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Warte, warte nur ein Weilchen

von

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Der Tag, an dem alles begann / 24.07.1918

Mord! 500 Mk Belohnung!

Wer ist der Mörder?

Am Samstag, den 13.07. ds. Jrs., wurden die Leichen der Kinder Ernst Harald Jost und seiner Schwester Emilie Maria Jost im Winterhafen aufgefunden.

Am gleichen Tag ist der Schüler Heinz Zelmer, wohnhaft am Schillerplatz 29, von zu Hause verschwunden. Zuletzt wurde er beim Spielen zusammen mit den Kindern Jost gesehen.

Der Junge Zelmer ist elf Jahre alt, ungefähr 1,40 m groß, hellblond und von kräftiger Statur. Am Samstag trug er kurze Hosen, ein blaugrau gestreiftes Hemd. Auffällig ist eine große Narbe am Schienbein.

Es wird von einem Verbrechen ausgegangen. Wer Hinweise auf den Verbleib des Jungen hat, ihn nach sieben Uhr abends gesehen oder mit ihm gesprochen hat, ist aufgefordert, sich bei der nächsten Gendarmerie zu melden.
 

Anni fächelte sich mit der Hand Luft zu. Ihre Kehle fühlte sich an, als läge ein schwerer Druck darauf. Alle Kinder stammten aus der Nachbarschaft, wohnten keine fünf Minuten zu Fuß von ihr entfernt. Ernst und Heinz besuchten die Quinta , in der auch Vater unterrichtete. Am vergangenen Freitag noch hatte Anni den kleinen Ernst beim Anstehen für Kartoffeln gesehen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und las noch einmal die Zeilen. Plötzlich fror sie. Die frühmorgendliche Sommersonne konnte sie nicht mehr wärmen. Ernst und Emilie lebten nicht mehr und Heinz …? Hoffentlich fand die Gendarmerie ihn lebendig. Aber warum hatte sie davon nichts mitbekommen? Hatte der Krieg sie nicht gelehrt, näher zusammenzurücken?

Anni rieb sich über die Oberarme und knirschte mit den Zähnen. Gerade in einer Zeit voll Entbehrung und Angst sollten alle aufeinander achten.

Ihr Blick glitt zu Boden. Mord …

Sie dachte an Frau Jost, deren Mann seit Verdun vermisst wurde, und Frau Zelmer, deren Mann gefallen war. Wer konnte diesen Frauen noch mehr Leid antun? Reichte nicht die Gräuel der Schlachtfelder: Senfgas , britische Tanks , Zeppeline und Doppeldecker , auf deren Tragflächen Maschinengewehre aufgeschraubt wurden – Anni hatte eine sehr bildliche Fantasie. Anhand von Artikeln und Zeitungsfotografien konnte sie sich all die neuen Waffen erschreckend detailliert vorstellen. In den Jahren hatte Anni immer zugehört, wenn die Verwundeten zurückkehrten und von der grausame Wirkung dieser Kriegsmaschinerie sprachen.

Reichte die Gewalt auf dem Feld nicht aus? Musste sie in die Häuser und Herzen getragen werden? Das war doch Irrsinn!

Schritte näherten sich von hinten. Anni durchrann ein Schauder. Das Gefühl, Personen in ihrem Rücken zu wissen, beunruhigte sie. Eilig wandte sie sich um und atmete auf. Mutter kam mit ihrer Untermieterin Frau Engel näher. Sie unterhielten sich leise, aber hitzig. Eigentlich kannte Anni ihre Mutter nur als sehr stille, zurückhaltende Frau ohne eigene Meinung. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und trat beiden Frauen ein Stück entgegen. Sie schienen Anni erst jetzt zu bemerken, denn Mutter verstummte sofort. Sie wirkte ernst, sorgenvoll und viel zu blass, als wolle sie sich dem Hintergrund der tristen, hoch aufragenden Backsteinfassaden anpassen und mit ihnen verschmelzen. Zurück konnte sie nicht mehr. Als sie neben Frau Engel stehen blieb und Anni ansah, wirkte sie wie ein getretener Hund. Heute wirkte sie fahler und unwirklicher. Wenn Anni ihre Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu berühren, war sie nicht sicher durch Mutters Gestalt hindurchzugleiten. Diese Distanz brachte ein Verlustgefühl mit sich, dass sich schwach, aber stetig in Annis Brust brannte entfernt. Mutter verlor sich Stück um Stück.

Wann hatte sie angefangen ein Schatten zu werden, der sich bewusst zurückzog?

