Die Leiden des alten W. von Mieziliger ================================================================================ Kapitel 1: Die Leiden des alten W. ----------------------------------  „Watari…“   Mit einem Seufzen stellte der grauhaarige Engländer seine Teetasse ab und erhob sich. Seine Schritte führten ihn deutlich langsamer als üblich den Flur entlang. „Watari…“ Watari seufzte erneut. Er wusste, was ihn erwartete, wenn L seinen Namen auf der zweiten Silbe betonte. Mit einem bemüht neutralen Gesichtsausdruck öffnete er die Tür zu Ls Schlafzimmer und versuchte seinen Schützling in der Schummrigkeit des verdunkelten Zimmers zu orten. „Du hast gerufen, Ryuuzaki?“ Die Laken raschelten. Der Lichtstrahl, der durch die geöffnete Tür fiel, erhellte plötzlich das fahle Gesicht Ls, das den Wettkampf mit dem Weiß der gestärkten Baumwolllaken heute nicht zu scheuen brauchte.   „Ich kann es spüren, Watari. Kira hat gewonnen.“ Ls Stimme klang leise und kraftlos. Seine langen, schmalen Finger krochen wie Spinnen unter der Bettdecke hervor und krallten sich in das Laken. Watari betrat das Zimmer. Die Luft wirkte abgestanden und muffig, die Hitze in dem kleinen Raum trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn.   „Ich muss zugeben, es überrascht mich“, murmelte L. „Ich hatte nicht erwartet, dass Kira mir einen langsamen, qualvollen Tod zuteil werden lässt.“   Statt zu antworten, zog Watari die schweren Vorhänge zur Seite und entlockte L ein leises Wimmern. Watari unterdrückte den Drang den Kopf zu schütteln. Stattdessen öffnete er die Fenster und atmete tief ein, als eine Welle frischer Luft die Stickigkeit des Zimmers überflutete.   „Es ist kalt“, jammerte L.   „Es ist nötig“, antwortete Watari lächelnd.   L schwieg. Er war der Einzige, der so beleidigt schweigen konnte, dass Watari beinahe so etwas wie ein schlechtes Gewissen verspürte.   „Du hast Recht.“, tönte, nein hauchte es plötzlich aus dem Wulst an Laken und Kissen. „Vielleicht ist es gut, die Herbstsonne noch ein letztes Mal zu sehen und die kühle Luft noch ein letztes Mal genießen zu können.“ Ls Stimme war seltsam friedfertig. „Ich sollte Kira dankbar für diese Gelegenheit sein. Und doch, es irritiert mich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mich schnell und effizient tötet, lag bei 98,657 Prozent.“   Endlich wandte Watari sich um und trat an das Bett heran. Seine Finger strichen die bemerkenswert weiche Decke glatt und wanderten schließlich nach oben zu Ls Stirn, wo sie einen Augenblick verharrten. „Ryuuzaki“, begann Watari sanft, „du hast eine Erkältung.“ Über Ls Gesicht flog ein entrücktes Lächeln. „Keine Sorge, Watari. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich hatte die Möglichkeit meines Ablebens einkalkuliert, als ich den Kira-Fall übernahm. Dennoch“, er starrte zur Zimmerdecke auf, als sei ihm deren Existenz so eben erst bewusst geworden, „mir kommen plötzlich seltsame Gedanken. Erwartet uns nach dem Tod wirklich das ewige Nichts?“ Ein weiterer, kühler Luftzug strömte durch das geöffnete Fenster herein und färbte Ls blasse Wangen in ein zartes Rosé. Watari fand, dass L für einen im Sterben liegenden bemerkenswert frisch aussah.   „Du bist erkältet, Ryuuzaki“, wiederholte Watari, ohne sich von der im Raum wabernden Endzeitstimmung beeindrucken zu lassen. „Erinnerst du dich, dass ich dich gestern darum bat, ausnahmsweise Schuhe zu tragen? Der Boden ist mittlerweile zu kalt, sagte ich. Zieh Schuhe an, sonst erkältest du dich, sagte ich. Du wolltest sie dennoch nicht tragen und hast nun die Quittung dafür. In zwei oder drei Tagen ist alles wieder in Ordnung.