Hiraeth von -Altair ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 - Marise ----------------------------- Alles begann mit ihr … „Hey!“ Marise schreckte auf. Verdammt, schon wieder … „Schlafen kannst du, sobald du in deinem Quartier bist!“, brüllte ihr Trainer und, schnell wie er war, holte zu einem Tritt gegen ihren Unterkiefer aus. Marise war jedoch noch immer wie erstarrt und so traf der harte Tritt sein Ziel. Sie wurde einen guten Meter in den Staub der kleinen Arena geschleudert und blieb regungslos liegen. „Stoppt das Training!“ Diese Instruktion schien jedoch nicht nötig zu sein. Marise sah mit flimmernder Sicht, dass alle anderen Schüler und Trainer sofort aufgehört hatten und besorgt zu ihr schauten. Einige Strähnen, die sich während des Trainings aus dem Zopf gelöst hatten, fielen über ihr Gesicht, als ihr Trainer – Kyle war sein Name – sich neben sie kniete und sie ihren Kopf in eine Richtung neigte. Er trug wie alle anderen auch schwarze Trainingskleidung, Stiefel und Handschuhe waren zusätzlich mit Vorrichtungen aus Metall verstärkt. Eben diese Metallschiene hatte sie noch wenige Sekunden zuvor in ihrem ungeschützten Gesicht getroffen, dessen untere Hälfte sie nun nicht mehr spüren konnte. Sie versuchte, ihren Kiefer zu bewegen und, als sie diesen einfach nicht spürte, aus Verzweiflung zu schreien. Doch Kyle nahm ihr Gesicht vorsichtig in beide Hände und schaute sie eindringlich an. „Marise. Bleib‘ ruhig. Ich werde dich in die Krankenstation bringen.“ Mit diesen Worten hob er sie vom Boden, darauf bedacht, ihren Kopf stabil gegen seinen Oberarm zu lehnen. Während er aus dem Raum ging gab er den kurzen Befehl, das Training fortzusetzen. Zögerlich nahmen sowohl Trainer als auch Studenten Position ein, ihren Blick noch immer auf Kyle und Marise gerichtet. „Wie konnte das passieren?“, fragte Kyle auf dem Weg zur Krankenstation, mehr sich selbst als Marise. Sie musste an die Sekunden vor dem Tritt denken. Ihr Nahkampftraining gegen Kyle war ohne besondere Vorkommnisse oder Überraschungen gestartet. Sie konnte einige Schläge und Tritte blocken, konnte selbst ein paar Treffer austeilen. Doch plötzlich war sie erstarrt. Sie hört eine Stimme, in ihrem Kopf. Alles begann mit ihr … Es war nicht das erste Mal, dass es passierte. Nein. Seit Jahren wiederholte es sich. Mal trat es innerhalb einer Woche mehrmals auf, mal war sie über Monate verschont. Doch es wurde stärker. Als dieser Effekt zum ersten Mal aufgetreten ist, konnte sie nur undeutliches Murmeln verstehen. Jetzt hörte sie die Stimme so deutlich, als würde sie selbst sprechen. Es war jedoch das erste Mal, dass sie die Stimme hörte, während sie in der Öffentlichkeit war. Kyle musste ihren Schock für Unachtsamkeit gehalten haben. Doch sie hatte sich kaum auf ihre Umgebung konzentrieren können. Langsam nahm der Schock ab und anstelle der Taubheit stellte sich ein starker Schmerz ein. Ein gutes Zeichen … „Marise, bleib‘ bei mir, okay?“ Kyle schaute auf sie hinab. In seinen grauen Augen spiegelte sich nichts außer Sorge und Schuld. Erst da bemerkte sie, dass sie am ganzen Körper unkontrolliert zitterte. Da sie nicht antworten konnte, versuchte sie, ihn eindringlich anzuschauen, doch ihr Blick verschwamm als Tränen des Schmerzes ihre Wangen herunterliefen. Fang‘ jetzt nicht an zu heulen, Marise. Die Verletzung ist peinlich genug. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf Kyles Herzschlag zu konzentrieren, den sie durch die schwach gepanzerte Kleidung spüren konnte. Ihr Trainer ging so schnell es ihm möglich war zur Krankenstation, dennoch dauerte es gute zehn Minuten, bis sich die automatischen Türen zu dieser öffneten. „Kyle! Was ist passiert?“ Marise öffnete die Augen und sah, wie Ewa, die diensthabende Ärztin, von ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch aufsprang und sämtliche Diagramme und Statistiken, die sich in Form von Hologrammen vor ihr befanden, mit einer Handbewegung verschwinden ließ. „Fehlfunktion der GSS. Marises Kiefer hat einen direkten Tritt abgekommen.“ Kopfschüttelnd deutete Ewa auf ein freies Bett, welches kaum mehr als eine dünne Matratze war. Behutsam legte Kyle sie auf diese und strich ihr die langen Strähnen aus dem Gesicht, dann trat er beiseite. Eine Apparatur fuhr aus der Wand neben ihr. Sie bestand aus einem langen Schlauch, an dem ein flaches Panel befestigt war. Dieses Panel fuhr über Marises gesamten Körper und fertigte einen Scan ihres Körpers an, der sich langsam vor Ewa und Kyle aufbaute. Neben der obligatorischen Identifikation und dem Ganzkörperhologramm erschienen auch mehrere Diagramme, die sämtliche Organfunktionen und Gehirnaktivitäten aufzeichneten. Marise versuche erst gar nicht, etwas auf diesen Bildern zu erkennen. Das überließ sie Ewa und ihrer KI. Die Ärztin zoomte näher an Marises Gesicht heran und begutachtete ihren Kiefer von allen Seiten. Sie presste ihre dünnen Lippen aneinander, während sie die Knochen im Hologramm verschob und nach kleinsten Rissen suchte. „Ich werde CAI eine Diagnose anfertigen lassen – ich schätze, der Kiefer ist geprellt. Gebt mir einen Moment.“ Damit ging Ewa zurück zu ihrem Schreibtisch und startete die Diagnosefunktion von CAI – der Clinical Artificial Intelligence – einer künstlichen Intelligenz, die aus dem Hologramm von Marises Knochen eine Diagnose und Behandlung erschließen konnte. Während die Ärztin auf die Ergebnisse wartete, setzte sich Kyle neben ihr. Marise fühlte urplötzlich eine tiefe Erschöpfung und legte ihren Kopf auf die Matratze. „Es tut mir so leid, Marise. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich dachte, dass du nur einen Moment unachtsam warst. Deine Schilde hätten sich automatisch hochfahren sollen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Ihr Trainer fuhr sich durch die Haare. Er hatte Recht. Während der Trainingsstunden waren sie mit spezieller Kleidung ausgestattet, die Verletzungen des ungeschützten Kopfes verhindern sollte. Fehlfunktionen waren noch nie aufgetreten. Da Marise ihrem Trainer nicht antworten konnte, schaute sie ihm in die Augen und legte ihre Hand auf seinen Oberarm. Sie kannte ihren Trainer nun seit fast drei Jahren, seitdem sie Mitglied der Militärakademie geworden ist. Eigentlich hatte sie studieren wollen – eine Möglichkeit, die jedem Bewohner Yadirs unabhängig sozialem oder finanziellem Hintergrund offenstand. Dass sie nun tagtäglich versuchte, Kyle oder anderen Mitschülern ins Gesicht zu treten, hatte sich durch einen Zufall ergeben. Ewa stand von ihrem Schreibtisch auf und unterbrach Marise in ihren Gedanken, während sie Kyles warmen Oberarm unter ihrer Handfläche spürte. Peinlich berührt ob dieser intimen Geste, zog sie ihre Hand zurück und legte sie auf ihren Bauch, während sie versuchte, sich wieder aufzusetzen. „Die gute Nachricht ist: Dein Kiefer ist nicht gebrochen, Marise. Du hast sehr viel Glück gehabt. Heute Abend sollte dein Kiefer vollständig verheilt sein. Allerdings werde ich dich erstmal vom Training krankschreiben müssen. Außerdem werde ich dich gleich hier behandeln müssen … Bereit?“ Auf ein Nicken Marises hin nahm CAI einen weiteren Scan vor, das Ziel war ihre rechte Gesichtshälfte. Die Abbildung breitete sich erneut vor Ewa aus und mit routinierten Bewegungen tippte sie mit behandschuhten Fingern auf dieser herum. Sofort kamen viele kleine Schläuche aus dem Bettgestell gefahren, mit jeweils einer winzigen Nadel an jedem Ende. Diese stachen nun in Marises Haut rund um ihren Kiefer und gaben dabei eine klare Flüssigkeit, eine Mischung aus Antibiotika und anderer entzündungshemmender Medikamente, frei. Der Schock der plötzlichen Taubheit in ihrem Kiefer ließ Marise ihre Hand erneut um Kyles Oberarm krallen, der keinerlei Gefühlregung zeigte. Sie machte sich eine geistige Notiz ihm dafür zu danken, weitere Demütigungen konnte sie kaum noch ertragen. Kyle kannte sie. Arroganz würde sie eines Tages zu Fall bringen, auch wenn es derzeit ihre größte Stärke war. „Alles in Ordnung. Marise, du solltest in der Lage sein, in dein Quartier zu gehen. Schone dich bitte, heute Abend kannst du gerne versuchen zu sprechen und zu essen. Kyle, dich bräuchte ich hier für den Report.“ Marise setzte sich auf und ließ ihre Beine von der Matratze baumeln. Da sie weder Schmerzen noch Benommenheit fühlte, setze sie ihre Beine auf den Boden. Sie berührte ihr Kinn, welches sich anfühlte, als sei es um das Dreifache angeschwollen. Fuck, sie würde dieses Mal ihrer Niederlage eine ganze Weile mit sich tragen. Da es ihr unmöglich war sich zu bedanken, tippte sie Ewa auf die Schulter und, als diese sich umdrehte, nickte sie der älteren Frau zu und lächelte, soweit es ihr möglich war. Sowohl die Ärztin als auch Kyle schauten die junge Frau an. Marises Lächeln war selten, das oft gleichgültige Gesicht schien kaum empfänglich für jegliche Regung außer Spott und Sarkasmus. So unerwartet das kleine Lächeln auf Marises Lippen erschienen war, so schnell verschwand es wieder hinter einem desinteressierten Ausdruck, einzig der immer harte Blick ihrer Augen blieb. Um nicht noch länger untätig neben Kyle und Ewa zu stehen, ging sie aus dem Krankenzimmer in Richtung ihres Zimmers. Auf dem Weg befreite sie ihre übrigen Haare aus den Überresten ihres Zopfes und ließ sie über ihre rechte Gesichtshälfte fallen. Auch wenn es kaum etwas bringen würde. Mittlerweile dürfte die gesamte Akademie von ihrem Trainingsunfall gehört haben. Wie unerfreulich. Somit ging sie ohne Umwege zu ihrem Zimmer, es brauchte keine weiteren Augenzeugen ihrer Niederlage. Noch nie hatte sie sich während eines Trainings verletzt und selbst, wenn sie sich blaue Flecken zuzog, fügte sie ihren Trainern oder anderen Schülern ebenso viele Blessuren zu. Und nun ist sie ohne Gegenwehr zu Boden gegangen. Und sogar Schwäche gegenüber Kyle gezeigt. Verdammt! Plötzlich stand vor ihr eine junge Frau, deutlich eingeschüchtert durch die Akademie und die Mengen an Schülern um sie herum. Wie süß, dachte Marise, während sie von oben herab auf die junge Frau schaute. Sie sah verängstigt aus, ihre Augen weit aufgerissen, ihr Blick auf das angeschwollene Kinn gerichtet. Ein schwaches, aber unmissverständlich herzloses Lächeln umspielte Marises Lippen, als sie ihre Haare über ihre Schulter warf, ihr Kinn präsentierend, und demonstrativ langsam an dem Mädchen vorbeiging. Sie starrte Marise ununterbrochen an. Besser, sie weiß früh genug, was auf sie zukommt. Vor ihrer Zimmertür wurde Marises Auge als Identifikation gescannt, danach trat sie ein. Da sie sich in ihrem letzten Jahr der Ausbildung befand, konnte sie sich glücklich schätzen, ein Zimmer mit einer großen Glasfront zu besitzen. Sie blickte auf den Garten, in dem sich mehrere Schüler jeder Altersklasse befanden. Da sie nicht wusste, was sie an diesem Nachmittag mit sich anfangen sollte, legte sie sich auf das kleine Sofa, das sie vor einiger Zeit vor die Fensterfront geschoben hatte und beobachtete das Treiben unter ihr. Junge Schüler und Schülerinnen standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich aufgeregt, während die wenigen älteren Schüler, die gerade keinen Unterricht hatten, für ihre Prüfungen lernten oder trainierten. Ein normaler Tag an der Tyralad Akademie, der Schule für die Ausbildung junger Studenten auf Yadir in verschiedenen Bereichen, sei es Kampf, Technologie, Medizin. Gerade trat einer der älteren Studenten seinem Sparringpartner mit unfassbarer Geschwindigkeit in den Nacken, dieser ging in die Knie. Jeder um die beiden Kämpfer schien den Atem anzuhalten, doch der überlegene streckte seinen Arm aus, um seinem Gegenüber aufzuhelfen. Dieser nahm lächelnd an, rieb sich den Nacken und beförderte seinen Gegner mit einer blitzschnellen Bewegung in den Staub. Marise drehte sich auf ihren Rücken. Sie sollte dort unten sein. Sie sollte trainieren. Sie sollte verdammt noch einmal siegen. Sie legte einen Arm über ihre Augen und ließ ihre Gedanken driften. Die Medikamente, die durch ihren Körper flossen und ihren Kiefer wieder zusammenflickten, ließen sie müde ihre Augen schließen. Erschöpft fiel sie schließlich in einen traumlosen Schlaf.   „Marise?“ Es klopfte an ihrer Tür. Sie schreckte aus ihrem Schlaf auf, der Schock ließ sie fast automatisch auf ihren Füßen stehen. Jahrelanges Training … Es klopfte erneut. Kyle. Marise öffnete die Tür und sah ihren Trainer im Türrahmen stehen. Er schaute auf ihr Kinn. „Wie geht’s dir?“ Marise bewegte ihren Kiefer ein paar Mal hin und her. Sie spürte ein leichtes Knacken, jedoch keinen Schmerz. „So schnell bringt mich niemand zu Fall“, sagte sie, erschrak sich jedoch beim Klang ihrer eigenen Stimme. Kratzig, müde, schwach … erbärmlich. Als sie sich streckte, um ihre Gelenke nach ihrem Schlaf auf dem Sofa wieder zu lockern, bemerkte sie, dass sie noch immer ihre durchgeschwitzte Trainingskleidung trug. Als sie an sich herunterschaute, sah sie auch zum ersten Mal einige Blutflecken auf dem grauen Shirt. „Sorry, diese schei-“, setzte sie an, brach ihren Satz aber ab. Vor ihr stand ihr Trainer, eine Respektsperson. Jemand, zu dem sie aufsah. Einer der wenigen Personen dieser Akademie, den sie ernst nahm. Sie sollte ein wenig Respekt zeigen, zumindest in der Wahl ihrer Worte. Auch wenn eine moderate Wortwahl nicht zu ihren ausgewiesenen Stärken zählte. „Die Medikamente haben mich außer Gefecht gesetzt. Ich bin noch nicht zum Duschen gekommen.“ Kyle lächelte und lehnte sich an den Rahmen. Er durchschaute die Bemühungen, ihre misslaunige Wortwahl zu unterdrücken.         „Entschuldigung angenommen. Marise, ich weiß, dass du weiterkämpfen willst, aber vergiss deine Gesundheit nicht. Und versuch‘ nicht, dieses Missgeschick als Niederlage zu betiteln. Du bist meine beste Schülerin, du solltest deinen Kiefer schonen und gestärkt wiederkommen. Morgen kannst du gerne deinen Stolz zurückfordern. Für heute, schon‘ dich.“ Marise rollte ihre Augen. Ja, er kannte sie, ja, er verstand sie und ja, es machte sie unfassbar wütend. Doch Kyle war nicht nur ihr Trainer, der diese Worte nur nutze, um sie zu motivieren. Er war ihr einziger Vertrauter, seitdem sie an die Akademie gekommen war. Er meinte jedes seiner Worte. „Du weißt, dass ich nicht nur hier bin, um dein genervtes Gesicht zu sehen – vielleicht ein wenig – aber wir müssen diesen ganzen Bürokratiekram durchgehen“, sagte Kyle lächelnd, hielt sein elektronisches Datapad hoch. Nun konnte Marise ihren Unmut nicht mehr zurückhalten und seufzte laut. Dennoch drehte sie sich um und ließ Kyle in ihr Zimmer. „Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne duschen, bevor wir diesen Mist durchgehen“, bemerkte Marise, während sie über ihre Schulter schaute. Sie wartete jedoch nicht auf die Antwort von Kyle, sondern machte sich sofort auf den Weg zu dem privaten Badezimmer ihres Zimmers. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Trainer grinste und sich auf ihr Sofa setze, um in den Garten zu schauen. Die Sonne war schon untergegangen, dennoch war der Garten hellerleuchtet. Mehr und mehr Schüler trafen sich hier, nun, da die Unterrichtsstunden vorbei waren. „Einen schönen Ausblick hast du hier“, bemerkte Kyle mit einem leicht spöttischen Unterton. „Ja, ja.“ Damit schloss sie die Tür hinter sich, zog sich aus und schmiss ihre schmutzige Kleidung auf den kleinen Klamottenberg neben ihrer Dusche. Dann stieg sie unter die warme Dusche, ließ das Wasser über ihr Gesicht und Haare laufen. Langsam wärmte sich ihre Haut, ihre Muskeln, ihre Gelenke wieder auf. Sie fühlte sich besser. Mutig. Sie wickelte sich nach einer langen Dusche in ein Handtuch, kämmte grob ihre nassen Haare und ohne einen zweiten Gedanken zu verschwenden, trat sie aus dem Badezimmer. Kyle saß noch immer auf ihrem Sofa, schaute in den Garten. Doch er rang mit seinen Händen. Als er hörte, dass Marise aus dem Badezimmer kam, stoppte er abrupt die nervösen Gesten, schaute er auf und sah ihre schlanke Silhouette in der Spiegelung der Fensterfront. Auch Marise beobachtete ihn. Sah ihn lächeln. Und als sie auf ihn zukam, stand er auf und legte sein Datapad auf das Sofa. Als sie neben ihm stand und wie er in den Garten schaute, waren sich beide bewusst, was passieren würde. Marise ließ ihr Handtuch fallen, fast im gleichen Moment umfasste Kyle ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie leidenschaftlich. Dieser Tag war nicht wie geplant verlaufen, ein paar gebrochene Regeln als Abschluss waren ihr nun auch herzlich egal. Sie würde die Strafe erhalten, irgendwann, wenn die Ereignisse dieses Abends öffentlich werden sollten. Jetzt wollte sie einfach nur ihre Niederlage vergessen. Ihren Stolz zurückerobern. Sie drückte Kyle gegen die Glasfront, wohlwissend, dass jeder Schüler, der im Garten nach oben schauen würde, sie sehen könnte. Auch ihm musste es bewusst sein, doch er unternahm nichts, sie zurückzudrängen. Im Gegenteil, er umfasste ihre Hüfte mit beiden Händen und hob sie ohne jede Anstrengung hoch. Wie im Reflex umschlossen ihre Beine seinen Oberkörper, während er ihren Rücken stütze. Ihre noch nassen Haare tropften auf den Boden, an ihrem Rücken und Oberkörper herunter. Sie konnte Kyles harte Muskeln unter ihrer Haut spüren. Doch dieses Mal war es kein Trainingskampf, der sie zusammenbrachte, es war etwas anderes, etwas tiefer liegendes. Und als Marise ihre Hand