Begann es nicht im Winter vor zwei Jahren?

Anni hatte nie begriffen warum, keine Antwort erhalten, wenn sie fragte. Es geschah einfach, unaufhaltsam, lautlos und unumkehrbar.

Mit einer schwachen Handbewegung wies Anni auf die Litfaßsäule.

„Heinz Zelmer wird vermisst.“

Die Worte klangen lahm, aber Anni brachte es nicht über sich auszusprechen, dass die Jost-Kinder tot waren.

Mutter wich ihrem Blick aus und presste den leeren Korb gegen den Bauch.

„Schrecklich“, flüsterte sie, ohne das rot eingerahmte Plakat zu betrachten.

Überrascht legte Anni die Stirn in Falten. „Du wusstest davon?“

Knapp nickte Mutter. In ihre Züge gruben sich Bitternis und Angst.

Irritiert legte Anni den Kopf schief. „Gestern Abend war das Plakat noch gar nicht angeschlagen.“

Nervös strich Mutter eine Strähne aus der Stirn. Mit einem kurzen Blick auf ihre Halskettenuhr veränderte sich ihre gesamte Haltung. Aus der geduckten Frau wurde die strenge Mutter. Verwirrt beobachtete Anni die Veränderung. Was ging hier vor sich?

Mutter deutete mit einer Kopfbewegung über die Panorama-Terrasse die steile Treppe hinab. Sie legte die Stirn in Falten und zog streng die Brauen zusammen. „Geh bitte zur Arbeit, Anni, du bist spät. Wir können später immer noch darüber sprechen!“ In ihrer Stimme lag Schärfe, aber auch ein hoher, fast hysterischer Unterton. War das Furcht? Anni wollte im ersten Moment zurückweichen, blieb aber stehen. Sacht strich sie ihrer Mutter über den Arm.

„Geht es dir gut?“, fragte sie leise. Mutter verhielt sich wie damals, vor zwei Jahren, als die Veränderung ihres Wesens einsetzte.

Ein schwaches, aber ehrliches Lächeln glitt über ihre verhärmten Züge.

„Nimm bitte die Straßenbahn“, sagte Mutter leise und fügte mit Nachdruck hinzu: „Bitte.“

Ihr Drängen beängstigte Anni. Unsicher nickte sie. Was in aller Welt ging hier vor sich? Hatte der zweifache Kindsmord sie so sehr verstört?

Mit einem letzten Blick zu dem Plakat drehte Anni sich um und ging. Hinter sich hörte sie die mühsam unterdrückte Lautstärke in der kräftigen Stimme von Frau Engel. Sie schien auf Mutter einzureden. Die Entfernung war zu groß, um den Inhalt der Worte zu verstehen, aber die alte Dame wirkte aufgeregt. Kurz warf Anni einen Blick zurück. Ihre Mutter starrte ins Leere, schwieg offenbar. Beide Arme hingen herab und der Korb pendelte dicht über dem Boden.
 

Weder die Reaktion von Mutter noch das rote Mordplakat gingen ihr aus dem Kopf. Anni bekam gar nicht die Chance dazu, weil jeder in der Waggonfabrik darüber sprach. Einige der Frauen hatten sich Zeitungen besorgt, nur um mitreden zu können. Gegen Abend kannte Anni den Inhalt jedes einzelnen Blattes. Im Wesentlichen unterschieden sich die Berichte nicht von dem Inhalt des Plakates. Dennoch färbte die Grundhaltung der jeweiligen Redaktion das Fazit. Verschiedene Spekulationen über den Entführer und Mörder hatten in der Fabrik die Runde gemacht. Anni enthielt sich vorsichtshalber jedweder Meinung. Der Reiz selbst zu theoretisieren war groß, aber falsch, wenn sie an die beiden leidgeprüften Mütter dachte. Allein das Wissen, dass Frau Jost nun vollkommen allein war und Frau Zelmer sicher um ihr Kind bangte, zerrte an Anni. Mit jeder Stunde fühlte sie sich schlechter. Es fiel ihr schwer, sich noch auf die anderen Arbeiterinnen zu konzentrieren. Selbst auf dem Heimweg redeten die Frauen von nichts anderem. Anni musste ihren Kopf klären. All die Informationen und das eigentlich vollkommen sinnlose Geschnatter bereiteten ihr Kopfschmerzen. Zusammengesponnene Ideen, Hypothesen und unbeantwortete Fragen vermischten sich zu einem undurchdringlichen Dickicht, in das Annis dunkle Fantasie blutige Fußspuren legte.

