Das sechste Jahr von CruelLamia (Wie weit würdest du gehen, um deine Liebe zu beschützen?) ================================================================================ Kapitel 9: Aussprache --------------------- Der Tag ging schnell voran und schon hatten die Schüler ihre letzte Stunde, Verteidigung gegen die Dunklen Künste bei Professor Snape. Seit Anfang des Jahres übten sie jetzt schon immer wieder ungesagte Zauber, genauso wie in Zauberkunst und auch Verwandlung. Der Sinn dahinter war, in einem echten Kampf einen entscheidenden Vorteil zu erhalten, da der Gegner erst einmal nicht wusste, welcher Fluch auf ihn zukommt. Nicht jeder Zauberer hatte ein Talent dafür. Manche schafften nur einfache Zauber und anderen gelang es nie, ohne Worte zu zaubern, da es eine enorme Konzentration erforderte, die nicht jeder aufbringen konnte. Professor Flitwick, ihr Lehrer für Zauberkunst, und Professor McGonagall hatten dafür vollstes Verständnis und versuchten ihre Schüler auch immer wieder zu ermutigen, es weiter zu versuchen, während der ehemalige Zaubertränkeprofessor jeden, der es nicht schaffte, immer wieder mit Freuden niedermachte und ihnen immer wieder vor Augen hielt, wie erbärmlich sie seien und dass sie es wohl nie schaffen würden. Harry war natürlich sein Lieblingsopfer. Obwohl er die ungesagten Zauber perfekt beherrschte, unterstelle Snape ihm immer wieder, dass er schummelte und die Sprüche vor sich hin murmeln würde.   Auch in dieser Stunde war es nicht anders. Der Professor sah immer wieder mit Missfallen auf den jungen Gryffindor, ließ höhnische Bemerkungen fallen und hielt sich auch bei den anderen Schülern nicht zurück, außer natürlich bei den Slytherins. Alles wie immer. Scheinbar. Nur Harry fiel auf, dass etwas anders war. Der Professor beobachtete ihn häufig. Häufiger als sonst und jedes Mal, wenn Harry ihn dabei erwischte, wirkte Snapes Blick nachdenklich. Natürlich! Es hätte ihn auch gewundert, wenn Snape noch nicht von seinem Seitenwechsel erfahren hätte. Stellte sich jetzt nur die Frage, was dieser mit dieser Information anfangen würde. Er war sich sicher, dass da noch etwas kommen würde.   Und er wurde nicht enttäuscht. Kurz vor Ende der Stunde kam Snape auf Harry und Weasley, die in dieser Stunde zusammen üben sollten, zugerauscht und blieb wutschnaubend vor dem rothaarigen Jungen stehen. Dessen Gesicht hatte in der Zwischenzeit, die gleiche Farbe angenommen wie seine Haare. Er versuchte, seit einer halben Stunde einen Fluch auf Harry zu schießen und hatte dafür angestrengt die Lippen aufeinander gepresst und bei seinen Versuchen, sich zu konzentrieren, vergaß er zwischendurch immer wieder zu atmen. „Sie sind erbärmlich, Weasley.“, kam es kalt von Snape. „Sie werden das wohl nie lernen.“ Nur ganz kurz schaute er zu Harry und dieser sah die Aufforderung in den schwarzen Augen, bevor der Professor sich wieder zu dem erschöpften Schüler drehte. „Ich werde Ihnen mal zeigen, wie das funktioniert.“ Schnell zog er seinen Zauberstab und richtete ihn auf Harry. Harry wusste, was von ihm erwartet wurde und rief laut „Protego!“. Der Schild war stark und ließ selbst den Verteidigungslehrer kurz schwanken.   „Potter! Wie oft soll ich es Ihnen eigentlich noch sagen? Wir üben hier UNGESAGTE Zauber. Das heißt OHNE Worte.“ „Ja.“ „Ja, SIR!“ Harry grinste. „Aber, Professor! Sie brauchen mich doch nicht ‚Sir‘ zu nennen.“ „Das reicht jetzt!