Kalendertage von sakemaki (Der Tag, an ...) ================================================================================ Kapitel 48: 48 – Der Tag, an dem schräge Vögel landeten ------------------------------------------------------- Manche Szenen konnten echt Mitleid erzeugen. Zum Beispiel das allmorgendliche Ritual, wenn Kakashi im Büro an seinem Schreibtisch saß und den ersten Schwung an Postzustellungen durchblätterte, nur um festzustellen, dass vom Daimyô kein Schreiben darunter zu finden war. Zumindest keines, was sein Privatleben tiefer gehend tangierte. Gai wusste von unglaublich vielen Briefen zu berichten, die trotz der Möglichkeit des Email-Verkehrs immer noch geschickt wurden. Der Papierberg konnte Hokage-sama manchmal gar bis in den Nachmittag beschäftigen. Dann sah man ihm seinen innerlichen Seufzer an, wenn der Berg ergebnislos bezwungen worden war, und weiter ging es frisch und fröhlich im Hofprotokoll. So wie jeden Tag. Und aus Tagen wurden Wochen. Und aus Wochen wurden Monate. „Ich bewundere dich“, sagte ich eines Tages zu ihm gedankenversunken daher, als wir zur Mittagszeit unter einem schattigen Baum am See saßen und unsere Bentôboxen leerten. Die Hochsommerphase vor dem großen Regen war immer von heftigen Hitzewellen geprägt. Das sollte auch in diesem Sommer nicht anders sein. Die Nächte hatten tropische Temperaturen, und noch vor Sonnenaufgang kletterte das Thermometer bereits über die 25°C-Marke. Zum Sonnenhöchststand hielt man es schon gar nicht mehr aus. Wer es sich erlauben konnte, dehnte die Mittagspause wie Kaugummi auf ein fast endloses Maß aus und arbeitete lieber des Nächtens. Selbst mein Freund zeigte zur Abwechselung mal viel Haut, weil er kurzärmlig unter der Weste trug und die fingerlosen Handschuhe in die Gürteltasche gestopft hatte. Ich frotzelte, er sollte sich bloß keinen Sonnenbrand holen, da seine Haut soviel UV-Bestrahlung gar nicht gewohnt wäre. Wenn wir es beruflich einrichten konnten, rasteten wir zum Essen in einem Teil des Parks, wohin sich Passanten seltener verirrten. Eine großgewachsene Weide mit unendlich viel Geäst und Laub schützte uns vor der sengenden Sonne und den Blicken der kaum zu erwartenden Spaziergänger. Die Badestellen waren angesichts der heißen Juli-Temperaturen zwar völlig überfüllt, doch lagen sie auf der anderen Seite des Sees. Bald schon würde der Badespaß enden, wenn die Regenzeit wieder einsetzen würde. Im Gegensatz zu den energiegeladenen Wasserratten genossen wir lieber die Ruhe und ließen die Seele baumeln, bevor sich bis zum Abend unsere Wege wieder trennen würden. Man konnte nur verwundert den Kopf schütteln, wenn man bei der Gluthitze Shinobi trainieren sah. Zwar müssten die zu jeder Jahreszeit und Witterung parat stehen und ihre Leistung abrufen können, übertreiben und die Gesundheit aufs Spiel setzen müsste man aber trotzdem nicht. Kakashi zog es generell vor, lieber in den späten Abend- oder frühen Morgenstunden zu trainieren. Es war die einzige Tageszeit, wo er es sich neben der Büroarbeit einrichten konnte. Das Training käme, seit er auf dem Bürostuhl festgeklebt worden war, viel zu kurz, mokierte er oft. Doch die Unzufriedenheit rührte einfach daher, dass er seir jeher viel lieber unterwegs war, als in irgendeinem Arbeitszimmer eingesperrt zu sein. „Hm?“ Es war die einzige Antwortmöglichkeit, die Kakashi mit vollen Backen auf meine Aussage hin wählen konnte. Ich hatte übrigens den Trick durchschaut, wie er mit dem Rollkragen über der Nase etwas Essen konnte: Ein simples Gen-Jutsu und eine hohe Geschwindigkeit steckte dahinter. Wenn man die Illusion nämlich durchschaut hatte, fiel man nicht mehr auf sie herein. Davon mal ab, ging ich auf dieses blöde Spiel eh nicht ein, da ich sowieso jeden Millimeter Haut von ihm kannte. Optisch, wie haptisch. Sollten doch andere ihren Spaß mit der Jagd auf sein Äußeres haben. Jedes Dorf brauchte wohl einen Running Gag, und mit Kakashis Maskierung hatte es den in der Tat. Wären sie allesamt generell aufmerksamer, dann wüsste sie um sein Aussehen schon längst Bescheid, weil „Sukea“ in der Vergangenheit oft durchs Dorf gestreift war. Und mal ehrlich: Das Wortspiel hatte selbst ich auf Anhieb verstanden. Wortspiel? Ok, ich erkläre es einmal für alle Bahnhofsversteher. Sukea klang in den Ohren wie Scare, was wiederum ein Wortteil von Scarecrow war. Alles klar? Vielleicht war aber noch nie jemand darauf gekommen, weil die Antwort viel zu simple und greifbar war. Sozusagen direkt vor die Nase gesetzt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Nein, so einfach konnte doch eine Lösung nicht sein, mochte man sich denken. Im Leben war doch immer alles komplizierter gestimmt. Sukea zumindest amüsierte sich köstlich. Ein wenig Nervenkitzel, ob er doch mal auffliegen würde, war auch dabei. Ich fand, man müsste lediglich Asa ins Gesicht schauen, um ihren Vater zu entdecken. Die Ähnlichkeit war absolut verblüffend. Iruka-sensei hätte Asa wohl mal im Scherze gefragt, ob Hokage-sama zu lange in den heißen Quellen gesessen hätte und deshalb eingelaufen wäre, weil sich Vater und Tochter so spiegelten. „Ich beneide deine Unbekümmertheit“, führte ich weiter aus. „Egal, was passiert, du bist immer ruhig und lachst dann vielleicht noch darüber. Ich raste meist immer total aus und mache unüberlegte Dinge.