Das sechste Jahr von CruelLamia (Wie weit würdest du gehen, um deine Liebe zu beschützen?) ================================================================================ Kapitel 32: Ziel, Wille, Bedacht -------------------------------- Die nächsten Tage waren nervenzerreißend. Harry war sich Dracos Gegenwart mehr bewusst, als er es die ganze Zeit zuvor gewesen war. Nicht nur war sein Geist sofort auf ihn gerichtet, wenn er die Präsenz von Slytherins ungekrönten Eisprinzen spüren konnte, sobald sie im gleichen Raum waren, konnte er den Sog körperlich spüren. Alles in ihm schrie, ihm wieder nahe zu sein, Dracos Körper wieder gegen seinen zu spüren. Aber er gab nicht nach.   Hin und wieder – immer dann, wenn er sich absolut sicher war, dass niemand anderes es bemerken würde – konnte er Dracos sehnsüchtige Blicke auf sich spüren. Und dessen wachsende Frustration. Harry wusste, dass es nicht fair gegenüber Draco war, aber er versuchte, zu retten, was zu retten war. Er würde Dracos Leben nicht für seine egoistischen Wünsche riskieren. Sein Ziel war klar. Dass er jetzt wusste, dass Draco seine Gefühle erwiderte, machte es nicht leichter für Harry.   Er zog sich immer mehr und mehr zurück. Seine sogenannten Freunde nahmen aber kaum Notiz davon. Alle waren aufgeregt, weil die Apparierprüfung bald stattfinden würde. Harry hatte es vollkommen vergessen.   Nachdem der zwölfwöchige Kurs vorbeigewesen war und er noch nicht alt genug war, um an der Prüfung teilzunehmen und damit auch nicht an die zusätzlichen Übungsstunden in Hogsmeade teilnehmen durfte, hatte er das einfach völlig ausgeblendet. Weasley war vor anderthalb Monaten volljährig geworden und durfte deswegen jetzt im April an der Prüfung teilnehmen, genauso wie Granger, die schon zu Beginn des Schuljahres 17 geworden war. Harry musste bis August warten. Draco ebenfalls.   Im Gegensatz zu Granger war Weasley aber eine absolute Niete. Granger war bereits während der normalen Übungsstunden zweimal erfolgreich appariert. Weasley gar nicht. Selbst Harry hatte es bereits einmal geschafft. Allerdings war das gewesen, nachdem er diese wertvollen Tipps von Lucius Malfoy bekommen hatte. Sein Wille zu apparieren, hatte sich extrem gesteigert, nachdem er sich keine Sorgen mehr machen musste, dass es ihm hinterher so schlecht gehen würde. Es hatte gleich beim ersten Mal funktioniert.   Er fragte sich, warum das nicht genereller Bestand des Kurses war, den Schülern solche Techniken zu zeigen. Vielleicht ging man ja davon aus, dass die Eltern ihren Kindern solche Dinge beibrachten? Für das Seit-an-Seit-Apparieren konnte man es auch gut gebrauchen. Obwohl… Wenn Harry sich richtig erinnerte, war Weasley auch noch nie seit-an-seit-appariert. Und Granger war ein Schlammblut. Vielleicht hatte Harry einfach nur Pech und gehörte zu einer winzigen Gruppe von Zauberern, die Apparieren einfach nicht vertrugen.   Harry saß im Gemeinschaftsraum und las zur Abwechslung mal kein Schulbuch oder saß über Hausaufgaben. Seine Gedanken kreisten zu sehr und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. In dem Versuch sich dennoch abzulenken, hatte er sich ein anderes Buch aus der Bibliothek geholt.   „Was ließt du da?“ Granger hatte sich neben ihn auf das kleine Sofa gesetzt und schaute neugierig über seine Schulter.   Harry klappte das Buch zu und zeigte ihr den Titel. Er hatte gerade keine Lust zu reden, wohl wissend, dass Granger das nicht interessierte.   „Magie beim Backen?“, fragte sie verwundert.   Er zuckte nur mit den Schultern, schlug das Buch wieder auf und hoffte, dass sie den Wink verstehen würde. Natürlich tat sie es nicht.   „Harry! Du solltest dich wirklich mit sinnvolleren Dingen beschäftigen. Hast du überhaupt den Aufsatz für Zauberkunst schon fertig?