Throughout the Year von Goetterspeise (One-Shot Sammlung) ================================================================================ 02. Verdrängung --------------- "Sakura, wir müssen endlich darüber reden." Inos Stimme am anderen Ende der Leitung klang angespannt, nervös, vorsichtig. So, als ob sie nicht wüsste, wie sie das Thema am Besten ansprechen sollte - und es auch eigentlich gar nicht wollte. Sakura verdrehte mit einem Schmunzeln ihre Augen und wartete ab, ob ihre beste Freundin noch etwas sagen würde, doch blieb es stumm. Sie hörte nur den Atem und konnte sich bildlich vorstellen, wie Ino auf ihrer Unterlippe herumkaute und fieberhaft überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte. Sakura ging im Wohnzimmer ein paar Schritte auf und ab, während sie wartete, ob noch etwas kommen würde und begutachtete gedankenverloren die Bilder auf dem brusthohen Schrank. Einige davon zeigten sie und Teile ihrer Freunde in den verschiedensten Konstellationen - je nachdem, wann die Fotos geschossen worden waren. Auf anderen grinsten Ino und sie selbst ihr entgegen - die meisten waren während der Oberschule entstanden, aber auch eins aus der Grundschule befand sich unter ihnen. Aber die Schönsten und die, die ihr jedes Mal ein wohliges Kribbeln im Magen bescherten, waren die auf denen sie mit ihrem Freund stand. Sasuke blickte zwar auf jedem sehr ernst, vor allem, weil er es nicht leiden konnte, fotografiert zu werden, aber das war egal. Allein die Tatsache, dass er sich tatsächlich für sechs Bilder mit ihr hatte breit schlagen lassen, stimmte sie glücklich, wenn sie daran dachte. Dann fühlte sie sich wieder wie ein verliebter Teenager und würde am Liebsten durch die Wohnung springen. Nur in letzter Zeit wandte sich dieses Gefühl mehr in eine Art Nostalgie um. Vielleicht, weil sie älter wurde und sich nach und nach alles veränderte. Bei diesem wehmütigen Gedanken räusperte sie sich leise und erinnerte sich wieder daran, dass Ino nach wie vor am anderen Ende der Leitung war - und schwieg. Eine höchst ungewöhnliche Sache, aber es schien nicht so, als würden sie dieses Problem heute noch beheben können. "Ino, es ist spät, Sasuke wartet schon im Bett. Also wenn du das am Telefon nicht sagen kannst, können wir uns gerne nächste Woche bei mir oder dir treffen." Erneut blieb es kurz still, bevor sie hörte, wie Ino laut seufzte und anschließend ein: "Ja, gut", antwortete. "Ich komme Dienstag von meiner Geschäftsreise zurück. Dann gegen siebzehn Uhr bei dir?" "Klingt gut." Sie verabschiedeten sich und Sakura blickte noch ein letztes Mal auf die Reihe von Fotos, bevor sie in Richtung Schlafzimmer ging. Sasuke lag bereits im Bett und las als sie den Raum betrat, blickte aber augenblicklich auf. "Hn?" "War nur Ino. Sie scheint unbedingt über irgendetwas reden zu wollen, schafft es aber nicht, es auszusprechen. Was seltsam ist, weil sie normalerweise immer alles laut sagt." Sakuras Augenbrauen zogen sich bei diesen Worten zusammen, doch schließlich zuckte sie mit den Schultern und setzte sich auf die Matratze. "Wir könnten morgen an den Strand fahren. Das haben wir seit Jahren nicht mehr getan", schlug sie vor und erneut überkam sie dieses seltsame Gefühl der Nostalgie. Sie waren früher oft in den Semesterferien mit ihren Freunden an den Strand gefahren und hatten sich eine Hütte dort gemietet, miteinander getrunken, gelacht und gekocht. Sie waren schwimmen gegangen (extrovertierte Personen wie Ino oft auch nachts und das hin und wieder nackt) und hatten es sich einfach gut gehen lassen. Sie vermisste das Alles irgendwie, aber so war es im Leben nun einmal. Jeder von ihnen war seines Weges gegangen, manche umgezogen, andere hatten Familien gegründet, um die es sich zu kümmern galt. Man traf sich lange nicht mehr so häufig - wenn überhaupt - wie Sakura es sich oft wünschte. "Oder wir bleiben hier." Sasuke hatte sich hinter ihr aufgesetzt und schlang seine Arme um ihren Bauch, wodurch er sie aus ihren Gedanken riss. Er drückte ihr einen Kuss durch die Haare hindurch in den Nacken. Ihre erste Reaktion war ein lautes Lachen, bevor sie sich an ihn lehnte und seine Nähe genoss, seine Wärme