Enderal – Die Suche nach den Trümmern der Ordnung von Feuerblut ================================================================================ Prolog: „Jetzt liegt es an uns!“ -------------------------------- Ich war fassungslos. Konnte nicht glauben, was alles geschehen war. Einst kam ich nach Enderal, um mir ein neues Leben aufzubauen… Um dann herauszufinden, dass ich bei dem Versuch, mit einem Schiff nach Enderal zu gelangen gestorben war und eine Marionette der Bösen wurde. Ich wurde von ihnen wiederbelebt und wollte die Welt beschützen, bis ich erfuhr, dass ich ein Teil ihres Untergangs war. Die Hohen waren Meister darin, Menschen zu manipulieren und sie ins Unglück zu stürzen… Ich wollte alles zum Guten wenden, doch am Ende stand ich vor der unmöglichen Entscheidung: Sollte ich mein Leben opfern, um einen Teil der Welt zu retten und eine ganzheitliche Auslöschung zu verhindern? Oder sollte ich als Einzige mit Jespar fliehen um der gesamten nächsten Generation von Menschen zu helfen? Schon viele Male ist die Läuterung geschehen und ohne Hilfe würde sie noch viele weitere Male vollzogen werden. Ich wusste nicht, ob es feige war, aber ich hatte mich für die Flucht entschieden. Vielleicht konnte ich die Angst, den Zorn und alles, was den Hohen Macht gab, der nächsten Generation von Menschen nehmen… und damit die Hohen vernichten. Ich musste daran glauben, dass ich es schaffen würde. Also flohen Jespar und ich aus Enderal, setzten uns in die Kapseln und ließen uns in die Sternenstadt schießen, in der Hoffnung auf ein neues Leben, für uns und für die Menschen.   Ich blinzelte. Ich wachte in einer mir sehr vertrauten Umgebung auf. Der warme Sonnenuntergang leuchtete mir mit seinen orangenen und warmen Farben entgegen und die letzten Sonnenstrahlen wärmten mein kühles Gesicht. Ich richtete mich auf und lief langsam den Weg entlang. Vögel zwitscherten und Insekten summten leise. Die zwei Pferde, die am Wegrand im hohen Gras standen, malmten gemütlich an den langen Grashalmen. Doch ich beachtete die Umgebung kaum. Jeder meiner Alpträume begann hier, doch der Ausgang war verschieden. Mein Schritt wurde zügiger, der gewundene Weg führte mich bergauf. Als ich oben ankam, konnte ich über die Klippe blicken, wo die Sonne gerade den Horizont berührte. Doch mein Blick verweilte dort nur kurz. Ich sah nach links und bemerkte zuerst, dass Vati nicht mehr da war. Der Baumstumpf, an dem er mich sonst immer erwartete, war leer. Die Axt lag neben einem angefangenen Holzstück und ich ging weiter zum Haus. Die Eingangstür war verschlossen. Also kam ich noch nicht mal mehr in die Holzhütte hinein. Ich war alleine. Ich ging auf die Veranda vor dem Haus, jeder Schritt von mir ließ das Holz leise knarzen.  War ich tot? War ich jetzt diejenige, die dazu verdammt war für immer hier in diesem Sonnenuntergang festzustecken? Ich sah mich weiter um. Auf einmal fielen mir die Grabsteine auf. Ich ging von der Veranda und starrte sie an. Diese waren bei meinem letzten Besuch noch nicht da. Es waren drei Stück.  Ich ging kurz in mich und verstand: Vati, Mutter und Schwesterchen. Die, die ich angeblich umgebracht habe. Jedoch konnte ich mich seit meiner Schifffahrt nach Enderal an nichts mehr von meiner Vergangenheit erinnern. Als ich mich fragte, ob jetzt noch mein Grabstein dazukommen würde, erschien plötzlich etwas neben mir. Es war eine Art Geist, von einer Person, die mir sehr bekannt vorkam… „Jespar!“, rief ich entsetzt aus. Er stand einfach da und lächelte. Ich lief auf ihn zu und er verschwand.  