2nd Season: Russian Diaries von Flokati ================================================================================ Kapitel 6: Eiskönig oder Eiskönigin? – Yuuris Chihoko? Michal Chateau! ---------------------------------------------------------------------- Es ist etwas komisch, alleine zu Frau Praslova zu gehen. Auch wenn es nur um die letzte Anprobe geht, war ich noch nie ohne Viktor oder Makkachin hier. Als ich den Laden betrete, muss ich jedoch augenblicklich lachen. Yurio und Yakov (der mir im Sommer völlig überraschend das „Du“ angeboten hat) sind ebenfalls hier und Yurio sieht ein bisschen aus, als würde man ihn zum Wäscheständer abrichten wollen. Sein Outfit ist noch weit von seiner Fertigstellung entfernt und wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deute, dann müssen ihn die Nadeln schon ordentlich gepikst haben. Ich erkenne sofort, dass der Berg an Stoffen zu dem von Viktor erstellten Kurzprogramm Arabesque gehört. Viktor hatte nicht geplant, auch Yurio ein Programm zu schreiben, aber es hatte sich dann ,so ergeben‘ und Yurio hat sofort zugeschlagen. Er wird ein Outfit im orientalischen Stil bekommen, mit Tüchern und Drapierungen in knalligen, kräftigen Farben wie Gelb, Orange und Azurblau und wie ich sehe auch eine Weste mit vielen, goldenen Applikationen. „Yuuri, Willkommen!“, begrüßt mich Frau Praslova. Den Schock über Viktors Themenauswahl hatte sie doch recht schnell überwunden, nachdem Viktor noch einmal unter vier Augen mit ihr gesprochen hatte und mittlerweile steht sie uneingeschränkt hinter seiner Idee. „Einen Moment, der junge Mann braucht noch zwei Stecknadeln, dann bin ich bei dir.“ „Oi, Katsudon.“ „Dobre“, brummt Yakov. „So, das hätten wir“, zwitschert Frau Praslova in bester Laune. „Spiegel ist da vorne, ich bin dann eben hinten, die Kostüme von Yuuri holen.“ Sie verschwindet in Richtung der Lagerräume. Yurio steigt vorsichtig von dem Podest und schlurft zum Spiegel. „Die Farben stehen dir, sieht gut aus“, bemerke ich ehrlich. „Ich seh aus wie ein Haufen Stoffreste. Ich kann mir das so unfertig nicht vorstellen“, motzt Yurio, als er sich kritisch betrachtet und dreht. „Warum muss ich diese komischen Fetzen an den Armen haben? Die braucht kein Mensch und nerven bloß.“ „Die Fetzen, wie du sie nennst, gehören zu deiner Performance“, geht Yakov dazwischen. „Vitya hat sich alles sehr gut überlegt. Der Stoff wird gerollt und du bekommst Schnürungen, die du selbst lösen kannst.“ „Yuuri!“, Frau Praslova ist zurück. Sie trägt meine fertigen Outfits in einem blickdichten Kleidersack herein. „Hier, mein Lieber, zieh‘ beide bitte einmal drüber und dann schauen wir, ob es so bleiben kann. Wenn es irgendwo zwickt, sagst du Bescheid.“ „Sind die von Viktor auch schon fertig?“, frage ich, als ich den Kleiderbügel entgegen nehme. Bisher hat Viktor nur Yakov, Frau Praslova und mir sein Thema für diese Saison verraten. Der Programminhalt ist sogar noch geheimer, über den Viktor mit niemandem außer Yakov und Frau Praslova gesprochen hat. Also auch nicht mit mir und auch wenn er ständig wiederholt, dass ich ihn nicht anschauen soll als läge er auf dem Sterbebett, kann ich nicht umhin etwas Unwohlsein zu empfinden, dass er nichts darüber sagt. Auch wenn es wohl im Endeffekt nur um den Überraschungsmoment der Performance geht, den er mir vor dem eigentlichen Debüt nicht nehmen will. Viktor und Yakov trainieren deswegen schon seit Wochen auf einer anderen Eisbahn innerhalb der Halle um generell neugierige Blicke abzuschirmen und dem Erwartungsdruck auf Viktor vorzubeugen, der in den Medien jetzt kurz vor Saisonbeginn exponentiell angestiegen ist. „Ja, die hängen hinten. Willst du sie sehen? Aber Viktor hat mir verboten, sie jemandem zu zeigen. Selbst Herr Feltsman hat sie noch nicht gesehen, oder?