Sie wusste nichts über die Umstände des Todes, nicht, an welchem Ort im Winterhafen Ernst und Emilie gefunden wurden und in welchem Zustand sie sich befunden hatten, nur dass sie umgebracht wurden und man Heinz suchte.

Sobald sie damit die Angelegenheit von sich schieben wollte, sah sie den so frechen Burschen bleich und leblos vor sich, das helle Haar blutverkrustet, der Körper steif gefroren … im Schnee. Schnee?

Ihre Erinnerung vermischte sich mit einem anderen Verbrechen – einem Mord in ihrem Haus. Anni biss sich auf die Lippe. Im Winter vor eineinhalb Jahren war angeblich ihr Nachbar, der Kunststudent Heinrich Wolff, umgebracht worden. Anni schloss kurz die Lider. Sie hatte die Gendarmen nicht vergessen, hörte noch immer den Hilfskommissar von Stürickow, der jeden im Haus vernahm. Er soll im Schnee gelegen haben, vor der Kellertür. Rote Rinnsale in den weißen Kristallen, blaue Lippen … Sie schüttelte den Gedanken ab und öffnete die Augen. Sie musste wieder zu sich kommen! Rasch eilte sie die Stufen zur Kupferbergterrasse hinauf, geradewegs auf die Litfaßsäule zu. Vor dem Plakat hatten sich viele Menschen versammelt. Sie sah nur die Anzeige der Belohnung. Rasch änderte sie den Weg und umging die Leute. Auf den letzten Metern versuchte sie die Zeit zu nutzen, um Wolff, Ernst und Emilie aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, auf seltsame Art entrückt. Jeder Schritt über das Kopfsteinpflaster wurde schleppender. Ihr fiel es schwer, sich zu bewegen. Vor dem Hauseingang blieb sie endgültig stehen. Viel zu lang suchte sie in der Tasche ihres Rockes nach dem Schlüssel. Sie wollte nicht hochgehen, weigerte sich noch darüber reden zu wollen … aber ewig konnte sie nicht trödeln. Schwerfällig schloss sie die Haustür auf und drehte – trotz der angenehmen Abendsonne - den Bakelit-Lichtschalter an. Leitungen summten und knackten, die Sicherung gab ein lautes Geräusch von sich, während die staubige Lampe unter der Decke des Windfangs ihr dürftiges Licht spendete. Ihr kam es vor, als würde es dunkler.

Über sich vernahm sie die Stimme ihres Vaters, ohne dass sie die Worte verstand. Hatte er sie vom Fenster aus gesehen, oder sprach er mit einem Nachbarn? Ein Mann antwortete ihm. Sie legte die Stirn in Falten. Von irgendwoher kannte sie die Tonlage. Auf ihren Armen stellten sich die Härchen auf. Einen Herzschlag später wurde die Wohnungstür geschlossen, sodass sie nur noch dumpfes Gemurmel vernahm.

Die Ruhe tat gut, leerte ihren Kopf. Langsam entspannte sie sich. Erschöpft strich sie sich über die Stirn und machte sich an den Aufstieg in den dritten Stock.

Ihre Knie fühlten sich steif an. Trotz der Fahrt mit der Straßenbahn spürte sie die Belastung des langen Stehens in Gelenken und Muskeln. Als sie im Hungerwinter 1916 in der Wagon-Fabrik angefangen hatte, war ihr die monotone Arbeit der 70-Stunden-Woche nicht schwergefallen. Mit dreizehn Jahren hatte sie es als Abwechslung angesehen Schrauben in Bleche einzudrehen und eine Maschine zu bedienen. Ihre Schulfreundinnen konnten es schließlich auch. In den zwei Jahren hatte sich Hornhaut an ihren Fingern gebildet, die Nägel waren schartig und ihr Rücken tat fast immer weh. Heute fühlte sie sich mehr denn je wie eine alte Frau.

Auf Höhe des Hochparterres blieb sie stehen und lehnte sich einen Moment lang gegen den Handlauf, den Blick hinaufgerichtet. Vor ihren Augen verschwammen die Stufen, abgelenkt von dem abendlichen Licht, das in unzähligen Facetten und Mustern durch das Oberlicht des Podestes fiel. Der Anblick war schön. Sie atmete tief durch und hielt inne. Plötzlich schlug die Tür zum Hinterhof zu. Unwillkürlich zuckte Anni zusammen.