Ich war verwirrt, sah mich panisch um. Warum war er hier? Wieso war er so schnell wieder verschwunden? Weshalb hatte es den Anschein, dass er nicht mehr lebte? Die durchsichtig, bläulich, leuchtende Person erschien plötzlich am Abhang wieder, wo der gewundene Weg wieder nach unten führte. Ich rannte los. Getrieben von Liebe, Verzweiflung und Tatendrang musste ich ihm folgen. Ich verstand: Er führte mich. Kurz als ich vor ihm stand, verschwand er wieder und tauchte am unteren Teil des Weges wieder auf. Ich sollte den Weg also wieder zurückgehen? Ich sprintete den kompletten Pfad entlang, bis ich an der herren- und pferdelosen Kutsche ankam, bei der ich in meinen Albträumen bisher immer erwacht war. Ich starrte auf meine Arme – sie lösten sich langsam auf. Alles wurde schwarz um mich herum. War das das Ende? Starb ich gerade? Interessanterweise verspürte ich keine Angst. Ich verspürte Gleichgültigkeit. Immerhin durfte ich Jespar noch einmal sehen…, dachte ich und lächelte, als ich in der Dunkelheit versank.   Ich öffnete die Augen. Mein Rücken war verspannt, ich trug ein einfaches Gewand und setzte mich langsam auf. Vögel zwitscherten und ich bemerkte, dass ich auf einer Steinbank gelegen hatte. Die Runen darauf kamen mir seltsam vertraut vor, doch ich konnte mich gerade einfach nicht erinnern… Ich hatte Kopfschmerzen, doch ich versuchte vorsichtig aufzustehen. Das Zimmer um mich herum war aus Stein gehauen, die groben Steinblöcke machten den Raum relativ dunkel, aber auch kühl. Ich ging langsam auf den Durchgang zu, von wo aus mehr Licht kam. Als ich nach links blickte, strahlte mir die aufgehende Sonne entgegen. Ich hob mir eine Hand vors Gesicht und kniff die Augen zusammen. Vorsichtig ging ich nach draußen und begriff schlagartig, wo ich war. Das hier war nicht das Totenreich, nicht mehr Enderal. Ich war in der Sternlingsstadt. Vorne am Abgrund der Plattform saß eine mir sehr bekannte Gestalt: Jespar. Typisch für ihn suchte er das Abenteuer: Das Risiko von der Kante zu stürzen schien ihn nicht zu interessieren. Ich ging vorsichtig weiter und blieb mit einiger Entfernung hinter ihm stehen. „Na, endlich aufgewacht?“, fragte er und sah mich an. Ich schwieg, war unfähig zu sprechen. Erinnerungen prasselten auf mich ein. „Es ist so wunderschön hier, fast wie ein Paradies“, stellte Jespar fest und blickte in die Ferne. „Und was tun wir jetzt?“, fragte ich ihn zögerlich. „Jetzt liegt es an uns!“, sagte er entschlossen und erhob sich Kapitel 1: Überleben für ein neues Zeitalter -------------------------------------------- „Ja, es liegt an uns. Wir müssen überleben, um im nächsten Zyklus die Hohen zu schlagen und die Menschheit endgültig zu retten, auch wenn Enderal wegen mir sterben musste“, stellte ich fest. „Sei nicht so hart zu dir. Ohne dich wären wir jetzt nicht hier und hätten gar nicht die Chance, der nächsten Menschheit zu helfen. Du hast alles in deiner Macht stehende getan, um die Hohen aufzuhalten. Dass Tealor Arantheal der eigentliche Übeltäter war, konnten wir alle nicht ahnen bis es zu spät war“, sagte Jespar. „Ja, vielleicht hast du Recht. Aber ich muss alles was geschehen ist erst einmal verarbeiten. Das war alles… sehr viel. Mein Kopf dröhnt immer noch von der Läuterung“, stöhnte ich fest. Jespar lachte. „Nicht nur dir… Ich dachte wirklich, das war’s für mich. Du hast mich gerettet. Als einzigen Menschen von ganz Enderal wurde ich von der großen Prophetin in die Sternenstadt gebracht. Ich gebe zu nicht ganz so romantisch wie beim letzte Mal, aber immerhin lebe ich noch.