Mädchen hoch, damit sie besser sehen konnte. „Da sind ganz viele Möwen, Liebling. Schaust du?“

Tatsächlich umflogen sicher mindestens zwanzig der weißen und weißgrauen Vögel das Schiff, alle laut schreiend und krächzend und alle auf Nahrungssuche.

„Die wollen etwas zu essen“, beobachtete auch Abby.

„Genau“, meinte Dagny. „Aber wir dürfen ihnen nichts zu essen geben.“ Jedenfalls wusste sie, dass die Menschen diese Auffassung vertraten.

„Warum nicht?“, fragte Abby und sah sie an. „Die haben doch Hunger.“

„Weil es ganz viele Fische für sie zu fangen gibt“, erwiderte Casey. „Und wenn wir sie Füttern, wollen die nur noch mehr.“

Darüber schien die Vierjährige für einen Moment nachzudenken. „Aber das ist doch nicht schlimm. Ich mag Möwen. Es können mehr Möwen kommen.“

Tristan warf seiner Adoptivschwester einen Seitenblick zu, sah dafür sogar für einen Moment von seinem Handy auf „Und wenn du nicht aufpasst, dann fressen die dir die Haare vom Kopf.“

Die Kleine sah ihn unbeeindruckt an. „Tun sie nicht. Haare schmecken nicht und Mama hat gesagt, dass man das nur so sagt.“ Sie klang dabei stolz.

Daraufhin verdrehte Tristan die Augen. „Du wirst schon sehen, wenn du sie fütterst … Möwen können ganz gemein sein.“

Als wolle das Tier seine Worte beweisen, löste sich eine Möwe aus dem Schwarm und schoss in einem Sturzflug auf die Menschen hinab. Jemand schrie im Protest und einen Moment später, gewann die Möwe wieder an Höhe, dabei einen Salzkeks verschlingend.

„Siehst du?“, meinte Tristan.

„Ich würde mit den Möwen teilen“, erwiderte Abby nur und Casey lachte.

Das Schiff erreichte die Einfahrt des Fjords und fuhr durch die Öffnung, beinahe wie durch ein Tor. Ein Tor in eine andere Welt, kam es Dagny in den Sinn. Denn für sie war die Insel eine andere Welt – beinahe im wortwörtlichen Sinn. Die Landschaft, geprägt von Feuer und Eis, war anders, als irgendwo sonst in der Welt der Menschen. Und dabei waren hier die physische Welt und die Anderswelt einander so nah, wie an nur wenigen Orten.

Die Menschen hier ehrten die Elfen noch immer, bauten ihnen sogar Häuser. Selbst wenn in diese nie ein Elf zog, so wusste man die Geste doch zu schätzen.

Doch am Ende blieb die größte Anziehung der Insel auf sie bei der einfachen Tatsache, dass es ihre Heimat war. Es war der Ort von dem sie kam und sie war endlich, das erste Mal seit sechs Jahren zurück.

Das Schiffshorn erklang schallend und sorgte dafür, dass Abby sich erschrocken die Ohren zuhielt.

„Das ist laut“, stellte sie fest, als der Lärm verklang.

Dagny lächelte und strich der kleinen eine Strähne des blonden Haares aus dem Gesicht. „Die sagen Bescheid, dass wir ankommen.“

„Im Hafen?“, fragte das Mädchen.

„Genau.“ Damit wandte sie sich wieder nach vorn, auch wenn man den Hafen nicht sehen konnte. Er war von Wolken und Nebel verdeckt.

Zu beiden Seiten des Fjords wuchsen die Berge in die Höhe. Nun flogen auch andere Vögel um das Schiff, wenngleich nicht alle auf Futter aus waren. Vielmehr schien es, als würden einige nur sicher gehen wollen, dass das große, laute Ding auch dieses Mal keine Gefahr darstellen würde.

Dann endlich erhoben sich die Umrisse von Seyðisfjörður aus dem Nebel, der „Stadt“, in der sämtliche der vom europäischen Festland kommenden Fähren anlegten. In Großbritannien hätte man den Ort allerdings gerade so als Dorf betitelt, lebten doch nur knapp sechshundert Menschen hier. Doch hier, auf Island, dessen gesamte Einwohnerzahl bei gerade einmal 340 000 lag, galt es als Stadt.

Und so lag die kleine Fischereistadt, die mittlerweile von Touristen mit getragen wurde, vor ihnen: Eine Ansammlung kleiner, oftmals weiß gestrichener Häuser, die am Ufer des Fjord gereiht standen. Die meisten hatten rote, blaue oder weiße Dächer. Dazwischen zwei, drei einzelne Häuser deren Außenwände rot bemalt waren. Keine Hochhäuser. Die meisten Gebäude klassisch gebaut und mit Holzfassade versehen. Es wirkte beinahe, wie aus einer anderen Zeit, wie aus einem Märchenbuch.

Dagny lächelte. Ihr Herz pochte. Sie spürte wie Casey neben sie trat und einen Arm um sie legte. Dann gab sie wortlos Abby zu ihr hinüber und lächelte.

„Das sind süße Häuser!“, stellte auch Abby nun fest.

„Ja, sind sie“, erwiderte Dagny und griff das Mädchen so, dass sie ihre Schultern nicht zu sehr belastete. Dann küsste sie die Kleine auf die Wange. „Willkommen auf Island.“

Ein breites, freudiges Grinsen breitete sich auf Abbys Wangen aus. „Hier kommst du her, nicht?“

„Ja“, erwiderte Dagny. „Das ist meine Heimat.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Taroru
2017-10-12T21:11:29+00:00 12.10.2017 23:11
und noch eine geschichte, wo ich warten werde, wie es weiter geht ^^°
sag mal... wie machst du das eigentlich? so viel tippseln? und dabei nicht den überblick zu verlieren?

auch wenn man hier noch nicht so wahnsinnig viel erfährt, worum es gehen wird, so finde ich es schön geschrieben und es kam keine langeweile beim lesen auf ;-)
also, hast mich hier auch an der backe, lass mich nicht so lange warten ;-)


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