“ Nun ja, so ganz stimmte das auch wieder nicht. Kakashi hatte auch seine unausstehlichen oder betrübten Seiten. Auch wütend, einschüchternd oder gar eifersüchtig hatte ich ihn bereits erleben dürfen. Aber das kam nun wirklich nicht oft vor. Solche Tage konnte man dann schon im Kalender ankreuzen, wenn er sich mal aus der Reihe andersartig benahm. Dafür traf man ihn öfters mal melancholisch in Tagträumen versunken an. „Ich hab häufiger meine Unbekümmertheit verloren, als dir lieb sein mag. Es gab eine Phase, da hatte ich sie sogar gänzlich verloren. Wie kommst du gerade eben drauf?“ Manchmal waren ihm meine Gedankensprünge so völlig aus dem Sinnzusammenhang gerissen unheimlich. Man konnte sie nicht vorhersehen oder gar durchschauen. Nee, so etwas kam bei einem auf Riten getrimmten Ninja nicht gut an. Um so dankbarer war ich, dass er meine Macke ohne Widerspruch akzeptierte. Er machte sich sogar die Mühe, meine verwobenen Gedankenknäule zu entwirren, indem er nachfragte und teilhaben wollte. Seine unbändige Neugier trieb ihn wohl zusätzlich an. „Ach, ich hatte vor längerem mal Gai und sein altes Team getroffen und ...“ Ich biss mir auf die Lippe. Nun trug ich schon seit fast vier Monaten meine sonderbare Begegnung der dritten Art im Ramen-Laden mit mir im Kopfe herum, hatte aber noch nicht den Mut gehabt, Kakashi davon zu berichten. Er hatte genug um die Ohren. Da wollte ich ihn mit solch einem blöden Spruch, wie Genma ihn in den Mund genommen hatte, nicht noch zusätzlich belasten. Trotzdem rumorte es in mir. Ich konnte nicht so recht damit umgehen, weil ich nicht wusste, was den alltäglichen Umgang zwischen den beiden so erschüttert hatte. Ob sie jemals überhaupt enge Vertraute waren, vermochte ich ebenfalls nicht beurteilen zu können. Aktuell waren sie es definitiv nicht mehr. Ich beschloss, mein Herz in Kurzform ganz unverblümt zu erleichtern. So erzählte ich von Gais Teamkameraden, von Genmas Spruch und wie ich dann anstelle Genma die Mülltonne verprügelt hatte. Kakashis Blick verfinsterte sich kurz. Ich meinte, jede angespannte Zelle seines Körpers einzeln erkennen zu können. „Gai hatte etwas angedeutet, aber nur herum gedruckst“, klang es eisiger als der Nordwind, aber schlagartig wurde das Thema gewechselt und fröhlich abgewunken. „Lass' ihn doch reden!“ Dass Kakashi diese Information innerlich noch lange nicht zu den Akten gelegt hatte, konnte ich an diesem herrlichen Sommertag nicht ahnen. Das sollte sich erst viel später herausstellen. Ein Luftzug huschte durchs Geäst. Einige Blätter raschelten. „Wir bekommen Besuch“, wurde ich aufgeklärt. Und schon in der nächsten Sekunde hockte ein ANBU zu unseren Füßen. Ein Bein hatte er aufgestellt und stützte seinen Unterarmrm darauf ab. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und den Blick tief und ehrfürchtig nach unten gesenkt. Eine untertänigste Begrüßung. Ein Wunder, dass der ANBU unter dem langen Mantel keinen Hitzetod starb. Zugegebener Maßen machte diese ganze Szene schon etwas her, wie der ANBU seinen Chef unterwürfig grüßte, der im angedeuteten Schneidersitz kerzengerade vor ihm saß. „Rokudaime, der Daimyô wünschte Sie in seinem Herrscherpalast zu empfangen. Ihr sollt Euch dort in drei Tagen einfinden“, richtete der ANBU wohlerzogen aus. Ich kicherte leise, denn dessen Wortwahl klang schon etwas wie aus dem Märchenbuch, wenn der Bote zum König bestellt wurde. „Ich danke dir, Hisui“, nickte Kakashi die Botschaft ab und wollte den ANBU schon wieder gehen lassen. Doch als er seinen Kopf anhob und ich auf seine Maske blickte, erschrak ich mich zu Tode. „DU!!!“, kreischte ich auf. „DU HAST MIR DOCH MAL INS KREUZ GETRETEN?!“ Boah, den Typen mit der jadegrün gestreiften Vogelmaske würde ich niemals vergessen, der mich nach Yuukis vermeintlichem Angriff auf Kakashi überwältigt hatte. Tagelang hatte ich Rückenschmerzen, Schürfwunden und blaue Flecke. Ein paar Haarsträhnen hatte ich auch einbüßen müssen. Und nun hockte der hier so unbeteiligt neben mir, als wäre ich Luft. Rasend vor Wut lief ich rot an und zeigte ihm die geballte Faust. Dabei war ich gefährlich nahe an ihn heran aufgesprungen, sodass ich sogar noch eine Handbreit größer war als er selbst. Pfff, das der immer noch ungestraft herumlief. Was aber hätte eine gerechte Strafe für ihn sein können? Es war sein Job, Kakashi zu beschützen, und das hatte er anstandslos getan. Dass ich aber kein Täter, sondern eigentlich nur ein Opfer war, wurde damals unter den Tisch gekehrt. Ob nun durch den Windhauch meines Schreies oder durch den Überraschungsmoment des Aufspringens bliebe dahingestellt. Jedenfalls ging der Vogelninja körperhaltungsmäßig just in der Sekunde in eine leichte Schieflage über und fuhr überrumpelt mit der Maskenansicht zu mir herum. Auch mein Freund blickte mich bestürzt über meinen Ausbruch an, fand es dann aber passend, den Streit lieber sofort zu schlichten, noch ehe ich auch nur einen Treffer mit meiner Faust landen könnte. „Hey, hey, ganz ruhig. Zugegeben, meine Entschuldigung anstelle ihrer fiel damals sehr formell und abwimmelnd aus. Aber du hast nie wieder erwähnt, dass für dich die Sache noch nicht abgeschlossen wäre“, versuchte Kakashi mein Gemüt wieder zu beruhigen. „Willst du noch etwas geklärt haben?“ Sauer und knallrot wie eine Tomate setzte ich mich wieder auf meine vier Buchstaben und funkelte den ANBU wütend an. Könnte man Hitze sehen, es wären wohl Dunstschwaden von meiner Haut emporgestiegen. In meiner blanken Wut hatte es mir die Sprache verschlagen. Ich schnaubte einmal kräftig. Hisui, der Eisvogel mit der jadefarbenen Vogelmaske. Den würde ich niemals aus meinem Gedächtnis verdrängen. Es ratterte in meinen Hirnwindungen, weil mein Gehör über etwas gestolpert war, was ich jedoch in meiner Rage nicht sofort verarbeitet hatte. Ratter, ratter, ratter, … Öhm, Moment mal! Hatte Kakashi eben nicht gerade das Wort „ihrer“ benutzt anstelle „seiner“? „Er“ war eine „Sie“? Is' ja 'n Ding! Nun schaute ich recht dümmlich aus der Wäsche. „Na, wir werden sehen...