“   L antwortete nicht. Er starrte nur aus großen Augen zu Watari auf, in denen die Friedfertigkeit eines Todkranken lag, der mit sich und der Welt abgeschlossen hatte. Watari verbiss sich ein Lächeln. Stattdessen strich er eine der kohlschwarzen Strähnen zur Seite und befühlte Ls Stirn erneut. Dessen Temperatur schien hoch, aber nicht besorgniserregend zu sein. „Ich werde dir einen Tee zubereiten“, sprach er und wandte sich der Tür zu. „Zucker, mit einem Hauch Earl Grey – so wie du ihn magst.“   Aus den Tiefen der Kissen drang ein langgezogenes Seufzen. „Watari…“   Wataris Augenbraue zuckte. „Ja, Ryuuzaki?“   Die Bettdecke raschelte „Misa-san hat mir einmal erzählt, es gäbe Erdbeer-Tee. Sie sagte, er sei so süß wie ein Kuss von Light-kun. Bevor ich sterbe, würde ich ihn gern einmal probieren.“ Er schwieg einen Moment. „Den Tee, meine ich.“   Für Wataris Geschmack hatte das Schweigen eine Nuance zu lang gedauert. ***   Der Tee roch schrecklich süß. Es war jene Art von Süße, die eine so penetrante Künstlichkeit verbreitete, dass einem die Zähne zusammenklebten, selbst wenn man selbst gar nichts davon zu sich nahm. Watari rümpfte die Nase und schob die mit Herzchen übersäte Teepackung zur Seite, ehe er einen Teebeutel im heißen Wasser versenkte. Er wusste nicht, was seine schlechte Stimmung mehr befeuerte: Die Tatsache, dass er diese Scheußlichkeit von einer pinken Teepackung in der Öffentlichkeit hatte kaufen müssen, oder die Tatsache, dass er gerade tatsächlich Beuteltee zubereiten musste. Er fühlte sich für einen kurzen Moment am Bodensatz der Gesellschaft angekommen.   „Watari…“   L musste der einzige Mensch auf der Welt sein, der in der Lage war zu rufen, ohne ein Ausrufezeichen zu benötigen. Watari seufzte, nahm das Tablett mit der Tasse an sich und verließ die Küche. Zum Glück lag Ls Zimmer nicht weit entfernt.   „Watari…“   Die Betonung der zweiten Silbe wurde länger. Watari beschleunigte seine Schritte. Sein Schützling lag noch immer in derselben Position, in der er ihn vorhin zurückgelassen hatte, nur ein Fuß hing unter der warmen Bettdecke heraus.   „Ich habe die Wartezeit genutzt um nachzudenken“, empfing L ihn. „Ich bin mir sicher, dass Kira mir mit dieser gewählten Todesart etwas mitteilen möchte. Nur was?“   „Der Tee ist fertig.“   „Nein, das möchte er mir sicher nicht sagen.“   Wataris Oberlippe zuckte. „Setz dich und trinkt deinen Tee, Ryuuzaki.“   Einen kurzen Augenblick sah es so aus, als ob L etwas entgegen zu setzen hatte, doch dann beugte er sich vor und griff mit zwei Fingern nach der zierlichen Porzellantasse. Gemächlich, fast zeremoniell zog er das Getränk zu sich heran und setze es an seine Lippen. Seine Augen weiteten sich. Sein Blick senkte sich auf die rostbraune Flüssigkeit im Inneren der Tasse, die er hölzern auf das Tablett zurück stellte. „Er schmeckt…“ L stockte kurz, fuhr sich mit dem Daumen über die Lippe und leckte ihn aufmerksam ab. „… grauenhaft.“ Der Blick aus seinen dunklen Augen ähnelte einem kurzen Moment dem eines Rehs im Lichtkegel des nahenden Lastwagens. „Dabei sagte Misa-san doch, er sei süß wie ein Kuss Light-kuns…“ Es schwang deutlich mehr Enttäuschung in Ls Stimme mit als Watari für angemessen empfand.   „Soll ich dir stattdessen einen Earl-Grey bereiten?