durch Kyles Haar fahren ließ, nahm sie einen Lichtblitz durch ihre geschlossenen Augen wahr. Alles begann mit ihr. Während sie seinen Hals küsste öffnete sie ihre Augen. Gerade rechtzeitig genug, um zu sehen, wie die große Fensterfront in Kyles Rücken zerbrach und eine gewaltige Druckwelle auf sie zurolle. Kapitel 2: Kapitel 2 - Evie --------------------------- Dieses Gebäude war wirklich, wirklich, wirklich groß. Nicht nur, dass ein Korridor wie der andere aussah. Sie stand an einer Kreuzung, und allein fünf Gänge führten in eine Richtung, die als „rechts“ beschrieben werden könnte. Evie war den Beschreibungen eines anderen Studenten gefolgt, um zur Krankenstation zu gelangen. Doch bei dieser Kreuzung angekommen, war ihre einzige Richtungsangabe „rechts“ … welches der fünf Rechts war ihr ein Rätsel. Alle gehörten zum Krankenflügel. Mist, sie würde zur spät zu ihrem ersten Einzelpraktikum kommen. Ein gelungener Start. Evies Studium hatte erst vor zwei Wochen an der Tyralad Akademie begonnen. Den Grundriss des Gebäudes als verwirrend zu bezeichnen, wäre noch viel zu freundlich. Das Labyrinth an Einzelgebäuden und verschiedenen Korridoren schien sich mit jedem Male zu verändern. In ihrem Kopf einen Kinderreim beginnend, zählte Evie die Flure ab und entschied sich dann für den Gang in der Mitte. Mehr als Notfall ► war auf einem Schild nicht geschrieben, ihre Kursbeschreibung besagte nur, dass sie sich bei Dr. Ronn melden sollte. Gerade, als sie die Hälfte des Korridors durchquert hatte und sich zu fragen begann, ob sie umdrehen sollte, um einen weiteren Gang zu probieren, kam ihr eine junge Frau entgegen. Sie hatte ihren Blick zu Boden gerichtet und so stieß sie fast mit Evie zusammen. Gerade als sie die andere Frau nach dem Weg fragen wollte, fiel ihr Blick auf ihr Kinn, das nur halbherzig von ihren fast weißen Haaren verdeckt wurde. Es war blau und geschwollen und die Muskeln zuckten immer wieder unregelmäßig. Mehrere kleine Einstichlöcher zeugten von ihrer Behandlung, doch die Schwellung ließ die Verletzung als gefährlicher aussehen als sie vermutlich war. Da bemerkte Evie, dass sie die Frau gegenüber für mehrere Sekunden ungeniert angestarrt hatte. Gerade, als sie sich entschuldigen wollte, strich die blonde Frau ihre Haare aus dem Gesicht, ein Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab – doch ihre braunen Augen blieben hart und kalt. Evie keines weiteren Blickes würdigend, stolzierte die junge Frau an ihr vorbei.     Reizend. Evie zuckte mit ihren Schultern und setzte ihre Suche weiter fort, da sah sie eine offene Tür mit der Bezeichnung „Krankenstation“. Sie wollte ihr Glück zunächst dort versuchen. Sie klopfte an die geöffnete Tür und wartete auf eine Antwort. „Wenn du Evelinn bist, dann bist du eine halbe Stunde zu spät. Komm‘ rein.“ Schamesröte stieg in ihrem Gesicht auf, sie versuchte dennoch möglichst würdevoll in den Raum zu treten. Eine mittelalte Frau stand hinter einem Schreibtisch, vor das Hologramm eines Schädels, welche sie nach links und rechts drehte. Neben ihr stand ein Mann in schwarzgrauer Kleidung, mit der gleichen, leichten Rüstung wie die junge, blonde Frau. Auch er schaute sich die Abbildung des Schädels an. Die Ärztin schaute auf und musterte Evie von oben bis unten. „Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl verlaufen“, stammelte Evie und blickte zu Boden. Mann, das war peinlich. Der Mann lachte. „Ewa, du musst deinen Studenten echt genauere Richtungsangaben geben. Jedes Jahr das gleiche.“ Damit verabschiedete er sich und ließ Evie mit Dr. Ewa Ronn allein. Dr. Ewa Ronn, der renommiertesten Ärztin in ganz Yadir – ihrer Ausbilderin. „Es tut mir wirklich, wirklich leid, Dr. Ronn.“ Dr. Ronn kam um den Tisch herum und auf Evie zu. Als sie vor ihr stand, streckte sie ihre Hand aus. „Außer einer wirklich schlecht gelaunten Patientin hast du noch nichts verpasst. Du kannst mir aber jetzt helfen, die Daten einzutragen. Und bitte, nenn‘ mich Ewa.“ Evie nahm erleichtert Ewas Hand und schüttelte sie einmal. Damit begann ihre Ausbildung als Ärztin für Yadirs Armee.   Es wurde ein langer Tag. Evie schaute kurz aus dem Fenster und sah, dass sie Sonne bereits untergegangen war. Anhand der Daten der verletzen jungen Frau, die an ihr im Gang vorbeistolziert war, lernte sie, wie sie Verletzungen – zusammen mit der KI – in den Datenknoten einzutragen hatte. Es war keine schwere Aufgabe. Nur mühsam. Daneben kümmerte sie sich mit Dr. Ewa um mehrere Studenten, die mit kleinen Verletzungen und Krankheiten in die Station kamen. Der ständige Wechsel zwischen der Arbeit am Datenknoten CAIs und den Brüchen und Platzwunden der Patienten ließen die Zeit wie im Flug vergehen. Nun war ihr erster Tag vorbei. Bevor sie an der Tyralad Akademie angenommen wurde, hatte sie schon zahlreiche kleine Praktika in Krankenhäusern auf Yadir absolviert. Doch noch nie hatte sie zusammen mit einer solch fortschrittlichen KI und kompetenten Ärztin zusammengearbeitet. Evie lehnte sich auf dem Stuhl, auf dem sie vor einigen Stunden platzgenommen hatte, zurück. Ein kleines Fenster mit einer Nachricht von CAI, dass sie seit über sieben Stunden nichts gegessen hatte, erschien an ihrem Schreibtisch und legte sich über die Akte der Patientin namens Marise Travis und ließ sich weder wegschieben noch löschen. CAI verhielt sich wie ihre Mutter, die im Türrahmen steht und nicht eher geht, bis sie ihr Zimmer aufgeräumt hatte. Leise kichernd richtete Evie sich auf und streckte sich. Ihre schwarzen Haare, die sie in einen hohen Pferdeschwanz gebunden hatte, hatten sich gelöst und fielen ihr über ihr Gesicht. Frustriert zerrte sie an dem Zopfgummi und ließ die schulterlangen Wellen aus dem Gefängnis. Sie würde sie wieder zusammenbinden, sobald sie etwas gegessen