Kalendertage von sakemaki (Der Tag, an ...) ================================================================================ Kapitel 11: 11 – Der Tag, an dem ich eine Schwachstelle fand ------------------------------------------------------------ Da stand ich nun wie bestellt und nicht abgeholt mitten auf dem Flur und nahm die aufgehende Sonne und deren helle Strahlen wie durch Wattewolken war. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein, oder etwa doch? Mein Kopf hatte Pudding inne, so durcheinander war ich. Geistesabwesend streichelte meine Hand zärtlich meine eigene Wange, wo eben gerade noch Inus Gesicht sich angeschmiegt hatte. Die Wohnzimmertür war längst sachte ins Schloss gefallen und hatte seine und meine Welt auf eine sehr merkwürdige Art getrennt. Obwohl wir auf engsten Raum in meiner Wohnung waren, so kam mir diese Tür wie eine unüberwindbare Mauer vor, und das Wohnzimmer lag eben gerade in einer völlig anderen Dimension weit außerhalb der meinigen. Das war natürlich nüchtern betrachtet alles absoluter Quatsch, aber so bizarr kam mir die Szenerie samt seiner Geschehnisse vor. Mit dem Handrücken matschte ich mir in meinem Gesicht herum. Wacher wurde ich davon nicht, weshalb ich wiederholt ins Bad ging. So oft, wie ich in der vergangenen Nacht diesen Raum heimgesucht hatte, so hätte man von einer Zeitschleife reden können, die sich immer wieder aufs Neue wiederholte. Bad rein, Bad raus. Total abgedreht. Dort schon wieder angekommen, gönnte ich mir per Waschlappen eine Ladung kaltes Wasser. Davon bekam man zwar keine Lebensgeister zurück, aber wenigstens eine gesunde Gesichtsfarbe. Danach kämpfte die Haarbürste ihre Schlacht mit meinen Haaren. Hinterher spülte eine Menge Zahnpastaschaum den bitteren Geschmack im Munde weg. Der nachfolgende Ablauf war die übliche Routine. Kaffeemaschine anschmeißen, Frühstückstisch spartanisch decken und sich selbst für den Job angemessen ankleiden und zurecht machen. Im Hintergrund hörte ich, wie sich bei meinem Sohn langsam das Leben regte. Er pflegte immer nach mir das Bad aufzusuchen und sich dann übellaunig an den dürftig gedeckten Tisch zu setzen. Es ging normalerweise schweigend bei uns zu, da wir beide Morgenmuffel waren. Da wurde in aller Stille das Frühstück heruntergeschlungen, Verpflegung für die Schule gemacht, Tee in Thermoskannen gegossen und mit der Tageszeitung geraschelt. Die einzige lärmende Utensil war das kleine Küchenradio, was uns das Reden abnahm und vor sich herplärrte. „Wo is'n Inu?“ platze da so unerwartet mein Herr Sohn in unser morgendliches Ruheritual, dass ich fast den Kaffee aus meiner Tasse verschüttete. „Ich habe mitbekommen, dass der noch die halbe Nacht Papierkram bearbeitet hat. Vielleicht nutzt der mal die Gunst der Stunde und schläft sich aus?“, überlegte ich, während ich an meinem Honigtoast kaute. Mit einer bedrückten Miene schob Yuuki seine leere Reisschüssel von sich weg. Er hatte wohl gehofft, seinen inoffiziellen Sensei beim Frühstück anzutreffen. Ich beruhigte ihn, dass Inu sicherlich noch hier wäre, wenn er am Nachmittag aus der Schule kommen würde. Das hob die Stimmung nicht mäßig viel, aber immerhin genug, dass Yuuki seine Schulsachen und seine Teekanne nahm und sich von dannen trollte. Mir blieb da nur noch die Arbeit, die Küche wieder in den Ausgangszustand zurückzusetzen