Puppentanz von tournesol (— von Engeln und Unabhängigkeit) ================================================================================ Kapitel 1: Walzer im Hinkeschritt --------------------------------- Als Sitri den Himmel erreichte, zitterte er. Es war ein eigentümliches Gefühl, denn als er auf seine Hände sah, war es kaum erkenntlich, aber innerlich fühlte er sich, als stehe er kurz davor, in Milliarden kleiner Stücke zu zerbersten. Vielleicht war es die Anstrengung des Fliegens. Vielleicht hatte sich sein Körper immer noch nicht an die himmlische Luft gewöhnt. Vielleicht, flüsterte ein gehässiger Teil von ihm, hast du Angst davor, Metatron unter die Augen zu treten. Sein Onkel hatte Fehlschläge nicht geduldet. Du wolltest Baalberith auch nicht mehr deinen Onkel nennen, schalt ihn die gehässige Stimme in seinem Kopf. Nicht nach all dem, an das sich Sitri nach dem Bissen vom sündigen Apfel wieder erinnert hatte. Seine Flügel schmerzten, als er auf eine der scheinbar vielen fliegenden Inseln, die so hoch in den Wolken den Boden unter den Füssen ausmachten landete. Noch bereitete ihm die Terminologie des göttlichen Reichs etwas Kopfschmerzen, auch wenn der das Offensichtlichste, so hoffte er, verstanden hatte. Er war jetzt Erzengel Gabriel. Sitri hätte mit der Rückkehr seiner Engelsflügel sterben sollen. Aber sein neuer Name fühlte sich wie ein unangenehm weites Gewand an, das er nicht seiner Statur entsprechender anzuziehen wusste. Gabriel waren die Fußstapfen seiner Mutter, Gabriel war ein Schwert, ein Schleier, ein Paar Flügel und eine unendliche Welt voller Pflichten und Erwartungen. Gabriel war genauso Metatrons Puppe wie Sitri in der Hölle an Baalberiths Fäden gehangen hatte. „Du bist wieder da.“ Die Stimme kam aus dem Nichts, aber Sitri wusste sofort, wem sie gehörte. Beinahe panisch wirbelte er herum und hob den Kopf, die Augen gegen das helle Licht der Sonne etwas zusammengekniffen. Metatrons Flügelschläge waren beunruhigend still und wie er so vor dem neuen Gabriel landete, verspürte dieser das Bedürfnis danach, den Blick zu senken. Sein Versagen schmeckte bitter und die Furcht vor einer Strafe wie die, die Baalberith in seinem Repertoire geführt hatte versetzte alles in ihm wieder in dieses innerliche Zittern. Aber Sitri bewahrte Haltung. Mit aller noch übriger Kraft zwang er sich, eine sicherere Haltung einzunehmen. „Und doch wandelt Michael immer noch auf der Erde.“ Metatrons Tonfall hatte eine nachdenkliche Note angenommen. Er landete so nah vor Sitri, ihre Stiefelspitzen berührten sich beinahe. Der Vorwurf war unausgesprochen, kaum angedeutet, doch dieses Mal knickte der Kleinere der beiden. Plötzlich waren ihre Schuhe und die alten aber säuberlich in Schuss gehaltenen Pflastersteine ungemein spannend. Sitri schmeckte Blut in seinem Mund, aber er konnte seinen Kiefer nicht dazu bewegen, nicht krampfhaft an seiner Unterlippe zu nagen. Für einen Augenblick war es still zwischen ihnen. Irgendwo in der Ferne spielte ein Engel Leier, ein Glöckchen klingelte im Wind, die Blätter des Gartens raschelten. Dann fanden Metatrons Finger den goldenen Lorbeerkranz, der Sitris Schleier an Ort und Stelle hielt. Langsam löste er den Schmuck. Sitri stellte mit Erleichterung fest, das sein Kopf sich augenblicklich leichter anfühlte. Die Verspannung in Nacken und Schultern liess nicht ganz nach, aber sie wurde erträglicher. Die Seide seines Schleiers rutschte auf seinem glatten Haar, fiel mit einem matten Flattern zu Boden. Keiner der beiden Engel beachete sie weiter. „Aber das ist okay. Ich weiss alles was ich wissen muss.