Alice im 'Death Note'-Land von Annoia ================================================================================ Kapitel 2: Der weiße Hase ------------------------- Alice blinzelte irritiert, während eine Flut von Fragen ihren Geist überschwemmte: Wo kam der Kerl denn auf einmal her? Was machte er in diesem Wald? War er schon die ganze Zeit hier gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Und... Warum, zum Henker, hatte er Hasenohren auf dem Kopf? Alice entschied, ihren emotionalen Ausbruch vorübergehend zu verschieben und sich stattdessen dem Wunderling vor ihr zu widmen. Sie setzte sich auf ihre Fersen, legte einen Zeigefinger an ihre Nasenspitze und betrachtete den Fremden von Fuß bis Kopf. Abgetragene Turnschuhe. Weite, weiße Stoffhosen. Weites, weißes Hemd. Zerzauste, weiße Haare. Offensichtlich handelte es sich bei ihm um keinen sehr farbenfrohen Zeitgenossen - vielmehr erinnerte er an das Vorzeigekind einer Waschmittelwerbung als an einen normalen jungen Mann. Normal... Abgesehen... von den Hasenohren! Alice stierte unverholen auf den ungewöhnlichen Kopfschmuck. Hypnotisiert verfolgten ihre Pupillen die lauschenden Bewegungen, während ihr Kopf abwechselnd von einer Schulter auf die andere schwenkte. Schließlich, ohne dass es Alice selbst bewusst war, verselbstständigte sich ihre Hand und glitt langsam in die Höhe. Nur wenige Zentimeter vor ihrem flauschigen Ziel hielt Alice jedoch inne und zog unauffällig ihren Arm zurück, als hätte sie niemals vorgehabt dem Lockruf des - bestimmt verdammt weichen - Fells nachzugeben. Ein Blick in die dunklen Augen, unterhalb der betörenden Ohren, genügte allerdings, um zu erkennen: Der Typ wusste genau, was sie vorgehabt hatte. "Entschuldige", murmelte Alice schließlich, wobei ihr absolut bewusst war, dass sie nicht sehr einsichtig geklungen hatte. Sie ahnte, dass sie früher oder später einem neuen Versuch erliegen würde, um diesen Lauschern näher zu kommen. So durchdringlich wie der Träger der plüschigen Verlockung schaute, ahnte er es sicher auch. "Nun, ähm ...", bezwang Alice das peinliche Schweigen, bevor sie es freiwillig wieder die Oberhand gewinnen ließ. Dass der merkwürdige Hasenmann bisher nicht ein Wort verloren hatte, irritierte sie. Dass er sie zudem weiterhin ziemlich offensichtlich musterte, irritierte sie noch mehr. Alice wurde nervös und versuchte dies mit einer eleganten Bewegung durch ihr blondes Haar zu überspielen - musste jedoch feststellen, dass sie noch immer den verachtenswerten Dutt trug, der jegliche Eleganz verbot. Genervt ließ sie ihre Hand sinken, während sich zeitgleich die blassen Finger ihres Gegenüber erhoben. Der Mann in Weiß nahm eine seiner eigenen Haarsträhnen zwischen zwei Fingerkuppen und zwirbelte diese bedächtig. Alice betrachtete das kleine Spiel skeptisch. Ob er das vielleicht nur tat, um ihr vor Augen zu führen wie kläglich sie an ihrer eigenen Frisur gescheitert war? Ihr Puls beschleunigte sich von Herzschlag zu Herzschlag, doch bevor er einen ungesunden Wert annehmen konnte, beruhigte sich Alice auch schon wieder. Eine Genugtuung machte sich in ihr breit, die sie beinahe verleitet hätte mit dem blanken Finger auf den jungen Mann zu zeigen und laut loszulachen. Sie gluckste schadenfroh, als sie das Moos erkannte, welches sich aufgrund des Zwirbelns auf dem zerzausten Schopf verteilte. Moos, das Alice dem Kerl kurz zuvor unbeabsichtigt an den Kopf geworfen hatte. Moos, in welchem offensichtlich einige Ameisen beherbergt gewesen