Alice im 'Death Note'-Land von Annoia ================================================================================ Kapitel 1: Alice ---------------- Alice begann wütend zu werden. Ihr Blick klebte an dem Wandspiegel, der ihr Zimmer schon so lange schmückte, wie sie selbst. Also 19 mehr oder minder lange Jahre. Und was sie darin sah, entsprach - gelinde gesagt - nicht ihren Vorstellungen. Ihr blondes Haar war streng nach oben zu einem Dutt gebunden - sie hasste es. Ihre Füße zierten weiße Hackenschuhe mit eleganten Riemen - sie hasste es. Der Teil zwischen dem Dutt und den Schuhen war von einem knielangen blauen Kleid bedeckt, das kaum spießiger geschnitten sein konnte, - sie hasste es. Sie hasste ihren gesamten Anblick, aber noch weitaus mehr hasste sie in diesem Moment ihre ältere Schwester, die ihr durch die geschlossene Türe entgegen rief: "Alice, beeil dich. Wir kommen sonst zu spät!" Genervt sah die Angesprochene der Stimme entgegen. Es war ihr sowas von egal, ob sie zu spät kamen. Ihretwegen mussten sie auch gar nicht erst das Haus verlassen. Zumindest nicht, wenn es darum ging zu einer Familienfeier zu fahren, die weniger mit Familie zu tun hatte als es überhaupt möglich war. Nein, dieses bevorstehende Schauspiel glich eher einer Farce und lieber hätte Alice sich ein Messer in den Bauch gerammt, als daran teilzunehmen. Aber - und dafür hasste sie sich selbst am meisten - sie hatte ihrer Schwester nun mal versprochen mitzukommen. Was sie dazu bewogen hatte? Sie wusste es nicht. Seufzend richtete sich Alice ihrer Zimmertür entgegen, öffnete sie widerstrebend und trat hinaus in den Flur. "Alice!", fauchte die Stimme aus den Erdgeschoss. "Ja, ich komme doch schon, Clara!" Wenige Augenblicke später tapste die unmotivierte junge Frau die geschwungene Treppe hinunter und traf dort auf ihre Schwester. Mit hochgesteckten, brünetten Locken und einem grünen Abendkleid sah diese tatsächlich sehr ansprechend aus, allerdings ruinierte ihre Mimik diesen Eindruck. Ungeduldig biss sie auf ihrer Unterlippe herum, während ihre Augen sich immer enger zu mahnenden Schlitzen zusammenzogen. "Wieso trödelst du immer so?" "Nur um dich zu ärgern", seufzte Alice erneut. "Warum genau tun wir uns dieses Spektakel heute an?" "Weil unsere Eltern um unsere Anwesenheit gebeten haben, wenn Cousine Lydia ihre Verlobung bekannt gibt." "Aha", nickte Alice, als würde sie den Anlass für die Feierlichkeiten nicht kennen. "Und das interessiert uns, weil wir Lydia so mögen? Oder weil wir unseren Eltern gern jeden Wunsch erfüllen, da sie ja so toll sind und uns immerhin erst vor sieben Jahren allein in diesem Haus zurückgelassen haben?" Alice sah ihrer älteren Schwester entgegen, die nun ziemlich beschäftigt war ihren Mund dümmlich auf und zu schnappen zu lassen. Sie konnte nichts erwidern, was die Aussage widerlegen würde. Immerhin stimmte es. An Alice' zwölften Geburtstag waren ihren Eltern nämlich zu der glorreichen Erkenntnis erlangt, dass zwölf Jahre voller liebloser Liebe durchaus für ein Mädchen genügten. 'Sie bräuchten auch mal Zeit für sich', hatten sie gesagt. 'Zu viel Zuneigung würde den Charakter verderben', hatten sie gesagt. 