“, beurteilte Kakashi die Situation und schickte mit einer Handbewegung den ANBU weg und somit in unüberbrückbare Schlagdistanz zu mir. Die Chance ließ sich der Vogel auch nicht entgehen und ward plötzlich nur noch ein verschwundener Schatten. Noch eine kleine Weile starrte ich auf die Stelle, wo gerade vor meinen Augen ein Shinobi verpufft war, als ich spürte, wie Kakashi sanft mein Handgelenk umgriff und zu sich zog. „Wenn du weiter so unkontrolliert um dich schlägst, dann prophezeie ich dir, wird bald kein einziger Handknochen mehr heil an seinem rechten Platze sitzen, Nina-chan.“ Dabei tippten seine Fingerspitzen auf bestimmte Punkte in meiner Handfläche, dass ich zusammenzuckte, um mir das Problem noch einmal zu verdeutlichen. „Ich glaube“, fuhr er unbeirrt fort. „Du brauchst auch mal ein Training. Eines, wo du lernst, wie man auf etwas eindrischt, ohne sich gleich selbst zu verletzen. Und noch eines, dass man gar nicht erst auf etwas eindreschen muss, wenn man mal wieder sauer ist.“ Danke, Kakashi! Du nahmst mir mit deinem Humor gerade die Wut. Ich konnte wieder lächeln, obgleich ich immer noch über das ANBU-Mädel nachdachte, und wie ich die Sache nun finden sollte, dass dieses fremde Weib auf Kage-Ausflügen aus beruflichen Gründen ziemlich nahe an meinem Freund klebte. Ich hing schon wieder eifersüchtigen Gedanken nach und sah Gespenster. „Wie heißen denn die andere ANBU, die unterwegs immer auf dich aufpassen müssen? Sind das auch alles Weiber?“, fragte ich neugierig mit einem scharfen Unterton in der Stimme. Kakashi roch den Braten und tat so, als würde er meine Frage überhören. Mit melancholischem Blick wandte er sich von mir ab und starrte durch die Zweige auf die Wasseroberfläche. „Du solltest ans Meer fahren“, meinte er plötzlich. „Ans Meer?“, fragte ich verdutzt über den Themenwechsel. „Die Kinder sind ab morgen für drei Wochen im Trainingscamp. Ich werde für ein paar Tage auch nicht da sein. Es würde sich doch anbieten, nachdem du an deiner Arbeitsstelle in Keishi fertig bist, mal unsere Abrisshütte bei Tageslicht in Augenschein zunehmen. Und auch mal, wie es um den Rest des Grundstückes bestellt ist.“ „Hast du das nicht mal vorher gemacht?“ „Nö, ich hab die Katze im Sack gekauft.“ „War die Katze wenigstens billig?“ „Nö.“ Ich musste sehr fassungslos geschaut haben. Hatte ich nicht vor wenigen Sekunden noch gesagt, ich würde seine Unbekümmertheit bewundern? Eben gerade machte sie mich sprachlos und trieb mich fast an den Rand des Wahnsinns. „Du wolltest sie unbedingt haben“, verteidigte er sich und warf mir ein Lächeln zu, dass man nur so dahinschmolz und ihm gar nicht böse sein konnte, solch einen Irrsinn in die Tat umgesetzt zu haben. Und somit war der Plan beschloss. Zusammen würden wir zeitgleich nach Keishi reisen. Von dort würde ich gleich weiter zum Haus fahren, und er würde ein paar Tage später nachfolgen. Mit dem halben Kage-Tross im Handgepäck zum Kennenlernen. Der Bummelzug ratterte in einem einschläfernden Takt über die alte Bahntrasse. Die Sonne knallte erbarmungslos auf das Blechdach des kleinen Schienenbusses und grillte die Insassen. Obgleich alle Schiebefenster bis zum Anschlag geöffnet waren, brachte der Fahrtwind kaum Linderung. Höchstens einen steifen Nacken und einen dicken Schnupfen. Trotzdem freute ich mich sehr, als sich der Zug endlich gemütlich in Bewegung setzte. Keishi hatte an diesen heißen Sommertagen seinen Gästen lediglich eine große Portion an stickiger Luft und flüssigem Asphalt zu bieten. Das Büro meiner Chefin glich einer Sauna. Ich war heilfroh, der Großstadt zu entkommen. Die Landschaftsbilder, die am Zugfenster vorbei schlichen, waren mir nicht fremd und weckten eine gewisse Art von Urlaubsstimmung und Neugier. „Wie lange dauert es denn noch?“, hechelte Ûhei unter der Holzbank hervor. Dort lag er halbtot auf der Seite und zeigte das Weiß in seinen Augen. Seine Lefzen waren so lang, dass man mit ihnen den Boden hätte aufwischen können. Über die ausgerollte Zunge rann genug Speichel zum Bohnern nach. Wann so ein Hund wohl endgültig ausgetrocknet wäre? „Wir sind gleich da! Schau, dort ist schon des Fischerdörfchen. Nur noch um die zwei Hügel herum“, deutet ich mit dem Finger Richtung offenes Fenster zu den Bahngleisen, um den Ninken aufzumuntern. Der aber mochte lieber wie eine tote Flunder auf dem Boden liegen. Erst als das Rumpeln des Zuges stoppte, kam ein zaghafter Hauch von Leben in die Tierknochen. Hätte ich ihn im Nackenfell gepackt und hinterher geschliffen, er wäre wohl schneller auf dem Bahnsteig angekommen. So, wie der Hund aussah, so fühlte sich mein Magen an. Wir brauchten beide eine Stärkung und einen schattigen Platz. Beides bekamen wir unerwarteter als gedacht, denn vor dem kleinen Bahnhofshäuschen harrte ein Mann mittleren Alters aus. Seinen Bauchladen hatte er abgenommen und neben sich abgestellt. Er fächerte sich Luft zu und beobachtete die Passagiere, die hier strandeten. Das waren um diese Uhrzeit nur Ûhei und ich. Der Herr verkaufte selbstgemachte Bentô mit Köstlichkeiten der Region. Ob hier denn öfters Mal Reisende ankämen, fragte ich ihn ungläubig, denn das Nest hier sah nicht nach einem Touristenmagnet aus. Zu bestimmten Zeiten würden Fischhändler kommen, um direkt bei den Fischern die Fänge zu begutachten und zu handeln, meinte dieser, überreichte mir für wenig Geld eine Box und lieh uns sogar noch eine Schüssel für den Hund, damit ich vor dem Bahnhof am Brunnen Wasser schöpfen konnte. Es wäre eine so klare Quelle, dass man direkt daraus trinken dürfte. Die Wasserqualität hätte sich herumgesprochen, weshalb manchmal sogar Leute aus Keishi kämen, um das erquickende Nass flaschenweise abzufüllen. Aha, das klang alles interessant. Der Typ mochte also von hier stammen und könnte sicherlich ein wenig erzählen. Vielleicht könnte ich ihn ausquetschen und Informationen sammeln. Hm, hatte ich gerade schon wieder „Informationen sammeln“ gesagt? Ich wohnte nicht nur mit einem Ninja und zwei Halb-Ninjas unter einem Dach: Ich benahm mich schon so wie ein Ninja, indem ich hier anfing, Spionage zu betreiben. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht. Ich überlegte, wie ich nun weiter vorgehen könnte. Nein, ich müsste keine Geheimniskrämerei betreiben, weil ich eine Mission angenommen hätte. Ganz im Gegenteil, ich würde hier bald wohnen und könnte frei heraus auftreten. Da war doch die Wahrheit immer das Beste. Teilwahrheiten waren aber auch nie ganz verkehrt. „Ich möchte mich kurz vorstellen“, begann ich und verbeugte mich höflich. „Sherenina Jibek. Ich werde zukünftig öfters hier anreisen, denn ich habe hier ein Grundstück erworben. Sie scheinen von hier zu sein. Können Sie mir dazu vielleicht etwas erzählen? Aber natürlich nur, wenn ich Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehme.“ „Hocherfreut“, verbeugte sich der Mann ebenfalls höflich zurück und wohl auch glücklich, in diesem fast ausgestorbenen Dorf mal neue Impulse durch einen Plausch zu erhalten. „Shô Ôgawa. Was trieb Sie dazu an, hier Land zu erwerben, wenn es erlaubt ist zu fragen?“ Shô also. Er schien mir sehr nett und so plauderten wir kurz über Belangloses. Während ich aß und der Ninken endlich sein Wasser hatte, erfuhr ich so einiges. Der Ort hätte neben den Fischerbooten, einem Lokal und einem Gemischtwarenhändler sogar noch einen Arzt, eine Post, ein Gästehaus und eine Weberei. Hui, hier boomte wahrlich die Wirtschaft. Und wenn ich zu Ûhei hinunterschaute, so könnte man auch im übertragenen Sinne sagen, hier läge der Hund begraben. Shô erzählte noch, dass seine Eltern auch Fischer wären, jedoch nicht auf dem Meer, sondern auf dem großen Fluss fischten, welcher hier ins Meer mündete. Er selber würde aber seine Familie damit ernähren, dass er auf der Obstplantage seines Schwagers aushelfen und die selbstgemachten Bentô seiner Frau verkaufen würde. Das wäre nicht viel, aber man käme gut zurecht. Auch von mir gab ich nun ein bisschen preis. Dass ich aus der Großstadt käme, einen Bürojob hätte und mir die Landschaft beim letzten Urlaubsbesuch so gut gefiel. Man könnte hier sicherlich Ruhe tanken. Verwunderung zeichnete sich auf Shôs Gesicht ab, als er erfuhr, welches Haus denn nun das Meine wäre. Ein schlimmes Familiendrama hätte sich dort einst vor Generationen abgespielt. Angeblich würde es dort nun spuken. Viele Einheimische wären sehr abergläubisch und würden daher einen Bogen um das Anwesen schlagen. Na toll! Eine Spukhaus! Einen Geist hatte ich bei Vollmond jedoch im letzten Sommer nicht gesehen. Es würde sicherlich nicht so schlimm werden. Da das Haus vermutlich eh aufgrund seiner Baufälligkeit dem Erdboden gleich gemacht würde, könnte man einen Geist vielleicht vertreiben. Oder er würde wütender werden, wenn man sein Domizil nicht rettete. Ach, da könnte sich doch mal Kakashi prima drum kümmern. Wenn es Gen-Jutsus gab, gab es doch garantiert auch ein verbotenes Geisterjäger-Jutsu. Sollte er doch mal im Archiv in den alten Schriftrollen kramen. Ich konnte mir nur zu gut seinen Gesichtsausdruck vorstellen, wenn ich ihm von Gespenstern erzählen würde. Vermutlich total entgeistert. Ich lachte bei diesem Gedanken kurz auf, just in der Sekunde, wo die Gleise zischten. Dann hörte man den lauten Motor des herannahenden Schienenbusses. Wir beide hatten solange geredet, dass gute zwei Stunden verstrichen waren. Neue Kundschaft für Shô nahte heran. Ich beschloss, ihn nicht weiter aufzuhalten. Man würde sich zukünftig wohl eh vermehrt über den Weg laufen. Also verabschiedete ich mich und schlenderte durch den kleinen Ort über die einzige Durchgangsstraße hinaus zur bewaldeten Küste. „Hab' ich zu viel erzählt? Ich meine, er müsse ja nicht alles so genau wissen“, fragte ich Ûhei etwas verunsichert unterwegs. „Nein. Er weiß nur, dass du dort bald wohnen wirst. Mehr nicht. War doch in Ordnung so“, gab Ûhei an. Ich war beruhigt. Die Bevölkerung reagierte sehr unterschiedlich auf Ninjas in der Nachbarschaft. Meist nahm sie es hin und beäugten sie skeptisch voller Vorurteile. Doch viele Überfälle durch Nuke-Nin hatten nicht sonderlich dazu beigetragen, den Ninjas zu vertrauen. Für viele waren Ninjas eine verschworene, unheimliche Truppe voller Mörder. Dieser Meinung hing auch ich lange nach und hatte sie noch immer nicht gänzlich ablegen können. Mittlerweile stand ich dem neutraler gegenüber, was nicht hieß, dass ich es befürwortete. Jedenfalls war es geschickt, meine zukünftige Nachbarschaft noch nicht über die beruflichen Ambitionen meiner Familie aufzuklären. Trotz der schützenden Bäume spürte man eine leichte Brise vom Meer her aufkommen. Sie spielte mit meinem luftigen Sommerkleid und meinen Haarsträhnen. Ein angenehmer Luftzug, der durch das hohe Gras raschelte. Es schmeckte nach Salz und roch nach Meerwasser. Nach einer Weile passierten