“ „Schon als wir das letzte Mal hier waren, war es nicht sicher, ob wir es überleben. Ich bitte daher um keine vorzeitigen Danksagungen. Wer weiß, ob wir den Tag überleben. Die Sternlinge haben hier massig Fallen aufgestellt. Lösen wir auch nur eine falsche aus, war’s das für uns. Außerdem wissen wir nicht, ob die Läuterung auf Enderal schon abgeschlossen ist. Die Sternlinge haben hier zwar die Aufzeichnungen über die letzten Läuterungen im Erinnerungsturm angefertigt, doch wer weiß ob sie die Läuterung an sich wirklich überlebt haben“, warnte ich und legte meine Hände auf seine Arme. „Ich weiß, wir müssen auf der Hut sein. Immer und überall. Als wir hier oben gelandet sind, warst du bewusstlos. Unsere Kapseln werden nicht mehr funktionieren, wir sind hier auch in einer seltsamen Halle gelandet. Auf jeden Fall ist deine Tür wohl aufgesprungen, kurz vor der Landung, und du hingst schon halb auf dem Boden. Ich habe dich befreit und zuerst so hingelegt, dass du gut atmen konntest. Dann habe ich mich umgesehen und diesen Steinraum gefunden, wo ich dich dann vorsichtig hingetragen habe. Gerade als ich dich im Bett abgelegt hatte und überprüfen wollte ob du richtig atmest, hat es plötzlich diese Erschütterung gegeben. Es war wie eine Art Explosion. Ich hatte schon die Befürchtung, es seien unsere Kapseln gewesen, aber sie lagen noch unverändert in der Halle. Ich weiß nicht was es war. Ich weiß nur noch, dass ich Angst hatte, große Angst.“ Seine Stimme brach und er schwieg einen Moment lang. „Ich liebe dich“, flüsterte ich und sein Blick wanderte in meine Augen. „Du bist alles, was mir geblieben ist“, murmelte er beinahe wehleidig. „Tut mir leid, ich habe Enderal so liebgewonnen… hätte ich doch nur früher die Hohen durchschaut, dann wäre alles vielleicht anders gekommen“, flüsterte ich. „Nein, es wäre nur hinausgezögert worden… ich bin froh dass du das alles überlebt hast. Wirklich. Du bist mir… sehr wichtig geworden“, sagte er und unsere Lippen berührten sich sanft. „Wichtig ist erstmal, dass wir die ersten Tage überleben. Auf meinem Rückweg von der Unterstadt zu den Kapseln habe ich noch schnell ein paar Sachen mitgenommen… ich hab einfach das gegriffen, was ich in die Finger bekommen habe… ich wusste ich habe nicht viel Zeit. Ich hatte das schon schnell in meiner Kapsel verstaut, bevor du ankamst… Ich hoffe wir können das noch essen und es ist nicht irgendwie verseucht oder so…“ Jespar lächelte. „Vielen Dank, daran habe ich in all der Eile überhaupt nicht gedacht. Ich befürchtete schon wir überleben diese Höllenfahrt nicht noch ein zweites Mal“, gestand ich und fröstelte kurz, als ich mich an das Gefühl erinnerte, mit enormem Druck nach oben in die Welt über den Wolken geschleudert zu werden. Ich hasste das Gefühl. „Dann lass uns die ersten Tage hier erstmal etwas ausruhen und wir ernähren uns erstmal von den Vorräten“, schlug ich vor. „Gute Idee. Ich bin von den letzten Tagen auch ziemlich erschöpft. Holen wir die Vorräte“, rief Jespar motiviert und ich folgte ihm. Wir gingen an dem Raum wo ich erwachte vorbei und mein Gefährte schob einen dichten Efeuvorhang zur Seite. Ich schnappte nach Luft. Die dicke, staubige Luft der riesigen Halle schlug mir entgegen, gemischt mit einem metallernen Geruch. „Diese Halle habe ich vorher noch nicht gesehen als wir hier waren“, stellte ich flüsternd fest. „Besser wir reden nicht laut, ja… Interessanterweise ist dies hier eine Nebenhalle. Ich glaube es hat einen Sinn, dass die Kapseln sobald sie nach oben steigen hier ankommen… es sieht aus wie eine Art Werkstatt. Die Kapseln sind nicht sehr reisefreudig. Sie scheinen immer mit Beschädigungen hier oben anzukommen, genauso wie sie unten auch landen. Wir können sie hier reparieren oder schauen, ob nach der Explosion, welche der Metalldrache ausgelöst hat noch irgendwo in dieser Stadt reisefähige Kapseln sind. Ich befürchte leider nicht. Ich habe vorhin mal kurz reingeschaut. Hier ist meine Kapsel gelandet.