waren, die jetzt aufgebracht durch die Frisur des jungen Mannes huschten. Kreuz und quer krabbelten sie auf den weißen Strähnen herum wie schneeblinde Touristen auf einem Berg. Einige prallten sogar verwirrt aneinander. Es kostete Alice große Überwindung, um ihre Schadenfreude beiseite zu schieben, aber letztendlich gelang es ihr, als sie einsah, dass sie eventuell nicht ganz unschuldig an der gegenwärtigen Situation war. "Hör mal", begann sie daher versöhnlich, "es tut mir leid, okay? Ich wollte dich nicht mit dem Grünzeug treffen. Das war nur ein Versehen." Vorsichtig zog sie ihre Mundwinkel nach oben - in der Hoffnung, daraus ein Lächeln formen zu können. Eine Sekunde später gab sie jedoch auf, denn offenbar war ihre Bemühung sowieso zwecklos, wie sich in dem ungerührten Ausdruck ihres Gegenübers ablesen ließ. Vermutlich hätte Alice sogar im Kreis grinsen können - der Waschmittelknabe bevorzugte eine strickte Gerade in seinem eigenen Gesicht. Nach weiteren Sekunden schreckte Alice' Augenbraue in die Höhe, als der Hase plötzlich - jedoch absolut emotionslos - verkündete: "Ich habe keine Zeit." "Ach?", staunte Alice. Damit hatte sie beim besten Willen wirklich nicht gerechnet. Sie beugte sich dem 'gehetzten' Hasen entgegen, der noch immer vor ihr ausharrte. "Ich habe keine Zeit", wiederholte er nach einer weiteren unnötigen Pause. "Dann solltest du dich vielleicht bewegen!?", schlug Alice vor, hob dabei ihre Hand und simulierte mit Zeige- und Mittelfinger die Schritte einer Person, die es eilig haben könnte. Dunkle Augen hatten ihre Geste verfolgt, ohne auch nur einmal zu blinzeln. "Ich habe keine Zeit." Ungläubig sah Alice in das starre Gesicht ihres Gegenübers. Ihr Mund öffnete sich... "Ich habe keine Zeit." Alice' Hand ballte eine Faust, die nur dank größter Willenskraft davon abgehalten werden konnte mit dem blassen Gesicht zu kollidieren. Was war bitte das Problem dieser weißen Nervensäge? Waren ihm die Duracell aus dem Hintern gefallen oder wieso regte er sich nicht, wenn er doch angeblich keine Zeit hatte? Ein kurzer Blick hinter den Mann verriet, dass es daran nicht liegen konnte. "Ich habe keine Zeit." "Aber dann..." "Ich habe keine Zeit." Allmählich vermisste Alice die Stille zwischen sich und dem Karnickel. "Ich habe keine Zeit!" Jetzt wurde er doch beinahe energisch! Aber warum machte er dann absolut keine Anstalten sich zu bewegen? Alice' Augenbraue legte eine lange Pause unter ihrem Haaransatz ein, während sich dahinter allmählich eine Vermutung formte. Konnte es etwa sein...? Das wäre doch totaler... Ihr Verdacht verhärtete sich, obwohl er eigentlich vollkommen abwegig war. Allerdings ließ die aktuelle Situation kaum einen anderen Schluss zu, weshalb Alice beschloss ihre Theorie zu überprüfen. Skeptisch beäugte sie das Versuchskaninchen, während sie sich von dem moosigen Grund erhob, ihr Kleid glattstrich und schließlich einen Schritt beiseite ging. Unglaube hätte sie beinahe zurück auf den Boden gerissen, als der Hasenjunge jetzt tatsächlich einen Fuß vor den anderen setzte und davon schlurfte. Ungehindert, da ihm nun niemand mehr den direkten Weg versperrte. "Willst du mich verarschen?", brüllte sie ihm hinterher, ohne dadurch auch nur eine winzig kleine Reaktion heraufzubeschwören. Aber was hatte Alice auch erwartet? Dass sich die wandelnde Ameisenfarm freundlich winkend umdrehen würde? "Als würde der die Worte 'freundlich' oder 'winken' überhaupt kennen", knurrte sie über verschränkten Armen hinweg. Ihr