hatte. Ewa verband gerade mit CAIs Hilfe den Kopf einer jungen Studentin, die der Rückstoß ihrer eigenen Trainingswaffe an der Schläfe getroffen hatte. Dieses war schon der zweite Fall dieses Tages, an dem das GSS ausgefallen war. Die Ärztin blickte auf und nickte Evie zu, dass sie eine kurze Pause machen konnte. Danach richtete sie sich dem blutenden Kopf des Mädchens zu, das höchstens 16 Jahre alt war. Evie ging aus der Krankenstation und suchte nach dem kleinen Verkaufsautomaten, den sie heute Morgen noch gesehen hatte. Sie wollte sich nur einen kleinen Snack gönnen und sofort zurück auf die Station, um Ewa mit dem jungen Mädchen zu helfen. Viele Studenten, besonders der militärischen Laufbahn, begannen in jungen Jahren, werden aber dennoch auf die gleiche Weise gedrillt wie die älteren Mitschüler. Entlassen werden sie dennoch nicht früher als mit 28 Jahren, wenn sie als reif und erfahren genug angesehen werden, um Yadir zu verteidigen. Bis dahin war es an Dr. Ewa, Evie und vielen anderen Ärzten und Schülern, nicht nur die Kämpfer zusammenzuflicken, sondern sich um die Belange, psychischer wie physischer Natur, aller Studenten zu kümmern. Burnout und Überarbeitung war in allen Studiengängen verbreitet, und nicht selten kamen Studenten der Naturwissenschaften in die Krankenstation, die beim Testen einer neuen Lasertechnologie erhebliche Verbrennungen davongetragen haben. All dieses hatte Evie bereits an ihrem ersten Tag hier erlebt. Erschöpft ließ sie sich neben dem Verkaufsautomaten an die Wand sinken, als sie spürte, dass diese leicht vibrierte. Irritiert stieß sie sich von der Wand ab und legte ihre Hand gegen sie. Da bemerkte sie, dass auch der Boden unter ihren Füßen leicht wankte. Gerade als sie sich fragte, ob sie nicht vielleicht doch zu viel gearbeitet hatte und sich lieber selbst von CAI behandeln lassen sollte, wurde die Vibration immer stärker, auch die Fensterscheiben begannen sich zu bewegen. „Was zum-“   Evie drehte sich rechtzeitig um, um eine gewaltige Druckwelle auf sich zurollen zu sehen. Geistesgegenwärtig stürzte sie auf den Raum ihr gegenüber zu und drückte ihre Schulter gegen die Tür, um diese zu öffnen. Gerade rechtzeitig konnte sie unter einem der robusten Schreibtische Schutz finden, als die Druckwelle über den Flur fegte. Evie hielt ihre Arme über ihrem Kopf und die Augen geschlossen, doch sie spürte, wie Dinge gegen die Wand neben ihr geschleudert wurden und der massive stählerne Schreibtisch in die gleiche Richtung bewegt wurde. Was war passiert? Nach einigen Minuten, die sich wie Stunden angefühlt hatten, öffnete sie ihre Augen und kroch langsam unter dem Schreibtisch hervor. Der Raum, in den sie sich geflüchtet hatte, glich einem Schlachtfeld. Sämtliche kleine Gegenstände lagen auf der rechten Seite des Raumes, in der sich nun auch der Schreibtisch befand. Zentimeterdicker Dreck bedeckte den Boden, die Wand auf der linken Seite wies einen so dicken Riss auf, dass sie in den Nebenraum sehen konnte. „Shit. Shit. Shit!“ Darauf bedacht, über kein Regal oder Stuhl zu fallen, stürmte Evie aus dem Raum, doch blieb wie angewurzelt im Flur stehen. Dieser sah ähnlich aus wie der Raum, in dem sie sich versteckt hatte, Staub, Dreck und zerstörte Möbel verdeckten den Boden. Doch viel beklemmender war die Ruhe. Normalerweise waren im Flur immer ein paar Studenten, auch, als Evie sich etwas zu Essen holen wollte, hatte sie ein paar ältere Schüler gesehen. Nun waren sie verschwunden. Evie begann sich durch den Flur zu schlagen, um Ewa besorgt. Die Krankenstation lag zwar nur wenige Minuten entfernt, dennoch benötige Evie fast eine halbe Stunde, um diese zu erreichen. Immer wieder musste sie über Berge von Stühlen und anderem Trümmern klettern, hier und da war die Decke des Flures eingebrochen und versperrte ihr das Weiterkommen. Auf halber Strecke versagte schließlich sämtliche Elektrizität, sodass sie ihr InfoPad als Lichtquelle nutzen musste. Da sämtliche Netzwerke zusammengebrochen zu sein schienen, konnte sie ihr kleines elektronisches Gerät nicht für viel mehr nutzen. Endlich erreichte sie die Krankenstation und das Zimmer von Ewa. Erschöpft stolperte sie in den Raum. Auch dieser war von Zerstörung gezeichnet, sämtliche medizinische Geräte lagen im Raum verteilt. Auch hier war die Decke eingebrochen und bedeckte einen Teil des Bodens. Von der verletzten Studentin war nichts zu sehen, doch Evie hatte das beklemmende Gefühl, dass sie sich unter der eingestürzten Decke befinden musste. „Ewa?“, rief Evie schwach. Der Staub in der Luft machte ihre Stimme kratzig. „Hier!“ Erleichtert stürmte sie auf die Stelle zu, woher die Stimme kam. Ewa saß hinter einem Schreibtisch und versuchte, sich den blutenden Kopf zu verbinden. Also war auch CAI ausgefallen … „Lass‘ mich dir helfen.“ Evie kniete sich vor die Ärztin und begann, die Platzwunde eher provisorisch zu schließen. „Was ist passiert? Gerade hatte ich mich um … sie … gekümmert, dann brach plötzlich die Decke über uns ein.“ Ewa starrte mit glasigen Augen an die Wand, dann sah sie Evie an. „Evelinn! Bist du verletzt?“ „Nein. Ich glaube nicht … Ich – ich weiß nicht, es ging so schnell. Mein InfoPad ist tot, das zentrale Netzwerk scheint zusammengebrochen zu sein. Ich -“ Plötzlich hörten sie hinter sich mehrere Schüsse. Und Schreie. Evie, die Ewas Kopf vollständig verbunden hatte, lugte über den Schreibtisch, um aus dem Raum zu schauen. Draußen schienen immer wieder Lichtblitze von Waffen und Explosionen den Garten zu erleuchten, den sie durch die zusammengebrochene Wand sehen konnte. Und zwischen den Blitzen und dem Rauch sah sie etwas. Etwas Großes. Plötzlich versperrte ihr jemand das Sichtfeld. Ein Student. Er blickte in Evie Gesicht, dann lächelte er und winkte jemandem zu. „Hier sind noch Überlebende!