“, donnerte es zurück. „Ich werde mich doch nicht von Ihnen zum Narren halten lassen. Nachsitzen. Heute Abend nach dem Abendessen in meinem Büro.“ Niemand sah, wie er Harry leicht zunickte.   ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~   „Alter! Du tust mir so leid.“, versuchte Weasley Harry zu trösten. Verteidigung gegen die Dunklen Künste war endlich vorbei und Snape hatte sie mit einem riesen Haufen an Hausaufgaben entlassen. Auch Thomas und Finnigan gesellten sich dazu. „Das war total ungerecht. Wieso hat er es eigentlich immer auf dich abgesehen?“ Niemand war mehr sauer auf Harry wegen seines Ausrasters am Morgen. Alle schienen sein merkwürdiges Verhalten auf die Slytherins zu schieben, da die sich die letzten Tage ja auch seltsam verhalten hatten. Keiner kam auch nur auf den Gedanken, dass Harry selbst sich verändert haben könnte. Wie naiv. Und doch war Harry froh deswegen. Er musste unbedingt sein Temperament zügeln. Irgendwann würde ihn das noch in Schwierigkeiten bringen.   „Du solltest deswegen mit Professor Dumbledore sprechen.“ „Mmh?“, irritiert schaute er Granger an. „Wieso sollte ich?“ „Na, immerhin wollte Professor Snape dich verfluchen. Unterricht hin oder her. Eine Lehrkraft darf einen Schüler nicht verfluchen. Auch zu Übungszwecken nicht. Das ist in der Schulordnung so festgelegt. Weil die Lehrer ja stärker sind als die Schüler, dürfen nur die Schüler untereinander und auch nur unter Aufsicht, Zauber und Flüchen gegenseitig üben.“ Er starrte sie einen Moment nachdenklich an. „Hermine, das bringt doch nichts.“, sagte Harry schließlich. „Dumbledore hat schon immer Ausreden für Snape gefunden. Ich kann mir schon gut vorstellen, was er sagen wird: ‚Aber Harry, mein Junge, woher willst du wissen, dass Professor Snape dich verfluchen wollte? Du sagtest doch, ihr habt ungesagte Zauber geübt. Also kannst du doch den Zauber, den er genutzt hat, gar nicht kennen. Er hat mit Sicherheit nur mit einem Lichtstrahl auf dich gezielt.‘ Ehrlich, Hermine, darauf kann ich gut verzichten.“ Außerdem war er viel zu neugierig, was Snape ihm zu sagen hatte.   ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~   Ein paar Stunden später war Harry auf den Weg zu Snapes Büro. Es hatte noch eine lange Diskussion zwischen ihm und Granger gegeben, warum er nicht mit Professor Dumbledore über Snapes ungerechtes Verhalten reden wollte. Schlussendlich hatte sie aufgegeben. Sein Argument, dass ihre Streiterei sie nur vom Lernen abhalten würde, hatte sie überzeugt, kleinbeizugeben. Als sie beim Abendessen noch mal davon anfangen wollte, hatte Harry sie schlichtweg ignoriert. Jetzt stand er vor der schweren Holztür von Snapes Büro in den Kerkern und klopfte. „Herein!“, kam es gedämpft von der anderen Seite und Harry beeilte sich, der Einladung nachzukommen. In den unterirdischen Gewölben von Hogwarts war es doch sehr kalt. „Sie wollten mich sprechen, … Sir?“ Harry konnte sich diese kleine Spitze nicht verkneifen. Aber Snape machte ihm nicht die Freude, darauf einzugehen und ignorierte diese kleine Provokation. Statt einer Antwort machte er ein Zeichen mit der Hand, dass Harry sich setzen sollte. Seufzend kam er der Aufforderung nach.   Der grüne Sessel war gemütlich, weich und bequem und das Polster passte sich perfekt seinem Körper an. Harry saß schräg vor dem kleinen Kamin, in dessen Inneren ein warmes Feuer vor sich hin loderte und langsam die Kälte aus seinen Knochen vertrieb. Snape erhob sich von seinem Schreibtisch, reichte Harry eine Tasse, deren heißer Inhalt nach verschiedenen Kräutern roch, und setzte sich dann auf den anderen Sessel, der Harrys gegenüber stand.   