und nahm dann die Beine in die Hand. Schnell zur Bank, Lohntüten verteilen und dann ab ins Bett. Ich hätte ja gerne das Sofa für einen Mittagsschlaf vorgezogen, wenn sich da nicht ein gewisser Untermieter auf Zeit bei mir einquartiert hätte. Ich brauchte aber dringend ein oder zwei Stunden Schlaf. Danach wäre ich zumindest wieder soweit reguliert, dass ich den Tag überleben würde. Auf dem Flur überlegte ich noch, ob ich Inu doch noch eine Schüssel Reis, Sojasoße und ein Ei auf den Küchentisch bereitstellen sollte, entschied mich dann aber doch dagegen. Sollte er selbst entscheiden, was er frühstücken wollte. Inu... Wenn ich daran dachte, dass noch vor nicht mal einer Stunde meine Finger durch seine strubbeligen Haaren fuhren und wir uns so nahe standen wie noch nie zuvor, dann glühte ich wie ein Stück heiße Kohle vor mich her und trieb mich innerlich an, meine Dienstwege noch schneller zu erledigen. Ob ich es mir nun eingestehen wollte oder nicht: Inu war schon ein Ansporn, zackig wieder daheim aufzuschlagen. Die Straßen Konohas erwachten gerade zum Leben. Lieferwagen blockierten die Gassen. Das übliche Hupkonzert setzte ein, da es jeder irgendwie eilig im Vorankommen hatte, aber jeder wie Perlen auf der Schnur hintereinander im Stau stand. Da ging nichts vor und nichts zurück. Als Fußgänger war man hier nach wie vor im Vorteil, umrundete die urbanen Hindernisse wie beim Slalom und quetschte sich zwischen den motorisierten Gegnern hindurch. Obwohl ich schon viele Jahre in Konoha lebte, kannte ich bei weitem noch nicht alle Straßen und Ecken dieses Ortes. Und wenn ich mal aus Neugier einen anderen Weg fern ab der üblichen Gewohnheit ausprobierte, so war ich immer wieder überrascht, wie spannend es doch abseits der üblichen Marschroute war. Auf diese Weise hatte ich einen urigen Teeladen, einen super leckeren Onigiri-Stand oder auch den kleinen Reishändler entdeckt, um nur einige meiner Lieblingsgeschäfte zu nennen. Aber auch die Parks und das Flussufer hatte idyllische und ruhige Seiten. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich hätte schon immer hier gelebt, so sehr hatte ich mich eingewöhnt. Ja, ich mochte dieses Kaff, was eigentlich gar kein Kaff mehr war, auch wenn es KonohaGAKURE hieß. Nach zwei Straßen und drei Häuserecken weiter stand ich nun endlich vor dem Bankgebäude. Zumindest dachte ich das, trennten mich doch ein unerwartetes Hindernis von meinem Ziel. Mich empfing das Ende einer Menschenschlange, welche bei besagtem Zielobjekt anstand. Nein! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Anstehen und Warten war so rein gar nicht mein Ding. Ich war von Natur aus ungeduldig und sprunghaft. Alle paar Minuten eine neue Meinung meinerseits. So schnell gewechselt wie Unterwäsche. Das war ein absoluter Negativpunkt, wenn ich mich selbst beschreiben müsste, aber so war ich nun einmal. Also holte ich mir noch einen Pott Kaffee auf die Faust an einem Kaffeewagen und reihte mich entnervt ein. Das war so ziemlich das Ungünstigste, was mir hätte passieren können. Zum einen würde es nun mit den Lohntüten und meiner anschließenden Schlafpause noch länger dauern und zum anderen bekam man durch das Dumm-Rumstehen ziemlich viel Langeweile und somit bescheuerte Ideen, wie man sich die Zeit vertreiben könnte. Ich kramte mein Handy hervor und beantwortet gestresst