“ Er kam in den Raum und reichte Evie seine Hand. „Finn. Wir holen dich hier- “ Dann fiel sein Blick auf die verletzte Ärztin. „Dr. Ronn? Fuck! Leute, beeilt euch! Dr. Ronn ist verletzt!“ Nur Augenblicke später eilten vier weitere Personen in den Raum. Sie waren allesamt Studenten verschiedener Jahrgänge, die provisorische Hilfsausrüstung bei sich trugen. Während sie Ewa aus dem Raum begleiteten, wandte Evie sich Finn zu. „Was zur Hölle ist hier los?“ Finn fuhr sich durch sein Haar, dann zuckte er mit seinen Schultern. „Wohin gehen wir?“ Wieder keine konkrete Antwort des jungen Mannes. Evie wusste sich nicht weiter zu helfen als Finn bei den Schultern zu fassen. „Finn. Was ist passiert?!“ Er schaute auf Evie herab. Müde, blaue Augen sahen sie traurig an. Er wischte sich verschwitze Strähnen von der Stirn, dann seufzte er. „Wir … müssen fort von hier. Yadir … Ich erkläre dir alles, wenn wir im Aufenthaltsraum angekommen sind. Und jetzt halt bitte deine Klappe!“ Evie ließ langsam Finns Schultern los. Tränen füllten ihre Augen. Doch sie begann Finn und den anderen zu dem Aufenthaltsraum am zentralen Knoten der Gänge im Krankentrakt zu folgen. Tatsächlich befanden sich hier noch weitere Überlebende, mal mehr, mal weniger schwer verletzt. „Evie!“ Aus dem Pulk von Schülern und Lehrern stürzte eine junge Frau heraus und umarmte Evie. Belle war ihre Zimmergenossin und Freundin. „Belle? Was ist passiert?!“ Unter Tränen führte ihre Freundin sie zu einem der Bildschirme, um dem herum sich eine kleine Traube Menschen gebildet hatte. Scheinbar funktioniere das Notstromaggregat und versorgte diesen Raum mit Energie, sodass Verletze umsorgt werden konnten. Der Bildschirm zeigte eine Aufnahme aufgenommen vom Satelliten, der sich in Skadis Umlaufbahn befand. Auf ihr zu sehen war die leicht violett schimmernde Atmosphäre Skadis, doch etwas schien nicht richtig zu sein. An einer Stelle verschwamm die violette Färbung zu einem Wirbel aus Rot und Blau. Der Zeitpunkt dieser Aufnahme war keine zwei Minuten alt. Gerade als Evie sich zu Belle umdrehen wollte, um sie zu fragen, was der Bruch in der Atmosphäre zu sagen hatte, wiederholten sich die Aufnahmen, welche vor zwei Stunden aufgenommen worden sind. Vor zwei Stunden durchbrachen mehrere massive Meteoriten die Atmosphäre und schlugen wohl im Meer um Yadir, als auch in den fünf größten Städten des Kontinents ein – dabei verursachte der Einschlag mehrere Tsunamis und Druckwellen, welche auch die Akademie getroffen zu haben scheinen. Durch den Winkel des Satelliten konnten jedoch nicht nur Aufnahmen des Einschlages durch die Atmosphäre gemacht werden, auch die beiden Monde, die Skadis umkreisen – Jörd und Vali – wurden auf einem Bild eingefangen. Evie trat näher an den Bildschirm heran. Auf der Mondoberfläche befanden sich zwei Strukturen, die vor der Katastrophe dort nicht bestanden haben. Evie konnte sich darauf keinen rechten Reim machen, doch – „Belle! Dieses Chaos … Das ist kein Zufall!“ Evie blickte immer wieder auf die Aufnahmen, die auf dem Bildschirm abgespielt wurden. Sie sank auf ihre Knie, zum ersten Mal seit der Attacke ihrer Situation bewusst. Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie merkte, dass sich jemand neben sie gesetzt hatte. Finn lehnte mit dem Rücken an der Wand und sah sie an. „Nun … Fuck.“ „Fuck? Meteoriten zerstören Yadir und Skadis Atmosphäre, irgendwas passiert auf unseren Monden und womöglich gehören wir zu den einzigen Überlebenden mit einer kaputten Infrastruktur und dein Kommentar ist fuck?“ Aufgebracht kniete Evie vor Finn und stütze eine Hand neben seinem Kopf ab. Erst als sie bemerkte, wie nah ihr Gesicht an seinem war, rückte sie von ihm ab und setzte sich. Sie vergrab ihren Kopf in ihre Hände, während sich Belle neben sie setze und Finn vorwurfsvoll ansah. Dieser zuckte mit den Schultern. „Evie?“, setzte Belle an. Die Angesprochene hob ihren Kopf und sah ihre Freundin an. „Die Meteoriten sind nicht das einzige-“    „Finn?!“ Belle wurde von einer Stimme unterbrochen, gleichermaßen panisch und verärgert. Evie sah über die Schulter und sah, dass die junge Frau, der sie heute Morgen noch über den Weg gelaufen war, im Türrahmen stand. Sie war vollkommen außer Atmen, und auf ihrer Haut klebte getrocknetes Blut, doch ihre Kleidung war intakt, von einigen Staubflecken abgesehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen zusammengekniffen, was die kleinen, noch nicht verheilten Narben an ihrem Kinn hervorstachen ließen. „Finn! Beweg‘ deinen Arsch hier raus! Und der Rest auch!“ Finn sprang auf und lief der silberhaarigen Frau entgegen. „Marise? Du lebst?“ Marise schnaubte und gab Finn eine der Plasmapistolen, die sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. „Du weißt schon, dass hier Monster aus verdammtem Kristall herumlaufen? Wir müssen hier raus!“ Finn riss die Augen auf und umfasste Marises Schulter. Fast schon angewidert schlug sie seine Hand weg und nickte in Richtung Ausgang. Er atmete tief aus und drehte sich dann zu der kleinen Gruppe um. „Versorgt die Verletzten und macht sie transportfähig. Wir … wir sollten hier weg … irgendwo …“ Evie hatte die Szene beobachtet und sich nach Finns Aufforderung zu Ewa begeben, um ihre Kopfwunde zu untersuchen. Belle half ihr, der bewusstlosen Ärztin den Verband zu wechseln. „Monster aus Kristall? Belle, was ist hier los?“, fragte Evie, ihren Blick auf die Wunde gerichtet. Diese schüttelte den Kopf. „Sie erschienen plötzlich, nachdem die Meteoriten hier eingeschlagen sind. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen hier sind, ich weiß nicht, ob sie überall auf Yadir sind. Als ich nach anderen Überlebenden gesucht habe, habe ich eines dieser Monster aus der Ferne gesehen. Sie sind riesig, Evie! Aus Kristall und Stahl …“ Evie konzentrierte sich auf Ewas Verband. Sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte nicht über ihre Freunde denken, nicht über ihre Eltern, die höchstwahrscheinlich tot waren. Gerade, als sie Ewa auf eine der provisorischen Tragen legen wollte, hörte sie plötzlich das unmissverständliche Zischen einer Plasmapistole. „Verdammt, sie sind hi-“    Marises erschrockener Aufschrei wurde erstickt, als sich ein langer Stachel durch den Oberkörper der jungen Frau bohrte. Sie ließ ihre Waffe fallen und umfasste den Stachel. Dieser schien tatsächlich aus Kristall zu bestehen und befand sich am Ende eines grauen Schlauches, einer Art Schwanz. Er hob Marise, die unter Schmerzen schrie und sich wand, einige Zentimeter vom Boden. Finn feuerte auf den Kristall, doch die Plasmaprojektile wurden zurückgeworfen und streiften seine Wange. „Finn … lauf!“, brüllte Marise, dann wurde sie in den Raum geschleudert, wo sie gegen die stark beschädigte Wand traf, den Stachel noch immer in der Brust steckend. Die Wucht des Aufpralls ließ einen kleinen Teil der Wand einbrechen und begrab den leblosen Körper Marises unter sich. Evie lief sofort zu dem kleinen Trümmerhaufen, um Marise zu helfen, doch als sie den gebrochenen Arm, der herausragte, untersuchte, konnte sie keinen Puls spüren – Marise war tot. Finn packte Evie an der Schulter und sie richtete sich auf, der Bewegung seiner Hand folgend. Dann rannte sie zusammen mit der kleinen Gruppe aus dem zweiten Ausgang des Raumes, um den Monstern nicht direkt in die Arme zu laufen.  „Finn, die junge Frau … sie ist tot“, brachte Evie heraus, als sie neben Finn lief, in die Richtung, in der sie den Hauptausgang der Akademie vermuteten. Doch Finn schüttelte nur den Kopf und konzentrierte sich darauf, einen Ausweg zu sichern. Evie war nicht sicher, wie lange sie durch die dunklen und eingestürzten Flure der Akademie liefen, doch irgendwann standen sie am Eingangstor der Tyralad Akademie, der Eliteakademie in ganz Yadir. Sie konnten sich gerade noch rechtzeitig umdrehen, um zu sehen, wie ein riesiger Feuerball einen großen Teil des Akademiegebäudes verschlang und unter bestialischem Gekreische zum Einsturz brachte.    Kapitel 3: Interlude - Evie --------------------------- Seit zwei Monaten war die Welt schwarz. Seit zwei Monaten verklebte eine Schicht aus Staub und Schmutz die Atmosphäre Skadis. Seit zwei Monaten war Yadir ein Schauplatz der Grausamkeit des Universums.   Evie saß außerhalb der Tyralad Akademie auf den Trümmern einer eingestürzten Ziermauer und starrte in die Ferne. Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Das schwache Licht der Lampe neben ihr erhellte zumindest einen kleinen Bereich um sie herum und ermöglichte es ihr, zumindest auf ihr InfoPad zuzugreifen. Ohne Licht wäre ihr Handgerät dank fehlender Hintergrundbeleuchtung nicht mehr als der graue Block aus Plastik und Aluminium, der er nun einmal war. Nicht, dass es ihr einen Vorteil in diesem Ödland oder gegen die Kreaturen, die durch die entstandene Steppe zwischen der Akademie und seiner nächstliegenden Stadt Prima streiften, verschaffen würde. Da sämtliche Netzwerke zusammengebrochen waren, konnte sie kaum mit der Außenwelt kommunizieren. Einzig ein lokales Netzwerk, das zwischen den Überlebenden und der Tyralad Akademie errichtet wurde, bestand, wenn auch nur für Informationen untereinander. Doch Berichte anderer Überleben, die kurz nach der Katastrophe aus den umliegenden Städten zu ihnen gefunden hatten, ließen keinen Spielraum für Hoffnungen. Sämtliche Städte – Prima, Kara, Swafa, Herya und Ayr – waren bis auf die Grundfesten zerstört. Der Tag der Katastrophe hatte vielen Millionen Menschen das Leben gekostet, viel mehr kamen in den darauffolgenden Tagen hinzu. Verletzungen, Ascheregen und abrupt abfallende Temperaturen sowie unzulängliche medizinische Unterstützung brachten die Bevölkerung Yadirs zu ihrer allmählichen Auslöschung. Sämtliche Infrastruktur war zusammengebrochen, die Straßen übersät mit Asche und Leichen. Evie ließ einen Seufzer aus und blickte wieder auf ihr InfoPad. Sie erwartete eine Nachricht von Fínn. Dieser zwar mit zwei weiteren Überlebenden in den eingestürzten Keller der Akademie vorgedrungen, um nach zusätzlichen Waffen und Rüstungen zu suchen. Evie saß draußen und wartete auf die drei. Zum einen, um sich um mögliche Verletzungen zu kümmern, Aber auch, um Wache zu halten. Nicht nur kleine Banden hatten sich zusammengetan, um Überlebende zu berauben – ihre kleine Gruppe hatte schon einige, eher halbherzige Angriffe abwehren müssen. Auch die fürchterlichen Monster aus Stahl und Kristall waren eine Gefahr. Niemand wusste, was sie waren oder woher sie kamen. Einzig sicher war, dass sie auftauchten, als die Meteoriten den Himmel Skadis verdunkelten. Immer wieder attackierten sie nur eine Stadt, bis sämtliche Überlebenden verschwunden waren, dann verschwanden sie wieder auf unbestimmte Zeit – manchmal Tage, manchmal eine Woche – um die Stadt erneut anzugreifen. Immer wieder musste sie an ihre Familie und Freunde außerhalb der Akademie denken. Sie war sich sicher, dass diese tot waren. Wenn nicht durch den Tsunami, der die Küstenstadt Swafa, ihre Heimatstadt, heimgesucht hatte, dann durch die Attacken der Monster. Evie krallte ihre linke Hand um ihren rechten Oberarm. Sie wollte nicht weinen. Nicht, wenn sie ihre Umgebung im Auge behalten musste. Aber sie fühle sich schuldig. Schuldig, dass sie sich nach dem Unglück nicht nach ihren Eltern und Freunden erkundigt hatte, wann immer Einwohner aus Swafa die Akademie erreichten. Schuldig, dass sie nicht wusste, ob sie sie nach dem Tsunami eventuell hätte retten können. Plötzlich hörte sie hinter sich ein leises Knacken. Sofort drehte sie sich um und richtete ihre Waffe in die Richtung der Geräusche. Sollten es Banditen sein, könnte sie diese eventuell aufhalten, bevor sie zu den anderen im Inneren der Akademie eindringen konnten. Wenn es eines der Monster war, nun … sie wollte wenigstens nicht kampflos sterben. Gerade, als sie abdrücken wollte, taumelte ein ihr bekanntes Gesicht aus einem Treppenhaus hervor. „Evie, nimm die Waffe aus meinem Gesicht!