wir das Haus meiner Chefin, in welchem wir letztes Jahr verweilten. Folglich müsste das nächste Haus unseres sein. Die Straße machte eine leichte Biegung. Sie zog sich ins Endlose. Ich dachte schon fast, wir hätten uns in der Gegend geirrt, denn als ich damals mitten in der Nacht am Strand entlang ging, kam mir der Abstand zwischen dem einen Haus bis zum nächsten Haus gar nicht so weit vor. Der Ninken behauptete, die Straße würde sich von der Wasserlinie entfernen und deshalb wäre es weiter entfernt. Tatsächlich tauchte bald schon ein zugewachsener Stichweg auf, der uns nach wenigen Schritten direkt vor die Haustür führte. Ohje! Mehr fiel mir wirklich nicht ein. Auch wenn Kakashi es eher immer im Scherze gemeint hatte, war das Haus bei Tageslicht wirklich eine Abrisshütte. Das Mondlicht hatte die Konturen der Ruine weichgezeichnet. Nun in der Realität bei Sonnenschein stand hier kein Pfosten mehr auf dem anderen. Das Dach schien an der einen Stelle undicht und eingebrochen. Somit war die Seitenwand verfault und eingestürzt. Gestrüpp wucherte durch die Öffnung ins Innere hinein. Ûhei ulkte, es wäre ein verkapptes Gewächshaus. Nur mit großem Kraftaufwand konnte ich die Haustür öffnen. Der Türrahmen war völlig verzogen. Doch dahinter war ich schon fast ein wenig überrascht, von dem, was mich dort erwartete, denn es sah wohnlicher aus, als vermutet. Dieser Teil des Gebäudes machte einen noch recht intakten Eindruck. Es war auch der Bereich, den ich schon bei Nacht gesehen und in den ich mich so sehr verliebt hatte. Im Grunde war das ganze Domizil viel zu groß für unsere vierköpfige Familie. Vielleicht könnte man sich sogar von den verfallenen Räumen trennen und würde nur den gut erhaltenen Teil wohnbar machen. Es war ein ganz typisches Haus traditioneller Bauweise. Das ganze Dach, welches weit überstand, ruhte auf wenigen, innen liegenden Pfosten. Durch das Holzgerüst konnte alle Innen- und Außenwände beliebig als Schiebeelemente geschoben werden. Das machte es einerseits sehr luftig im Sommer, doch im Winter bot es keinerlei Wärmeisolierung. Geräuschedämmung gab es praktisch gar nicht. „Spartanisch“ war das Zauberwort in puncto Inneneinrichtung. Viele würden mich wohl für verrückt erklären, wenn sie den Zustand des Hauses sehen würden. Doch ich sah es auch als Chance, denn wo viel zerstört war, konnte man auch viel nach eigenen Wünschen erneuern. Es würde sicherlich ein Stilmix werden aus Tradition und Moderne, aus Erd-Reich und Feuer-Reich. Auf jeden Fall wollte ich den Charakter des Hauses erhalten. Was da noch auf mich zukommen würde, darüber mochte ich mir keine Gedanken machen. Das würde mir den Spaß schon nehmen, bevor es überhaupt begonnen hätte. Ich schoss ein paar Bilder mit dem Handy, um mir später noch einmal alles in Ruhe ansehen zu können. Eben war ich total reizüberflutet. Außerdem könnte ich Tenzô ein paar Bilder schicken und mit ihm seine Kartoffelbrei-Bezahlung aushandeln, wenn er uns bei den Holzelementen unter die Arme greifen würde. Doch die ersten Bilder schickte ich an Kakashi und teilte ihm mit, dass ich mir auch mal das Gelände ansehen würde. Es gäbe zwar eine Wasserversorgung entlang der Straße, und auch Strommasten hatte ich dort gesehen, aber in den Unterlagen war zu lesen, dass das Grundstück irgendwo eine heiße Quelle aufweisen müsste. Und es gäbe wohl ein Rohrsystem, welches Quelle und Haus verbände. Das wäre doch mal ein Bonus. Ich war nicht gut im Kartenlesen. Das hatte ich bereits letztes Jahr gemerkt, als ich die drei Tage lang zum Fluss-Reich marschierte. Und so schätze ich auch die ganzen Entfernungen falsch ein. Ûhei und ich ließen das Haus hinter uns und streiften quer durch die Felder. Weg vom Meer, hin zu den kleinen Hügeln und Bergen. Die Quelle wollte sich einfach nicht finden lassen. Dabei sah es auf der Karte, auf welcher das gesamte Grundstück verzeichnet war, recht nahe aus. Der Hund bot an, die Karte auch einmal genauer zu betrachten. Mir sollte es recht sein. Der war einfach erfahrener in solchen Dingen. „Wollt ihr mal eine Farm aufmachen?“ „Bitte?“, fragte ich verdutzt. „Na, wenn die Karte stimmt, dann haben wir noch einiges an Fußmarsch vor uns.“ „Nicht dein ernst...“ Ich stöhnte und so langsam schwante es mir, warum das Haus soviel Geld gekostet hatte: Es lag nicht an der Immobilie an sich, sondern an denn Quadratmetern Landmasse drumherum. Oder sollte ich besser sagen Quadratkilometer? Ich war in Mathematik wirklich immer eine gute Schülerin gewesen. Auch bei der Flächenberechnung hatte ich nie Fehler gemacht, aber mir fehlte eine klare Vorstellung darüber, wie groß überhaupt ein Hektar oder ein Morgen oder gar ein Quadratkilometer in der wirklichen Natur waren. In den Besitzunterlagen waren darüber hinaus nur altertümliche Feldmaße zu finden, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Mittlerweile war ich dem Hund solange bergauf gefolgt, dass wir beide die Felder am Hang durchschritten hatten und einen Waldrand erreichten. Völlig außer Atem ließ ich mich ins Gras fallen und betrachtete nun im Schatten der Bäume und einer kühlenden Meeresbrise, was sich dort zu meinen Füßen ausstreckte. Die Aussicht von hier oben war noch besser als das, was man von dort unten nur erahnte. Erst einmal erstreckte sich unter einem wolkenlosen, knallblauen Himmel das endlos weite Meer. In kühlem Blau ruhte es dort wie eine riesengroße Pfütze. Früher hatte ich immer gedacht, man könnte vom Festland über den Hanguri Golf hinüber zur Halbinsel blicken, weil es mir per Luftlinie nicht