“, fragte er ablenkend, erntete jedoch nicht mehr als ein abwesendes Nicken. Erst als er bereits in den Flur getreten war, sprach L wieder.   „Meine Hypothese zeigt sich jedoch bestätigt“, murmelte er in das leere Zimmer hinein. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Light-kuns Kuss süß schmeckt, ist mit 0,3 Prozent verschwindend gering. Meine Beobachtungen sprechen mehr dafür, dass Light-kun herb schmeckt. Eine Nuance bitter, wenn ich seinen Kaffeekonsum einberechne. Außerdem-“   Watari schloss die Tür hastig. In den nächsten Minuten widmete er seine volle Aufmerksamkeit der perfekten Zubereitung eines Earl Greys. Er war zufrieden mit seinem Werk. Erst als er nach der Zuckerzange griff, bebten seine Fingerspitzen kurz. Er würde es nie zugeben, doch sein britisches Herz blutete jedes Mal, wenn L einen perfekten Earl Grey durch Tonnen von Zucker verschandelte.   „Watari…“   Watari gönnte sich einen Moment um tief durchzuatmen. Dann brachte er das Zucker-Tee-Gemisch zu Ls Zimmer, dessen Tür er im gleichen Moment öffnete, in dem ihm ein weiteres, langgezogenes „Watari…“ entgegen schallte.   „Dein Tee ist fertig, Ryuuzaki“, bemerkte Watari, während er die Tasse neben dem Bett abstellte. Die Bettdecke raschelte, als L seine Nasenspitze darunter hervorschälte und den Geruch des Earl Grey einsog.   „So alltäglich…“ Eine schwere Melancholie lag in seiner Stimme.   Die väterliche Liebe, die Watari für L empfand, erweckte in ihm den Drang beruhigend über den schwarzen, widerspenstigen Haarschopf zu streichen.   „Ich habe keinen Durst, Watari. Aber ich habe plötzlich ein Verlangen nach Bouillion-Chips.“   Die väterliche Liebe in Watari war zum Glück ein wenig stärker als der Drang nach einem Kissen zu greifen und es L ins Gesicht zu drücken. Watari wandte sich mit steifen Bewegungen zur Tür. Im Flur angekommen, setzte er zum zweiten Mal am heutigen Tag seinen Hut auf, um einkaufen zu gehen.   ***   Er konnte das „Wataaaari“ bei seiner Rückkehr bereits hören, als er noch damit beschäftigt war, die Sicherheitsschleuse zu passieren - was an der Tatsache lag, dass L dieses Mal die Lautsprecher zur Übermittlung seines Leids verwendet hatte. Die Länge der zweiten Silbe hatte beachtliche Ausmaße angenommen. Watari legte seinen Hut ab und betrat zum wiederholten Male Ls Zimmer. Der Sterbende hatte es in der Zeit zumindest geschafft, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Watari zeigte sich mäßig beeindruckt.   „Hier, Ryuuzaki. Wie gewünscht, Chips mit Bouillion Geschmack.“   Eine schmale Hand schob sich in die Tüte, deutlich bemüht, sie so wenig knistern zu lassen wie möglich. Mit der Beute von einem einzelnen Chip zog sie sich unter die Decke zurück und wenig später folgte leises Knuspern.   „Light…?“ nuschelte es aus den Bettlaken hervor.   Wataris Hand verkrampfte kurz. „Nein. Ganz gewöhnliche Chips mit vollem Fettgehalt. Diese Chips gibt es nicht in der Light-Version.“   „Light, wie in Kira. Nicht Light, wie in fettreduziert“, sagte L und knusperte an einem weiteren Chip herum, sich dabei nicht einmal die Mühe machend, seine gelangweilte Herablassung zu unterdrücken. „Ich bin verwundert darüber, dass er noch nicht hier ist. Es ist essentiell für seinen Charakter, seinen größten Triumph hautnah mitzuerleben.“ L tat einen tiefen Atemzug und Watari glaubte in dem langgezogenen Ausatmen ein geflüstertes „haut…nah“ zu hören.   