Arbeitsmails und anderweitigen Blödsinn. Das klappte schneller als gedacht, doch die Schlange hatte sich noch keinen Meter bewegt. Ich schnaubte hörbar, erntete dafür aber nur empörtes Stirnrunzeln und verärgerte Blicke von den anwesenden Passanten. Ja, die Ausländerin hatte keine Geduld im Gegensatz zu den Einheimischen, sollten diese Gesten bedeuten. Ich störte mich aber nicht weiter daran und ignorierte die Meinung der Anderen über mich, indem ich gelangweilt die Kontaktliste bei DropIn hoch- und runterscrollte, ob ich einen beruflichen Kontakt vergessen haben könnte. Nachdem ich das arbeitsbedingte Pflichtprogramm abgearbeitet hatte, überlegte ich kurz und tippte Inu dann: „Guten Morgen, schon wach? Soll ich was zum Mittagessen mitbringen? :-)“ Vielleicht würde Inu antwortet. Allerdings kam das generell nicht so häufig vor. Ein Umstand, der bei mir keine Chance hatte, akzeptiert zu werden. Meine Ungeduld forderte eine sofortige Antwort. Das perlte aber an Inu ab wie Öl auf der Wasseroberfläche. Umso freudig überraschter war ich, als mein Handy kurz darauf piepte: „JETZT bin ich wach. ;-)“ Und nach ein paar weiteren Minuten des Nachdenkens: „Mittagessen wäre nett.“ Mein Herz macht einen kleinen Stolperer. Warm durchfloss es mich in dem Moment. Der ANBU hatte es wirklich geschafft, mich um den Finger zu wickeln mit seiner ganz eigenen, besonderen Art. Es sollte nie wieder ein Ninja sein, der mein Herz erobern könnte. Nun hatte ich doch wieder so einem meine Liebe geschenkt. Und dann auch noch ausgerechnet so eine kompliziertes, freches Kaliber. Die Ironie des Schicksals. Die Menschenschlange hatte nun eine gemäßigte Fahrt aufgenommen, denn der Bankschalter hatte pünktlich um 9 Uhr geöffnet. Es es war mir lange ein Rätsel geblieben, weshalb Kleinstbeträge nicht einfach am Geldautomat gezogen wurden, bis ich dahinter kam, dass einige Firmen ihren Angestellten Wechselscheine und Verrechnungsschecks ausstellten. Eine sehr altmodische Art, die im Erdreich gar nicht mehr betrieben wurde. Allerdings wurde von Jahr zu Jahr die Schlange der Wartenden beachtlich kleiner, was darauf schließen ließ, dass die Schecks auch hier bald der Vergangenheit angehören würden. Eine Viertelstunde später war ich endlich an der Reihe, erhielt meine abgezählten Geldbündel, welche sorgfältig gestapelt in meiner dafür passenden Tasche verschwanden und machte mich dann auf den Rückweg. Die ersten Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und das allgemeine Schwitzen begann. Ich hasste es, mit soviel Geld im Gepäck durch die Gegend zu laufen. Ein ungutes Gefühl, überfallen zu werden, machte sich jedes Mal in mir breit, wenn ich von der Bank zurück zum Kontor stiefelte. Ein Grinsen legte sich auf mein Gesicht. Vielleicht sollte ich doch noch einmal ernsthaft nachfragen, was ein Ninja so kostete, wenn man ihn für eine Mission buchen würde. Dann könnte der anstelle meiner das Geld abholen und sich gegebenfalls einen über den Kopf ziehen lassen, obgleich man wirklich zugeben musste, dass Konoha sehr sichere Straßen hatte. Sowohl tags, wie nachts. Leidvoll verwarf ich den Gedanken wieder. Die Hauptzentrale würde es mir wohl niemals gestatten, geschweige denn finanzieren, einen Shinobi aus Konoha anheuern zu dürfen. Wenn überhaupt, würden die jemanden zum Schutze des Kontors wohl aus dem Erdreich