“   Natürlich hatte er das. Schon vor zwei Tagen. Und sie wusste es. Sie war dabei gewesen und hatte sich beschwert, dass sie noch nicht dazu gekommen war, weil die zusätzlichen Apparierstunden – die sie nebenbei bemerkt nicht mal nötig hatte – so viel Zeit in Anspruch nehmen würden. Aber es würde nichts bringen, deswegen jetzt einen Streit anzufangen.   „Ja, ich habe ihn fertig. Und bevor du fragst, ja auch den für Zaubertränke. Den Aufsatz für Verteidigung gegen die Dunklen Künste muss ich noch mal überarbeiten, weil er zu lang geworden ist. Ich wollte nur eine kurze Pause machen.“ Er schaffte es, seine Stimme ruhig zu halten und sich seine Gereiztheit nicht anhören zu lassen.   „Und dafür liest du ein Kochbuch?“, fragte Granger ungläubig.   „Klar doch. Ich werde diesen Sommer 17 und werde bei den Dursleys ausziehen. Ich kann zwar kochen und backen, aber nur auf Muggelart. Schadet nicht zu wissen, wie ich mit Zauberei kochen kann. Erspart bestimmt viel Zeit.“   Granger sah einen kurzen Moment aus, als würde sie ihm recht geben wollen, schaute dann aber noch mal genauer auf die Seite, die Harry aufgeschlagen hatte. „Nun… Siruptorte erscheint mir nicht besonders nahrhaft.“   Harry verdrehte seine Augen, bemühte sich nicht mal, es zu unterdrücken. „Wo ist eigentlich Ron?“, versuchte er schnell das Thema zu wechseln, bevor sie wirklich anfingen, wegen eines Kochbuchs zu streiten.   Sie seufzte schwer. „Er ist auf der Krankenstation. Er hat es heute wirklich geschafft, zu apparieren. Wenn auch nicht ganz so erfolgreich.“   „Wie meinst du das?“, fragte er in gespielter Neugierde.   „Er sollte eigentlich vor Madam Puddifoots Café apparieren, aber er ist viel weiter weg gelandet, in der Nähe von ‚Schreiberlings‘. Allerdings ist er dabei sehr merkwürdig zersplintert. Ein halber Fuß ist am Ausgangsort geblieben und sein linker Unterarm war beim Café. Ihm hat auch noch ein Ohr gefehlt. Wir mussten ein bisschen suchen, bis wir es auf dem Rückweg zum Schloss auf dem Weg gefunden haben. Mr. Twycross meinte, dass er so etwas noch nie erlebt hat. Er hat Ron zusammengeflickt, ihn aber noch in der Krankenstation abgeliefert, damit Madam Pomfrey ihn mit Diptam behandeln kann, damit keine Narben zurückbleiben.“ Sie klang nicht sehr besorgt, eher genervt.   Harry nickte nur. „Wie lief’s bei dir?“   „Ganz gut.“ Sie strahlte ihn an. „Mr. Twycross meinte, ich wäre sehr talentiert.“   ‚Sicher.‘, dachte er abfällig, lachte Granger aber freudig an. „Ich bin mir sicher, du warst wie immer perfekt.“   Sie wollte gerade etwas erwidern, als das Portrait hinter dem Loch zur Seite schwang und zwei Rotschöpfe in den Gemeinschaftsraum kletterten. Die beiden jüngsten Mitglieder der Weasley-Familie sahen beide müde und abgeschlagen aus.   Mini-Weasley schaute als erstes auf. Ihre Blicke trafen sich – aber nur kurz. Schnell schaute sie wieder weg. Harry konnte sehen, wie sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die in den letzten Tagen so oft hervorgebrochen waren.   Sie war noch wach gewesen, als Harry in der Nacht nach seinem… Aufeinandertreffen… mit Draco in den Gryffindor-Turm zurückgekommen war. Sie hatte geweint und war ihm um den Hals gefallen, hatte immer wieder gesagt, wie froh sie war, dass es ihm gut gehe und was für Angst sie um ihn gehabt hatte. Harry war noch zu durcheinander von den ganzen Geschehnissen gewesen und wusste erst gar nicht, wie er darauf reagieren sollte.   Es hatte sich so falsch angefühlt, als sie sich an ihn geklammert hatte, ihr kleiner, fragiler Körper an seinen gepresst. Sie hatte nach frisch umgegrabener Erde und Erdbeeren gerochen. Allein bei der Erinnerung drehte sich Harry der Magen um. Etwas Dunkles hatte sich in dem Moment in sein Bewusstsein geschlichen und er hatte das starke Bedürfnis gehabt, seine Arme um sie zu schlingen und zuzudrücken, bis sie keine Luft mehr bekommen hätte, bis ihre Arme sich von seinem Hals gelöst hätten und sie angefangen hätte, um sich zu schlagen und um ihr Leben zu kämpfen. Aber Harry hätte weiter zugedrückt, bis ihr der Sauerstoffmangel das Bewusstsein genommen hätte, bis ihre Knochen unter dem Druck nachgegeben und gebrochen wären, bis er gespürt hätte, dass das Leben aus ihrem Körper gewichen wäre.   