Langsam begann er sich doch etwas Sorgen zu machen. L war stets etwas … exzentrisch … wenn er krank war, doch so hatte Watari seinen Schützling noch nie erlebt. Ob er ihm vielleicht etwas Fiebersenkendes besorgen sollte?   "Die Chips schmecken... erstaunlich scheußlich. Aber was bedeutet das?" Ls Stimme klang nachdenklich und schleppend. "Es wäre natürlich unmöglich, dass Yagami Light einen schlechten Geschmack besäße. Aber das weist dann ja darauf hin, dass die Tatsache, dass er dennoch diese Chips ausgewählt hat, einen ganz anderen Sinn hatte." Der Deckenberg bewegte sich kurz. "Hat er vielleicht darauf spekuliert, dass ich sie ebenfalls probieren würde um mich mit dem enthaltenen Glutamat zu vergiften?"   Watari schüttelte den Kopf und nahm die Chipstüte an sich. Er wollte einen Einspruch erheben, aber L fuhr schon fort.   "Oder ging es gar nicht um die Chips an sich, sondern vielleicht um deren Verpackung? Benutzt Kira Chipsverpackungen um zu töten? Mir ist bewusst, dass Mikroplastik gefährlich sein kann, allerdings…"   "Ich denke, es ist wahrscheinlicher, dass Light einfach nicht ganz so ist, wie du denkst", erwiderte Watari, wurde aber erneut überhört.   "Oder hat er vielleicht ein Empfangsgerät in der Chipstüte versteckt, mit dessen Hilfe er unbemerkt von den Überwachungskameras dennoch die Namen und Gesichter von Verbrechern erfahren konnte? Das wäre..."   "Nun ist aber gut, Ryuuzaki. Vielleicht würde dir jetzt ein wenig Schlaf guttun."   L schwieg einen Moment. "Das stimmt. Das war wohl wirklich eine alberne Idee. Ein Empfangsgerät in einer Chipstüte, als ob das technisch möglich wäre." Er seufzte und schob seinen Kopf unter der Decke hervor. „Meine Gedanken beginnen wirr zu werden, Watari. Das Ende ist nahe, es muss nur noch durch die Tür treten.“   Dass es in genau diesem Moment an der Tür klopfte, überraschte Watari weniger als es sollte. Dass es jedoch Yagami Light war, der vor der Tür stand, überraschte Watari doch mehr, als es durfte. Obwohl es bereits spät war und die feinen Linien auf seinem Gesicht verrieten, dass es ein langer, anstrengender Arbeitstag gewesen sein musste, wirkte Light souverän wie stets.   „Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Störung.“ Light verneigte sich höflich. „Mir wurde mitgeteilt, dass Ryuuzaki aus gesundheitlichen Gründen abwesend ist, deswegen wollte ich ihm eine kurze Zusammenfassung der heutigen Ermittlungen zukommen lassen, sofern sein Gesundheitszustand dies zulässt.“   Watari zögerte nur einen kurzen Moment, ehe er nickte.   „Natürlich“, entgegnete er und tat einen Schritt beiseite. „Ryuuzaki erwartet Sie bereits.“   Während Light den Flur entlang ging, musterte Watari ihn unauffällig. Je öfter ihm Lights perfekte Kleidung auffiel, die selbst den langen Schichten im Kontrollraum trotzte, desto mehr erwuchs in ihm der Drang, Bügelfalten in Ls Jeans zu plätten. Mit einer ruckartigen Bewegung öffnete der Brite schließlich die Tür zu Ls Zimmer und bat Light mit einem Kopfnicken einzutreten.   „Guten Abend, Ryuuzaki.“ Light trat näher an Ls Bett heran. „Ich bin hier, um dich über unsere Fortschritte zu informieren.“   L schob die Bettdecke etwas nach unten und starrte ausdruckslos zu Light auf. „Light-kun meint wohl eher, er ist hier um seinen Fortschritt zu kontrollieren.