senden. Ich hingegen würde allerdings nur Inu akzeptieren und der war, wie ich es schon längst beobachtet hatte, tatsächlich so, wie er einst mal im Witze behauptete: unbezahlbar. Da könnte ich mein komplettes Kontor samt Ware einsetzen, es würde kaum reichen, solch eine Mission bezahlen zu können. Also musste die bittere Pille geschluckt werden, weiterhin immer zur Monatsmitte mit viel Geld in der Tasche, aber ohne Begleitschutz, durch die Straßen zu ziehen. Vollkommen in meinen Gedanken versunken, kam ich durch die Gasse, die ich salopp „Frischeabteilung“ nannte. Hier wurden frische Lebensmittel feilgeboten. Ich entschied mich für Gemüse und Fisch. Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Möglicherweise hätte ich auch bei Inu eine Chance. Mensch, nun machte ich mir schon einen Kopf darum, was ich dem kochen sollte! Da konnte ich nur über mich selbst die Augen rollen. Daheim angekommen, verstaute ich die Lebensmittel erst einmal im Kühlschrank und flitzte dann wieder hinunter ins Büro, verteilte in Rekordzeit die Geldscheine in die Lohntüten und brachte sie unters arbeitende Volk. Und schon war ich dem Büro wieder entschwunden. Beim Treppensteigen spürte ich die nachlassende Wirkung des Koffeins. Die letzten Stufen hangelte ich mich nur noch nach oben und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Kaum hatte ich meine Korridortür hinter mir geschlossen, sackte meine ganze Haltung zusammen. Wie ein geprügelter Mehlsack schlich ich über den Flur, gähnte ungeniert laut und platzte in mein Wohnzimmer. Mein Blick fuhr herum über ein leeres Sofa, einen aufgeräumten Couchtisch, wo sauber gestapelte Dokumente und ein zugeklappter Laptop lagen, über ein ordentlich zusammengerolltes Futon und endete bei einem Inu, der lesend in der breiten Fensterbank saß und nun seinen kapuzenbedeckten Kopf zu mir drehte. Schade, ohne Kapuze letzte Nacht war es viel spannender gewesen. Die kurzen strubbeligen Haare. Das schmale Gesicht, was meine Hände erfühlt hatten. Allein der Gedanke daran verursachte wieder einmal mehr diese wohligen Hitzeschauer. Ich verabschiedete mich noch in der Tür, dass ich eine Mütze voll Schlaf bräuchte und dass ich später etwas kochen würde. Noch eine Minute länger und ich hätte ihn in meinem Wahn von Schlafmangel angesprungen und abgeschlabbert. Zum Abschluss wäre ich in seinen Armen eingeschlafen. Armer Inu, man gut, dass der hoffentlich keine Gedanken lesen konnte. Und so wartete ich noch nicht einmal eine Antwort oder wenigsten eine Reaktion seinerseits ab, dass ich mich sofort unter meiner Bettdecke vergrub und bösen obszönen Fantasien nach hing. Es war schon echt übel. Definitiv war ich einfach viel zu viele Jahre allein gewesen. Verdammt, ich hatte verschlafen! Als ich erwachte und den Kopf hob, nur um damit meine Bettdecke ebenfalls um ein paar Zentimeter zu lüften, zeigte mein Wecker eindeutig eine späte Nachmittagszeit an. Genervt fiel mein Kopf zurück in die Matratze und die Bettdecke trennte mich wieder vom Tageslicht. Und es war noch nicht einmal das Erreichen eines durchschnittlichen Schlafpensums, was mich wieder in die Wachwelt befördert hatte, sondern dass die Haustür krachend ins Schloss fiel und Yuuki fragend nach mir rief. Also rappelte ich mich doch hoch, um ihn nicht weiter zu beunruhigen. Ich hätte nur ein wenig Kopfschmerzen