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Alice im 'Death Note'-Land

von

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Alice

Alice begann wütend zu werden.
 

Ihr Blick klebte an dem Wandspiegel, der ihr Zimmer schon so lange schmückte, wie sie selbst. Also 19 mehr oder minder lange Jahre. Und was sie darin sah, entsprach - gelinde gesagt - nicht ihren Vorstellungen.
 

Ihr blondes Haar war streng nach oben zu einem Dutt gebunden - sie hasste es.
 

Ihre Füße zierten weiße Hackenschuhe mit eleganten Riemen - sie hasste es.
 

Der Teil zwischen dem Dutt und den Schuhen war von einem knielangen blauen Kleid bedeckt, das kaum spießiger geschnitten sein konnte, - sie hasste es.
 

Sie hasste ihren gesamten Anblick, aber noch weitaus mehr hasste sie in diesem Moment ihre ältere Schwester, die ihr durch die geschlossene Türe entgegen rief: "Alice, beeil dich. Wir kommen sonst zu spät!"
 

Genervt sah die Angesprochene der Stimme entgegen. Es war ihr sowas von egal, ob sie zu spät kamen. Ihretwegen mussten sie auch gar nicht erst das Haus verlassen. Zumindest nicht, wenn es darum ging zu einer Familienfeier zu fahren, die weniger mit Familie zu tun hatte als es überhaupt möglich war. Nein, dieses bevorstehende Schauspiel glich eher einer Farce und lieber hätte Alice sich ein Messer in den Bauch gerammt, als daran teilzunehmen.
 

Aber - und dafür hasste sie sich selbst am meisten - sie hatte ihrer Schwester nun mal versprochen mitzukommen.
 

Was sie dazu bewogen hatte?
 

Sie wusste es nicht.
 

Seufzend richtete sich Alice ihrer Zimmertür entgegen, öffnete sie widerstrebend und trat hinaus in den Flur.
 

"Alice!", fauchte die Stimme aus den Erdgeschoss.
 

"Ja, ich komme doch schon, Clara!"
 

Wenige Augenblicke später tapste die unmotivierte junge Frau die geschwungene Treppe hinunter und traf dort auf ihre Schwester. Mit hochgesteckten, brünetten Locken und einem grünen Abendkleid sah diese tatsächlich sehr ansprechend aus, allerdings ruinierte ihre Mimik diesen Eindruck. Ungeduldig biss sie auf ihrer Unterlippe herum, während ihre Augen sich immer enger zu mahnenden Schlitzen zusammenzogen.
 

"Wieso trödelst du immer so?"
 

"Nur um dich zu ärgern", seufzte Alice erneut. "Warum genau tun wir uns dieses Spektakel heute an?"
 

"Weil unsere Eltern um unsere Anwesenheit gebeten haben, wenn Cousine Lydia ihre Verlobung bekannt gibt."
 

"Aha", nickte Alice, als würde sie den Anlass für die Feierlichkeiten nicht kennen. "Und das interessiert uns, weil wir Lydia so mögen? Oder weil wir unseren Eltern gern jeden Wunsch erfüllen, da sie ja so toll sind und uns immerhin erst vor sieben Jahren allein in diesem Haus zurückgelassen haben?"
 

Alice sah ihrer älteren Schwester entgegen, die nun ziemlich beschäftigt war ihren Mund dümmlich auf und zu schnappen zu lassen. Sie konnte nichts erwidern, was die Aussage widerlegen würde. Immerhin stimmte es.
 

An Alice' zwölften Geburtstag waren ihren Eltern nämlich zu der glorreichen Erkenntnis erlangt, dass zwölf Jahre voller liebloser Liebe durchaus für ein Mädchen genügten.
 

'Sie bräuchten auch mal Zeit für sich', hatten sie gesagt.
 

'Zu viel Zuneigung würde den Charakter verderben', hatten sie gesagt.
 

'Clara wäre schließlich bereits achtzehn Jahre alt und könne nun langsam mal anfangen Verantwortung zu übernehmen', hatten sie gesagt.
 