Vielleicht hätte er Tom Riddles Erinnerung in seinem zweiten Schuljahr erlauben sollen, sie zu töten. ‚Nein!‘ Ganz sicher hätte er es zulassen müssen. Vieles wäre jetzt so viel einfacher.   Aber stattdessen hatte Harry Weasley vorsichtig von sich geschoben, ihre Tränen weggewischt und ihr gesagt, dass alles in Ordnung wäre. Er hatte sich bei ihr entschuldigt und gesagt, dass sie nicht wieder miteinander ausgehen würden. Sie hatte davon natürlich nichts hören wollen, hatte ihn angefleht, ihn beschimpft und schließlich versucht, ihn zu verführen. Harry war so angeekelt gewesen und es hatte nicht viel gefehlt und ein Unverzeihlicher Fluch wäre über seine Lippe geschlüpft. Glücklicherweise – oder zu seinem großen Bedauern – hatten sie die ganze Nacht hindurch diskutiert und Harry wurde von ein paar Frühaufstehern daran gehindert, etwas Unüberlegtes zu tun.   Natürlich war Granger unter ihnen. Sie hatte sich sofort auf die Seite der Schwester ihres Freundes gestellt und es dauerte eine Weile, bis Harry Gelegenheit hatte, ihr seine Gründe zu schildern. Er würde vorläufig niemanden mehr date. (Nicht, dass er noch einen Grund dazu hätte, aber dieses Detail behielt er für sich.) Jedes Mal passierte etwas Schlimmes und vielleicht… Vielleicht sollte es einfach nicht sein. Vielleicht war er einfach nicht dazu bestimmt, eine Freundin zu finden. Glücklich zu sein.   Harry musste sich nicht bemühen, niedergeschlagen und mitleiderregend auszusehen, denn genauso hatte er sich gefühlt. Weasley hatte nicht von ihm abgelassen. Sie hatte geweint, geschimpft und die Aufmerksamkeit aller Gryffindors im Gemeinschaftsraum auf sich gezogen, der sich für einen Sonntag auffällig schnell gefüllt hatte. Granger hatte sie mit Hilfe ein paar Mädchen aus Weasleys Jahrgang in die Schlafsäle hochgebracht und ihn dabei mit einer Mischung aus Bedauern und Verständnis angesehen.   Mini-Weasleys Bruder hatte das ganze Theater als einziger verschlafen. Er war zunächst wütend auf Harry gewesen, weil er seine kleine Schwester zum Weinen gebracht hatte, nachdem er ihm großzügigerweise erlaubt hatte, sie überhaupt zu daten. Granger hatte ihre Mühe gehabt, ihn zu beruhigen, während Harry einfach nur dagestanden hatte und die Schimpftirade hatte über sich ergehen lassen. Letztendlich hatte Weasley sich wieder beruhigt, war aber immer noch angefressen wegen seiner kleinen Schwester.   Das war ein weiterer Grund, warum sie nicht bemerkten, dass Harry sich noch weiter abgeschottet hatte, aber dafür müssten sie etwas mehr mit ihm zu tun haben. Weasley, wenn auch nicht mehr sauer auf Harry, hielt zu seiner Schwester und sie sprachen kaum noch miteinander. Nicht, dass es Harry wirklich gestört hätte, aber ein kurzer trauriger Blick in seiner Richtung, gepaart mit Mitgefühl über die Verletzung, die er sich beim Apparierversuch zugezogen, musste dennoch sein – um den Schein zu wahren – als Weasley kurz aufschaute, ihm kurz zunickte und sich dann von Mini-Weasley zu den Stühlen am Fenster ziehen ließ.   Granger stand sofort auf, schaute bedauernd zu Harry, bevor sich ihrem Freund anschloss.   Harry drehte sich ein Stückchen von ihnen weg und versuchte, die Tuschelei auszublenden, als er sich wieder in sein magisches Kochbuch vertiefte.   ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~   Draco war auf der Jagd nach ihm. Anders konnte Harry es nicht beschreiben. Scheinbar zufällig tauchte er immer wieder an Orten auf, an denen Harry sich zurückziehen wollte. Zugegeben, die Bibliothek als Versteck nutzen zu wollen, am Ende des Schuljahres, während alle Schüler begannen sich auf ihre Abschlussprüfungen vorzubereiten, war wahrscheinlich nicht die beste Idee gewesen. Aber auch den Raum der Wünsche konnte Harry keinen heimlichen Besuch abstatten, ebenfalls nicht dem Mädchenklo der Maulenden Myrte – den Eingang zur Kammer des Schreckens zu nutzen, stand nach wie vor außer Frage.   