Lange sahen sich einfach nur in die Augen, belauerten sich gegenseitig, wer denn den Anfang machen würde. Es war eine angenehme Ruhe, die zwischen ihnen herrschte. Harry wurde bewusst, dass sie beide wohl noch nie so lange in einem Raum gewesen waren, ohne dass beleidigende Kommentare gefallen waren. So war die Gesellschaft des anderen Mannes ganz erträglich. Und das leise Knacken aus dem Kamin hatte eine beruhigende Wirkung. Aber dann unterbrach Snape die Stille.   „Warum?“ In dieser Frage lag kein Vorwurf, keine versteckte Aggressivität. Bloß reine Neugierde. Verblüfft schaute Harry ihm in die Augen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Er Ihnen meine Beweggründe nicht mitgeteilt hat, wenn er sich schon die Mühe gemacht hat, Sie überhaupt in Kenntnis zu setzen.“ „Natürlich hat er mir Ihre Gründe genannt. Er hat mich darauf angesetzt, herauszufinden, wer das Mädchen ist, welches für Ihren Sinneswandel verantwortlich ist. Aber ich bin nicht dumm, Potter. Ich weiß, welche Fähigkeiten Sie in Okklumentik besitzen. Deswegen zweifle ich auch sehr an Ihren Motiven. Vielleicht sollte ich meine Frage umformulieren? Haben Sie sich Ihm wirklich angeschlossen oder ist das ein törichter Versuch, ihm eine Falle zu stellen? Auf welcher Seite stehen Sie?“   Alarmiert sah Harry auf. Bis jetzt war er felsenfest davon überzeugt gewesen, dass Snape treu hinter Voldemort stand und Dumbledore hinterging. Aber was, wenn er sich irrte? Wenn Snape doch auf Dumbledores Seite stand? „Auf welcher Seite stehen Sie denn?“   Snape zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Meine Loyalität steht hier nicht zur Diskussion. Beantworten Sie meine Frage!“ „Nein!“ Harry schüttelte den Kopf. So leicht würde er sich nicht unterkriegen lassen. „Von mir werden sie keine Antwort erhalten, bevor ich mir nicht sicher sein kann, dass ich meine Antwort überleben werde. Denn nur mal angenommen, ich habe mich tatsächlich Voldemort angeschlossen und Sie sind ein Verräter, rennen Sie sofort zu Dumbledore und der steckt mich schneller nach Askaban, als ich meinen Zauberstab ziehen könnte. Andersherum: Wenn ich den Dunklen Lord ausspioniere und Sie stehen noch immer treu zu Ihm, werde ich wohl beim nächsten Aufeinandertreffen mit Ihm, Bekanntschaft mit einem schönen grünen Lichtblitz machen. Danke, aber beide Möglichkeiten empfinde ich nicht als sehr reizvoll.“ Sie waren eindeutig in einer Pattsituation. Denn für Snape bestand die gleiche Gefahr wie für Harry, wenn er die falsche Antwort geben würde. Aus diesem Grund war Harry sich auch sicher, dass er keine Antwort von seinem Professor erhalten würde. Für ihn war dieses Gespräch damit beendet. Er wollte schon aufstehen und hinausgehen, als Snapes nächste Worte ihn innehalten ließen.   Ein resigniertes Seufzen kam von dem Lehrer und er sah plötzlich um viele Jahre gealtert aus. Er war in dem Sessel zusammengesunken, seine Haut blasser als sonst und durch den Schein des Kaminfeuers wurden seine Falten noch deutlicher hervorgehoben. Seine Augen wirkten mit einem Mal fast leblos und sehr, sehr müde; mit einer Spur Resignation. „Ich stehe auf… deiner… Seite.“   Irritiert schaute Harry auf ihn herab. Was hatte das jetzt zu bedeuten? Eine Falle? Aber ein Blick auf diesen gebrochenen Mann genügte, um seine Zweifel verschwinden zu lassen. „Wieso?