So gesehen war es ziemlich erstaunlich, wie viel man sagen konnte, während ein Kind damit zugange war, seine Geburtstagskerzen auszublasen. Letztendlich war der Qualm kaum richtig verzogen gewesen, als ihre Eltern auch schon mit gepackten Koffern in ihr neues Leben gestürmt waren.
 

Wundervolle Menschen, nicht wahr? Da war man wirklich motiviert ihren Wünschen nachzukommen.
 

"Ist ja gut", murrte Alice schließlich. "Hör auf, dich wie ein Fisch auf dem Trockenen zu benehmen. Lass uns einfach losfahren und dieses Theater hinter uns bringen."
 

~
 

Kurz darauf saßen die beiden Schwestern in Claras Peugeot und erneut stieg ein gewisser Hass in Alice auf.
 

Es herrschte Hochsommer.
 

Bei dem Peugeot handelte es sich um ein schwarzes Cabrio, dessen Klimaanlage defekt war.
 

Das Dach war zu!
 

"Ich bitte dich", keuchte Alice - einem Hitzschlag nahe.
 

"Nein", dementierte die Frau hinter dem Steuer vehement. "Ich habe nicht stundenlang vor dem Spiegel gestanden, um mir nun bei dem Fahrtwind die Frisur zu versauen. Und wage es ja nicht ..." Wütend blitzte Clara zu ihrer Schwester, deren Finger wehmütig über einem kleinen Knopf schwebte. "... das Fenster aufzumachen!"
 

~
 

Eine Stunde, in der Alice' Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Vorhof der Hölle ins Unermessliche gestiegen war, später flutschte sie aus dem Wagen.
 

Das blaue Kleid klebte an ihren Beinen, ein verdächtig feuchtes Gefühl machte sich unter ihren Achseln breit und zudem war sie sich sicher, dass ihr Dutt nun auch ohne Haarnadeln in Position bleiben würde. Kurz: Sie schwitzte.
 

Aus dem Augenwinkel betrachtete Alice ihre Schwester, die nun ebenfalls aus dem Auto gestiegen war und sich neben sie stellte. Sie sah noch genauso frisch aus, wie zu Beginn der langen Fahrt. Wie machte sie das nur?
 

"Bereit?", flüsterte Clara durch ein aufgesetztes Lächeln hindurch.
 

"Niemals", seufzte Alice, ohne überhaupt zu versuchen ihre Mundwinkel nach oben zu ziehen.
 

~
 

Mit derart unterschiedlichen Mienen schritten die Schwestern die kleine Auffahrt hinauf, welche auf beiden Seiten mit diversen bunten Blumen gespickt war. Eine leichte Brise brachte die Blüten höflich zum Nicken, was Alice mit der gleichen Geste erwiderte.
 

"Hast du gerade die Blumen begrüßt?"
 

"Du etwa nicht?", fuhr Angesprochene schockiert zu Clara herum, doch diese schüttelte nur belustigt den Kopf.
 

Am Ende der Auffahrt wählten sie eine Abzweigung, die direkt am Haus vorbei und somit in den Garten führte. Unter diversen Girlanden und Luftballons tummelten sich dort bereits rund fünfzig Personen verschiedenster Altersgruppen. Familie, Freunde, Kollegen. Vermutlich jeder, der ihrer Cousine auch nur einmal die Hand gereicht hatte, war zu dieser Festlichkeit eingeladen worden und natürlich befand sich die Übeltäterin selbst genau im Mittelpunkt der Menschenschar. Gebettet in rosa Tüll präsentierte sie von dort aus den Mann, der das 'Glück' hatte sie in Bälde heiraten zu dürfen.
 

Alice legte eine Hand über ihre Augenbrauen, um den armen Tropf besser identifizieren zu können.
 

Er war recht groß gewachsen, trug das schwarze Haar zu einem Zopf gebunden und ließ ein Lächeln über dem schmalen Kinnbart aufblitzen, das Alice unter einer Millionen erkannt hätte.
 

Ein Lächeln, das ihr schon immer den Atem geraubt hatte. Diesmal jedoch auf schmerzhafte Weise. Der Sauerstoff verbrannte in ihren Lungen, ließ Flammen durch sämtliche Venen züngeln, bis letztendlich jegliches Gefühl in Alice explodierte. Zurück blieb nur eine leere Hülle, durch die die Asche einer vergangenen Liebe stob. Eine Schneekugel erfüllt von schwarzem Nichts.
 