Der Slytherin musste ein paar Geheimgänge nutzen, die Harry nicht kannte. Wie sonst konnte er noch gemütlich am Tisch in der Großen Halle beim Essen sitzen und trotzdem vor Harry an jedem Klassenraum sein? Während es noch ein paar Tage zuvor noch Spaß gemacht hatte, Draco dabei zu beobachten, wie er Harry verfolgte, so war es jetzt nur noch Stress.   So kam es, dass Harry in seinen Bemühungen, Draco zu entkommen, im Nordturm gelandet war, genau unter der Falltür zu Trelawneys Klassenzimmer. Die silberne Leiter hing unbeachtet herunter.   „Ehk!“ Dem scheinbar überraschten Aufschrei folgte leises Gemurmel, als würde sich jemand leise unterhalten. Harry wusste, dass sich nur die Lehrerin für Wahrsagen in dem Raum über ihm befand. Sie verließ ihren nur Turm nur selten und außer zum Unterricht, kam hier sonst niemand her.   Harry wusste nicht, was ihn bewogen hatte, die Leiter heraufzuklettern, aber ehe er sich versah, stand er auch schon in seinem ehemaligen Klassenraum für Wahrsagen.   Trelawney saß an einem der runden Tische, vor sich eine Kristallkugel aufgestellt. Der Raum war genau, wie Harry ihn in Erinnerung hatte. Das Tageslicht wurde von schweren Vorhängen vor den Fenstern ausgesperrt, dafür waren viele Lampen an, die mit dunkelroten Seidentüchern abgedeckt waren und alles in ein beinahe bedrohliches Zwielicht tauchten. Es war warm und stickig, viele verschiedene schwere, süßliche Düfte hingen in der Luft, die einen leicht benommen machten und die merkwürdigen Sessel und Kissen, die um die vielen runden Tische verteilt waren beinahe einladend wirken ließen.   Harry ging auf Trelawney zu. Ihr Kopf war auf ihre Brust gesunken, ihre Brille mit den viel zu dicken Gläsern rutschte halb von ihrer Nase. Die krausen Haare standen in alle Richtungen ab, ihr Schal hatte sich gelockert und drohte von ihren Schultern zu fallen. Ein schwacher Geruch nach Alkohol – Kochsherry? – stieg ihm in die Nase.   Plötzlich zuckte ihr Kopf hin und her, gefolgt von weiterem Murmeln oder Lallen. Harry konnte kein Wort verstehen, aber die Art, wie sie ihre Stirn in Falten zog und immer wieder den Kopf schüttelte, sagte ihm, dass sie einen Alptraum hatte. Ein Funken Sympathie regte sich in ihm.   „Professor.“ Harry schüttelte sie vorsichtig an ihrer Schulter. Ihr Kopf fiel zur Seite und ein lautes Schnarchen war zu hören. Von ihrem eigenen Laut erschreckt, setzte sie sich abrupt auf und schaute hektisch hin und her.   Erst nachdem Trelawney ihre Brille zurechtgerückt und ihren viel zu dürren Hals nach vorn gestreckt hatte, erkannte sie Harry. „Oh! Hallo, mein Lieber.“ Der Alkohol begleitete jedes ihrer Worte und machte ihre Stimme noch rauchiger.   „Hallo, Professor. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Die Sympathie, die Harry eben noch empfunden hatte, sank mit jeder Sekunde.   „Aber natürlich, mein Junger. Ich musste nur für einen Moment mein inneres Auge ausruhen. Sie verstehen schon, abschotten von der Welt. Es kann so belastend sein, wenn so viele Eindrücke und Visionen auf einen zufliegen.“ Sie versuchte aufzustehen, fiel aber sofort in ihren Sessel zurück und hielt sich den Kopf.   „Daran ist nur dieses dumme Pferd schuld. Man sollte meinen, dass Professor Dumbledore ihn wieder weggeschickt hat, nachdem ich wieder unterrichten darf. Aber nein, wir teilen uns den Unterricht. Das ist eine Beleidigung. Eine Beleidung, sage ich. Dieser inkompetente Klepper. Er trübt meine Wahrnehmung.“   Trelawney hatte Harry in ihrer Schimpftirade völlig vergessen. ‚Wenn etwas ihr inneres Auge trübt, dann ist es ganz sicher der Alkohol und nicht der Zentaur.