'Clara wäre schließlich bereits achtzehn Jahre alt und könne nun langsam mal anfangen Verantwortung zu übernehmen', hatten sie gesagt. So gesehen war es ziemlich erstaunlich, wie viel man sagen konnte, während ein Kind damit zugange war, seine Geburtstagskerzen auszublasen. Letztendlich war der Qualm kaum richtig verzogen gewesen, als ihre Eltern auch schon mit gepackten Koffern in ihr neues Leben gestürmt waren. Wundervolle Menschen, nicht wahr? Da war man wirklich motiviert ihren Wünschen nachzukommen. "Ist ja gut", murrte Alice schließlich. "Hör auf, dich wie ein Fisch auf dem Trockenen zu benehmen. Lass uns einfach losfahren und dieses Theater hinter uns bringen." ~ Kurz darauf saßen die beiden Schwestern in Claras Peugeot und erneut stieg ein gewisser Hass in Alice auf. Es herrschte Hochsommer. Bei dem Peugeot handelte es sich um ein schwarzes Cabrio, dessen Klimaanlage defekt war. Das Dach war zu! "Ich bitte dich", keuchte Alice - einem Hitzschlag nahe. "Nein", dementierte die Frau hinter dem Steuer vehement. "Ich habe nicht stundenlang vor dem Spiegel gestanden, um mir nun bei dem Fahrtwind die Frisur zu versauen. Und wage es ja nicht ..." Wütend blitzte Clara zu ihrer Schwester, deren Finger wehmütig über einem kleinen Knopf schwebte. "... das Fenster aufzumachen!" ~ Eine Stunde, in der Alice' Wunsch nach einem erfrischenden Bad im Vorhof der Hölle ins Unermessliche gestiegen war, später flutschte sie aus dem Wagen. Das blaue Kleid klebte an ihren Beinen, ein verdächtig feuchtes Gefühl machte sich unter ihren Achseln breit und zudem war sie sich sicher, dass ihr Dutt nun auch ohne Haarnadeln in Position bleiben würde. Kurz: Sie schwitzte. Aus dem Augenwinkel betrachtete Alice ihre Schwester, die nun ebenfalls aus dem Auto gestiegen war und sich neben sie stellte. Sie sah noch genauso frisch aus, wie zu Beginn der langen Fahrt. Wie machte sie das nur? "Bereit?", flüsterte Clara durch ein aufgesetztes Lächeln hindurch. "Niemals", seufzte Alice, ohne überhaupt zu versuchen ihre Mundwinkel nach oben zu ziehen. ~ Mit derart unterschiedlichen Mienen schritten die Schwestern die kleine Auffahrt hinauf, welche auf beiden Seiten mit diversen bunten Blumen gespickt war. Eine leichte Brise brachte die Blüten höflich zum Nicken, was Alice mit der gleichen Geste erwiderte. "Hast du gerade die Blumen begrüßt?" "Du etwa nicht?", fuhr Angesprochene schockiert zu Clara herum, doch diese schüttelte nur belustigt den Kopf. Am Ende der Auffahrt wählten sie eine Abzweigung, die direkt am Haus vorbei und somit in den Garten führte. Unter diversen Girlanden und Luftballons tummelten sich dort bereits rund fünfzig Personen verschiedenster Altersgruppen. Familie, Freunde, Kollegen. Vermutlich jeder, der ihrer Cousine auch nur einmal die Hand gereicht hatte, war zu dieser Festlichkeit eingeladen worden und natürlich befand sich die Übeltäterin selbst genau im Mittelpunkt der Menschenschar. Gebettet in rosa Tüll präsentierte sie von dort aus den Mann, der das 'Glück' hatte sie in Bälde heiraten zu dürfen. Alice legte eine Hand über ihre Augenbrauen, um den armen Tropf besser identifizieren zu können. Er war recht groß gewachsen, trug das schwarze Haar zu einem Zopf gebunden und ließ ein Lächeln über dem schmalen Kinnbart aufblitzen, das Alice unter einer Millionen erkannt hätte. Ein Lächeln, das ihr schon immer den Atem