so weit entfernt schien. Doch so sehr ich die Horizontlinie gen Südosten mit den Augen fokussierte, ich konnte die Halbinsel, die sich das Feuer-Reich mit dem Nudel-Reich und dem Tee-Reich territorial teilten, nicht entdecken. Also legte ich mein Hauptaugenmerk auf die nähere Umgebung. Von hier oben sah ich klarer. Unser Grundstück reichte von der Wasserkante über die ersten Hügeln hinweg bis hoch zu den flachen Bergen. Dazwischen lag viel Waldgebiet und Brachland. Auf den ersten Blick hatte ich schon erkennen können, dass es einst Gemüsefelder gewesen waren. Nun konnte ich auch besser einen zugewachsenen Fahrweg ausmachen, von dem laut Lageplan Pfade zur Quelle, zu einer kleinen Hütte und einem Schrein führen sollten. Ûhei meinte, er hätte schon die ganze Zeit über die Quelle gewittert, doch er war sich unsicher, ob es die richtige wäre, da ich angab, es wäre nicht weit vom Haus entfernt. Ich winkte ab. Heute hatte ich keine Lust mehr, noch weiter durch die Gluthitze zu wandern. Nach einer ausgiebigen Pause, als die Sonne mit ihrer Kraft gegen Abend etwas nachgab, machten wir uns auf den Rückweg. Wir verabschiedeten uns vom Haus und trotteten wieder zurück in das Dörfchen, in welchem es laut Shôs Erzählung ein Gästehaus geben sollte. Darauf freute ich mich sehr, denn den letzten Zug nach Keishi hatten wir verpasst. Es war keine Option, in unserem Haus zu kampieren. Zu sehr hatte ich Sorge, mir würde nachts ein morscher Balken auf den Kopf fallen, ich würde durch den fauligen Boden durchbrechen oder vielleicht doch den Hausgeist antreffen. Nein, das Gästehaus mit einem reinigenden Bad, einem servierten Abendessen und einem stabilen Dach über dem Kopf hatte bei der Abwägung klar gepunktet. Welch Wohltat, als wir es am anderen Ende des Dorfes fanden und einkehrten. Morgenstund hat Gold im Mund. Für mich galt das an diesem Morgen überhaupt nicht. Die Nacht war wieder einmal mehr tropischer Temperatur gewesen, dass ich nur schwer in den Schlaf fand. Und dann hatte ich noch einen wirren Mix aus Geisterhaus, fauligem Holz und heißen Quellen mit schwarzem Wasser geträumt. So einen richtigen Hirnmüll. Und nun rüttelte es nach zu wenigen Stunden des Schlafes auch noch sachte an meiner Schulter. „Ûhei, lass mich in Ruhe! Ich will schlafen!“, schnaufte ich entnervt. Bis zum Frühstück war es doch sicherlich noch etwas Zeit, denn draußen dämmerte es erst. Was wollte dieser Hund schon wieder? Für gewöhnlich ging der immer allein Gassi. Und hartnäckig war der auch noch! Schon wieder tippte es an meine Schulter. Und jetzt strich es auch noch an meinem Hals und meiner Wange liebkosend entlang. Na warte, du Vieh! Wenn das da deine Zunge in meinem Gesicht wäre, dann Gnade dir! Da wollte ich mich schon umdrehen und meinen Kopf unter das Kissen schieben, als mir jenes plötzlich einfach unter dem Haupte hinweggezogen wurde. Jetzt schlug's dreizehn! „HUND!“, beschwerte ich mich laut. Sauer fuhr ich hoch. Wehe, Ûhei hätte keinen triftigen Grund für diesen Weckruf. Der sollte es noch einmal wagen! Im ersten Moment des Wachwerdens dachte ich noch, mein Traum hätte sich in die Realität verflüchtigt, denn Kakashis Hokage-Mantel sah bei meinem schlafgetrübten Blick tatsächlich aus, wie das weiße Gewand eines Bettlakengeistes. Und da der rote Hut und der schwarze Rollkragen kaum Licht reflektierten, sah der Manteltorso obenrum recht kopflos aus. Zum Schreien! Normalerweise würde man sich erst zu Tode erschreckten und dann fragen „Wie kommst du hier rein?“ oder „Wo kommst du denn her?“ Das hatte ich mir schon lange abgewöhnt, denn ein Shinobi kam überall jederzeit rein. Also alles völlig überflüssige Fragen. Da passte doch besser: „Wieso bist du denn so übertrieben gut gelaunt?“ In der Tat hatte mein Freund mich heimgesucht und freute sich diverse Löcher. Vielleicht lachte er mich auch einfach nur aus, weil ich so bescheuert dämlich aussah, wie ich da schlaftrunken um mein Kissen kämpfte. Dabei rieb ich mir müde die Augen, riss nach einigen Versuchen maulend mein Kissen wieder an mich und ließ mich zurück auf mein Nachtlager fallen. Idiot! „Du platzt ja vor Freude, mich zu sehen. Dann hätte ich mich gar nicht zu beeilen brauchen“, wurde von ihm nüchtern festgestellt. „Dabei willst du doch wichtige Dinge immer sofort wissen.“ Wichtige Dinge? Wenn Kakashi strahlte wie ein Klumpen Uran und mich mitten aus dem Schlaf riss, dann konnte das nur eine Sache bedeuten: Er hatte sich mit dem Daimyô über seinen Rücktritt einigen können. Ruckartig drehte ich mich wieder zu ihm zurück. „Wann?“ „Ende Oktober.“ Ende Oktober? Das waren nur noch gute drei Monate. Doch so plötzlich? Ich konnte es gar nicht fassen. Erst bibberte man dem Termin entgegen und dann stand er augenblicklich vor der Tür. Das war fast schon ein bisschen unheimlich. Nach insgesamt elf Jahren neigte sich die Kage-Ära Kakashi dem Ende entgegen. Und eben gerade schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, denn Kakashi auch haben musste: „Weißt du, dass wir uns genau so getroffen hatten?