‘ Harry schüttelte den Kopf und lenkte dabei wieder die Aufmerksamkeit auf sich.   „Ah! Guten Abend, mein Lieber.“, sagte sie, als wäre Harry eben erst in den Raum geklettert. „Kann ich etwas für Sie tun?“   Harry seufzte lautlos. „Nein, Professor. Ich wollte mir nur etwas die Beine vertreten und bin dabei etwas weiter gelaufen, als ich beabsichtigt hatte.“ Es entsprach fast der Wahrheit.   „Ach so. Nun gut. Seien Sie vorsichtig auf Ihrem Rückweg. Sie sollten sich immer rechts halten und an dem Treppengeländer festhalten.“ Die Überzeugung, mit der sie ihre Vorhersagen machte, brachte Harry immer wieder in Erstaunen. Woher nahm sie die Zuversicht, wenn alles, was sie vorhersagte, nie eintraf? Abgesehen von zwei Prophezeiungen, an die sie sich aber nicht erinnern konnte.   „Das werde ich.“ ‚Nicht!‘ „Danke, Professor und noch einen schönen Abend.“   „Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Abend, mein Lieber.“   Harry beeilte sich, wieder aus dem Turmzimmer herauszukommen. Unten angekommen, holte er erst einmal tief Luft. Die stickige Luft hatte ihn völlig benebelt. Kein Wunder, dass Trelawney glaubte, Visionen zu haben. Wenn man bedachte, wie selten sie diese Räume verließ, war es kein Wunder, dass der Sauerstoffmangel Halluzinationen verursachte.   Nun, nicht sein Problem.   Nachdem sein Kopf wieder klar war, machte er sich auf den Rückweg. Dieses Mal achtete er genauer darauf, wo er lang ging. Harry fiel auf, dass die alle Gemälde leer waren. Die Portraits der vielen Hexen und Zauberer, deren Namen Harry allesamt nicht kannte, hatten sich in Stillleben und Landschaftsmalereien verwandelt. Er war es gewöhnt, dass die Bilder sich gegenseitig besuchten und man hin und wieder verwaiste Bilderrahmen vorfand, aber dass ein Gang komplett leer war, war schon merkwürdig. Und es beunruhigte ihn.   Auf eine merkwürdige Weise fasziniert, betrachtete er die Bilder genauer. Wann konnte man sich diese Kunstwerke schon genauer anschauen, ohne einen schnippischen Kommentar von ihren Bewohnern zu erhalten?   An den Treppen angekommen, hielt Harry sich links, um die Bilder besser sehen zu können. Es gab kaum Fenster in dem Treppenaufgang und die Kerzen beleuchteten mehr die Stufen als die Wandgemälde. Er war besonders fasziniert, von einem kleinen ca. handgroßen Bildnis. In dem Rahmen waren kunstvoll Rosenranken geschnitzt, der Hintergrund des Bildes war eine Mischung aus hellem Blau und zartem Rosa, welche sich zu bauschigen Wolken verbanden.   Harry konnte dem Drang nicht widerstehen und er fuhr vorsichtig mit seinem Finger über das bearbeitete Holz. Die kleinen Dornen waren genauso spitz und scharf, wie sie aussahen. Schnell nahm er seine Hand wieder weg. Es erinnerte ihn zu sehr an ein Märchen aus seiner Kindheit, das seine Tante Dudley vorgelesen und er belauscht hatte, als sie noch klein waren. Besser, wenn er sich nicht an den Dornen stach.   Schnell wandte er sich ab und wollte weitergehen, aber etwas war plötzlich vor seinen Füßen. Erschrocken wollte er einen Schritt zurück machen, blieb aber an einer Treppenstufe hängen. Harry versuchte sich noch an dem Geländer festzuhalten, rutschte aber ab und fiel, trat dabei gegen etwas Weiches, das mit einem gequälten „Miau“ protestierte und ihn dann anfauchte.   Harry war glücklicherweise nur auf seinem Hintern gelandet und ein paar Stufen hinabgerutscht. Mrs. Norris hatte nicht so viel Glück. Er hatte sie mit so viel Schwung getroffen, dass sie die komplette Treppe hinunter geflogen und gegen eine Wand geprallt war. Sie schaute ihn mit vorwurfsvollen, gequälten Augen an, bevor sie begann, ihre Seite zu lecken und dabei leise wimmerte. Es war ein Wunder, dass er der skelettdürren Katze nicht alle Knochen gebrochen hatte.   Harry rappelte sich wieder auf, ignorierte sein schmerzendes Hinterteil, und wollte zu ihr gehen. Mrs. Norris fauchte ihn an und humpelte ein paar Schritte zurück. Er verdrehte die Augen. Dummes Tier! Er wollte ihr doch bloß helfen.   „Sch… Ich tu dir nichts.“, sagte er sanft und hoffte, dass seine Stimme eine beruhigende Wirkung hatte. „Ich will dir bloß helfen.“   Mrs. Norris presste sich an die Wand und ihr Fell sträubte sich.   „Ich wollte dich nicht verletzten. Ich habe dich einfach nicht gesehen. Es tut mir leid.“. Er machte einen Schritt auf sie zu, aber sie presste sich noch weiter an die Wand, als würde sie mit ihr verschmelzen wollen.   Seufzend holte er seinen Zauberstab hervor. Harry wollte gerade einen Heilzauber benutzen, als er plötzlich Filch ein Stockwerk unter ihnen wahrnahm. Er kam schnell näher.   Es half nichts. Es gab hier keinen Geheimgang oder irgendwelche Ecken, wo er sich verstecken konnte. Darüber hinaus hatte Harry den Verdacht, dass es nichts bringen würde. Filch und seine Katze hatten irgendeine Art Verbindung. Wie sonst sollte der alte Hausmeister wissen, wo er so schnell hin musste?   „Was ist hier los?“ Schneller als er es dem Mann zugetraut hatte – schneller als er es irgendjemanden zugetraut hätte – war Filch bei ihnen. Er erfasste schnell die Situation mit seinen trüben grauen Augen, sein Blick blieb geschockt an seiner Katze hängen, die ihn mitleiderregend anmauzte.   „Es… Es tut mir leid. Ich habe sie nicht gesehen.“, sagte Harry vorsichtig.   Vorsichtig hob Filch seine Katze auf den Arm und starrte dann Harry mit hasserfüllten Augen an. „Du! DU! Wie kannst du es wagen! Erzähl keine Lügen. Ich weiß, dass du sie mit Absicht verletzt hast.“   „Nein!“, protestierte Harry. „Warum sollte ich das tun?“   „Um mich damit zu verletzten! Ich weiß, dass du was gegen mich hast, weil ich… Weil ich ein… Sq…“ Er würgte das Wort, das ihm auf der Zunge lag, hinunter, unfähig es auszusprechen „Und weil du nichts gegen mich machen kannst, weil sonst auch der Schulleiter, der sich aus unerfindlichen Gründen immer für dich einsetzt, dir auf die Schliche kommen würde, hast du dir gedacht, du lässt es an meiner Katze aus. Aber warte nur ab. Diesmal habe ich dich und du wirst deiner gerechten Strafe nicht entkommen.“   Harry verengte seine Augen zu Schlitzen und seine Zauberstabhand zuckte um das Stückchen Holz, das er immer noch umklammert hielt. Was bildete sich dieser Squib ein? Als ob er ein auch nur einen flüchtigen Gedanken opfern würde, ob er tot oder lebendig sei. Was interessierte ihn er oder seine dumme Katze, solange sie ihm nicht in die Quere kamen?   „Professor Snape wird dir schon Manieren beibringen.“   Als ob der Name seines Lehrers ein eigener Zauberspruch gewesen wäre, entspannte sich Harry augenblicklich. Er blinkte ein paar Mal und schaute überrascht zu Filch.   „Komm mit, Potter!“, sagte der Hausmeister bissig, mit einem Hauch Schadenfreude in seiner Stimme. Er griff Harry am Oberarm und zog ihn hinter sich her.   Harry ließ es ohne Widerworte über sich ergehen. Mrs. Norris fauchte ihn immer wieder an, während sie die Treppen runter gingen. Filch lief schnell und Harry hatte seine Mühe hinterher zu kommen und musste aufpassen, dass er nicht stolperte und wieder hinfiel. Seinen Zauberstab hatte er unauffällig weggepackt.   Filch schimpfte die ganze Zeit vor sich hin, über die schrecklichen Schüler im Allgemeinen und die rücksichtslosen Gryffindors in Besonderen. Seine Katze hielt er dabei die ganze Zeit an sich gepresst, unterbrach seine Schimpftiraden nur, um ihr beruhigend zuzumurmeln und Rache für ihre Verletzungen zu versprechen.   Harry war erleichtert, als er auf halben Weg Severus und Dracos Anwesenheit spürte. Sie kamen gerade aus dem Büro des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste und gingen Richtung Treppen.   Filch und er waren auf halben Weg in den zweiten Stock als ihnen Severus entgegen kam. Draco war nach unten gegangen und war bald aus Harrys Wahrnehmungskreis verschwunden.   