“ Jespar ging zielstrebig auf eine äußerst defekt scheinende Kapsel zu und zog einen großen Sack heraus. „Vielleicht hätten wir noch mehr Menschen retten können…“, setzte ich an, als ich vor meiner eigenen Flugmaschine stand, doch Jespar schüttelte den Kopf. „Es hatte einen Grund, dass da nur ein Sitzplatz war. Hättest du zwei Menschen in eine Kapsel gesetzt, wären wir vermutlich ab der Hälfte der Strecke wieder nach unten gefallen und nie hier oben angekommen. Jetzt haben wir genug Zeit. Zeit um uns hier zurechtzufinden, die Sternenstadt richtig zu erkunden und das Geheimnis der Hohen endgültig aufzudecken Vielleicht haben wir ja was übersehen, wir waren nicht lange hier beim letzten Mal…“, rätselte Jespar, ich konnte meinen Blick nicht von der Kapsel lösen. Vielleicht können wir sie ja wirklich reparieren… Aber vielleicht sind wir für immer hier oben gefangen und können die nächste Generation von Menschen nicht beschützen. Es ist alles neu. Wir müssen von vorne anfangen, das macht mir Angst. Ich sah Jespar an, der gedankenverloren durch eine Kuppel am Dach der Halle in den Himmel blickte. Andererseits ist es so schön hier, ich muss mich meiner neuen Aufgabe stellen. Ich will die Menschen retten. Und dafür muss ich diese Stadt auf den Kopf stellen, komme was wolle. Ich werde nicht scheitern… in Enderal konnte ich die Hohen nicht im Antlitz besiegen, doch hier oben haben sie keine Macht. Das nächste Mal werde ich ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten und bei unserer nächsten Begegnung versage ich nicht! „Gehen wir“, sagte ich kalt und ging denselben Weg zurück, den wir hergekommen waren. Nachdem wir wieder im Steinzimmer angekommen waren, legte Jespar den Sack ab und öffnete ihn. Ich staunte nicht schlecht. Er holte mehrere Endraläer Krustenbrote, ein lilafarbenes Kleid, Honig, mehrere Flaschen Bier und Tränke hervor. „Jespar… woher hast du das alles?“, hauchte ich und er lächelte müde. „Aus dem Sonnentempel wo genau keine Ahnung… Ich hab einfach gegriffen, was ich konnte… ich dachte das Kleid gefällt dir vielleicht.“ Er schmunzelte und ich lachte. „Die Welt geht unter und Jespar denkt an hübsche Kleider“, sagte ich sarkastisch und er musste mitlachen. „Kleider machen Leute“, erwiderte er und ich grinste. „Aber natürlich… Angesichts dieser menschenleeren Sternlingsstadt auch eindeutig nachvollziehbar“, entgegnete ich. „Wollen wir etwas essen?“, schlug er vor und ich nickte dankbar. „Aber wir sollten es uns einteilen, es wird nicht ewig reichen…“ Jespar brach ein Stück vom Krustenbrot ab und reichte es mir. Ich versuchte, langsam, bedächtig zu essen ohne es herunterzuschlingen. Ich durfte nicht daran denken, was geschehen würde wenn uns das Brot ausging. Viel hatten wir nicht. Vielleicht würde es uns die ersten Tage hier über Wasser halten aber garantiert nicht für eine längere Zeit. Wir mussten uns ausruhen, sollten dies aber nicht allzu lang tun. Denn sonst würden wir sterben. Und das Opfer der Welt wäre vergebens gewesen. Nachdem wir gegessen hatten, legten wir uns schlafen. Auch wenn Jespar es sich nicht anmerken ließ, er war erschöpft. Beinahe sofort nachdem wir uns hingelegt hatten, schlief er in meinen Armen ein. Ich brauchte etwas länger bis ich mich entspannen konnte. Der Albtraum schien einen Schlussstrich unter mein Leben in Enderal gezogen zu haben, dennoch traute ich den Hohen nicht. Sie würden sich wieder zeigen und mein altes Leben würde mich mit meiner Bürde die Welt zu retten einholen. Die Frage war nur wann und wie. Kapitel 2: Der Tod der Propheten -------------------------------- Gerade als ich die Augen geschlossen hatte, erschütterte ein Beben die Erde. Erschrocken riss ich die Augen auf. Meine Hände umklammerten Jespar fester, der ebenfalls zusammenzuckte und fluchend die Augen öffnete. „Was ist das?“, fragte ich verängstigt. Mein Partner war schneller auf den Beinen als ich es ihm zugetraut hätte. Er zog mich hastig nach oben, kleine Steine bröckelten von oben herunter. „Oh verdammt wir müssen hier raus, sonst fällt uns noch die Decke auf den Kopf!