gehabt und alles wäre wieder gut. Kindern reichten oft solch plausiblen Kurzerklärungen. Mein Magen meldet sich nun auch noch knurrend zu Worte. Menno, ich hatte doch was Fixes Kochen wollen. Das hatte ich nun zeitlich verpasst. Es würde kein Mittagessen, sondern schon ein halbes Abendessen werden. Übellaunig zog es mich in die Küche und erstarrte dann voller Verwunderung. Da stand auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile ein Teller mit einem gebratenen Fisch und lecker aussehendem Pfannengemüse. Ich musste so perplex auf den Teller gestiert haben, dass ich plötzlich eine sachte Hand im Rücken spürte, die mich in die Küche und somit auf den Boden der Tatsachen schob. „Mir hing der Magen durch...“, wurde sich da kleinlaut für die gutaussehende Kochkunst entschuldigt. Ungläubig auf dieses kleine Festmahl schauend kramte ich aus der Schublade eine Gabel hervor. Zwar konnte ich auch mit Essstäbchen sehr gut umgehen, doch es war einfach die Macht der Gewohnheit, von Kindheitstagen an Messer und Gabel zu benutzen. Natürlich war die Speise schon erkaltet, doch was sollte ich sagen? Es war nicht einfach nur lecker, sondern es war köstlich. Einfach nur perfekt. Verlegen schielte ich aus den Augenwinkeln hinüber, wie Inu sich damit beschäftigte, die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser zu befüllen. Nicht nur das Essen war perfekt, der ganze Kerl war perfekt. In mein Gesicht schoss die pure Röte und ein kleiner Kloß bildete sich in meinem Hals. Es wurde mir wieder ein Stückchen mehr bewusste, wie weit unsere Welten auseinander lagen. Er war das krasse Gegenteil von mir. Inu merkte alles, wusste alles und konnte alles. Ich fühlte mich daneben einfach nur groß, fett, hässlich und dumm. Sicherlich übertrieb ich maßlos, hatte ich doch hohe Bildungsabschlüsse in Rekordzeit erlangt. Immer mit Bestnoten. Meine berufliche Karriere war auch steil nach oben gelaufen und hielt sich dort wacker. Mir ging es gut. Man war gesund und finanziell sorgenfrei. Mein Kind entwickelte sich prächtig und hatte bis dato nie größere Probleme bereitet. Ich war stolz auf Yuuki. Nach wie vor befand ich, dass mein Sohn und ich den Alltag mit all seinen Hürden gut meisterten. Was regte ich mich also auf? Leider gab ich mich viel zu häufig grundlos den Selbstzweifeln hin. Trotz der vielen positiven Eigenschaften, die ich besaß, kam ich mir in den letzten Wochen hilflos und unnütze vor. Es waren die Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachten. Und eine Handvoll Chakra. Mal davon ab, dass zwischen Inu und mir womöglich gar nicht so viel lief, wie ich es mir kürzlich in meinen blühenden Fantasien ausmalte, drängte sich doch mehr und mehr die Frage in den Vordergrund, ob eine Art von Beziehung bei solch Gegensätzen nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Es war schon bei meinem Ex eine holprige Angelegenheit gewesen, doch kam es mir vor, als wäre Inu auf einer ganz anderen Ebene. Ich konnte es gar nicht in Worte fassen oder überhaupt als Gedanken klar umreißen. Es war einfach nur so ein blödes Gefühl. Mich machten diese Gedanken sehr traurig, dass mir das leckere Essen gar nicht so schmecken wollte, wie es das Gericht verdient hätte. Mein Traurigkeit war nicht unentdeckt geblieben. Inu hatte sich zu mir gedreht, lehnte rücklings an der Zeilenkante und hatte wie so üblich die Hände in den Hosentaschen verborgen. „Was ist los? Nicht dein Geschmack? Das tut mir leid.