„Guten Abend, Fräulein Beckmann“, sagte eine vage vertraute Stimme. Anni fuhr herum. Hinter ihr stand ein Heeressoldat in zerschlissener und verschmutzter Feld-Uniform, über dem Rücken ein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett und am Gürtel eine Pistole. Orden zierten seine Brust. Anni erkannte das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und die Wiederholungsspange. Sie versuchte das Gesicht im Schatten von Mütze und Haar zu erkennen. Wer war er?

Als wolle er sich zu erkennen geben, hob er den Kopf. Erschrocken sog Anni die Luft zwischen den Zähnen ein. Der Mann war entsetzlich entstellt und vernarbt. Ein unsauber gestutzter Bart verbarg das Schlimmste. Dennoch konnte sie die hellen, aufgeworfenen Wulste und tiefen, rissartigen Krater auf seinen sonnenverbrannten Wangen nicht ignorieren. Bis in seinen Kragen zogen sich die alten Narben. Vor Annis geistigem Auge entstand ein Bild eines wilden Tieres, das sein Gesicht zerfetzt hatte. Sie schüttelte den Gedanken ab. An einigen Stellen wirkten die Verletzungen, als seien sie mit einem feinen, scharfen Rasiermesser gezogen worden, vollkommen gerade und mal tief, dann wieder sehr flach. Einer der Schnitte endete knapp oberhalb seiner Lippe, eine anderer hatte das Augenlid angerissen. Anni wich um eine Stufe nach oben und umfasste das Geländer, so fest sie konnte. Er senkte den Kopf. Blonde Locken fielen unter der Mütze in die zerfurchte Stirn des Landsers und überschatteten die hellen Augen. Er wirkte zu ernst und traurig. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Fremd war er ihr nicht, aber woher kannte sie ihn? Er kam vom Hof, aus der Fleischerei?

Anni zuckte zusammen. Wolff! Aber das konnte nicht sein! Er galt doch als tot!

Auf entsetzlich vertraute Weise wagte der Mann ein unsicheres Lächeln. Anni erschrak. Hatte er ihre Gedanken gelesen?

Er räusperte sich, wurde ernst und sah zur Seite.

Nervös zupfte er an seiner Jacke. Seine großen, schlanken Hände waren kaum weniger staubig als sein Rock. Unter den Nägeln und im Nagelbett hatte sich Dreck festgesetzt. Er blinzelte, strich sich das zu lange, gelockte Haar unter die Mütze und befeuchtete seine trockenen Lippen. Anni hatte nur wenig mit ihm zu tun gehabt, bis auf die wenigen Male, wenn er ihr geholfen hatte Bilder für die Kunsterziehung fertigzustellen. Damals war er beinah blendend schön gewesen, so schön wie ein Mann nur sein konnte. Anni sah noch immer die farbverspritzte Haut und das sanfte, wenngleich immer sehr ernste Gesicht vor sich.

Eingehend betrachtete sie seine Narben, in vollem Bewusstsein, wie unhöflich sie sich ihm gegenüber benahm. Er schluckte hart, sodass sein Adamsapfel über dem Kragenspiegel sprang. Heute wie damals zwang ihn dieses Starren in die Defensive … Der letzte Zweifel wich.

„Heinrich Wolff“, flüsterte sie. Langsam hob er den Kopf und fing ihren Blick ein. Für einen Moment hielt sich seine unbeholfene Art, doch plötzlich richtete er sich auf und straffte sich. Sein Wesen schien sich ins Gegenteil zu verkehren. Selbstbewusst, kalt und unbarmherzig wirkte er. In ihm schien kaum mehr Menschlichkeit zu existieren. Anni umklammerte das Geländer. So hatte sie sich immer einen Soldaten, einen Mörder, vorgestellt! Aber war das nicht die Essenz aller Empfindungen, wenn man den Krieg an der Front erlebt hatte. Vater sprach oft und bitter darüber. Der Mann verströmte den Hauch all dessen, was sie fürchtete: Tod und Gewalt. Erneut wich sie eine Stufe nach oben. Das Sonnenlicht erfasste ihn. Seine Augen weiteten sich. Ein helles, scharfes Phosphor-Glühen erfasste die Iris.