Kopf neigte sich skeptisch, während sich ein schwerwiegender Gedanke in diesem breit machte. "Vielleicht haben Typen wie der ja gar keine Ahnung von menschlichen Eigenarten? Wenn er denn überhaupt ein Mensch war." Flauschig wirkende Ohren, die sich bei genauerer Betrachtung ziemlich natürlich bewegt hatten, tauchten in Alice' Gedächtnis auf, wodurch das Ungleichgewicht in ihrem Hirn allmählich schwand. Ihr Haupt ruckte zurück in die Senkrechte und schwenkte in die Richtung des Waldes, in die der Fremde eben verschwunden war. "Hätte ich die Löffel doch bloß angefasst", bedauerte sie zerknirscht. "Dann wüsste ich wenigstens, ob sie echt sind. Verflixt noch eins!", verfluchte sie ihre eigene Hemmung. "Da beweist man einmal Anstand und bereut es letztendlich." Besänftigender Wind rauschte durch das Blattwerk und brachte die Äste dazu, positive Schwingungen zu verbreiten. "Ob ich ihn einholen kann, um meinen Fehler wettzumachen?", grübelte Alice. "Wirklich flott war er - für jemanden in Eile - ja nicht, oder?", erfragte sie von der Umwelt, die weiterhin aufmunternd wippte. "Vielleicht steht ihm ja sogar wieder jemand im Weg, sodass er noch nicht weit gekommen ist? Meine Chance ihn einzuholen ist also relativ groß, nicht wahr?" Eine grüne La Ola Welle motivierte Alice dazu, in die Startlöcher zu gehen, bevor eine starke Böe ihr das 'Go' entgegen blies. Sprintend schlug Alice den Weg ein, den ihr Zielobjekt davon geschlurft war. Sie rannte an Bäumen vorbei, wich deren herabhängenden Ästen aus und sprang sogar über das abgestorbene Holz auf dem Boden - was ihr wie eine absolute Höchstleistung vorkam, in Anbetracht ihrer Hackenschuhe, die sie im übrigen noch immer hasste. Der Wald flog an ihr vorbei, bis Alice wenige Minuten später schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Auf ihren Atem wartete sie noch einige Minuten länger, da dieser irgendwann weit hinter ihr zurückgefallen sein musste. Geduldig - und laut keuchend - stützte sich Alice an einen Baum und nutzte die Zeit, um sich ein Bild ihrer neuen Umgebung zu verschaffen. Gemalt wurde es von unzähligen Blumen, deren Blüten wie kleine Punkte über die Wiese schwebten. Bunte Tupfer tanzten über dem satten Grün; begleitet von der Melodie raschelnder Halme. "Wow", hauchte Alice, nachdem der vermisste Atem sie endlich eingeholt hatte. Bedächtig ließ sie ihren Blick über das natürliche Schauspiel schweifen, von dem sie nicht sicher war, ob sie es mit ihrer eigenen Anwesenheit stören durfte. Zwar gab es vieles, vor dem Alice keinen Respekt hatte, aber solch unberührte Landschaften gehörten gewiss nicht dazu. "Wahrscheinlich ist der Hasentyp gar nicht hier", wägte sie zugunsten der Natur ab, doch diese widersprach Alice umgehend. Unter drehendem Wind änderten die Grashalme ihren Rhythmus so, dass ihr seitliches Wanken nun einem lockenden Neigen ähnelte. "Sicher?", misstraute Alice ihrer Wahrnehmung, aber die Blumen in der ersten Wiesenreihe ermutigten sie weiter. Ihre Köpfe nickten motivierend. "Okay", gab Alice dankbar erwidernd nach. Vorsichtig wand sie sich an ihren Gastgebern vorbei, schlängelte sich zwischen weiteren Blumen und Grashalmen hindurch und setzte endlich ihre Suche fort. "Wo bist du, Hasi?", murmelte sie nach einer Weile. Schützend legte Alice eine Hand an ihre Stirn und ließ darunter erneut ihren Blick schweifen. Aber egal wohin sie auch schaute: Der Mann in Weiß war einfach nirgends auszumachen. Ebenso wenig seine flauschig wirkenden Ohren, die Alice