“, rief er panisch und stürmte nach draußen. Er zog mich mit, ich versuchte meine Beine zu ordnen, bevor ich ihm hinterherhechtete. „Wo willst du denn hin? Wir sind auf einer schwebenden Stadt! Wenn wir abstürzen, sterben wir, egal wo wir sind!“, schrie ich. „Ich will nach draußen, wo uns die Decke nicht auf den Kopf fällt!“, brüllte Jespar. Der Weg nach draußen kam mir ewig vor, dabei war er eigentlich kurz. Ich versuchte, mit Jespar Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war, da er immer wieder herunterfallenden Gesteinsbrocken auswich. Wir kamen nach draußen auf die Plattform, wo Jespar heute Morgen gesessen hatte, als ich nach meiner rasanten Kapselfahrt aufgewacht war. Der Himmel hatte sich stockfinster gefärbt… Das genaue Gegenteil vom schönen Sonnenaufgang heute Morgen. Ich blieb wie angewurzelt stehen, Jespar ebenso. Keinen Schritt mehr ging ich nach vorne. Überall um uns herum schwebten die Seelen der toten Endraläer. Es lief mir eiskalt über den Rücken, meine Nackenhaare stellten sich auf, ich zitterte. „Jespar… was geschieht hier?“, fragte ich verängstigt. Kommen die Hohen jetzt um uns zu holen? Waren selbst diese Worte des Schwarzen Wächters Lüge gewesen? Gibt es doch kein Entrinnen vor der Läuterung? Werden Jespar und ich hier und jetzt sterben müssen? „Sieh an… wie verängstigt sie schauen, die Propheten…“ Propheten? War Jespar… etwa auch ein Prophet geworden? Die Hohen konnten anscheinend meine Gedanken hören, denn sie antworteten beinahe sofort: „Natürlich. Nachdem du ihn in den Tod geführt hast, den seine Schwester so tadellos ausgeführt hat, wurde er wiederbelebt. Dann haben wir seine Seele für unsere Zwecke geführt, so wie dich, Prophetin.“ Ein grausiges Lachen erfüllte die Luft, ich merkte augenblicklich, wie Jespar sich neben mir versteifte. „Ihr habt… meine Seele benutzt?“, sagte er ausdruckslos. „Ihr Schweine!“, brüllte ich, „Und was wollt ihr jetzt tun? Uns töten?“, schrie ich außer mir und riss mich von Jespar los. Ich war wieder an einem Punkt, der mich wütend, rasend machte. Es war mir egal ob ich jetzt sterben würde oder nicht. Die Hohen lachten erneut. „Die Propheten werden sterben das ist sicher, also genießt die Vorstellung“ Die grauenvolle Stimme ließ das Blut in meinen Adern hochbrodeln. Ich wollte mich nicht umsehen, und doch tat ich es. Ich erkannte Calia und Tealor Arantheal. Viele Menschen, die ich in Enderal immer mal kurz im Vorbeigehen gegrüßt hatte, schwebten vor mir, tot, regungslos, beinahe durchsichtig. Ein schreckliches Heulen erfüllte die Luft. Ich riss mir beinahe reflexartig die Hände an die Ohren. Die Seelen schwebten dichter zueinander und schienen in eine Art Strudel gezogen zu werden. Jespar und ich verfolgten mit wachsendem Entsetzen wie die Seelen endgültig verschlungen wurden. Ich ging vorsichtig nach vorne und blickte über die Plattform. Ich konnte Enderal nicht mehr erkennen. Dies lag jedoch nicht an Wolken. Der Geruch verriet mir, dass es Rauch war. Die Welt brannte. Dies war das Finale. Jespar und ich sahen, wie ein neuer Hoher geboren wurde. Aus den Seelen einer Zivilisation, mit Blut beschmiert, aus dem Opfer einer gesamten Menschheit, außer uns beiden. Jespar stand plötzlich neben mir. „Wir können es nicht verhindern…“, flüsterte er bedauernd. Ich schüttelte den Kopf. Die Schreie wurden immer lauter, es fühlte sich an, als ob mein Trommelfell platzen würde. Ich wusste nicht, was ich noch tun konnte. Dies war das Ende. Ich dachte, Jespar und ich hätten das Schlimmste schon überstanden, aber ganz offenbar wollten die Hohen das Exempel vor unseren Augen zu Ende statuieren. Ich klammerte mich an Jespar. Ich hatte Angst, dass er auch noch von den Hohen in den Strudel gezogen wurde.   