durch ihrer beiden Oberteile spürte. "Mhhh, also wir könnten das Wochenende natürlich auch hier verbringen, wenn es nicht anders geht", schlug sie gespielt niedergeschlagen vor. Als Antwort zog Sasuke sie mit sich nach hinten und sie lagen schließlich ein wenig ineinander verworren auf der weichen Matratze. Er strich ihr sanft über den Bauch und sein Atem kitzelte ihre Wange. "Ja doch, ich glaube wir bleiben hier", antworte sie nun kichernd und mit einem Hauch kindlicher Vorfreude. Es war schön Sasuke so aktiv zu erleben, das musste sie um jeden Preis auskosten. Leider verging das Wochenende viel zu schnell und ehe Sakura es sich versah war sogar bereits der Montag vorbei. Sie hatte das Wochenende über - einem sehr intensiven und wirklich wundervollem Wochenende - Inos besorgniserregende Aussage relativ gut verdrängt, um die kostbare Zeit, die sie und Sasuke gemeinsam hatten, nicht mit Sorgen zu verschwenden. Allerdings verspürte sie nun, so kurz vor dem Treffen mit Ino, ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie ihre beste Freundin nicht doch noch einmal angerufen und nachgehakt hatte. Ino war nicht der Typ, der Schwierigkeiten hatte über komplexere Themen zu sprechen, egal wann und wo - außer natürlich es waren verdammt komplexe Themen. Und solche gab es bei Ino eigentlich nie. "Entspann dich", forderte Sasuke sie auf, als sie nervös durch die Küche lief. Er saß vor seinem aufgeklappten Laptop und begann gerade damit in einem der sechs verschiedenen Ordnern herum zublättern, die er auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Das Zeichen schlechthin dafür, dass ihre vertraute Zweisamkeit erst einmal zurückgestellt worden war. "Jaha." Aber sie konnte sich nicht entspannen. Sie musste irgendetwas tun um sich abzulenken. Allerdings hatte sie bereits alles vorbereitet. Was so viel bedeutete wie: zwei Weingläser und die entsprechende, volle Flasche. Sie hatte sogar schon in beide Gläser etwas von der weinroten Flüssigkeit eingeschenkt, die nun bereit war, getrunken zu werden. "Das wird schon." Sasukes Stimme klang abwesend und er schien sich mehr für die Zahlen seiner Exceltabelle zu interessieren, aber Sakura musste dennoch lächeln. Wenn er in diesem Stadium der Konzentration war, konnte sie schon froh sein, dass er sie wahrnahm und mit ihr sprach. Manchmal war er so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, wenn sie einen Teller fallen ließ oder die Dusche im Badezimmer nebenan anmachte. In diesem Moment klingelte es an der Tür und Sakura atmete noch einmal tief durch. "Ich hoffe es", flüsterte sie in Richtung Sasuke, bevor sie zur Wohnungstür ging und diese öffnete. Ino stand mit einem Trenchcoat bekleidet vor ihr, ihre langen, blonden Haare zu einem hohen Zopf gebunden und angedeuteten Augenringen vor ihr. Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an, bevor Ino sie schließlich in den Arm nahm. "Hey." "Hi", erwiderte Sakura perplex und tätschelte den Rücken ihrer besten Freundin. "Ino, wir sollten vielleicht rein gehen." Die Angesprochene löste die Umarmung und nickte knapp. Sakura ließ sie hinein in die Wohnung und schloss dann hinter ihnen die Tür. Ino zog ihren Mantel aus und hängte ihn auf. Anschließend wechselte sie von ihren High Heels in ein Paar der Gästehausschuhe und wartete darauf, dass Sakura voraus ins Wohnzimmer ging. "Da die Küche gerade als provisorisches Büro gilt, würde ich vorschlagen wir gehen ins Wohnzimmer. Gläser und Wein stehen auch schon bereit", erklärte Sakura gut gelaunt, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Ino lächelte gezwungen, sagte aber nichts. Was war nur los mit ihr? Sie setzten sich auf die dunkelgrüne Couch im Wohnzimmer und Sakura reichte Ino das bereits gefüllte Glas. "Also, was ist los?" Ino schwieg. Sie fühlte sich ganz offensichtlich unwohl und starrte so verbissen den Wein an, dass Sakura schon Sorge hatte, er würde sauer werden. "Wann hast du das letzte Mal das Haus verlassen?", fragte sie schließlich vollkommen unvermittelt. "Na ja ... weiß ich gar nicht genau. Wir haben Urlaub und genießen unsere Zeit eben." Ino schien diese Aussage nicht sonderlich zu gefallen, dabei war