Entsetzt zuckte sie zurück. Anni wollte so viele Etagen wie möglich zwischen sich und dieses Geschöpf bringen! Sie machte einen weiteren Schritt nach oben, strauchelte und konnte sich gerade noch fangen. Rasch griff er zu, um ihr zu helfen. Instinktiv entzog Anni sich der Berührung. Er zog die Brauen zusammen. „Ich tue Ihnen nichts, Fräulein Anni.“

Sicher nicht?, dachte sie, straffte sich dann aber. Angst zu zeigen war unklug. Er hatte etwas Tierhaftes an sich. Vor Hunden durfte man auch keine Angst zeigen. Im gleichen Moment, in dem Anni darüber nachdachte, wusste sie, wie dumm der Gedanke war.

„Sie sind doch Heinrich Wolff?“, fragte sie. Als er wieder nicht reagierte, sondern nur mit zuckenden Kiefermuskeln vor sich hinstarrte, wies sie zum Hof. „Ihr Vater war der Fleischermeister.“

Ein deutliches Zittern hatte sich in ihren Tonfall geschlichen. Unsicher fuhr sie fort: „Ihm haben der Laden und die Schlachterei gehört … oder irre ich mich?“

Tief atmete er ein. Es wirkte, als habe sie ihn von einer Last befreit.

„Sie irren sich nicht.“ Er reichte ihr die Hand. „Sie haben recht, Fräulein Beckmann, ich bin Heinrich.“

Er machte ihr auf beinah körperlich schmerzhafte Weise Angst. Alles in ihr weigerte sich die Situation zu verarbeiten. Wolff, dachte sie. Das ist er!

Konnte es sein, dass sich die Mordbereitschaft damals getäuscht oder er sich einen grausamen Scherz erlaubt hatte? Sie biss sich auf die Lippe. Zögernd griff sie nach seiner ausgestreckten Hand. In seinem Druck lang unverhältnismäßig viel Kraft, sodass scharfer Schmerz durch ihre Glieder fuhr, aber schlimmer als das war die Kälte, die seine Haut verströmte. Er schien in Eiswasser gebadet zu haben. Instinktiv löste sie sich aus dem Griff und massierte Wärme und neues Leben in ihre tauben Finger. Allerdings wagte sie nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Wen hatte die Mordbereitschaft am 23.12.1916 gefunden und als Heinrich Wolff identifiziert? Warum war er verschwunden und hatte das Missverständnis nicht aufgeklärt? Offiziell lag er auf dem Friedhof.

Automatisch dachte sie an den Doppelmord und die Kindesentführung. Wolff, der tot sein sollte und wie eine grausame Monstrosität aussah, gab diesen Ereignissen einen schauerlichen Beigeschmack. Er verursachte ihr körperliche Angst! Es war besser, so viel Abstand wie möglich zwischen ihn und sich zu bringen.

Von irgendwoher drang das Dröhnen eines Lastkraftwagens, der sich näherte. Anni war dankbar um die Unterbrechung. Sie löste den Blick von ihm und lauschte. Der Wagen war unterwegs zu ihnen. Hatte sich ein Fahrer der Mainzer Aktienbrauerei in der Straße vertan, oder bekam die Fleischerei jetzt noch eine Lieferung?

Wolff regte sich und brach in das sonnenbeschienene Stück Normalität ein. Seine Nähe war ihr zuwider. Sie kniff die Augen zusammen. Unsicher wies sie nach oben. „Meine Eltern warten auf mich.“

„Das denke ich.“ Er machte eine auffordernde Handbewegung hinauf. „Konrad Löb ist gerade bei Ihrem Vater und verhandelt mit ihm um eine Möglichkeit zur Untermiete.“

„Sie wollen wieder in den Kästrich ziehen?“, stieß sie hervor. Blankes Entsetzen schwang in ihrer Stimme. Bitte nicht, dachte sie.

„Sie haben Angst vor mir“, stellte er kühl fest.

Automatisch nickte sie. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, wie unhöflich und herabwürdigend sie sich verhielt. Aber dieser Mann unter einem Dach mit ihr, ein Eindringling in ihrer Zuflucht, dem Ort, an dem sie wenigstens versuchen konnte, den Krieg auszusperren? Nein!

Er reagierte emotionslos, kalt. Über seine entstellten Züge huschte nicht der Hauch eines Lächelns. Seine Lippen zuckten. Er setzte zum Sprechen an, als draußen der Lastkraftwagen in die Toreinfahrt fuhr. Der Lärm verschluckte seine Worte. Anni roch selbst durch die Tür den Eisen- und Kohlegestank, hörte den zischenden Wasserkessel und das Klirren des Kettenwerks. Als der Motor erstarb, wurden vor der Haustür Stimmen laut. Eine gehörte einer fremden Frau, die andere erkannte sie sofort: der Hauswart Tranitz. Ein Schlüsselbund klirrte. Tranitz schloss auf und trat ein. Ihm folgte eine junge Frau, deren helle Löckchen unter einem kecken Blumenhut hervorschauten. Anhand des Kopfputzes musste sie Geld besitzen. Die Zierde war in den letzten Jahren überflüssig geworden.