“ Die Worte kamen überraschend, leise gegen Sitris Wange gewispert. Als dieser aufsah, trafen seine Augen auf die von Metatron; dunkel und unlesbar. Ein Lächeln zog an den Mundwinkeln des Seraphen und er näherte sein Gesicht Sitris etwas. Dieses Mal wartete er die Erlaubnis ab, hielt inne, bis der Kleinere nachgab und das Kinn etwas hob. Der Kuss war leicht und keusch, aber er füllte Sitris Adern mit flüssigem Feuer. Er registrierte nur peripher wie seine Hände zu Metatrons Kragen hochschossen und sich im dicken Stoff festkrallten. Der andere Engel lachte, seine Finger, die noch immer auf Sitris Kopf geruht hatten, flochten sich zwischen die fliederfarbenen Strähnen. „Willkommen daheim.“ „Ich bin nicht deine Marionette.“ Die Worte kamen unerwartet und atemlos, als sich Sitri von Metatron löste. Die ausdrucksvollen, strahlenden Augen weiteten sich etwas unter der Erkenntnis dessen, was er da gerade gesagt hatte und für einen erneuten Moment füllte sich die Luft zwischen ihnen mit gewichtigem Schweigen. Dann hob Metatron seine Augenbrauen und liess seine Hände über Sitris Schultern zu seiner Hüfte sinken. Doch, das bist du, schien die Geste zu sagen. „Wie kommst du jetzt darauf?“ Fragte er, die Stimme unbefangen. „Ich bin ein Erzengel wie auch du. Ich befolge Gottes Wort.“ Sitri zitterte in seinen Armen, auch wenn die zusammengezogenen Augenbrauen und der herausfordernde Zug um seinen Mund das Gefühl zu vermitteln versuchten, dass er fest auf seinen zwei Beinen stand. „Das bist du“, bestätigte Metatron amüsiert. Wie zur Betonung seiner Aussage liess er die Finger über die Federn der Flügel des anderen gleiten. „Du bist Erzengel Gabriel.“ Sitri zuckte unter der Berührung zusammen. Und obschon sich im Ausdruck Metatrons nichts zeigte, er hätte schwören können, dass sein Gegenüber die Situation genoss. „Genau.“ Zittriges Ein- und Ausatmen. „Ich bin Erzengel Gabriel.“ „Willst du, dass ich dich so nenne?“ Die Frage täuschte Güte und Hilfsbereitschaft vor, von der sie beide wussten, dass sie nicht auf die Art in Metatron existierten. Sitri – Erzengel Gabriel – verzog den Mund. „Nein“, kam die zögerliche Antwort. Metatron lachte. Namen hatten eine seltsame Macht. „Sitri.“ Die Art, wie er den Namen aussprach, schien im anderen Engel etwas Seltsames zu bewirken. Für einen Augenblick hielt Sitri die Luft an. Metatron liess den Klang seines Namens anders scheinen als Baalberith. Sanfter. Wie er so die Augen schloss, um das Gefühl etwas auszukosten, konnte er ihm beinahe glauben, wenn er behauptete, seine Aussage in der Verkleidung des Menschenjungen Sion Christians ernst gemeint zu haben. Darüber, wie er ihn heiraten wollte. Darüber, wie er Sitri liebte. „Nochmals“, verlangte er. Erneut lachte Metatron, dieses Mal war sein Gesicht näher. Sein Atem kitzelte Sitris Wange und liess die Strähnen, die sein hübsches Gesicht umrahmten flattern. „Sitri.“ „Sitri. Keine Puppe“, echote der kleinere Engel. Seinen Worten fehlte die Sicherheit, schien um Bestätigung zu bitten – Bestätigung, die ihm erst Baalberith, dann William immer auf eine oder andere Art gegeben hatten. „Genau“, murmelte Metatron gegen seinen Mund. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)