“, fragte er nach. „Nein, nein, alles super. Es ist total lecker.“, murmelte ich beschwichtigend. „Aber?“, klang es nun schon ernster mit Nachdruck. Stumm blickte ich auf den Teller, weil ich ihn nicht ansehen konnte. Da war es wieder: Inu sieht alles, weiß alles, kann alles. Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären könnte, dass es mich irgendwie bedrückte und erdrückte. Schon gar nicht sollte er sehen, wie traurig, hilflos und unschlüssig ich war. „Na schön, wir reden nachher drüber.“, war nun seine Ansage, bei welcher jeglicher Protest von vornherein ausgeschlossen war. Es war nur ein Satz, aber er fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Nachher würden wir reden. Nein, wohl eher, er würde mit mir reden. Vielleicht ausquetschen wie eine reife Tomate. Das wollte ich umgehen und rätselte nach einer guten Ausrede. Ich wollte das Thema gar nicht bereden. Es war sicherlich am besten, man vergaß das alles sowieso. Morgen würde er wieder über alle Berge sein. Dann herrschte eh wieder Funkstille, zumal er angedeutet hatte, dass Yuukis Basistraining eh abgeschlossen wäre. Es dürfte kaum einen Grund geben, hier noch zu verweilen. Der restliche Nachmittag verlief unspektakulär. Ich umschiffte die Klippe „Inu“ ganz geschickt, da ich mich einfach nach unten in das Büro verkrümmelte. Yuuki hatte sich mit Schulfreunden nicht weit von unserem Haus verabredet. Da konnte ich ihn schon sehr gut alleine hinschicken und abends wieder nach Hause kommen lassen. Die Gastfamilie war sehr nett und würde mein Kind wohl noch nicht einmal ohne eine abendliche Mahlzeit entlassen. Die Büroabrechnungen gingen mir leichter von der Hand als gedacht. Schnell hatte ich die Ablagen geleerte, Rechnungen abgeheftet und endlich wieder Übersicht und Ordnung auf meinem Schreibtisch einziehen lassen. So war es schon immer gewesen. So sollte es auch bleiben. Es wurde dringend Zeit, dass die alte Routine wieder die Oberhand gewann. Die große Eingangstür klappte und eine Jungenstimme rief „Bin wieder da, Mama!“. In gleicher Lautstärke ertönte mein „Ja! Bin auch gleich fertig!“ zurück. Danach polterte es im Treppenhaus aufwärts. Ich schob den letzten Ordner beiseite und schloss im Erdgeschoss alle Türen ab. Hier war nun für heute Feierabend. Ein Kontrollgang durch die nächsten drei oberen Etagen lenkte mich ab von dem, was ich oben in meiner Wohnung fürchtete und befürchtete. Fern des grauen Alltags war ich abgetaucht in die Welt der Formen und Farben. Ein Stoff schöner als der andere. Ja, hier war meine Welt noch ganz und unversehrt. Zufrieden erreichte ich die Wohnungstür. Dahinter herrschte das normale Treiben am Abend. Yuuki hatte schon wie vermutet bei seinem Schulfreund zu Abend gegessen und hing längst in seinem Zimmer vor der Spielkonsole. Ich ermahnte ihn, endlich die Zähne zu putzen und sich bettfertig zu machen. Immerhin müsste er am nächsten Morgen wieder früh raus zur Schule. Spätestens um acht Uhr abends hätte bei Grundschülern das Licht ausgeschaltet zu sein. Da war ich im Gegensatz zu vielen anderen Eltern knallhart und diskussionslos. Nachdem Yuuki in den Federn lag, wirbelte ich einmal durch die Bude und machte soviel Haushalt, dass es auf den ersten Blick mehr als