"Oh Gott", keuchte Clara durch den Dunst, "das wusste ich nicht. Süße, es tut mir leid."
 

Das musste ein Albtraum sein ...
 

"Avan?", hauchte Alice den Namen ihres Exfreundes, welcher sie erst vor einem halben Jahr verlassen hatte, obwohl er 'so etwas nie tun würde, weil er sie ja so liebte'.
 

Ein verdammter Albtraum ...
 

"Alice", schallte irgendwo ihr Name. Vermutlich war es Clara gewesen, denn diese sah gerade durchaus so aus, als würde sie rufen. Ihre Lippen bewegten sich unter einem besorgten Augenpaar, glitten auseinander und wieder zusammen, ohne dass Alice auch nur ein Wort hätte verstehen können. Ihre Ohren waren so taub, wie der ganze Rest ihres Körpers. Zumindest der Teil oberhalb der Gürtellinie. Unterhalb verselbstständigten sich ihre Beine stattdessen, torkelten auf der Suche nach Halt und trugen Alice schließlich von ihr unbemerkt rückwärts in Richtung Einfahrt. Auch ihre Füße wussten, was zu tun war. Sie machten nach einigen Schritten kehrt, um Alice dann endlich weit fort zu bringen.
 

Die Hacken der verhassten weißen Schuhe klapperten auf Gehwegplatten, bohrten sich in die Wiesen einiger Vorgärten, schepperten über den Asphalt der Straße und versumpften letztendlich im Moos eines Waldrands.
 

Mit trübem Blick und brennenden Lungen hielt Alice inne. Ihr Atem übertönte das Rauschen des Windes, nicht aber das Rascheln des Blattwerks, welches unter den Böen schwungvoll auf und ab glitt, wie das einladende Winken langgliedriger Finger.
 

Ein tiefes Schluchzen begleitete Alice, als sie der Aufforderung nachkam. Sie trat in den Wald hinein, verstummte jedoch abrupt als sie über eine Wurzel stolperte und somit unsanft auf dem Waldboden aufkam. Ein Moment, den sie unter normalen Umständen nur zu gern verflucht hätte, doch jetzt - unter den definitiv nicht normalen Umständen - brachte Alice kein Wort hervor. Ihre Stimmbänder weigerten sich schlichtweg, blieben kraftlos, wie auch der Rest ihres gestürzten Selbst. Einzig ihre Finger rührten sich und vergruben sich in dem weichen Moos, auf dessen Spitzen sich kleine, feuchte Perlen sammelten.
 

Kein Tau.
 

Tränen.
 

Alice weinte.
 

Ihre Augen füllten sich mit dem heißen Nass, das sie nicht mehr unterdrücken konnte.

Warum ausgerechnet ihr Exfreund? Hätte sich diese verdammte Lydia nicht einen anderen suchen können? Wieso er?
 

"Aaaaaah!", schrie sie in den dunklen Wald hinein; sandte mit jedem einzelnen Vokal das letzte bisschen Hoffnung ins Nichts. Hoffnung auf Versöhnung, auf Wiedervereinigung, auf Liebe.
 

"Das ist so unfair!", keuchte Alice nachdem der Wald jegliche Zuversicht geschluckt hatte. Sie packte unnachgiebig nach dem weichen Moos, wandte sich zur Seite und warf es mit aller noch aufzubringender Kraft davon. Es sollte fort. Weg von ihr. Genau, wie auch ihr Kummer verschwinden sollte.
 

Es überwand gute dreißig Zentimeter Luftlinie, bevor es von dem Gesicht eines jungen Mannes gebremst wurde.

Der weiße Hase

Alice blinzelte irritiert, während eine Flut von Fragen ihren Geist überschwemmte:
 

Wo kam der Kerl denn auf einmal her? Was machte er in diesem Wald? War er schon die ganze Zeit hier gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Und...
 

Warum, zum Henker, hatte er Hasenohren auf dem Kopf?
 