Mit übertriebenem Kratzfuß hielt Tranitz ihr die Tür auf. Sie quittierte die Geste durch ein anzügliches Grinsen, sah dann aber nach oben und blinzelte gegen das Licht. Zuerst wich sie der Helligkeit aus, hob aber schließlich die Hand über die Augen. Wahrscheinlich erkannte sie nur Schattenrisse, dennoch änderte sich in ihrer Mimik etwas. Ihr dirnenhaftes Gebaren fiel ab, als sei sie mit Betreten des Hauses ein anderer Mensch geworden. Sie lächelte auf unglaublich herzliche und offene Weise. Anni richtete sich auf. Etwas in dem Blick dieser Frau berührte sie und gab ihr ein Stück Freude zurück.

Seltsam, aber mit ihr schien die Sonne aufzugehen. Die junge Frau löste die Hand von der Stirn, zog ihr besticktes Schultertuch zusammen und hob den vergleichsweise einfachen, braunen Rock, um vor dem Hauswart die Treppe hinaufzugehen. Irritiert beobachtete Anni sie. Einer Dame wäre solch ein Verhalten nicht unterlaufen. Auch Tranitz‘ Augenbrauen zuckten überrascht hoch. Mit einem Taschentuch wischte er sich über das flächige, verschwitzte Gesicht. Anni glaubte zu sehen, dass er seinen Blick kaum von ihrer runden Figur nehmen wollte. Die Frau störte sich nicht daran.

Als er die Tür schloss, fing sich das zuckrig Aroma ihres Parfums im Treppenhaus und überlagerte den Geruch nach Blut aus der Schlachterei und dem Wasserdampf des Wagens. Anni schluckte mühsam und fächelte sich Luft zu. Auf dem Podest unter ihr stand Wolff, reglos wie ein Zinnsoldat. Er schien zu lauern oder zu lauschen. Von einem Moment zum andern regte er sich, sah sich um und räusperte sich. „Fräulein Beckmann, wollen wir?“, fragte er und schickte sich an, an ihr vorbeizugehen.

Ihn nur nicht berühren …!, schoss ihr durch den Kopf. Anni drängte sich gegen das Geländer, als er sich auf gleicher Höhe mit ihr befand. Aber er passierte sie, ohne dass er sie streifte. Anni folgte ihm.

„Fräulein Anni, warten Sie!“, rief Tranitz hinter ihr. Sie blieb auf dem Podest stehen, wagte nicht Wolff den Rücken zuzudrehen. Sollte er nur weitergehen. Leider erfüllte sich ihre Hoffnung nicht. Er hielt inne. Halb drehte er sich um, sodass Anni sein Profil im Gegenlicht sah. Seine Nasenflügel bewegten sich, als würde er einen Geruch aus der Luft filtern wollen. Das starke Parfum überlagerte allerdings alles.

„Fräulein Anni!“, wiederholte Tranitz deutlich verärgert. Was nahm sich dieser lüsterne Krüppel eigentlich heraus?! Anni fuhr zu ihm herum und warf ihm einen angeekelten Blick zu. Der Hauswart ignorierte sie. Mühsam schnaufte er hinter der jungen Frau die hohen Stufen des Windfangs hinauf, wobei er sein steifes Bein nachzog. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Unter den Armen und über dem Bauch hatte sich sein grau gestreiftes Hemd dunkel verfärbt. Im Gegensatz zu ihm schien sie fast leichtfüßig das Hochparterre zu erklimmen.

„Wer ist sie?“, fragte Wolff leise. Seine Stimme klang kalt und viel zu nah. Anni schauderte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht.“

Vermutlich hatte die junge Frau ihn gehört, denn sie setzte ein breites, warmherziges Lächeln auf. „Ick bin de Lotti“, sagte sie in breitem Berliner Dialekt. Mit dem Vornamen hatte sich Anni noch keine Frau vorgestellt, aber das plumpe Verhalten passte zu ihr. Offenbar bemerkte Lotti, dass ihre Worte nicht den gewünschten Effekt erzielten. Sie wurde ernst: „Lieselotte Runge. Ick wohn ab jetzt im vierten Stock.“

Zögernd nickte Anni. Wie sollte sie die Frau einschätzen? Durfte sie sich überhaupt mit solch einfachen Personen abgeben? Wahrscheinlich machte es keinen Unterschied zu den anderen Bewohnern des Kästrichs. Sie entschied sich dazu etwas Offenheit walten zu lassen. Was brachte es, sich im Krieg mit Kleinigkeiten wie dem Benehmen abzumühen?