“ Die Frage kam nur leise über seine Lippen. Seine Gedanken rasten und er versuchte, das alles zu verstehen. Wie konnte es sein, dass dieser Mann, der ihn, seit er ihn kannte, nur fertig gemacht hatte, nun hinter ihm stehen sollte, egal für welche Seite er sich entschieden hatte?   „Nein!“, langsam kam wieder Leben in die eingesunkene Gestalt und er sah Harry herausfordernd an. „Ich habe dir deine Frage beantwortet. Jetzt bist du dran. Danach sehen wir weiter.“ „Ich habe wohl keine andere Wahl.“, zischte Harry aus zusammengebissenen Zähnen. Dann schaute er direkt in die Augen seines Professors und sagte mit fester Stimme: „Ich habe wirklich die Seiten gewechselt.“ Aufmerksam beobachtete er seinen Lehrer, wartete angespannt auf dessen Reaktion.   „Gut.“ Ein leichtes Lächeln zierte Snapes Lippen.   Damit hatte er allerdings nicht gerechnet. „Sie sehen erleichtert aus. Warum? Ich hätte jetzt eher mit Vorhaltungen gerechnet, ob ich wahnsinnig sei oder so was. Oder, dass ich bereits entwaffnet und in Ketten gelegt wäre und auf meinen letzten Kuss warten würde.“   Snape entschlüpfte ein kleines Glucksen, woraufhin ihn Harry nur ungläubig anstarrte. Er hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle und wurde ernst. „Nun das ist ganz einfach. Ich denke, dass deine Überlebenschancen auf der Seite des Dunklen Lords höher sind.“ „Warum?“ „Wegen der Prophezeiung.“ „Sie wissen von der Prophezeiung?“, fragte Harry verwirrt. Woher sollte Snape sie kennen? Hatte Dumbledore etwas mit ihm darüber gesprochen? Warum hätte der das tun sollen?   „Ja.“ Ein trauriges Lächeln umspielte Snapes Lippen, was nur noch mehr Fragen in Harry aufwarf.   „Sie wissen von der Prophezeiung. Und Sie kennen den Inhalt? Und Sie glauben trotzdem, dass ich auf Voldemorts Seite sicherer bin?“ „Ja, genau deswegen.“   Harry sah ihn skeptisch an. Er konnte die Aufrichtigkeit der Worte in seinen Augen lesen und doch… Er konnte es nicht benennen. Das war nicht alles gewesen. Da steckte mehr dahinter. Harry wollte schon zu einer Frage ansetzen, aber der entschlossene Blick in Snapes Gesicht und seine plötzlich abwehrende Körperhaltung ließ ihn innehalten. Snape sah nicht so aus, als wäre er bereit, ihm seine nächste Frage zu beantworten. Er sah Snape noch eine Weile nachdenklich an und nickt dann leicht, um ihm zu signalisieren, dass er diese Antwort so akzeptieren würde. Vorerst. Es gab erstmal noch andere Fragen, die zu klären waren.   „Gut. Jetzt würde ich aber wirklich gerne wissen, warum Sie auf MEINER Seite sind.“ Snape stand auf und bedeutete Harry mit einer unwirschen Handbewegung, ihm zu folgen. Schweigend gingen sie zu seinem Schreibtisch. Snape holte seinen Zauberstab heraus und ließ eine flache Steinschale auf den Tisch schweben. ‚Ein Denkarium.‘ Geduldig wartete Harry darauf, dass sein Professor die Erinnerung als silbrigen Faden aus seinem Kopf zog und in die flache Steinschale eintauchen ließ. Es schien ihm wie eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis sich endlich der Zauberstab vom Kopf seines Professors löste und die Erinnerung zuckend und sich windend in die abwechselnd klare und silbrige Flüssigkeit des Denkariums getaucht wurde. Einzelne Bilder tauchten immer wieder an der Oberfläche auf, ließen erahnen, welche Geheimnisse sich beim Eintauchen offenbaren würden. Harry schaute hoch, blickte in die schwarzen Augen und wartete auf die Erlaubnis in den Tiefen seiner Geheimnisse zu versinken. Ein kurzes Nicken war die Antwort auf die unausgesprochene Frage. Noch einmal atmete der Gryffindor tief durch und tauchte dann in die silbrig weiße Substanz ein.   