“, kam es gleichzeitig aus unseren Mündern. Kurzes Verlegenheitslachen auf beiden Seiten. Ja, das war in etwa so abgelaufen. Damals auf dem staubigen Kopfsteinpflaster. Kakashi hockten mit Mantel und Hut vor mir und ich lag halb zertrümmert auf der Straße und blickte zu ihm auf. Genauso, wie eben gerade: Er hockte da in seiner Tracht und ich saß zerknautscht auf der Futonmatte. Fehlte nur noch, dass Hisui mir wieder ins Kreuz trat. Apropos Hisui. Wo war denn die griffige ANBU-Garde abgeblieben, die ich bald mal kennenlernen sollte? ANBUs verbargen sich immer im Dunkeln, wurde ich mysteriös aufgeklärt, und ich hoffte, sie würden nicht über unseren Köpfen im Dachgebälk sitzen und uns genaustens observieren. Da müsste ich ja glatt noch fürchten, ich bekäme heute Nacht noch ein Kunai in den Rücken geschmissen, weil ich es wagen würde, mich zu nahe an meinen Freund zu kuscheln. Auch wenn die Bande instruiert worden war, so blieb sie mir von Grund auf unheimlich. Ich wurde beruhigt und verbrachte noch die letzten Stunden vor Tagesanbruch friedlich schlafend. Obgleich die Hausherrin versuchte hatte, mir das Frühstück unauffällig leise in meinen Raum zu schieben, war ich doch von dem schleifenden Geräusch der Schiebetür geweckt worden. Mein Freund hatte sich schon längst wieder unsichtbar gemacht und hatte das Gasthaus verlassen. Da ich nur mit mir selbst und einem Hund angereist war, sollte ich ebenso auch wieder abreisen. Alles andere würde nur für Verwirrung sorgen. Dafür hatten wir vereinbart, dass wir uns an unserem Haus treffen würden. Während ich mich stärkte, genoss ich den Vorteil, ein absolut durchschnittlicher Zivilist zu sein. Wie die ANBUs irgendwo in einem unbequemen Versteck bei Wind und Wetter zu nächtigen und den lieben langen Tag nur widerlich bittere Nahrungskugeln zu kauen, widerstrebte mir. Ich hatte mal so eine Kugel bei Tenzô probiert, kurz bevor er von Konoha aus wieder zu seinem Außenposten aufbrach. Ein undefinierbares Zeug, obwohl mir Tenzô genau sagen konnte, was darin alles verkocht, vermatscht und getrocknet worden war. Kaum gewürzt, um keinen Körpergeruch zu erzeugen. Wenig Salz, um Durst zu unterdrücken. Aber unglaublich viele Mineralien und Vitamine. Es hatte die Farbe von Hundekot, klebte an den Fingern und schmeckte krümelig auf der Zunge. In der Not essbar. Mehr davon wollte ich nicht kosten. Ich kam bei meiner Verabschiedung noch mit der Hausherrin ins Gespräch und verquatschte mich. Es war Ûhei zu verdanken, dass ich hier keine Wurzeln schlug, denn er zerrte mit seinen Zähnen an meinem Hosenbein herum und mahnte zum Aufbruch. Weit kam ich nicht. Nur wenige Häuser weiter stand Shô vor dem Haus und verpackte ein frisches Bentô nach dem anderen in seine Kiepe und den Rest in dem großen Bauchladenkasten. Wow, die Boxen fanden wohl tatsächlich reizenden Absatz. Und es gab wohl auch mehr vorbeiströmende Fischhändler, als ich je vermutet hätte. Nun würde auch ich seine Gewinnspanne ausdehnen, denn ich nahm dem verdutzen Shô gleich fünf Boxen ab. Zwar freute er sich, dass ich das Essen seiner Frau über den Klee lobte, doch fünf Bentô auf einmal machten ihn skeptisch. Mein Märchen, ich würde sie in die Heimat mitnehmen wollen, klang wohl zu konstruiert. Egal, der Ninken und ich eilten am Strand entlang. Hier konnte man es wahrlich aushalten, weil der Wind wehte und herrlich erfrischte. Da konnte ich einfach nicht anders, als auf halber Strecke stehen zu bleiben und zu verweilen. Meine Augen verloren sich in den gleichmäßigen Wellen und dem tiefen Blau. Es rauschte in meinen Ohren. Es weckte ein Bedürfnis, mit dieser Strömung mit zu treiben wie ein Stück Holz. Frei und schwerelos. Ich vermochte nicht mehr zu sagen, wie lange ich hier so gestanden hatte, bis ich wieder zurückkehren musste. Zurück in die Gegenwart, den Ort und das Leben. Langsam schlenderte ich weiter. Die Schuhe hatte ich längst ausgezogen und ging durch die seichte Brandung. Es kühlte großartig. Schon bald zog ich einen leichten Bogen über den breiten Strand hinweg, denn ich hatte Kakashi unter einem Baum sitzen sehen. Oder hatte ich mich getäuscht? Perplex blieb ich stehen. Nein, er war nicht mehr da. Der Platz war leer. „Das ist lieb von dir!“, wurde ich von der Seite her gelobt und mir die Boxen aus den Händen abgenommen. Ich hatte es ja vorhin erwähnt: Dieses plötzliche Auftauchen war ein Trick, den ich allerdings aufgegeben hatte, durchschauen zu wollen. Der Trick war garantiert genauso billig wie alle anderen Tricks, denn obwohl Shinobi mit ihrem Chakra physikalische Gesetzmäßigkeiten augenscheinlich verdrehen konnten, so waren sie doch keine Magier, welche im Stand gewesen wären, sie komplett aufzuheben. Kakashi war unvermutet von einer Sekunde auf die andere einfach immer mal so da. Oder halt mal weg. Ganz unerklärlich. Doch immer so, dass es meist passte. Ich dachte an ihn und „Plopp!“. Fast schon wie Gedankenübertragung. Es hatte auf jeden Fall gefruchtet, dass ich mich grundsätzlich nicht von ihm versetzen ließ. Wenn er unpünktlich war, wartete ich niemals, sondern ging einfach davon. Das Hinterherlaufen musste aber für ihn eine extrem ungemütliche und peinliche Sache sein, weshalb er bei mir nie mehr unpünktlich aufkreuzte. Wenigstens in dem Punkt hatte ich ihn ein kleines Bisschen erzogen. „Wir sind doch zu fünft?“, schüttelte ich mich kurz, um meinem Tagtraum zu entrinnen. „Ja, sind wir“, bestätigte Kakashi meine Zählung, und ich folgte ihm zu dem Baum, unter welchem er anscheinend doch gesessen haben musste, denn dort stand sein Rucksack. „Die Bentô sind echt lecker. Ich hatte Glück, dass ich Shô vorhin wiedergetroffen hatte.“ „Shô?“ „Ja, er verkauft sie für seine Frau an die Reisenden am Bahnhof. Da hab ich ihn gleich erstmal über das Dorf ausgequetscht“, berichtete ich und lachte in mich hinein, weil auf Kakashis Gesicht sofort eine Spur Eifersucht aufflammte. Das stand ihm irgendwie, weil seine Augen dann dunkler wurden und er dann wacher und durchdringender schaute. Ziemlich süß. „So, so. Hier mit fremden Kerlen flirten, aber mich fragen, wie viele Weiber in meinem Kage-Team sind“, zischte er zurück, doch ich erkannte, dass er in der nächsten Sekunde auch ein bisschen schmunzelte. Gemeinsam schlenderten wir die letzten Meter bis zum Ziel. „Und wo haben die Drei sich nun verschanzt?