“   Für einen kurzen Wimpernschlag huschte über Lights Gesicht ein Ausdruck ehrlicher Verwirrung. Dann ließ er sich auf dem Stuhl nahe des Bettes nieder und verschränkte die Arme. „Das Fieber scheint dir zu Kopf zu steigen. Du solltest mehr auf deine Gesundheit achten. Du kannst Kira schlecht gegenübertreten, wenn du ans Bett gefesselt bist.“   L starrte. Seine dunklen Augen schienen Light durchbohren zu wollen. „Light-kun ist so voll Mitgefühl“, antwortete er. „Es erscheint mir fast, als wäre es Light-kun tatsächlich unangenehm, mich ans Bett gefesselt zu sehen.“   Light schlug seltsam ungelenk die Beine übereinander. „Natürlich. Die Ermittlungen gehen ohne deine Anwesenheit nur schleppend voran.“   „Ah, die Ermittlungen.“ Mit etwas Fantasie konnte man glauben, in Ls Stimme so etwas wie Enttäuschung zu hören. „Eine Zusammenfassung ist unnötig. Die Tatsache, dass Light-kun erst zu dieser Tageszeit zu mir kommt zeigt mir, dass nichts Einschneidendes vorgefallen ist. Bei wirklich unerwarteten Neuigkeiten wäre ich bereits informiert worden.“   Light schwieg. Sein Blick glitt prüfend über L, schweifte durchs Zimmer und blieb schließlich an Watari hängen, der sich plötzlich seltsam überflüssig fühlte. Dennoch zögerte er, unschlüssig, ob er L in dessen Zustand tatsächlich mit Light allein lassen konnte. Letztlich entschied Watari sich für einen Mittelweg. Er verließ zwar das Schlafzimmer, um endlich diese Widerwärtigkeit von Erdbeertee abzuräumen, ließ aber scheinbar zufällig die Tür offen stehen. So konnte er wenigstens der Unterhaltung folgen und eingreifen, falls es nötig werden sollte.   Es war ihm eine Genugtuung dabei zuzusehen, wie diese chemische Pampe, die es nicht einmal verdient hatte die Bezeichnung „Tee“ zu führen, im Abguss verschwand. Watari seufzte. Es war zwar nicht das erste Mal, dass L während einer Erkältung die perfekte Interpretation des sterbenden Schwans aufs Parkett legte, seine heutigen Ess- und Trinkgewohnheiten gaben Watari allerdings doch etwas zu denken.   „Ich dachte heute über Misa-san nach,“ drang plötzlich Ls Stimme über den Flur, „und ich stellte fest, dass ich außergewöhnlich gern mit ihr tauschen würde. Wenigstens für einen Tag wäre es sicher eine hochinteressante Erfahrung.“     „Ich wusste nicht, dass du beginnst deine Weiblichkeit zu entdecken, Ryuuzaki.“ Lights Stimme klang so tief aufrichtig, dass es zynisch wirkte.   Ls Kissen raschelten. „Ich vermute, Light-kun interessiert sich mehr für die Weiblichkeit als ich“, entgegnete er. „Es ist der Erdbeer-Tee, dem meine Aufmerksamkeit gilt. Ich beneide Misa-san für die Fähigkeit, ihn trinken zu können.“   Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Watari seufzte in das Spülbecken.   „Ich denke nicht, dass die Fähigkeit, Erdbeer-Tee trinken zu können, ein erstrebenswertes Talent darstellt“, bemerkte Light schließlich mit einem freundlichen Unterton in der Stimme. So freundlich, wie man eben klingen konnte, wenn man glaubte, einer minderbemittelten Existenz gegenüber zu stehen.   Watari griff nach einem Geschirrtuch und begann die Teetasse zu polieren.   „Es würde mir ganz neue Perspektiven eröffnen“, antwortete L. „Vielleicht würde Light-kun sich dazu herablassen, mit mir zusammen Erdbeer-Tee zu trinken. Laut Misa-san soll das ein ganz besonders … intensives Erlebnis sein. Sehr süß, um genau zu sein. Ich wäre an dieser Erfahrung doch sehr interessiert. Möchte Light-kun vielleicht jetzt…“   Der Henkel der Teetasse zerbrach, als sie Watari aus der Hand glitt. Er versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass er soeben feinstes Ginori Porzellan zerbrochen hatte und hastete mit einigen schnellen Schritten ins Schlafzimmer. L erstarrte bei seinem Eintreten und Watari stellte fest, dass er gerade rechtzeitig gekommen war. L hatte sich weit aus dem Bett zu Light hinüber gebeugt – weiter als es Wataris Geschmack und der gewöhnliche Anstand erlaubten. Ls Lippen war leicht geöffnet und Watari konnte nur hoffen, dass es nur deswegen war, dass er seinen vorherigen Worten noch etwas hinzufügen hatte wollen.     „Es ist schon spät“, bemerkte Watari und versuchte so  nicht nur die Situation, sondern auch Light zu retten, dessen angespannte Haltung nicht zu übersehen war. „Möchtest du nicht langsam etwas essen, Ryuuzaki?“   Es dauerte einige Augenblicke, doch schließlich zog L sich zurück und ließ sich in die Kissen zurückfallen, ähnlich einem Ballon, dem die Luft entwich. „Ich bin mir unschlüssig“, murmelte er mit matter Stimme, ehe sein Blick zu Light huschte. „Möchte Light-kun etwas essen?“   Light löste nur langsam die Finger, die er etwas zu stark um die Stuhllehne verkrampft hatte. „Ich habe keinen Hunger, vielen Dank.“   „Aber wenn Light-kun Hunger hätte“, tönte es aus den weißen Bettlaken, „was würde er dann jetzt essen wollen?“   Lights Augenbraue zuckte. „Wie ich bereits sagte, ich habe keinen…“ Er unterbrach sich, schloss einen kurzen Moment die Augen und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. “Shiokara.”   Watari bemühte sich, seine Gesichtszüge neutral zu halten. Neben Erdbeer-Tee, war Shiokara eine weitere Kuriosität, die die Welt der Haute Cuisine definitiv nicht brauchte.   „Wataaari…“   Aller Selbstbeherrschung zum Trotz zuckte er letztlich doch zusammen. L wollte doch nicht wirklich …? Nur langsam ließ Watari seinen Blick zu seinem Schützling schweifen, dessen Augen auf ihm klebten – so dunkel wie ein Moorbecken und so bettelnd wie ein Hundewelpe. Er stöhnte lautlos.   „Shiokara? Na…türlich. Ganz wie du möchtest, Ryuuzaki. Ich werde es gleich zubereiten.“   „Danke“, nuschelte L und zog sich die Decke wieder bis zur Nasenspitze hoch. „Light-kun möchte wirklich nicht mitessen?“   Light schüttelte den Kopf. „Nein. Wie ich bereits sagte, ich habe keinen Hunger. Außerdem…“   „Das ist schade. Es wäre fast wie ein Date. Light-kun besteht bei Dates darauf, das Restaurant auszuwählen, nicht wahr?“   Lights Gesicht zeigte keine Regung. Watari empfand die japanische Kunst der Emotionslosigkeit als sehr bemerkenswert. „Es wäre ein äußerst seltsames Date“, entgegnete Light schließlich mit einer Spur Belustigung in der Stimme, angemessen genug, um berechnet zu sein. „Mir ist kein Restaurant bekannt, in dem man liegend isst.“   L überlegte einen Moment. „Light-kun hat natürlich wie immer vollkommen recht.“ Er ignorierte Lights säuerliches Schnauben und sprach weiter. „Zumindest in der heutigen Zeit. Im Römischen Imperium wäre es allerdings normal gewesen im Liegen zu essen. Ein Hauch von spätrömischer Dekadenz…“ Er unterbrach sich und richtete sich auf. Die Bettdecke rutschte an ihm entlang, als er sich in Lights Richtung neigte. „Wusste Light-kun, dass es in Rom nicht ungewöhnlich war, neben seiner Ehefrau einen Mann-“   Watari räusperte sich hastig. „Möchtest du Reis zum Shiokara, Ryuuzaki?