Harry konnte unebenen Boden unter seinen Füßen spüren und die Sonne schien warm auf seiner Haut. Er öffnete die Augen. Snape war ihm gefolgt und stand nun zwei Meter von ihm entfernt, seine Züge von Qualen und Reue verzerrt. Seine Augen waren auf einen Punkt weiter vor ihm gerichtet. Harry folgte seinem Blick und blieb bei zwei Mädchen hängen, die miteinander spielten. Irgendwie kamen ihn beide bekannt vor, aber er konnte nicht sagen woher. Sie gingen nun zu den Schaukeln. Fasziniert beobachtete er, wie das eine Mädchen mit den dunkelroten Haaren immer höher schaukelte und dann am höchsten Punkt einfach losließ. Sie blieb kurz in der Luft schweben und ließ sich dann langsam zurück auf den Boden gleiten. Das blonde Mädchen fing an, zu schimpfen. Keiner der beiden bemerkte den schwarzhaarigen Jungen, der aus einer kleinen Entfernung, die beiden heimlich beobachtete.   Das Bild änderte sich. Nun konnte Harry sehen, wie sich der Junge mit dem rothaarigen Mädchen unterhielt. Er ging näher heran, um die Unterhaltung mitanhören zu können. „Ich bin ein Zauberer und du bist eine Hexe. Wir werden bald einen Brief bekommen und dann können wir nach Hogwarts, wo wir richtig zaubern lernen.“ „Meine Schwester hat gesagt, dass es gar kein Hogwarts gibt, dass du mich nur anlügst.“ „Ich lüge nicht. Hogwarts gibt es wirklich und wir beide werden da dieses Jahr noch hinkommen. Deine Schwester nicht. Sie ist ein Muggel.“   „Severus! Severus!“, schrie das kleine Mädchen in der nächsten Sequenz. Sie lief auf den Jungen zu und strahlte übers ganze Gesicht. Sie hielt einen Brief in der Hand, der Harry sehr bekannt vorkam. „Ich habe ihn bekommen. Genau, wie du gesagt hast.“   Der nächste Teil der Erinnerung zeigte die Zuordnungszeremonie der Erstklässler. „Evans, Lily!“ Überrascht riss Harry die Augen auf und schaute zu Snape, aber in dessen Gesicht war keine Regung zu erkennen.Er hatte sich wieder hinter seiner Maske versteckt. „Gryffindor!“ ‚Das ist meine Mutter.‘ Und plötzlich verstand er, warum sie ihm so bekannt vorgekommen war. Ja, sie sah eindeutig so aus, wie auf dem Bild, was er von ihr und seinem Vater hatte. Nur halt sehr, sehr viel jünger. Und das andere Mädchen war also seine Tante Petunia gewesen. „Potter, James!“ Harrys Blick glitt zurück, heftete sich auf den Jungen, der jetzt langsam auf den Sprechenden Hut zuging. Bis jetzt sah er ihn nur von hinten. Ein kleiner Junge, der genauso aufgeregt war, wie alle anderen Schulanfänger. Strubbelige schwarze Haare, genauso wie seine eigenen. Als er an dem vierbeinigen Stuhl angekommen war, drehte er sich um und setzte sich mit einem frechen Grinsen. Harry stockte der Atem. Seit er nach Hogwarts gekommen war, wurde ihm immer und immer wieder gesagt, wie sehr er seinem Vater ähnlich sähe. Aber erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr das wirklich stimmte. Hätte er nicht gewusst, dass er in Snapes Erinnerung war, hätte er ohne zu zögern behauptet, dass er selbst auf diesem Stuhl sitzen und auf das Urteil des Hutes warten würde. Dieses kam auch viel schneller als bei seiner eigenen Einteilung. „Gryffindor!