Alice entschied, ihren emotionalen Ausbruch vorübergehend zu verschieben und sich stattdessen dem Wunderling vor ihr zu widmen. Sie setzte sich auf ihre Fersen, legte einen Zeigefinger an ihre Nasenspitze und betrachtete den Fremden von Fuß bis Kopf.
 

Abgetragene Turnschuhe. Weite, weiße Stoffhosen. Weites, weißes Hemd. Zerzauste, weiße Haare.
 

Offensichtlich handelte es sich bei ihm um keinen sehr farbenfrohen Zeitgenossen - vielmehr erinnerte er an das Vorzeigekind einer Waschmittelwerbung als an einen normalen jungen Mann.
 

Normal...
 

Abgesehen...
 

von den Hasenohren!
 

Alice stierte unverholen auf den ungewöhnlichen Kopfschmuck. Hypnotisiert verfolgten ihre Pupillen die lauschenden Bewegungen, während ihr Kopf abwechselnd von einer Schulter auf die andere schwenkte. Schließlich, ohne dass es Alice selbst bewusst war, verselbstständigte sich ihre Hand und glitt langsam in die Höhe.
 

Nur wenige Zentimeter vor ihrem flauschigen Ziel hielt Alice jedoch inne und zog unauffällig ihren Arm zurück, als hätte sie niemals vorgehabt dem Lockruf des - bestimmt verdammt weichen - Fells nachzugeben.
 

Ein Blick in die dunklen Augen, unterhalb der betörenden Ohren, genügte allerdings, um zu erkennen: Der Typ wusste genau, was sie vorgehabt hatte.
 

"Entschuldige", murmelte Alice schließlich, wobei ihr absolut bewusst war, dass sie nicht sehr einsichtig geklungen hatte. Sie ahnte, dass sie früher oder später einem neuen Versuch erliegen würde, um diesen Lauschern näher zu kommen.
 

So durchdringlich wie der Träger der plüschigen Verlockung schaute, ahnte er es sicher auch.
 

"Nun, ähm ...", bezwang Alice das peinliche Schweigen, bevor sie es freiwillig wieder die Oberhand gewinnen ließ.
 

Dass der merkwürdige Hasenmann bisher nicht ein Wort verloren hatte, irritierte sie.
 

Dass er sie zudem weiterhin ziemlich offensichtlich musterte, irritierte sie noch mehr.
 

Alice wurde nervös und versuchte dies mit einer eleganten Bewegung durch ihr blondes Haar zu überspielen - musste jedoch feststellen, dass sie noch immer den verachtenswerten Dutt trug, der jegliche Eleganz verbot.
 

Genervt ließ sie ihre Hand sinken, während sich zeitgleich die blassen Finger ihres Gegenüber erhoben. Der Mann in Weiß nahm eine seiner eigenen Haarsträhnen zwischen zwei Fingerkuppen und zwirbelte diese bedächtig.
 

Alice betrachtete das kleine Spiel skeptisch. Ob er das vielleicht nur tat, um ihr vor Augen zu führen wie kläglich sie an ihrer eigenen Frisur gescheitert war?
 

Ihr Puls beschleunigte sich von Herzschlag zu Herzschlag, doch bevor er einen ungesunden Wert annehmen konnte, beruhigte sich Alice auch schon wieder. Eine Genugtuung machte sich in ihr breit, die sie beinahe verleitet hätte mit dem blanken Finger auf den jungen Mann zu zeigen und laut loszulachen.
 

Sie gluckste schadenfroh, als sie das Moos erkannte, welches sich aufgrund des Zwirbelns auf dem zerzausten Schopf verteilte.
 

Moos, das Alice dem Kerl kurz zuvor unbeabsichtigt an den Kopf geworfen hatte.
 

Moos, in welchem offensichtlich einige Ameisen beherbergt gewesen waren, die jetzt aufgebracht durch die Frisur des jungen Mannes huschten. Kreuz und quer krabbelten sie auf den weißen Strähnen herum wie schneeblinde Touristen auf einem Berg. Einige prallten sogar verwirrt aneinander.
 

Es kostete Alice große Überwindung, um ihre Schadenfreude beiseite zu schieben, aber letztendlich gelang es ihr, als sie einsah, dass sie eventuell nicht ganz unschuldig an der gegenwärtigen Situation war.
 