“ „Er hat sie beschrieben“, brummt Yakov wieder. „Das eine ist ganz weiß. Kein Blingbling, keine Applikationen, kein gar nix. Einfach nur weiß.“ Ok... Ja, das scheint mir adäquat für den Tod zu sein und es fröstelt mich. Mit den hellen Haaren und den leuchtend blauen Augen hat die Vorstellung allein bereits etwas sehr Makaberes und Gruseliges an sich. „Bescheuert. Da kann er sein Comeback auch gleich in einem Bettlaken geben“, lästert Yurio, der auf den Hocker zurück geschlappt ist. „Ehrlich mal. Weiß. Mit seinen grauen Haaren sieht er doch tot aus, wenn alles nur weiß ist. Ich kotz' gleich 'nen Regenbogen, dass er Farbe kriegt.“ Frau Praslova, Yakov und ich tauschen einige Blicke aus, aber keiner sagt etwas. Wir scheinen uns einig, dass das unkommentiert so stehen gelassen werden sollte. Dann wendet sich Frau Praslova wieder mit einem strahlenden Gesichtsausdruck an mich: „Viktor sieht fantastisch in dem weißen Outfit aus. Ich hab fast geweint, als er es vor ein paar Tagen angezogen hat. Yuuri, du kannst dich wirklich drauf freuen. Dein Mann wird umwerfend aussehen.“ Mein Mann. Ich fürchte, ich werde gerade über die Maßen rot im Gesicht. Gerade jetzt, wo das öffentliche Interesse an Viktor so zugenommen hat, klingt es noch viel unglaublicher, wenn ich vor anderen höre, dass sie Viktor als „meinen Mann“ bezeichnen. „Ich kotz' gleich wirklich“, mault Yurio. „Ich bin so froh, wenn irgendwann diese elende Hochzeit durch ist, dann hat sich das hoffentlich...“ „Ach, hör' auf zu mosern, junger Mann“, schnappt Frau Praslova. „Passt dir alles soweit oder ist es irgendwo zu eng oder zu weit?“ „Passt. Los, befrei' mich aus dem Ding.“ „Gut. Yuuri, wärst du so lieb, deine anzuprobieren?“ „Ja“, sage ich und begebe mich schnellen Schrittes mit den Kostümen in den Händen nach hinten zu den Umkleiden, denn Yakov sieht aus, als wolle er mir gleich ins Gesicht springen, weil gerade einige dieser bösen Worte wie ,Hochzeit‘ oder ,mein Mann‘ gefallen sind. Schon seit Beginn diesen Monats herrscht uns der russische Trainer jeden Tag an, der Presse so wenig Anlass wie möglich zu geben, irgendwelche wilden Geschichten vor den Nationals zu erfinden. Denn dass ich hier bin, lässt sich nicht leugnen und natürlich ist sind die Fans überaus neugierig zu erfahren, welchen Stand das Verhältnis von Viktor und mir wirklich hat. In der Umkleide angekommen, hole ich erst einmal tief Luft und hänge den Kleiderbügel an den Haken. Die Outfits zu meinem Kurzprogramm und zu meiner Kür. Behutsam nehme ich das Erste aus der Hülle und bekomme augenblicklich Gänsehaut. Es ist das zu meinem Kurzprogramm. Der Grundton ist mattes Schwarz, aber ich sehe, dass in den Stoff Silberfäden eingewebt sind, so dass es einen ganz eigenen, faszinierenden Schimmer auf sich liegen hat. Zu meinen Füßen hin verläuft die schwarze Farbe allmählich in helles Silber bis hin zu strahlendem Weiß an den Säumen, das funkelt wie frisch gefallener Schnee. Farbliche Highlights bilden die symmetrisch aufgenähten Applikationen in Türkis und Weiß, die an Schleierwolken am Nachthimmel erinnern und die sich über meine Schultern und Arme bis zu meinen Händen fortsetzen. Der Rücken ist bis auf einige dieser Wolkenapplikationen ausschließlich aus Netzstoff und sehr tief geschnitten, was zur blickdichten Vorderseite einen aufreizenden Kontrast bildet. Es sieht schon sehr verführerisch aus; als könnte ich jeden damit in eine Welt aus kühnen Träumen und wilden Fantasien entführen. Innerhalb kürzester Zeit steht mir die Schamröte ein zweites Mal ins Gesicht geschrieben. Was hat Viktor sich nur dabei gedacht? Auch wenn es mehr Stoff hat wie das Eros-Kostüm, ist es irgendwie viel anzüglicher. Und damit soll ich auftreten? Das