Harry war verwirrt. Warum sollte Severus noch oben gehen und nicht zurück in die Kerker?   Severus blieb stehen, als er das merkwürdige Paar auf sich zu eilen sah. Der Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht war so schnell verschwunden, wie er gekommen war.   „Professor!“, rief Filch. „Genau zu Ihnen wollte ich.“   Er erklärte ihm in kurzen Sätzen, wie er Harry dabei erwischt hatte, wie er seine Katze verletzt hatte und wer weiß, was noch passiert wäre, wenn er ihn nicht erwischt hätte.   „Das ist nicht wahr!“, protestierte Harry lautstark. „Es war ein Unfall.“   „Ihre Lügen können Sie sich sparen, Mr. Potter.“, sagte Severus. In seiner Stimme schwang so viel Verachtung mit, dass Harry wirklich einen kurzen Moment zweifelte.   „Aber Professor…“   „Genug! 50 Punkte Abzug von Gryffindor.“   Das ließ Harry vollkommen verstummen und er schaute mit einer Mischung aus Hass und Verachtung zu seinem Professor. Dafür würde er sich später wieder eine Standpauke von Granger anhören dürfen.   „Ich werde mich um Mr. Potter kümmern. Seien Sie versichert, dass er genau bekommt, was er verdient.“ Seine Stimme und seine Augen waren so kalt, dass Harry automatisch seinen Umhang fester um sich schlang.   „Danke, Professor. Vielen Dank.“ Mit einem letzten hasserfüllten Blick auf Harry ging Filch Treppe hinunter. „Keine Sorge, meine Süße. Jetzt gehen wir dich erstmal heilen.“   Sie sahen beide Filch hinterher, bis er außer Sicht war.   Severus drehte sich zu Harry um und hob eine Augenbraue. „Was hast du jetzt wieder angestellt?“, fragte er in einem sanfteren Ton. Sein Blick war eindeutig freundlich und echtes Interesse spiegelte sich in ihm wider.   Harrys Augen weiteten sich vor Schreck und er schaute sich hektisch um, ob ihnen irgendein Bild zuhörte, aber auch hier waren die Gemälde komplett leer.   „Keine Sorge. Die sind alle bei einem Konzert der Fette Damen und ein paar Wichteln, wenn ich mich richtig erinnere. Ich musste mein Büro mit einem Schallschutz belegen.“ Severus verleierte die Augen.   „Oh! Verdammt.“ Harry biss sich auf die Unterlippe. „Das ist heute? Ich hatte ihr versprochen, hinzugehen.“   „Wieso das?“   Harry zuckte mit den Schultern. „Ich musste es ihr versprechen, damit sie mich nachts wieder in den Gryffindor-Gemeinschaftsraum lässt. Wenn ich nicht auftauche, stehe ich das nächste Mal vor einem verschlossenen Loch.“   „Na dann viel Vergnügen. Ich könnte dich vorübergehend taub zaubern, wenn du willst.“   Er dachte einen kurzen Moment über das Angebot nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, da muss ich jetzt durch.“   „Wie du willst.“ Severus schaute einen Moment belustigt auf Harry herab, bevor er wieder ernst wurde. „Was war jetzt mit Filch und seiner Katze?“   Harry zuckte zusammen. „Es war wirklich nur ein Versehen gewesen. Ich stand oben auf der Treppe zum Nordturm und habe mir ein Bild angesehen. Als ich weiter gehen wollte, war da plötzlich Mrs. Norris. Ich kann doch auch nichts dafür, dass sich dieses blöde Vieh anschleicht. Ich wollte ihr auch noch helfen, aber sie hat mich nur angefaucht.“   Severus schüttelte mit einem verächtlichen Schnauben den Kopf. „Egal, was der Grund war, du hast seine Katze verletzt. Das wird er niemals vergessen. Filch wird dich ab sofort viel genauer Beobachten. Du solltest sehr vorsichtig sein, was du tust.“   „Ich weiß. Aber da musst du dir keine Sorgen machen. Es ist ja nicht so, als ob ich es nicht gewöhnt wäre, andauernd beobachtet zu werden.“ Harry starrte vor sich hin, ohne irgendetwas anzusehen. „Obwohl es diese Woche schon beinahe zu ruhig war, seit die anderen Lehrer nicht mehr jeden meiner Schritte verfolgen.“ Sein Blick glitt nach oben und traf Severus‘, der ihn nachdenklich ansah.   „Wir haben lange darüber diskutiert und sind letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass diese Übergriffe nichts mit dir zu tun haben.