Um uns herum wütete ein Sturm. Pflanzen, Steine und sogar Tiere flogen durch die Gegend und wir mussten aufpassen, von nichts getroffen zu werden. Wir duckten uns, der Wind wurde immer heftiger. Die Schreie zerfetzen uns nun fast die Ohren, bis plötzlich - Stille. Auf einmal war der Sturm weg. Die Wucht der plötzlichen Windstille riss Jespar und mich von den Beinen und wir flogen ein ganzes Stück nach hinten. Meine Ohren pfiffen und wir rappelten uns langsam auf. Die Seelen hatten sich zu einem bläulichen Klumpen verdichtet und leuchteten auf einmal hellweiß, ein heller Ton erklang, der langsam immer lauter wurde. Meine Augen taten augenblicklich weh und ich musste sie zusammenkneifen. Der Ton verwandelte sich zu einem Schrei, der plötzlich verstummte. Ich schien taub zu sein, ich konnte gar nichts mehr hören.   Die Welt war stehengeblieben. Ich spürte, wie ich atmete, hörte in mir dass ich atmete, doch mehr vermochte ich nicht hören. Meine Augen öffneten sich langsamer als ich es beabsichtigte. Wurde die Zeit angehalten? Ein Vogel, der durch die Luft flog, erstarrte im Himmel, doch er stürzte nicht ab. Es war, als ob jemand ein Portrait malen wollte und die Welt bat, dafür stillzustehen. Ich sah langsam empor und die Seelen waren nicht mehr als einzelne Menschen erkennbar, sondern als große Kugel, alles war ineinander verschmolzen. Ich hielt den Atem an, ertastete erneut Jespars Arm.   In diesem Moment erbebte mein Körper und ich war dazu gezwungen, mich augenblicklich zusammenzukrümmen. Mit Jespar schien dasselbe zu geschehen. Die Stimme des neuen Hohen hallte in meinem Körper, in meinen Knochen wider: „Und hiermit sterben die Propheten… klein und unbedeutend seid ihr, wie winzige Käfer, die wir zerquetschen…“ Mir blieb die Luft weg und ich merkte, wie mein Herz immer schneller schlug. Würde ich jetzt sterben? Ich dachte die Hohen hatten in der Sternenstadt keine Gewalt? Ich dachte, wir wären hier sicher… „Ihr prophezeit nicht mehr den Untergang einer Generation, sondern ihr habt sie selbst gesehen, unsere Macht bezeugt. Deswegen taufen wir unsere Spielfiguren um: Ihr seid ab heute Zeugen. Und jetzt lebt euer erbärmliches Leben, versucht zu ändern, was ihr nicht ändern könnt. Und glaubt bloß nicht, dass ihr einzigartig schlau gewesen seid… Die nächste Läuterung wird kommen. Und sie wird euch treffen. Ihr seid nicht die ersten Zeugen, die gescheitert sind. Also lebt und bäumt euch gegen uns auf. Wir werden euch im Blick behalten… bis ihr fallen werdet. Dann werden wir euch auffangen in unserer Dunkelheit, euch dem roten Wahnsinn übergeben und euch mit der nächsten Läuterung verschlingen. So wie immer. Unsere Macht ist in diesem Zyklus wieder gestiegen, dank euch. Lebt euer unsterbliches Leben… wir werden uns wiedersehen.“   Die Kugel breitete sich aus, schoss in den Himmel empor und löste sich vor unseren Augen auf. Selbst die Sonne schien von dem Ereignis traumatisiert zu sein, denn es fing an in Strömen zu regnen. Trotzdem rührten wir uns nicht. Irgendwann verließ mich meine Kraft. Ich sank auf die Knie, in diesem Moment zog mich Jespar in seine Arme. Wir waren beide durchnässt, aber wir hielten uns einfach nur fest. Ich merkte gar nicht, wie ich anfing zu weinen. All diese Gefühle, all der Druck, der auf mir lag, alles kam in diesem Moment aus mir heraus. Der Regen spülte all meine Tränen weg. Die Luft roch nach Rauch. Dies war der Regen, der Enderal, die ganze Welt von den Flammen befreite, sie löschte und aus der Asche eine neue Welt erschuf. Jespar und ich hatten das Ende einer Generation gesehen, und wohnten jetzt einem neuen Anfang bei.   Wir sind die Zeugen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)