ist gerade noch schlimmer, als Frau Praslova „deinen Mann“ sagen zu hören. Die Vorstellung, dass trotz der ganzen Geheimniskrämerei einigen wenigen deutlich bewusst ist, dass Viktor und ich intim miteinander sind, bringt mich je nach Situation immer noch in Verlegenheit. Am Schlimmsten ist es, wenn Yurio darüber redet und das nicht nur, weil er der Jüngste ist. Yurio ist mittlerweile sehr oft bei uns über Nacht gewesen und ich will mir gar nicht vorstellen, was er alles gehört hat. Denn dass er was gehört hat, musste ich mit Schrecken feststellen, als er sich bei Mila über Makkachin beschwerte, als dieser eine Nacht lang ständig Lärm gemacht hat, weil wir ihn nicht mit ins Schlafzimmer genommen hatten. Er fügte dann noch an, dass er sich nach einer Weile nicht mehr sicher war, was er abstoßender fand: Das Heulen des Hundes oder das von uns. Als ich aus der Umkleide trete, haben Yurio und Yakov das Geschäft bereits verlassen. Frau Praslova ist von meinem Aussehen scheinbar nicht minder begeistert wie von Viktors, denn ihre braunen Augen werden wieder feucht und sie beglückwünscht mich zu einem inspirierenden Outfit, das meinem Thema nur gerecht werden würde. Nachdem sie die letzten Maße genommen und die Änderungen an beiden Kostümen notiert hat, gehe ich mich wieder umziehen und sie schließt den Laden ab. Ich werde den heutigen Abend bei ihr verbringen, denn Viktor ist mit Makkachin in Moskau um dort für Celebrities on Ice for Kids zu performen, das immer jährlich zu Beginn der neuen Saison stattfindet und dessen Aufzeichnung in zwei Wochen direkt nach den Nationals im Fernsehen ausgestrahlt wird. Russlands Berühmtheiten werden von teilnehmenden Schulen und Kindergärten in Rollen gewählt und müssen dazu eislaufen oder es zumindest versuchen. Viktor tritt dabei nicht im allgemeinen Pulk, sondern als Showact auf und da der Hype immer noch ungebrochen ist, haben sich Russlands Kinder gewünscht, dass der Eiskönig in diesem Jahr eine Eiskönigin wird. Ein Kamerateam ist deswegen schon in der Eishalle gewesen, um Viktor seine Aufgabe zu überbringen und der Einzige, der es nicht mitbekommen hat, war ich, weil genau an diesem Tag die Zeugnisübergabe meines Sprachkurses stattgefunden hat. Besonders Yurio muss seinen Spaß gehabt haben, denn nach der Ankündigung hat er für mehrere Tage lang zu jeder erdenklichen Gelegenheit Viktor ein „Man trainiert niemanden, den man kaum kennt“ unter die Nase gerieben oder mit Georgi zusammen sehr theatralisch „Let it go“ gesungen. Auch der Fantasie der Kinder war kein Einhalt geboten, denn kaum hatte der ausstrahlende Sender bekanntgegeben, welchem Prominenten welche Rolle zuteil werden würde, trudelten unzählige Briefe und Fanpost in der Halle ein; viele mit gemalten Bildern von Viktor als Eiskönigin und Makkachin hat nicht selten ein Rentiergeweih oder eine Karottennase verpasst bekommen. Aus diesem Grund hat Viktor auch beschlossen, seinen Pudel mit nach Moskau zu nehmen, damit die Kinder im Studio und der Halle ein bisschen mit ihm schmusen können. Und so stehen Frau Praslova und ich ohne die Beiden in ihrer Küche und kochen zusammen Boeuf Stroganoff, während wir uns über die Sendung unterhalten und uns fragen, ob Viktor mit seiner Performance schon durch ist. Ich erfahre von ihr, dass Viktor bereits zum sechsten Mal an dieser Sendung teilnimmt und schon in den Jahren zuvor immer das Highlight für die Kinder war, gerade weil er immer ihren Wünschen gefolgt ist. Ich vermute mal, nach dem Essen würde ich Fotos von den vorherigen Auftritten zu sehen bekommen und finde, dass es schlechtere Möglichkeiten gibt, den Abend zu verbringen. Vorher wird Frau Praslova mir noch netterweise helfen, die Fehler in meiner Abschlussprüfung durchzugehen und ich