"Hör mal", begann sie daher versöhnlich, "es tut mir leid, okay? Ich wollte dich nicht mit dem Grünzeug treffen. Das war nur ein Versehen." Vorsichtig zog sie ihre Mundwinkel nach oben - in der Hoffnung, daraus ein Lächeln formen zu können.
 

Eine Sekunde später gab sie jedoch auf, denn offenbar war ihre Bemühung sowieso zwecklos, wie sich in dem ungerührten Ausdruck ihres Gegenübers ablesen ließ. Vermutlich hätte Alice sogar im Kreis grinsen können - der Waschmittelknabe bevorzugte eine strickte Gerade in seinem eigenen Gesicht.
 

Nach weiteren Sekunden schreckte Alice' Augenbraue in die Höhe, als der Hase plötzlich - jedoch absolut emotionslos - verkündete: "Ich habe keine Zeit."
 

"Ach?", staunte Alice. Damit hatte sie beim besten Willen wirklich nicht gerechnet.
 

Sie beugte sich dem 'gehetzten' Hasen entgegen, der noch immer vor ihr ausharrte.
 

"Ich habe keine Zeit", wiederholte er nach einer weiteren unnötigen Pause.
 

"Dann solltest du dich vielleicht bewegen!?", schlug Alice vor, hob dabei ihre Hand und simulierte mit Zeige- und Mittelfinger die Schritte einer Person, die es eilig haben könnte.
 

Dunkle Augen hatten ihre Geste verfolgt, ohne auch nur einmal zu blinzeln. "Ich habe keine Zeit."
 

Ungläubig sah Alice in das starre Gesicht ihres Gegenübers. Ihr Mund öffnete sich...
 

"Ich habe keine Zeit."
 

Alice' Hand ballte eine Faust, die nur dank größter Willenskraft davon abgehalten werden konnte mit dem blassen Gesicht zu kollidieren. Was war bitte das Problem dieser weißen Nervensäge? Waren ihm die Duracell aus dem Hintern gefallen oder wieso regte er sich nicht, wenn er doch angeblich keine Zeit hatte?
 

Ein kurzer Blick hinter den Mann verriet, dass es daran nicht liegen konnte.
 

"Ich habe keine Zeit."
 

"Aber dann..."
 

"Ich habe keine Zeit."
 

Allmählich vermisste Alice die Stille zwischen sich und dem Karnickel.
 

"Ich habe keine Zeit!"
 

Jetzt wurde er doch beinahe energisch! Aber warum machte er dann absolut keine Anstalten sich zu bewegen?
 

Alice' Augenbraue legte eine lange Pause unter ihrem Haaransatz ein, während sich dahinter allmählich eine Vermutung formte. Konnte es etwa sein...? Das wäre doch totaler...
 

Ihr Verdacht verhärtete sich, obwohl er eigentlich vollkommen abwegig war. Allerdings ließ die aktuelle Situation kaum einen anderen Schluss zu, weshalb Alice beschloss ihre Theorie zu überprüfen.
 

Skeptisch beäugte sie das Versuchskaninchen, während sie sich von dem moosigen Grund erhob, ihr Kleid glattstrich und schließlich einen Schritt beiseite ging.
 

Unglaube hätte sie beinahe zurück auf den Boden gerissen, als der Hasenjunge jetzt tatsächlich einen Fuß vor den anderen setzte und davon schlurfte. Ungehindert, da ihm nun niemand mehr den direkten Weg versperrte.
 

"Willst du mich verarschen?", brüllte sie ihm hinterher, ohne dadurch auch nur eine winzig kleine Reaktion heraufzubeschwören. Aber was hatte Alice auch erwartet? Dass sich die wandelnde Ameisenfarm freundlich winkend umdrehen würde?
 

"Als würde der die Worte 'freundlich' oder 'winken' überhaupt kennen", knurrte sie über verschränkten Armen hinweg. Ihr Kopf neigte sich skeptisch, während sich ein schwerwiegender Gedanke in diesem breit machte. "Vielleicht haben Typen wie der ja gar keine Ahnung von menschlichen Eigenarten? Wenn er denn überhaupt ein Mensch war."
 