“   L blinzelte. Er schien Wataris Anwesenheit für einen kurzen Moment vergessen zu haben. Nach ein paar Sekunden, in denen sein Blick zwischen Light und Watari hin und her schoss, faltete er sich in seltsam schlängelnden Bewegungen wieder unter der Bettdecke zusammen. Watari versuchte verzweifelt das Bild einer Muräne zu ignorieren, das sich in seine Gedanken schob. Light nutzte den Moment, um sich zu erheben. „Ich sollte gehen. Du hast den Schlaf dringend nötig, Ryuuzaki, du wirkst...“, völlig übergeschnappt stand in seinen Augen, „...erschöpft“, kam über seine Lippen.   Ein neugieriger Blick von L traf ihn. „Das ist interessant“, sprach er gedehnt. „Ich hätte nicht erwartet, dass Light-kun geht. Ich hätte erwartet, dass Light-kun die Nacht hier verbringt. Jetzt, wo ich bereits … ans Bett gefesselt bin.“   Eine von Lights Haarsträhnen sprang aus ihrer akribischen Ordentlichkeit. Er fuhr herum, eine Spur zu hastig, um unbeeindruckt zu wirken. „Wie ich sagte, es ist bereits spät“, murmelte er und verneigte sich kurz vor Watari. „Ich finde selbst nach draußen, vielen Dank. Entschuldigen Sie die Störung.“ Mit einigen hölzernen Schritten war er an der Tür. „Gute Besserung, Ryuuzaki“, sagte er, bevor er in den Flur trat, ein „die hast du dringend nötig“ unausgesprochen hinter sich in der Luft hängen lassend.   Watari hatte Light noch nie so gehetzt gesehen. Es musste Ironie des Schicksals sein, dass L Light gerade dann gefährlich wurde, wenn er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.   „Mein Shiokara?“ In Ls Stimme legte sich ein seltsam quengelnder Unterton.   Watari lächelte gequält. „Natürlich. Ich bereite es sofort zu.“   L antwortete nicht mehr. Mit undurchdringlichem Blick starrte er auf den Stuhl, auf dem Light bis eben noch gesessen hatte. Watari beeilte sich damit, in die Küche zu gehen. Er wollte über das alles einfach nicht nachdenken.   Allerdings wollte er auch nicht weiter darüber nachdenken, was er hier gerade verarbeitete. Mit allem britischen Stoizismus, den er zusammenkratzen konnte, hantierte Watari mit den Fischinnereien, die für das Shiokara nötig waren. Der Geruch legte sich schwer über die Küche. Er würde nicht nur sämtliche Küchenutensilien, sondern auch sich selbst und seine Kleidung desinfizieren müssen, stellte Watari fest. Wobei er letztes wohl umgehen würde, indem er seinen Anzug einfach komplett wegwarf. Er ächzte. Er fühlte sich an die typische Aalsülze des Londonder East Ends erinnert. Es gab Gründe, weshalb dieses Gericht in Vergessenheit geraten war. Watari biss die Zähne zusammen. Nach einer für ihn unerträglich langen Zeit war es endlich überstanden. Mit einer Schale dampfendem Reis und einer Schüssel dieser Zumutung von einem Fischgericht betrat Watari das Schlafzimmer ein weiteres Mal.   L lag mit geschlossenen Augen da.   Watari trat näher. „Dein Abendessen ist fertig, Ryuuzaki.“   L reagierte nicht.   Watari stellte das Tablett auf das kleine Nachttischchen. „Du hast sicher Hunger, du solltest dringend etwas essen.“   L schlief.   Watari begann einen sehr kurzen, schwachen Moment so etwas wie Sympathie für Kira zu empfinden. Er presste die Lippen zusammen, dann lächelte er. Vorsichtig zog er Ls Bettdecke zurecht und strich eine der störrischen Haarsträhnen zur Seite. „Schlaf gut, Ryuuzaki“, murmelte er. „Morgen wird es dir viel besser gehen und du bist wieder ganz der Alte.“   Leise durchquerte er den Raum, löschte das Licht und betrat den Flur.   L bewegte sich im Schlaf. „Erdbeer-Tee… mit Light-kun…“   Watari schloss die Tür heftiger, als er beabsichtigt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)