gut wirkte. Man durfte nur nicht unbedingt nach rechts und links schauen. Mit einem Glas Wein zog ich nach getaner Arbeit ins Wohnzimmer. Zu allem bereit, mein Sofa wieder zurückzuerobern, denn es war Mittwochabend und auf einem der Spartenkanäle lief meine Lieblingsdoku über ferne Länder. Die wollte ich um keinen Preis verpassen, und für tiefgründige Gespräche hatte ich beim fernsehen auch keine Zeit. Es bedurfte gar keinen so großen Kampfe um das Sofa. Inu saß auf der einen Sofahälfte und las völlig vertieft auf seinem Handy und ich saß auf der anderen Hälfte und guckte fern. Da waren kaum Worte gefallen. Ich hatte das Fenster zum Lüften gekippt, denn die Nacht war mild. Eine kleine Insektenduftkerze auf dem Tisch, die Dämmerung, die Flimmerkiste und Inus Tablet waren die einzigen Lichtquellen. Es störte uns nicht. Diesmal hatte es mir die Sendung besonders angetan, denn es war eine Doppelfolge. Erst ging es um die Grenzgebiete des Graslandes, dann würde eine Reportage über meine Heimatregion folgen. Der erste Teil war wirklich gut recherchiert, bis eine ganz entscheidende Stelle kam. Es ging um eine Brücke, die vor gut zwanzig Jahren instand gesetzt und vor kurzem sogar saniert worden war, um den heutigen Verkehr besser aufnehmen zu können. Ich kannte die Brücke, weil ich selbst darüber reiste, wenn ich in die Heimat wollte, aber dass sie einst mal gesprengt worden war, wusste ich nicht. Eine Moderatorenstimme aus dem Off säuselte dazu: „... die außergewöhnliche Architektur der Kannabibrücke fiel vor rund dreißig Jahren einer Sprengung zum Opfer. Eine neue Brücke wurde direkt daneben errichtet, um die Handelsstraße ...“ „27 Jahre.“, murmelte Inu sehr leise . „ Es sind 27 Jahre...“ Tatsächlich musste die Brückengeschichte höchst interessant sein. Inu sah von seinem heißgeliebten E-Book auf und starrte gebannt die Mattscheibe an. Sein Kopfkino konnte man förmlich miterleben. „Hast du was gesagt?,“ fragte ich dennoch nach, weil ich nicht so recht wusste, ob ich es so richtig verstanden hatte. „Es ist nichts.“, gab er zu verstehen, doch selbst mir als Unwissende war sofort klar, dass das eine glatte Lüge war. Er war vollkommen weggetreten. Regungslos. Bei Leibe lief da ein ziemlich heftiges Kopfkino ab. Ninjas haben immer irgendwelche Kopfkinos von ihren Missionen. Ich war mir unsicher, ob ich die Sendung einfach laufen lassen oder die Glotze lieber ausschalten sollte. Man nahm mir die Entscheidung ab. Das Szenenbild wechselte von der Brücke weg und zeigte den Bergpass, wo sich das Zollhäuschen zwischen Erdreich und Grasreich befand. Nur wenige Kilometer weiter lag meine Heimatstadt. Aber das würde erst Inhalt des zweiten Teils der TV-Doku werden. Was sollte ich tun? Ich gab meiner Kodderschnauze den Vortritt. „Gestern bei dem Weinfleck hast du auch gesagt, es wäre nichts. Aber du hast keinen Wein, sondern in der Sekunde Blut auf deiner Hand gesehen. Stimmt's oder hab ich recht? Und das eben hat dich doch auch an etwas erinnert. Warum weißt du, dass die Brücke vor exakt 27 Jahren gesprengt wurde?“ Stille. Es war einfach nur Stille. Ich hasste Stille. Mensch Inu, sag was! Ungeduld, gib Ruhe! Tatsächlich kam auch was: „Weil ich die Brücke selbst gesprengt habe!