Flauschig wirkende Ohren, die sich bei genauerer Betrachtung ziemlich natürlich bewegt hatten, tauchten in Alice' Gedächtnis auf, wodurch das Ungleichgewicht in ihrem Hirn allmählich schwand. Ihr Haupt ruckte zurück in die Senkrechte und schwenkte in die Richtung des Waldes, in die der Fremde eben verschwunden war.
 

"Hätte ich die Löffel doch bloß angefasst", bedauerte sie zerknirscht. "Dann wüsste ich wenigstens, ob sie echt sind. Verflixt noch eins!", verfluchte sie ihre eigene Hemmung. "Da beweist man einmal Anstand und bereut es letztendlich."
 

Besänftigender Wind rauschte durch das Blattwerk und brachte die Äste dazu, positive Schwingungen zu verbreiten.
 

"Ob ich ihn einholen kann, um meinen Fehler wettzumachen?", grübelte Alice. "Wirklich flott war er - für jemanden in Eile - ja nicht, oder?", erfragte sie von der Umwelt, die weiterhin aufmunternd wippte. "Vielleicht steht ihm ja sogar wieder jemand im Weg, sodass er noch nicht weit gekommen ist? Meine Chance ihn einzuholen ist also relativ groß, nicht wahr?" Eine grüne La Ola Welle motivierte Alice dazu, in die Startlöcher zu gehen, bevor eine starke Böe ihr das 'Go' entgegen blies.
 

Sprintend schlug Alice den Weg ein, den ihr Zielobjekt davon geschlurft war. Sie rannte an Bäumen vorbei, wich deren herabhängenden Ästen aus und sprang sogar über das abgestorbene Holz auf dem Boden - was ihr wie eine absolute Höchstleistung vorkam, in Anbetracht ihrer Hackenschuhe, die sie im übrigen noch immer hasste.
 

Der Wald flog an ihr vorbei, bis Alice wenige Minuten später schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Auf ihren Atem wartete sie noch einige Minuten länger, da dieser irgendwann weit hinter ihr zurückgefallen sein musste. Geduldig - und laut keuchend - stützte sich Alice an einen Baum und nutzte die Zeit, um sich ein Bild ihrer neuen Umgebung zu verschaffen. Gemalt wurde es von unzähligen Blumen, deren Blüten wie kleine Punkte über die Wiese schwebten. Bunte Tupfer tanzten über dem satten Grün; begleitet von der Melodie raschelnder Halme.
 

"Wow", hauchte Alice, nachdem der vermisste Atem sie endlich eingeholt hatte.
 

Bedächtig ließ sie ihren Blick über das natürliche Schauspiel schweifen, von dem sie nicht sicher war, ob sie es mit ihrer eigenen Anwesenheit stören durfte. Zwar gab es vieles, vor dem Alice keinen Respekt hatte, aber solch unberührte Landschaften gehörten gewiss nicht dazu.
 

"Wahrscheinlich ist der Hasentyp gar nicht hier", wägte sie zugunsten der Natur ab, doch diese widersprach Alice umgehend. Unter drehendem Wind änderten die Grashalme ihren Rhythmus so, dass ihr seitliches Wanken nun einem lockenden Neigen ähnelte.
 

"Sicher?", misstraute Alice ihrer Wahrnehmung, aber die Blumen in der ersten Wiesenreihe ermutigten sie weiter. Ihre Köpfe nickten motivierend.
 

"Okay", gab Alice dankbar erwidernd nach. Vorsichtig wand sie sich an ihren Gastgebern vorbei, schlängelte sich zwischen weiteren Blumen und Grashalmen hindurch und setzte endlich ihre Suche fort.
 

"Wo bist du, Hasi?", murmelte sie nach einer Weile. Schützend legte Alice eine Hand an ihre Stirn und ließ darunter erneut ihren Blick schweifen. Aber egal wohin sie auch schaute: Der Mann in Weiß war einfach nirgends auszumachen. Ebenso wenig seine flauschig wirkenden Ohren, die Alice sehnsüchtig vermisste, obwohl sie sich doch noch gar nicht lang kannten.
 