„Angenehm“, sagte sie und schenkte Lotti ein – wie sie hoffte – genauso offenes, freundliches Lächeln, reichte ihr die Hand und deutete einen Knicks an. „Anna Julie Beckmann. Meine Familie wohnt in der dritten Etage.“

Über Lottis Lippen huschte ein Grinsen, bevor sie zu Wolff hinaufschaute. Mühsam schluckte sie und sah fort. Er erschreckte sie offensichtlich. Mit seiner großen Hand berührte er Annis Arm. Nadeln schienen sich in ihre Haut zu bohren. Das Gefühl seiner Finger hinterließ taube Stellen unter dem Stoff. Unwillkürlich zuckte sie zurück. „Herr Wolff …“ Sie verstummte, als sie sich ihm zuwandte und sein ernstes, verschlossenes Gesicht bemerkte. Wolffs Blick glitt an ihr vorbei zu Lotti. „Fräulein Runge?“, sagte er steif. Es klang nicht wie ein Gruß. Lotti griff nach ihrem Rock und zupfte an dem Stoff. Ihm gegenüber verhielt sie sich scheu. Ungeduldig drehte Wolff sich um: „Kommen Sie, Fräulein Beckmann? Ihre Familie wartet.“

Anni zögerte. Ihr Blick fand keinen Fokus. Vorsichtig zählte sie die Untermieter durch, die seit Kriegsbeginn mit ihr und ihren Eltern zusammenlebten: Frau Engel, Frau Janzig, Frau Gabriel und ihre Tochter Marie. Wohin wollten Mutter und Vater Wolff und seinen Freund Löb einquartieren? Vielleicht untervermietete Lotti einzelne Räume, denn in der Beckmann-Wohnung gab es kaum noch Platz – außerdem war Wolff unheimlich! Aber Vater ließ sich sicher überzeugen. Sie brauchten das Geld. Anni presste die Lippen aufeinander. Gästezimmer, Ankleideraum und Büro waren bereits vergeben. Anni fielen nur die Stube und ihr kleines Reich ein. Über ihr knarrten Stufen. Erschrocken hob sie den Blick. Wolff war bereits vorgegangen. Rasch sah sie zu Lotti und lächelte knapp. „Verzeihung und willkommen“, rief sie und eilte sich, so schnell sie konnte und ohne zu rennen, ihn einzuholen.
 

Das Beklemmungsgefühl, das Heinrich Wolff in ihr ausgelöst hatte, ließ nicht nach, sondern wurde zu einem erstickenden Knoten in ihrem Hals. Als Anni die Wohnungstür aufschloss, wurde der Wunsch, ihn gar nicht eintreten zu lassen, übermächtig. Aber sie konnte solch eine Entscheidung kaum treffen, schließlich gab sie Vater nur einen Teil der Miete hinzu. Nervös sah Anni über die Schulter zu Wolff. Sein Gesicht lag im Schatten, worum sie dankbar war. Er machte ihr Angst – ganz reale, greifbare Angst wie die vor einem unberechenbaren Tier. Ihr Magen zog sich zu einem Steinklumpen zusammen, als sie sich abwandte und in den warmen Flur trat. Aus der offenen Küchentür flutete Sonnenlicht herein, sodass sie die Lider zukniff. Mit der Hand überschattete sie ihre Augen. In der trockenen Luft tanzte Staub. Hinter ihr schloss Wolff die Tür. Anni hörte, wie er sich seiner Waffe und des Tornisters entledigte. Das satte, schwere Geräusch des Gewehres, das an der Wand entlangrutschte, um mit dem aufgepflanzten Bajonett irgendwo hängen zu bleiben, jagten ihr einen Schauder über den Rücken.

„Können Sie sich bitte die Stiefel ausziehen?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

Er antwortete nicht, gehorchte aber sofort. Anni legte den leinenen Sommermantel ab und hängte ihn auf, bevor sie ihre Schuhe auszog. Mit einer Hand wies sie zur Küche. Er trat an ihr vorbei. Aus dem Augenwinkel fiel ihr auf, dass er dreckige und löchrige Socken trug. Aber Soldaten waren nicht weniger arm dran als sie alle.