“ Das Jubeln am Haustisch bekam er gar nicht mit. Er beobachtete seinen elf Jahre alten Vater, der mit erhobenen Haupt zu den Gryffindors lief, sich elegant auf die Bank setzte und neugierig zu dem Mädchen guckte, das einmal Harrys Mutter werden sollte. „Snape, Severus!“ Der Junge wirkte irgendwie traurig und Harry bekam leichtes Mitleid mit ihm. „Slytherin!“   Die nächste Szene spielte Jahre später. Es musste Ende des fünften Schuljahres sein, denn hin und wieder hörte Harry das Wort ‚ZAG‘. Die Prüfung für Verteidigung gegen die dunklen Künste war gerade beendet und die Schüler liefen hinaus ins Freie, um ein wenig zu entspannen oder – wie einige eifrige – sich schon auf die nächste Prüfung vorzubereiten. Harry beobachtete seinen Vater, wie dieser einen Schnatz immer wieder kurz freiließ, um ihn wieder einzufangen, kurz bevor dieser sich seiner Reichweite entziehen konnte. Dabei schaute James immer wieder zu einer Gruppe von Mädchen hinüber, die kichernd in seine Richtung starrten. Er genoss die Aufmerksamkeit sichtlich. Auch die anderen drei Rumtreiber waren anwesend. Sirius schaute scheinbar gelangweilt in der Gegend herum, aber wer genau hinsah, konnte erkennen, dass er auch immer wieder zu Mädchen hinschaute. Remus war in ein Buch vertieft und bekam von all dem nichts mit. Auch Peter Pettigrew war dabei. Bewundernd beobachtete diese Ratte Harrys Vater und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Dann kam der junge Snape an ihnen vorbei. Sofort sprangen James und Sirius auf und stellten sich ihm in den Weg. Geschockt musste Harry mitansehen, wie sein Vater und sein Patenonkel, den Slytherin beleidigten, öffentlich demütigten und verfluchten. Vorsichtig schaute er zu seinem Begleiter und er konnte ihm ansehen, wie schwer es diesem fiel, Harry diese Erinnerung zu zeigen, seine schlimmsten Erinnerungen mit ihm zu teilen. Aber gerade, weil er es tat, musste es wohl wichtig sein. Deswegen zwang Harry sich, sich wieder auf diese abscheuliche Szene zu konzentrieren. Er hätte nicht in Worte fassen können, wie angeekelt oder maßlos enttäuscht er von seinem Vater und seinem Patenonkel in diesem Augenblick war. Er hatte ja gewusst, dass sie sich unmöglich in der Schule, vor allem Snape gegenüber, benommen hatten, aber DAS hätte er ihnen niemals zugetraut. Nun trat eine weitere Person zu ihnen. Sie schien sehr aufgebracht und schrie James mehrfach an, dass er Severus in Ruhe lassen sollte. Harrys Mutter war sehr wütend. Sie schien die Freundschaft zu Snape all die Jahre aufrechterhalten zu haben. Aber das sollte sich im nächsten Moment ändern. „…Schlammblut.“ So schnell dieses eine Wort Snapes Mund entschlüpft war, so schnell sah man ihm an, dass er es aus tiefsten Herzen bereute. Aber Lily ging. Sowohl James als auch Severus wurden mit einem angewiderten Blick bedacht und schon war sie weg, genau wie dieser Teil der Erinnerung.   Harry schluckte hart, als sich das nächste Stück vor seinen Augen materialisierte. Er kannte diesen Ort, war erst vor zwei Tagen da gewesen. Sie standen jetzt vor Voldemorts Thron, Snapes jüngeres Ich vor ihm kniend. Er erzählte dem Dunklen Lord, dass er eine Prophezeiung mitangehört hätte, laut der bald jemand geboren werden würde, der ihn besiegen könnte.   Snape sah schockiert zu seinem Lord und flehte ihn an, Lilys Leben zu verschonen. Dieser willigte ein. Snape war ein guter und mehr als zuverlässiger Todesser. Wenn dies sein Wunsch wäre, könnte er mit dieser Schlammblutfrau machen, was auch immer er wollte.   