“   „Aha. Und wie seid ihr zu diesem Schluss gekommen?“   „Wegen Ms. Chang und Ms. Weasley. Diese… Tändelei…, die du und Ms. Chang hattet, liegt zu lange zurück, als dass sie mit den aktuellen Ereignissen in Zusammenhang stehen könnte. Andernfalls, wäre sie viel früher verflucht worden. Professor Flitwick hat zuerst gedacht, dass es ein Versehen gewesen war und dass eigentlich Ms. Weasley von dem Fluch hätte getroffen werden sollen, aber als er dann hörte, dass Ms. Chang schon länger unter dem Fluch stand, auch wenn es niemanden bewusst war, hat er seine Meinung geändert. Außerdem ist Ms. Weasley bis heute nichts passiert. Damit bist du über jeden Zweifel erhaben.“   Harry hatte Severus aufmerksam zugehört. Er schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Sie wussten anscheinend nicht, dass Chang versucht hatte, wieder mit Harry zusammenzukommen. Das hätte ihre Theorie, dass Harry mit den Vorfällen in Zusammenhang stand, nur bekräftigt.   So war es gut. Er hatte schon vermutet, dass die Lehrer ihn nicht mehr in Verdacht hatten, aber es zu hören und die Gewissheit zubekommen, nahm eine große Last von ihm. Jetzt konnte er sich wieder etwas freier bewegen – was Filch anging, machte er sich keine Sorgen – und er konnte endlich wieder das Training für die Jungtotesser übernehmen und musste nicht alles auf Draco abwälzen. Das machte sein Vorhaben, dem Slytherin aus dem Weg zu gehen, etwas schwieriger, aber er würde das schon hinbekommen. Mit Bedacht.   „Danke.“ Es war kaum mehr als ein Hauch, aber Severus hatte ihn verstanden und nickte ihm knapp zu.   Severus sah unschlüssig auf Harry herab. Harry konnte sehen, dass er etwas nervös war, was völlig untypisch für den sonst so gefassten Professor war.   „Ist alles in Ordnung?“, fragte Harry besorgt. „Ich will dich nicht aufhalten, wenn du irgendwo hin musst…“ Er schaute die Treppe hinauf und fragte sich erneut, wo Severus eigentlich hingewollte hatte.   „Ich wollte zum Nordturm.“, beantwortete er die unausgesprochene Frage. „Ich war auf der Suche nach dir.“   Alarmiert schaute Harry auf. „Wieso? Und woher wusstest du, wo ich war?“   „Draco.“   Mehr brauchte Severus nicht zu sagen. Harry verkrampfte sich völlig. Seine Haltung ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht über dieses Thema sprechen wollte.   Severus hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefangen und ignorierte Harrys ablehnende Haltung. „Er ist zu mir gekommen, weil du ihm aus dem Weg gehst.“, sagte er vorsichtig, ließ Harry dabei keinen Moment aus seinen Augen. „Und er hat mich gebeten, mit dir zu sprechen.“   ‚Typisch Slytherin.‘, dachte Harry. Eine Wut breitete sich in ihm aus, von der er nicht genau sagen konnte, woher sie kam. „Ich will aber nicht darüber sprechen.“, sagte er mit zusammengepressten Zähnen.   „Harry! Draco empfindet für dich genauso wie du für ihn. Du musst dich nicht quälen.“   „Es ist, wie es ist.“ Er schrie fast. „Das Risiko ist viel zu hoch und ich werde sein Leben nicht riskieren.“   Harry stürmte an Severus vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Wieso ausgerechnet jetzt? Severus hatte es nie erwähnt, nicht mal angedeutet. Warum musste er ausgerechnet jetzt damit anfangen? Konnte er nicht verstehen, dass es keinen Sinn hatte? Dass es die Sache noch viel schlimmer machte, gerade weil Draco so empfand?   Er lief immer schneller und schneller, rannte beinahe den Flur im zweite Stock entlang und versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Und er konnte sich jetzt keine Gedanken darüber machen. Das würde alles nur noch schlimmer machen.   In der Ferne konnte er eine Stimme hören, die versuchte, höher zu singen, als wofür ihre Stimmlage geschaffen war. Dazu die Klänge mehrerer Harfen, die nur selten einen richtigen Ton trafen. Seine Schritte wurden noch schneller. Er musste auf ein Konzert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)