“ „Was vermutest du?“ Ich musterte während des Gehens die Gegend mit den Augen. Da war das Meer, der Strand und der angrenzende Wald. Zwischen den Baumwipfeln lugte das Dach des Hauses heraus. Teufel, die konnten überall stecken. „Kein Plan. Hier sind fast alle Elemente vorhanden. Also können sie sich auch überall verstecken. Normalerweise wäre wohl das kräftesparende Versteck im Gebüsch oder auf dem Baum zu wählen. Aber von dir weiß ich ja, dass du als zweite Wahl immer im Erdreich verborgen bist.“ Abrupt blieb Kakashi stehen und starrte mich an, als hätte ich gerade sämtliche Shinobi-Tricks als Buch vermarktet und einen Bestseller gelandet. Ein ganzes Leben enttarnt. „Wann und wie hast du das denn herausbekommen?“, klang es fast schon verdattert. „Das hatte ich auf dem Trainingsplatz beobachtet, als ich mir da als gelangweilter Zuschauer Stunde um Stunde um die Ohren schlagen musste“, antwortete ich souverän, verriet aber nicht, dass das nur eine Teilwahrheit war. Ich wollte mich noch etwas darin aalen, meinen Freund mal verdattert zu sehen. Die ganze Wahrheit war nämlich die, dass ich mir während eines Trainings von Tenzô die Element-Affinitäten hatte erklären lassen. Jo-Nin beherrschten mehrere Elemente, hatten aber immer eine bevorzugte Reihenfolge. Da hatte er sich dann verplappert, dass bei Kakashi das Erd-Element auf Platz Zwei stehen würden. Und dass Kakashi mir eben meine kleine Lüge nicht abnahm, sah ich ihm an, denn natürlich erinnerte er sich, niemals das Erdversteck bei Yuukis Training benutzt zu haben. Dafür hatte ich es aber in Aktion gesehen, als wir im Fluss-Reich den Postzug erreichen mussten und er mich mit der Erdwand geschützt hatte. Wie dem auch sei hatte Kakashi nun etwas zum Grübeln, wie ich das in Erfahrung gebracht hätte. Tenzô würde ich auf keinen Fall in die Pfanne hauen. Der sollte ja noch mein Haus wieder aufbauen. Außerdem waren wir wirklich gute Freunde geworden. „Die Vögel sitzen im Geäst“, löste er nun aber das kleine Rätsel auf, wie wir nun bei dem Baum angekommen waren. Dabei tat er so, als würde er über nichts mehr grübeln. Da kannte ich ihn mittlerweile aber besser. Er würde hundertprozentig noch einige Male drüber nachdenken. Nun aber flatterten wie auf Kommando die drei ANBU aus der nächsten Baumkrone herab und landeten direkt vor uns. Es fiel sofort auf, dass sie alle drei annähernd gleichgroß und exakt gleich gekleidet waren. Selbst die Masken waren zum Verwechseln ähnlich. Drei Vogelgesichter mit blau-grünem Streifenmuster. Allerdings unterschieden sich die Farbnuancen. Sie erinnerten an den Glanz von Edelsteine. Und dann ging mir ein Licht auf. Na klar! Die üblichen Wortspiele. Hisui konnte nicht nur Eisvogel, sondern auch Jade heißen, weil das glänzende Gefieder dem von Jadegrün glich. Ich würde einen Besen fressen, wenn das bei den beiden anderen auch so wäre. „Hisui, Kujaku und Ruri“, stellte Hokage-sama seine Schar vor, verteilte die Boxen und schon waren die Drei wieder ausgeflogen. „Man gut, dass gerade kein Besen zur Hand ist...“, rutschte es mir heraus. „Wieso? Willst du versuchen, sie mit dem Besen verscheuchen? So wie mich damals in deiner Küche?“, lachte Kakashi. „Ach Quatsch. Ich dachte gerade nur, dass die Farben auf den Masken so schillern wie Edelsteine. Und dass Hisui auch Jade heißen kann. Ich wollte einen Besen fressen, wenn das bei den anderen beiden auch so wäre. Also das mit dem Namen...“, erklärte ich und bettelte: „Übersetz' doch mal.“ „Kujaku heißt Pfau oder Malachit. Ruri ist ein Blauschwanz oder Lapislazuli. Und um deine Neugier zu befriedigen: Es sind zwei Brüder und eine Schwester.“ Oh, wie nett. Da passte die Namenswahl doch wirklich gut, weil die Namen eine Einheit bildeten wie sie das auch als Geschwister taten. So kreativ hätte ich meinen Freund gar nicht eingeschätzt. Nein, das wäre auch nicht seine Namenswahl, sondern noch die von Tsunade gewesen, gab er zu. Die Auswahl hatte er dann einfach übernommen. Dank des guten Frühstücks plagte mich noch kein Hunger, weshalb ich meine Box unberührt ließ. „Wie reagieren sie denn darauf, dass sie bald arbeitslos sind?“ „Dann machen sie andere Aufgaben. Aber ich glaube, sie sind schon ein bisschen geknickt. Mal sehen ...“ Kurze Zeit später saßen wir beide noch auf dem Engawa unseres Hauses und trugen lose Ideen über unsere neue Bleibe zusammen. Ich sollte mir mal ein paar Gedanken machen, diese skizzieren und dann mit ihm besprechen. Das wäre wohl einfacher, als wenn man zwei komplett verschiedenen Entwürfe zu einem vereinen würde. Er wäre da so ziemlich unkreativ und ließe mir deshalb ziemlich freie Hand. Solange er in dem Gebäude sein Bett und seine Sachen wiederfinden würde, wäre ihm fast alles recht. Außerdem wäre es doch in erster Linie mein Projekt. Es gefiel ihm sehr, dass ich an der alten Holzkonstruktion festhalten wollte. So zog der Mittag vorüber und auch der Abend. Wir genossen die Stille und das Meer. Auch die drei Vögel landeten am Strand und nahmen ein Sonnenbad. Den letzten Zug nach Hause ließen wir ohne uns abfahren. Stattdessen Lagerfeuer am Strand, Sterne glotzen und dann viel zu spät einschlafen. Noch früh genug wären wir wieder zurück in Konohagakure. Im Grau des Alltags. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)