Aufgelöst stand Snape vor Dumbledore und flehte diesen an, Lily zu beschützen. Er erzählte ihm, dass er Voldemort von der Prophezeiung erzählt hatte und dass dieser nun dachte, sie handele von Lilys Sohn. Dumbledore schaute ihn mit solcher Verachtung an, wie Harry es diesem Mann niemals zugetraut hatte. Er würde sie verstecken. Nicht nur Lily, sondern auch seinen Vater und ihn, Harry, selbst.   „Sie ist tot.“ Bedeutungsschwer hingen diese Worte in der Luft. Der Mann, von dem sie kamen, schien mehr eine Hülle zu sein, in der es kein Leben mehr gab und nie wieder geben wird. Es war mehr als eine Feststellung. Es war ein Vorwurf. Der Mann ihm gegenüber hatte versprochen, sie zu beschützen. Dafür hatte er alles verraten, woran er bisher geglaubt hatte, alles riskiert, was es noch in seinem Leben gab. Und letztendlich stand er ganz alleine da. Keiner hatte sein Versprechen gehalten. Der Dunkle Lord nicht, der Lilys Leben nicht verschont hatte, Dumbledore nicht, der sie nicht hatte schützen können. Er hatte sich doppelt abgesichert, um ihr Überleben zu garantieren und hatte versagt. Jetzt war er ein gebrochener Mann. Er würde alles geben, um mit ihr tauschen zu können. Der Wunsch zu sterben, war übermächtig. „Ihr Sohn lebt. Harry lebt. Wenn Sie Lily wirklich geliebt haben, …“ – Geliebt? Harry horchte auf. – „… wissen Sie, was Sie jetzt zu tun haben.“ Dumbledore war sich sicher, dass Voldemort nicht gänzlich vernichtet war. Er würde wiederkommen. Und wenn es soweit wäre, würde Harry Schutz benötigen… Snape sollte die Schuld an Lily sühnen, in dem er ihren Sohn beschützte. Und Snape willigte ein.   Sie tauchten wieder aus der Erinnerung auf. Harry sah geschockt auf seinen Lehrer. Seine Gedanken überschlugen sich und sein Atem ging stoßweise. Das waren zu viele Informationen gewesen. Snape hatte die Prophezeiung an Voldemort verraten und hatte damit eine Mitschuld am Tod seiner Eltern. Tränen brannten in seinen Augen, aber er zwang sich, diese hinunterzuschlucken. Das Grauen und die Bestürzung standen ihm ins Gesicht geschrieben und er kämpfte darum, seine Fassung nicht gänzlich zu verlieren.   Snape stand einfach nur da und beobachtete den Jungen. Er hatte ihm viel zugemutet, das wusste er. Aber er war sich auch sicher, dass er die Wahrheit erfahren musste. Jetzt mehr denn je.   Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Harry sich wieder soweit im Griff, dass er etwas sagen konnte. „Warum? Ich verstehe es nicht. Sie haben meine Mutter geliebt. Okay, sie konnten nicht wissen, dass ich in der Prophezeiung gemeint sein könnte. Immerhin war ich da noch gar nicht geboren…“ Er stockte. Denn noch während er es aussprach, wusste er, dass es die Wahrheit war. Er konnte Snape keine Schuld am Tod seiner Eltern geben. Wie hätte dieser wissen sollen, dass Voldemort ausgerechnet den Sohn seiner großen Liebe als Bedrohung sieht. Außerdem hatte er versucht, sie zu beschützen. Er war kläglich gescheitert, aber er hatte es versucht. Aber das war es nicht, was ihn im Moment beschäftigte. „Sie haben mich die ganzen Jahre, wie EIN STÜCK DRECK BEHANDELT.“ Er wurde immer lauter und schrie die letzten Worte seinem Gegenüber entgegen, gemischt mit der ganzen Wut und dem Hass, die er die ganzen letzten Jahre immer mehr aufgestaut hatte, weil dieser ihn seit seinem ersten Tag so mies behandelt hatte.   