geraubt hatte. Diesmal jedoch auf schmerzhafte Weise. Der Sauerstoff verbrannte in ihren Lungen, ließ Flammen durch sämtliche Venen züngeln, bis letztendlich jegliches Gefühl in Alice explodierte. Zurück blieb nur eine leere Hülle, durch die die Asche einer vergangenen Liebe stob. Eine Schneekugel erfüllt von schwarzem Nichts. "Oh Gott", keuchte Clara durch den Dunst, "das wusste ich nicht. Süße, es tut mir leid." Das musste ein Albtraum sein ... "Avan?", hauchte Alice den Namen ihres Exfreundes, welcher sie erst vor einem halben Jahr verlassen hatte, obwohl er 'so etwas nie tun würde, weil er sie ja so liebte'. Ein verdammter Albtraum ... "Alice", schallte irgendwo ihr Name. Vermutlich war es Clara gewesen, denn diese sah gerade durchaus so aus, als würde sie rufen. Ihre Lippen bewegten sich unter einem besorgten Augenpaar, glitten auseinander und wieder zusammen, ohne dass Alice auch nur ein Wort hätte verstehen können. Ihre Ohren waren so taub, wie der ganze Rest ihres Körpers. Zumindest der Teil oberhalb der Gürtellinie. Unterhalb verselbstständigten sich ihre Beine stattdessen, torkelten auf der Suche nach Halt und trugen Alice schließlich von ihr unbemerkt rückwärts in Richtung Einfahrt. Auch ihre Füße wussten, was zu tun war. Sie machten nach einigen Schritten kehrt, um Alice dann endlich weit fort zu bringen. Die Hacken der verhassten weißen Schuhe klapperten auf Gehwegplatten, bohrten sich in die Wiesen einiger Vorgärten, schepperten über den Asphalt der Straße und versumpften letztendlich im Moos eines Waldrands. Mit trübem Blick und brennenden Lungen hielt Alice inne. Ihr Atem übertönte das Rauschen des Windes, nicht aber das Rascheln des Blattwerks, welches unter den Böen schwungvoll auf und ab glitt, wie das einladende Winken langgliedriger Finger. Ein tiefes Schluchzen begleitete Alice, als sie der Aufforderung nachkam. Sie trat in den Wald hinein, verstummte jedoch abrupt als sie über eine Wurzel stolperte und somit unsanft auf dem Waldboden aufkam. Ein Moment, den sie unter normalen Umständen nur zu gern verflucht hätte, doch jetzt - unter den definitiv nicht normalen Umständen - brachte Alice kein Wort hervor. Ihre Stimmbänder weigerten sich schlichtweg, blieben kraftlos, wie auch der Rest ihres gestürzten Selbst. Einzig ihre Finger rührten sich und vergruben sich in dem weichen Moos, auf dessen Spitzen sich kleine, feuchte Perlen sammelten. Kein Tau. Tränen. Alice weinte. Ihre Augen füllten sich mit dem heißen Nass, das sie nicht mehr unterdrücken konnte. Warum ausgerechnet ihr Exfreund? Hätte sich diese verdammte Lydia nicht einen anderen suchen können? Wieso er? "Aaaaaah!", schrie sie in den dunklen Wald hinein; sandte mit jedem einzelnen Vokal das letzte bisschen Hoffnung ins Nichts. Hoffnung auf Versöhnung, auf Wiedervereinigung, auf Liebe. "Das ist so unfair!", keuchte Alice nachdem der Wald jegliche Zuversicht geschluckt hatte. Sie packte unnachgiebig nach dem weichen Moos, wandte sich zur Seite und warf es mit aller noch aufzubringender Kraft davon. Es sollte fort. Weg von ihr. Genau, wie auch ihr Kummer verschwinden sollte. Es überwand gute dreißig Zentimeter Luftlinie, bevor es von dem Gesicht eines jungen Mannes gebremst wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)