Betrübt sanken ihre Schultern hinab, bevor sie abrupt nach oben gerissen wurden. Kerzengerade lauschte Alice mit ihren eigenen - überhaupt nicht flauschigen - Ohren und vernahm neben dem Rascheln des Felds: "Ich habe keine Zeit."
 

Hektisch sah sie sich um und tatsächlich erspähte sie den Hasen, dessen Hinterkopf nur wenige Meter entfernt aus dem Gras lugte. Regungslos kauerte er zwischen den Halmen, so ruhig, dass Alice fürchtete ihn verschrecken zu können, wenn sie sich ihm zu eifrig nähern würde. Da sie auf eine erneute Suchaktion jedoch keine Lust hatte, schlich sie vorsichtig und so lautlos wie möglich ihrem Zielobjekt entgegen.
 

"Scheiße!", schoss ihr Puls in die Höhe wie ein Schwarm panischer Vögel, als der Hase sich unerwartet umdrehte und überhaupt nicht verschreckt zu Alice hinauf starrte. Dunkle, emotionslose Augen fixierten sie, während eine Hand es gleichermaßen mit einer weißen Haarsträhne tat.
 

Vom Schock gepackt stolperte Alice über ihre verhassten Schuhe, wodurch sie genau das verursachte, was sie ursprünglich hatte vermeiden wollen. Der Hase setzte sich in Bewegung und verschwand erneut. Zwar wunderte sich Alice kurzzeitig, dass ihm das gelungen war, ohne sich wirklich aus dem Gras zu erheben, aber vorerst bekam sie diesen Gedanken noch nicht zu greifen. Stattdessen fanden ihre Finger den harten Feldboden, auf dem Alice wenig galant aufprallte.
 

Mürrisch rappelte sie sich auf alle Viere und somit in die ideale Perspektive, um dem Rätsel um den verschwundenen Hasen auf den Grund zu gehen - beziehungsweise sogar noch tiefer.
 

"Ein Loch?", hinterfragte Alice den Fluchtweg ihres Zielobjekts.
 

"Ein Loch", bestätigte ihr Echo aus dem Schlund, dessen Ausmaß sich selbst dann nicht abschätzen ließ, als Alice es vom Rand aus versuchte.
 

Vorsichtig lugte sie in die finstere Öffnung, um den Boden vielleicht ausmachen zu können, aber außer Dunkelheit gab es einfach nichts zu sehen. Weder ein Ende des Abgrunds, noch einen Hasen, der ja eigentlich erst vor wenigen Sekunden darin verschwunden war.
 

"Weg ist er", murmelte Alice vor sich hin, ohne den Blick aus der Tiefe zurückzuholen. Enttäuscht schubste sie etwas lose Erde hinab und lauschte dem Rieseln des Sandes, der ins scheinbare Nichts verschwand. Ob er jemals irgendwo aufprallte würde sie vermutlich niemals erfahren, nicht wahr? Es gab einfach keinen Hinweis.
 

"Ich habe keine Zeit", schwang eine bekannte Stimme durch die Finsternis nach oben. Leise, aber trotzdem hörbar genug, um Alice' Eifer erneut hervorzulocken. Gebannt beugte sie sich noch näher an den Rand des Lochs, während ihr innerer Schweinehund ihr vorhechelte, dass Alice aktuell ja eigentlich auch keine Zeit hatte. Immerhin sollte sie so bald wie möglich zu ihrer Schwester zurückkehren und somit auch zu dem ursprünglichen Grund ihrer Flucht.
 

"Von wegen", widersprach Alice dem imaginären Vierbeiner, der offenbar alles daran setzte, sie von einer spontanen Entscheidung abzuhalten. Glücklicherweise war Alice' Neugier aber gewitzter als der Spielverderber und warf deshalb ein ebenfalls imaginäres Stöckchen, dem der Schweinehund sofort folgte - hinaus aus Alice' Gedankengängen, durch die ein entferntes "Es ist so tief! Du könntest nicht mehr da raus kommen!" bellte.
 

"Das wird schon", übertönte ihre Neugier jegliche Warnung, was Alice schließlich genügte, um schulterzuckend ins Ungewisse zu springen.



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