Snape seufzte und schaute dem Jungen resigniert in die grünen Augen, die ihn so sehr an Lily erinnerten. „Du hast es doch gesehen. Du siehst genauso aus wie er. Die gleichen Haare, die gleiche Statur, der gleiche Gang. Jeden Tag muss ich dich sehen und sehe nur, wie er mich drangsaliert und gedemütigt hat. Ich erinnere mich daran, wie er durch die Flure stolziert ist und jeden, der ihm nicht gepasst hat, einen Fluch auf den Hals gehetzt hat. Und das nur, weil er es konnte. Er hat sich über alle Regeln hinweggesetzt und ist auch noch damit davon gekommen. Genauso wie du! Und immer wieder werde ich von Neuem daran erinnert, was ich durch ihn verloren haben und schließlich auch durch mich selbst. Ich bin schuld an ihrem Tod und jeden beschissenen Tag erinnerst du mich daran. Ich sehe in deine Augen und sehe ihre Augen, sehe meine Schuld.“ Der Schmerz und die Verbitterung in der Stimme schienen die komplette Luft aus dem Raum zu verdrängen.   Stumm musterte Harry den Mann vor sich. Ja, er konnte es verstehen. Zumindest jetzt, nachdem er die Erinnerungen gesehen hatte. Es musste furchtbar sein, den Schrecken seiner Jugend nicht entkommen zu können. Er sah ja wirklich genauso aus wie sein Vater. Aber jetzt? Snape hatte ihm gesagt, dass er auf seiner Seite wäre. Wie ist das möglich, wenn er doch eine solche Abneigung gegen ihn hatte – jeder Verpflichtung zum Trotz.   „Was hat sich geändert?“, fragte Harry leise. „Ich habe eingesehen, dass du nicht dein Vater bist. Ich habe lange dafür gebraucht, ich weiß.“ „Und was hat Sie letztendlich zu dieser Erkenntnis gebracht?“ Harrys Ton klang schärfer als beabsichtigt. „Du hast die Seiten gewechselt, um die Person zu beschützen, die du liebst. Du hast alles aufgegeben, woran du bisher geglaubt hast, nur um jemand anderen in Sicherheit zu wissen. Das hätte James niemals getan. Nicht einmal für Lily. Ich habe es getan. Nur leider viel zu spät. Und ich habe dabei alles verloren. Ich hoffe, dass es dir nicht ebenso ergehen wird.“ So wie sich die Erinnerungen gestaltet haben, musste Harry seinem Professor recht geben. James Potter hätte niemals so viel für eine andere Person riskiert. Wahrscheinlich hätte er eher alle im Stich gelassen, um sich selbst zu retten.   Professor Snape hatte sich in der Zwischenzeit auf den Stuhl hinter seinen Schreibtisch gesetzt. Leicht zusammengesunken saß er da und starrte ins Leere. Es hatte ihn enorm viel Kraft gekostet, sich den Bildern seiner Vergangenheit erneut zu stellen.   Unschlüssig stand Harry da. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Er sollte trotz allem wütend auf Snape sein, ihn noch mehr hassen, als zu vor, jetzt wo er die Wahrheit kannte. Er wollte ihm die Schuld geben, an allem. An all dem Schlechten, was ihm in seinem Leben widerfahren war. Dass er bei den magiehassenden Dursleys aufwachsen musste, dass Voldemort ihn immer wieder gequält hatte, ihn immer wieder töten wollte, so dass er kaum eine ruhige Minute zum Durchatmen hatte. Der Mord an Sirius. Der Tod seiner Eltern. Aber er konnte es nicht. Es war zu lange her. Und auch wenn es jetzt noch Augenblicke gab, in denen er seine Eltern schmerzhaft vermisste, er kannte sie doch eigentlich gar nicht. Und überhaupt, wie sollte er den Mann für seine Taten verurteilen, wenn er selbst bereit war, das Opfer seiner Eltern mit Füßen zu treten?   Harry traf eine Entscheidung. Er ging um den Schreibtisch herum, blieb vor der zusammengesunkenen Gestalt stehen und beugte sich langsam hinab. Vorsichtig schloss er den reglosen Körper in seine Arme. „Ich vergebe dir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)