sehnsüchtig vermisste, obwohl sie sich doch noch gar nicht lang kannten. Betrübt sanken ihre Schultern hinab, bevor sie abrupt nach oben gerissen wurden. Kerzengerade lauschte Alice mit ihren eigenen - überhaupt nicht flauschigen - Ohren und vernahm neben dem Rascheln des Felds: "Ich habe keine Zeit." Hektisch sah sie sich um und tatsächlich erspähte sie den Hasen, dessen Hinterkopf nur wenige Meter entfernt aus dem Gras lugte. Regungslos kauerte er zwischen den Halmen, so ruhig, dass Alice fürchtete ihn verschrecken zu können, wenn sie sich ihm zu eifrig nähern würde. Da sie auf eine erneute Suchaktion jedoch keine Lust hatte, schlich sie vorsichtig und so lautlos wie möglich ihrem Zielobjekt entgegen. "Scheiße!", schoss ihr Puls in die Höhe wie ein Schwarm panischer Vögel, als der Hase sich unerwartet umdrehte und überhaupt nicht verschreckt zu Alice hinauf starrte. Dunkle, emotionslose Augen fixierten sie, während eine Hand es gleichermaßen mit einer weißen Haarsträhne tat. Vom Schock gepackt stolperte Alice über ihre verhassten Schuhe, wodurch sie genau das verursachte, was sie ursprünglich hatte vermeiden wollen. Der Hase setzte sich in Bewegung und verschwand erneut. Zwar wunderte sich Alice kurzzeitig, dass ihm das gelungen war, ohne sich wirklich aus dem Gras zu erheben, aber vorerst bekam sie diesen Gedanken noch nicht zu greifen. Stattdessen fanden ihre Finger den harten Feldboden, auf dem Alice wenig galant aufprallte. Mürrisch rappelte sie sich auf alle Viere und somit in die ideale Perspektive, um dem Rätsel um den verschwundenen Hasen auf den Grund zu gehen - beziehungsweise sogar noch tiefer. "Ein Loch?", hinterfragte Alice den Fluchtweg ihres Zielobjekts. "Ein Loch", bestätigte ihr Echo aus dem Schlund, dessen Ausmaß sich selbst dann nicht abschätzen ließ, als Alice es vom Rand aus versuchte. Vorsichtig lugte sie in die finstere Öffnung, um den Boden vielleicht ausmachen zu können, aber außer Dunkelheit gab es einfach nichts zu sehen. Weder ein Ende des Abgrunds, noch einen Hasen, der ja eigentlich erst vor wenigen Sekunden darin verschwunden war. "Weg ist er", murmelte Alice vor sich hin, ohne den Blick aus der Tiefe zurückzuholen. Enttäuscht schubste sie etwas lose Erde hinab und lauschte dem Rieseln des Sandes, der ins scheinbare Nichts verschwand. Ob er jemals irgendwo aufprallte würde sie vermutlich niemals erfahren, nicht wahr? Es gab einfach keinen Hinweis. "Ich habe keine Zeit", schwang eine bekannte Stimme durch die Finsternis nach oben. Leise, aber trotzdem hörbar genug, um Alice' Eifer erneut hervorzulocken. Gebannt beugte sie sich noch näher an den Rand des Lochs, während ihr innerer Schweinehund ihr vorhechelte, dass Alice aktuell ja eigentlich auch keine Zeit hatte. Immerhin sollte sie so bald wie möglich zu ihrer Schwester zurückkehren und somit auch zu dem ursprünglichen Grund ihrer Flucht. "Von wegen", widersprach Alice dem imaginären Vierbeiner, der offenbar alles daran setzte, sie von einer spontanen Entscheidung abzuhalten. Glücklicherweise war Alice' Neugier aber gewitzter als der Spielverderber und warf deshalb ein ebenfalls imaginäres Stöckchen, dem der Schweinehund sofort folgte - hinaus aus Alice' Gedankengängen, durch die ein entferntes "Es ist so tief! Du könntest nicht mehr da raus kommen!" bellte. "Das wird schon", übertönte ihre Neugier jegliche Warnung, was Alice schließlich genügte, um schulterzuckend ins Ungewisse zu springen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)