stelle später fest, dass sie bei den Korrekturen nicht minder geduldig ist wie Viktor. Sie lobt meine Schrift und die wenigen orthografischen Fehler, die ich gemacht habe, aber das ist auch das Einzige, was ich bisher gut kann. Trotzdem, so sagt sie, sei Viktor sicher sehr glücklich darüber, dass ich mir die Zeit nehme, seine Sprache zu lernen, auch wenn es mir Schwierigkeiten bereitet. Es dauert auch nicht lange nachdem wir den Tisch von meinen Büchern und Heften frei geräumt haben, dass Frau Praslova eine Fotobox zu mir bringt, in der sie Ausschnitte aus Zeitschriften und Magazinen gesammelt hat, unter anderem jene von den vorherigen Kids-Performances. Sie erinnert mich damit peinlich genau an meine eigene Mutter, die der selben Angewohnheit gefolgt ist, als ich noch in Japan Eiskunstlauf trainiert habe. Sie hat jeden Schnipsel von mir aufgehoben und der Zeitungsartikel mit der Übergabe der Klassifizierung des JSF steht heute noch gerahmt bei ihr auf dem Nachttisch. Dieser Höhepunkt meiner sportlichen Karriere stand dort sehr lange alleine, bis seit letztem Dezember ein weiterer Zeitungsartikel mit einem Bild von Viktor und mir aus Barcelona und kurz darauf das Foto vom Abend unserer Verlobung dazugekommen sind. Bald habe ich den Inhalt der ganzen Box vor mir ausgebreitet liegen und darf nach Herzenslust darin stöbern. Sobald mich aber etwas interessiert, muss ich erst selbst versuchen, zu lesen und zu verstehen, bevor Frau Praslova mir die Inhalte der fraglichen Artikel übersetzt. Sie ist gerade dabei, etwas zu trinken aus der Küche holen, als ich einen Artikel über Viktors ersten Senior-Weltmeistertitel aus dem Stapel ziehe und ein zerrissenes Foto heraus flattert. Ich stutze etwas. Das Foto ist eindeutig älter als der erste Weltmeistertitel bei den Seniors. Ich sehe Viktor mit seinen langen Haaren und leuchtenden Augen, aber die Person, die den Arm auf seiner Schulter hat, ist nicht mehr zu erkennen, denn diese Hälfte des Fotos fehlt. Der Hand nach zu urteilen ein Mann, etwa Viktors Größe, gebräunte Haut, aber mehr kann ich nicht über ihn sagen. „Wer fehlt auf diesem Bild?“, frage ich Frau Praslova, als sie mit einer Flasche Vodka zurückkommt. Ich halte das Bild hoch und sehe, wie ihre Gesichtszüge entgleisen. Offenbar war das eine Frage, die ich nicht hätte stellen sollen zu einem Foto, das ich nicht hätte finden sollen. „Oh.“ Das ist ihr einziger Kommentar. Sie kommt an den Tisch und öffnet sogleich den Vodka und schenkt mir ein. Dann sagt sie: „Wenn du die Antwort wirklich wissen willst, dann könntest du den vielleicht gebrauchen.“ „Wenn ich den gebrauchen kann, dann weiß ich die Antwort schon“, entgegne ich und mein Magen zieht sich zusammen. „Wahrscheinlich ein Ex-Freund, oder?“ „Sein Erster“, ergänzt Frau Praslova und lässt sich auf den Stuhl sinken. „Hat Viktor ihn mal erwähnt?“ Ich schüttele den Kopf und sie seufzt schwer. „Keine schöne Geschichte. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen soll. Viktor sollte dir das erzählen.“ „Viktor hat gesagt, Sie könnten mir alles erzählen“, entgegne ich schneller als ich mich abhalten kann und möchte mir sogleich auf die Zunge beißen, denn ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich diese Geschichte hören will. Ich weiß zwar, dass Viktor im Gegensatz zu mir schon Beziehungen gehabt hat, bevor wir zusammen gekommen sind, aber irgendwie war in meiner Vorstellung nie präsent, dass Viktor diesen anderen Partner auch geliebt hat. Aber wenn ich ihn mir auf diesem halben Foto betrachte, dann besteht absolut kein Zweifel daran, dass dieser junge Viktor verliebt war. Ich kann es in seinen Augen sehen. „Sein Name war Michal“, beginnt Frau Praslova. „Ich weiß eigentlich gar nicht so viel über ihn. Als ich