“ Eigentlich wollte ich einen Schluck Wein zur Beruhigung trinken. Nun flog der Inhalt wieder aus der Backe heraus in das Glas zurück und ich musste kräftig husten. ER hatte die Brücke gesprengt? Himmel, wie alt war der eigentlich? Ich machte Augen so groß wie Kuchenteller und so platzte es dann aus mir bohrend heraus: „Wie alt bist du denn überhaupt?“ So alt hätte ich ihn gar nicht geschätzt. Zur Brückensprengung müsste er auf jeden Fall Kind gewesen sein. Ich schnaufte kurz auf bei der Schlussfolgerung, war es mir doch zuwider, wenn man Kindersoldaten in den Krieg schickte. Er atmete einmal tief durch, starrte nun durch seine Kapuzenöffnung nicht mehr auf das Fernsehbild, sondern wohl recht verlegen an die Zimmerdecke und wägte kurz ab, ob er etwas über sich erzählen sollte. Man sah zwar nicht seine Mimik, aber die Körpersprache war lesbar wie ein aufgeschlagenes Buch. Er machte sich nicht die Mühe etwas zu verbergen. „Auf den heutigen Tagen genau 40 Jahre.“, gab er dann doch etwas genervt und ertappt zu. In meinem Schädel arbeitete es. Auf den heutigen Tag genau... Ich klatschte mir mit der flachen Hand vor die Stirn, als über meinem Kopf nicht nur ein Lichtlein, sondern ein ganzer Kronleuchter aufging. Natürlich! Inu hatte heute Geburtstag! Ich lachte schallend, dass ich fast vom Sofa fiel. „Sag jetzt nicht, du bist Geburtstagsmuffel und versteckst dich hier vor denen, die lieber mit dir feiern würden?“ „Ja, du hast mich ertappt.“, stöhnte er auf und kratzte sich verlegen den Kapuzenstoff am Hinterkopf. Aber bei denen kommt nur Blödsinn raus. Mit solchen Freunden braucht man keine Feinde.“, fügte er noch erklärend hinzu, um mir glaubhaft zu vermitteln, dass seine Unterkunft bei mir ein absolut notwendiges und sicheres Versteck wäre. Für diesen Abend schien das Eis zwischen uns gebrochen zu sein. Vom Wein beflügelt wollte ich mich bei ihm am Oberarm anlehnen. Ungefragt zog er mich zu sich. Nun ruhte mein Kopf in seinem Schoss. Meine Hände strichen behutsam über sein Knie und Oberschenkel, während seine Hand meine Rücken kraulten. Das hätte er ewig so machen können. Sachte schloss ich genießerisch meine Augen und bekam so gar nicht mehr viel von meiner Sendung im TV mit. Als der Abspann lief, schaltete ich die Kiste aus. Draußen war es schon längst dunkel geworden. Nur noch Inus Handy und die Duftkerze leuchteten vor sich her, wobei die Kerze schon arge Mühe hatte, den letzten Rest an Wachs aufzusaugen und zu verbrennen. Auch sie sollte bald erloschen sein. „Was liest du da eigentlich die ganze Zeit?“ hakte ich schon wieder nach und wollte dreist das Handy vom Tisch angeln. „Vergiss es!“, klapste es da drohend auf meine Finger. „Warum warst du vorhin so traurig?“ „Vergiss es!“, äffte ich nach und befand, dass wir nun Remis hatten. Ich lauschte in die Dunkelheit und Inu hinein. Seine Finger hatten längst ihr Erkundungsareal vergrößert, waren meinen Rücken hinunter über meinen Po bis zu den Oberschenkeln und wieder zurückgewandert. Sie streichelten meinen Hals und meine Wange und verirrten sich in meinen Haaren. Obwohl seine Handbewegung so ruhig und gleichmäßig über meinen Körper fuhr, verbarg sein Innerstes nicht seine Anspannung. Lautlos kicherte ich in mich hinein, als ich seinen Herzschlag wahrnahm, wie der wild bis zu seinem Halse schlug. Mein ach so toller und perfekter ANBU hatte also doch eine Schwachstelle. Er war ganz schüchtern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)