Barfuß folgte sie ihm. Es war angenehm über die sommerwarmen, polierten Dielen zu laufen. Der Boden atmete das Aroma des Bohnerwachses aus und mischte sich mit Wolffs Schweiß, seiner muffigen Uniform und dem Waffenfett. In der Luft hingen unterschiedliche Stimmen, das Geräusch von Mutters Nähmaschine, die Schritte Lottis, die den alten Tranitz offenbar auf den Stufen geschont hatte, das Klopfen seines Stockes und das Knarren der alten Dielen. Als Anni hinter Wolff in die Wohnküche trat, lehnten ein weiteres Gewehr und der staubige Tornister eines Soldaten an den Rohren neben der Spüle. Aber bis auf Mutter war niemand im Raum. Neben ihr stand ein mit Wäsche überquellender Korb, wovon das wenigste aus ihrem Haushalt stammte. Neben ihr lagen Stofflappen.

„Guten Abend, Frau Beckmann“, sagte Wolff mit belegter Stimme. Sie hob den Blick von ihren Näharbeiten. In ihren Augen leuchtete plötzlich ein Funke auf, der alle Last von ihr abgleiten ließ. Irritiert trat Anni näher. Das Lächeln ihrer Mutter sprengte die spröde Maske, hinter der sie sich verbarg.

„Heinrich“, rief sie. Tränen traten in ihre Augen. „Konrad sagte schon, dass Sie beide gesund zurückgekehrt sind. Mein Gott!“ Sie presste ihre Näharbeiten gegen die Brust, ließ dann aber die Hände sinken und erhob sich. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, mein Junge!“

Was ging hier vor sich? Anni erkannte ihre Mutter nicht wieder. War das noch dieselbe Frau? Warum freute sie sich dieses Monster zu sehen? Anni ballte die Fäuste und presste die Lippen aufeinander. Fehlte nur noch, dass Mutter sich voller Freude Wolff an den Hals warf.

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Anni sie. Die Erleichterung in der Mimik, die wahrhaftige Freude, die Hoffnung … Aber Wolff war doch kaum mehr menschlich? Was sah sie in ihm?

Vor dem Krieg, wie auch kurz vor seinem angeblichen Ableben, hatten Mutter und Vater viel mit ihm zu tun gehabt. Anni kannte ihn kaum. Vielleicht war er gar nicht so schlecht. Nachdenklich senkte Anni den Kopf.

Die Wohnzimmertür wurde geöffnet.

„… dann können Sie beide diesen Raum bewohnen, Konrad.“

Anni schrak zusammen und fuhr herum. Was sagte Vater da? Welchen Raum meinte er, doch nicht etwa ihr Zimmer?! Kochende Wut brannte in Annis Magen. Warum vergötterten ihre Eltern diese Männer so? Sie waren Soldaten, all das, was Vater hasste!

Schritte schwerer Stiefel kamen über den Teppich zur Küche. Sie zog die Brauen zusammen. Unter der Küchentür erschien Vater mit Konrad Löb an der Seite. Vertraut lag seine Hand auf der Schulter des Soldaten. Anni stockte der Atem. Sie hatte Löb vage als gutaussehenden jungen Mann in Erinnerung: vor allem sein dichtes, dunkles Haar und die fast schwarzen Augen. Er hatte sich verändert. Sein Gesicht hatte alles Jungenhafte verloren. Er wirkte markant, maskulin und stark. Im Gegensatz zu Wolffs entstelltem Gesicht,hätten ein paar Narnben seiner ebenmäßigen Schönheit keinen Abbruch getan.

„Guten Abend, Fräulein Anni.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Sein Griff war fest und warm. „Wir haben uns seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen.“ Als er lächelte, strahlten seine Augen. „Sie sind eine junge Dame geworden.“ Anni spürte, wie ihre Knie weich wurden und im gleichen Maß jedes Gefühl von Unverständnis, Wut und Angst in ihr dunkles Versteck verschwanden.

Junge Dame … Anni rang nach Atem. Sie wollte sich Luft zufächeln, unterließ es aber. Etwas änderte sich in der Atmosphäre der Wohnung. Sein Blick, dieses schöne Gesicht … In sich fühlte sie eine Erschütterung. Etwas brach auf und flutete ihren Körper mit prickelnder Wärme, die sich in Brust und Magen sammelte. Anni konnte diese Empfindung kaum in Worte fassen. Sie wusste nur, dass es gut und richtig war, wenn dieser Mann hierblieb.



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