erfuhr, dass mit Viktor was am Laufen ist, war es eigentlich schon wieder vorbei. Herr Feltsman war damals überraschend zu mir gekommen und hatte sich nach Viktor erkundigt. Er meinte Viktor sei ‚völlig neben der Spur‘. Unkonzentriert, ungeduldig, unsauberes Training und mit den Gedanken überall, nur nicht auf dem Eis. Das war sehr ungewöhnlich und auch, dass Herr Feltsman direkt zu mir gekommen war, denn eigentlich hatte auch er immer einen guten Draht zu Viktor. Außerdem überraschte es mich, weil ich in der fraglichen Zeit einen ganz anderen Viktor erlebt hatte. Er hatte gute Laune, hat gestrahlt und viel gelacht. Also beschloss ich Viktor noch am gleichen Abend darauf anzusprechen.“ Sie macht eine Pause und seufzt abermals. „Viktor kam an diesem Abend eine ganze Stunde später wie verabredet und mit verheulten Augen zu mir nach Hause. Ich kann dir sagen, mir ist fast das Herz stehen geblieben. Ich dachte zuerst, der Hund sei tot. Natürlich hab ich ihn sofort gefragt, aber er hat nichts geantwortet und zum ersten Mal sah ich, dass er zornig war. Nicht sauer, sondern richtig zornig. Noch bevor ich einen Ton aus ihm herausbekommen konnte, warum er so zornig war, wollte er, dass ich ihm die Haare abschneide.“ Dass ich den Vodka gebrauchen könnte, war vielleicht doch nicht übertrieben. Ich weiß gar nicht, was ich darauf sagen soll. Frau Praslova fährt fort: „Ich habe natürlich erst versucht, es ihm auszureden. Ich wusste ja auch gar nicht, was los war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilflos ich mich gefühlt habe, dass er nicht gesagt hat, wie er zu diesem radikalen Entschluss kommt. Erst nach einer halben Ewigkeit und dem Versprechen, dass er mir danach alles beichten würde, habe ich eingewilligt und wir sind nach unten in den Salon. Gott, das war mein schlimmster Abend überhaupt. Ich hab es kaum geschafft, die Schere festzuhalten. Viktor in Tränen auf dem Stuhl vor mir und die langen Haare in meiner Hand. Er hat nur noch gesagt, dass ich sie wegtun soll, er könne sie nicht mehr sehen.“ Jetzt nehme ich tatsächlich einen Schluck des klaren Getreideschnaps. Ich erinnere mich noch, als im Januar 2007 das erste Bild von dem damals 18-jährigen Viktor mit Kurzhaarschnitt publik wurde. Yuko war hin und weg von Viktors neuer Erscheinung und hat vor lauter Verzückung mit der Zeitschrift in den Armen getanzt. Mir dagegen war so, als hätte man mir auf merkwürdige Art und Weise in den Magen geboxt, weil die Haare ab waren. Im ersten Moment war mir das etwas Überraschung zu viel gewesen. Jetzt zu erfahren, dass das Ende einer Liebesbeziehung hinter dem krassen Imagewechsel steht, ruft genau dieses Gefühl wieder hervor, aber es ist mehr als Schlag in die Magengegend, den ich empfinde. Da ist auch sehr viel Eifersucht. Ich nehme noch einen zweiten Schluck Vodka. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, die Haare wegzuwerfen“, gesteht mir Frau Praslova und schaut mich etwas schuldbewusst an. „Viktor weiß es nicht, aber ich habe sie immer noch. Als Zopf geflochten liegen sie in einer Schublade in meinem Schlafzimmer.“ „Warum?“, frage ich. Frau Praslova lächelt verhalten und streicht mir über die Arm. „Wenn ich dir das gesagt habe, bin ich Jelena, ok?“, sagt sie liebevoll, aber auch etwas fordernd. „Wenn wir über so vertrauenswürdige Dinge reden, dann sollten wir einander auch vertrauen, Yuuri. Ich würde es dir nicht erzählen, wenn ich nicht wüsste, dass Viktor dir vertraut.“ Mein Magen zieht sich weiter zusammen, aber ich nicke. Ab sofort dann Jelena... „Viktor hat, nachdem ich ihm seinen Wunsch erfüllt hatte, Wort gehalten und mit mir ein absolut ehrliches Gespräch geführt. An diesem Abend wurde mir klar, wie sehr dieser Junge jemanden braucht, der ihn versteht und bei dem er sich sicher fühlen kann. Ich habe selbst keine Kinder, aber Viktor bedeutet mir so viel wie ein eigener Sohn. Seine Haare erinnern mich an dieses stille Versprechen.