sie es gewesen, die Sakura ständig damit in den Ohren gelegen hatte, dass ein Wochenende im Bett einfach wundervoll sei und sie es unbedingt mal ausprobieren sollten. "Was isst du momentan?" "Ähm ... wie bitte?" War sie ihre Mutter? "Ich hätte dich niemals wegen dieses blöden Termins alleine lassen sollen. Es tut mir schrecklich leid", erklärte Ino mit einem traurigen Unterton und überrumpelte Sakura erneut durch diesen plötzlichen Themenwechsel. "Aber bitte, lass mich ehrlich sein. Du siehst schrecklich aus." Die Angesprochene zwinkerte ein paar Mal, bevor sie realisierte, was Ino gerade gesagt hatte und wollte schon protestieren, als diese ihr das unausgesprochene Wort abschnitt: "Nein. Bitte. Ich meine ... das ist auch meine Schuld", fuhr sie mit erstickter Stimme fort. "Sakura, du siehst aus als hättest du seit Wochen nicht geschlafen, du bist abgemagert, dein Gesicht ist eingefallen und so wie es riecht, läufst du nur in diesem einen T-Shirt von Sasuke herum." "Was, aber ich trag doch gar nicht ..." Sie sah an sich hinab und stellte überrascht fest, dass sie wirklich eins von Sasukes typisch dunkelblauen Oberteilen trug. "Oh. Ist mir gar nicht aufgefallen." Sie lachte. Ino nicht. Stattdessen lehnte sie sich ein Stück vor und sah ihr direkt in die Augen. "Sakura, so kann das nicht weiter gehen. Ich dachte, vielleicht würde dir ein bisschen Abstand gut tun, vielleicht brauchst du nur ein paar Wochen, bis du es anfangen kannst zu realisieren und dass ich darauf warten sollte, bis du von dir aus darüber sprechen möchtest. Aber es kam nichts und als ich unterwegs war ... ich habe mich so oft gefragt, ob ich nicht vielleicht doch etwas aktiver hätte an die Sache herangehen sollen. Bei unserem Telefonat neulich, als du gar nicht auf mich eingegangen bist und dann sogar meintest Sasuke würde auf dich warten und so entspannt klangst ... Oh Gott." Ino biss sich auf ihre Unterlippe und ihr Gesicht spiegelte den Schmerz wider, der sich in ihrem Inneren angestaut hatte. "Wir ... wir müssen endlich ... Sakura, bitte ... wir müssen endlich ... über Sasukes Tod sprechen." Irgendetwas brach bei diesen Worten. "Was ...?" Sakura stockte. "Ino, was soll der Blödsinn? Sasuke ist doch ..." Sie drehte sich Richtung Küche, um nach ihm zu rufen, damit auch er Inos komische Worte hören konnte; ihren recht seltsamen Versuch eines Witzes. Doch er saß nicht da. Der Laptop stand geschlossen auf dem Tisch und die Ordner waren auch verschwunden. Sie hatte ihn gar nicht aufstehen hören. "Sakura", begann Ino langsam und legte ihre Hand auf die ihrer besten Freundin. "Ich weiß, dass die letzten Wochen schwer waren und das du versucht hast es zu verdrängen. Aber so kann das nicht weiter gehen." "Ino hör auf so einen Blödsinn zu erzählen. Sasuke ist nicht ... nicht ..." Sakura verspürte einen gewaltigen Kloß in ihrem Hals und brach den Satz ab. Wieso konnte sie das Wort nicht einfach aussprechen? "Aber du weinst." Sie spürte etwas Warmes ihre Wangen hinablaufen und fasste sich mit ihrer freien Hand langsam an die Wange. Ihre Finger spürten etwas Flüssiges unter sich und sie wischte es so schnell es ging weg. "Nein", flüsterte Sakura, "ich weine nicht. Da ist mir wahrscheinlich ... wahrscheinlich nur was ins Auge ..." Ihr Kloß im Hals wurde immer größer und sie versuchte vergebens ihn hinunterzuschlucken. Was sollte das? Wieso reagierte sie auf eine so infantile Behauptung derart extrem? Ihr Körper zitterte, die Tränen flossen immer schneller und sie bekam stechende Kopfschmerzen. Wieso? Sie verstand es nicht, konnte nicht erklären, warum ihr Körper sich plötzlich so erledigt fühlte. Ein erstickter Schrei entglitt ihrer Kehle und sie drückte ihre Handballen so fest gegen ihre Augen, dass sie Sternchen vor sich tanzen sehen konnte. Die Tränen stoppte es dennoch nicht. Ino rückte näher an Sakura heran und legte einen Arm um deren Schulter, anschließend zog sie ihre beste Freundin zu sich und umarmte sie fest, während Sakura hemmungslos begann in Inos Oberteil zu weinen. "Shhh. Wir bekommen das hin. Versprochen." Was würden sie hinbekommen? Sasuke war nicht tot. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)