“ Ich kann sie nur mit großen Augen bewundernd anschauen. „Denk nicht zu viel darüber nach, ja?“, sagt Jelena und ihre Hand tätschelt tröstlich meinen Arm. „Das gehört zum Leben dazu. Viktor hat an dem Abend eine Erfahrung gemacht, die viele in diesem Alter machen oder schon gemacht haben. Das Leben geht weiter. Ich kann dir leider nicht sagen, wie dieser Michal wirklich war. Nur so viel, dass er Viktors Tanzlehrer war. Ich hatte ja erwähnt, dass Viktor mit Ballett im Laufe seiner Jugend wegen der Hexe Schwierigkeiten hatte, aber um seinen künstlerischen Ausdruck zu trainieren, hat er Tanzunterricht bei professionellen Latein- und Standardtänzern bekommen. Dabei hat er Michal kennengelernt.“ „Ah“, sage ich einfach und blicke wieder mit Unbehagen auf das zerrissene Foto, während die Eifersucht weiter in mir brodelt. „Warum hat er sich von Viktor getrennt?“, fragte ich in verärgertem Ton. „Getrennt? Es gab nichts, was getrennt werden konnte, zumindest nicht für diesen Michal“, erklärt sich Jelena sarkastischem Ton und nimmt ihrerseits auch einen kräftigen Schluck Vodka. „Er hat sich an Viktor herangemacht, weil Viktor interessant war. Eine kleine Berühmtheit. Es musste ihm klar gewesen sein, dass Viktor sich verliebt hatte. So ganz hab ich das nicht verstanden, aber Viktor hat ihn wohl mit einer Frau streiten gehört, die auch bei ihm Unterricht nahm oder so. In diesem Streit erklärte Michal, dass Viktor sich Dinge eingebildet habe, die nie da gewesen seien. Als ich ihn später in den Armen hielt und ihn fragte, warum er mich gebeten hat, ihm die Haare abzuschneiden, meinte er, dass er keine Illusion mehr sein will. Er wollte als der junge Mann gesehen werden, der er war. Er wollte sicherstellen, dass er nicht nochmal auf die gleiche Art enttäuscht werden kann, wenn er sich wieder verliebt.“ „Und hat er damit bessere Erfahrung gemacht?“, sprudelt es aus mir heraus, obwohl mir zum Heulen zumute ist vor Eifersucht und Zorn auf diesen Michal. „Das weiß ich nicht, wie siehst du ihn denn?“ „...Eh? Was, wie sehe ich ihn...?“ Beim Anblick meines perplexen Gesichts muss Jelena lachen. „Yuuri, es gibt niemanden mehr zwischen dir und Michal. Um deine Frage zu beantworten, musst du mir sagen, ob du ihn so lieben kannst, wie er ist. Als Mann. Aber ich denke schon?“ Ich muss erst einmal kräftig schlucken und meine Eifersucht verpufft im Nichts. Ich kann nur vor mich hin stammeln: „Also, ich... dass er ein Mann ist, ist mir durchaus bewusst...“ „Aber?“ „Aber... ich meine... nur ab und zu! Also... manchmal, da...Ist er schon etwas...“ Oh Gott, was brabbele ich da zusammen?! Aber Jelena lacht bei meinem Gestotter nur noch mehr: „Ich weiß, was du sagen willst. Er ist schon ab und zu eine Prinzessin, nicht? Zwar eine äußerst ungewöhnliche mit ganz schön viel Mumm in den Knochen, aber eine Prinzessin.“ Ich starre sie verwundert an. Wie hat diese Frau schon wieder meine Gedanken gelesen? „Ich meine, wie sonst hätte ihn dieser mysteriöse Playboy in Sochi so einfach um den Finger wickeln können?“ Jelena stupst mich neckisch an und grinst. „Wieso hat er dich und den jungen Plisetsky um seinetwillen in Japan gegeneinander antreten lassen? Wieso hat er lieber auf einen richtigen Antrag von dir gewartet, statt selbst einen zu machen? Nun, weil er gar nicht genug Aufmerksamkeit von seinem geliebten Prinzen bekommen kann.“ Damit hat sie so ziemlich ins Schwarze getroffen. Voll schuldbewusst grinse ich leicht dämlich zurück und höre Yurio und Georgi in meinem Kopf „Let it go“ singen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)