“ Fínn strich einige Strähnen von seiner von Staub bedeckten Stirn. Nach und nach kamen auch die anderen beiden, Rafael und Naomi, aus dem eingestürzten Treppenhaus. Naomi trug eine Umhängetasche mit den offensichtlich gefundenen Waffen. Rafael allerdings hielt sich den rechten Arm, dieser war in einem seltsamen Winkel gekrümmt. „Die Gänge über den Klassenräumen können kein zusätzliches Gewicht mehr tragen“, beantwortete Fínn Evies fragenden Blicks, die seufzte und dann zu Rafael ging, um sich seinen Arm anzuschauen. Während Naomi zu Rafael ging, damit beide die Ausbeute begutachten konnte, untersuchte sie provisorisch Rafaels Arm. „Rafael, was genau ist dort unten vorgefallen?“, fragte Evie, als sie den Arm nach links und rechts drehte um zu sehen, ob dieser gebrochen war. Doch sie hielt ihren Blick auf seinem Gesicht. Ihr war der Gesichtsausdruck, den er Fínn zugeworfen hatte, nicht entgangen. Unter Schmerzen biss sich der junge Mann mit den blonden Haaren auf die Lippe, dann deutete er mit seinem Kinn auf den anderen Mann. „Fínn und Naomi. Sie haben mich losgeschickt, um den Tunnel über den Klassenräumen zu untersuchen. Ich glaube, sie wussten genau, dass er nicht halten würde …“ Evie ließ von Rafaels Arm ab und schüttelte ihren Kopf. Sie kannte Fínn kaum, allerdings hatte er kaum etwas unternommen, einen sympathischen Eindruck bei ihr zu hinterlassen. Er handelte stets egozentrisch oder war von anderen Menschen schnell genervt und zog sich zurück. Einzig mit Naomi, die er aus seinem Jahrgang kannte, schien er eine Bindung aufbauen zu wollen. „Wir müssen zurück, ich muss mir die Verletzung noch einmal in richtigem Licht ansehen.“ Fínn gab die Tasche zurück an Naomi und drehte sich zu Evie um. „Gut. Naomi und ich bleiben hier. Danach brauchen wir dich wieder hier.“ Evie ging ein paar Schritte auf den jungen Mann zu. „Warum? Wofür?“ „Wir müssen zum Generator bei Ayr. Unsere Stromreserven sind fast verbraucht. Und ohne unnötiges … Gepäck können wir schneller wieder in der Akademie sein.“ Fínn schaute nicht einmal zu Rafael, dennoch war Evie bewusst, dass er den verletzen Mann meinte. Diesen stützend ging Evie zum Eingang der Akademie und ohne zurückzuschauen murmelte sie: „Ganz wie du meinst, Fínn.“ Kapitel 4: Kapitel 4 - Fínn --------------------------- Kapitel 4 – Fínn   Unter normalen Umständen lag das Kraftwerk nur wenige Kilometer auf der Schnellstraße von der Tyralad Akademie entfernt und diente als Notstromlieferant der umliegenden Städte. Diese wurden derzeit noch über ihre eigenen Kraftwerke gespeist. Doch lange würden sie der Belastung nicht mehr standhalten und keinen Strom mehr produzieren können – sämtliche überlebende Mechaniker waren in die Stadt gezogen worden, um bei den Aufbauarbeiten unterstützende Arbeit zu leisten. Die Kraftwerke wurden in der Wartung sträflich vernachlässigt. Bevor eine dieser Einrichtungen stoppen konnte, hatte sich Fínn entschieden, den produzierten Strom des Tyralad-Ayr-Reaktors für sich und die Akademie zu verwenden. Zusammen mit Naomi und der jungen Ärztin hatte er sich daher auf den Weg in Richtung des Kraftwerkes gemacht. Sie hatten eine kleine Rast in einem nahezu eingestürzten Haus gemacht, dessen Bewohner entweder tot oder geflohen waren. Fínn stand auf und schulterte seine Waffe. Naomi schien seinem Beispiel zu folgen und nahm ihren Rucksack, in welchem sie Granaten und andere kleine Waffen verstaut hatte. Einzig Evie schien zu zögern. Ihre Augen lagen auf Fínn, vorwurfsvoll und traurig. Um sich nicht auf lange Diskussionen einlassen zu müssen, ging er mit zur Schau gestellten Waffe auf das dunkelhaarige Mädchen zu. Auch wenn er sah, dass sie seit der Katastrophe verängstigt und verunsichert war – und auch ihn diese Gefühle innerlich verfraßen - konnte er keine Sympathie mit Evie aufbringen. Sie mussten die Akademie mit Strom versorgen, ansonsten würden sie nicht lange überleben können. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie zu Fínn auf, als dieser schließlich vor ihr stand. Er streckte seien Hand aus, um ihr aufzuhelfen, doch sie schlug seine Hand zur Seite und stand auf. Fínn rollte mit den Augen und drehte sich um. Wirklich …? „Naomi, du behältst unseren Rücken im Blick. Ich übernehme die Front. Evie … pass einfach auf, dass du mir nicht im Weg bist.“ Evie schulterte ihre Tasche mit Medikamenten und blickte mit eiskalten Augen zu Fínn, reihte sich dann jedoch neben ihm und Naomi ein. Diese hatte ihre langen, schwarzen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Die kleine Waffe an ihrem Oberschenkel wirkte beinahe winzig gegen ihre Muskeln, ihr Gesicht verriet keinerlei Regung. Fínn mochte Naomi. Sie stellte keine Fragen. Sie schien ihm zu vertrauen. Gegen Einbruch der Nacht erreichten sie schließlich das Kraftwerk. Normalerweise wurden Gebäude, die von der Regierung unterhalten werden, von unzähligen Lichtern hell beleuchtet und für alle erkennbar markiert. Nun lag das Kraftwerk vor ihnen in vollkommener Dunkelheit. Fínn hoffte, dass nicht auch das gesamte Kraftwerk lahmgelegt worden, sondern nur die Versorgung der Lichter gekappt worden war. Andererseits hätten sie binnen weniger Wochen keinen eigenen Strom – und somit keine Überlebenschancen – mehr.   Er drehte sich um und betrachtet Evie, die zwischen ihm und Naomi lief. Viel wusste er nicht über die junge Frau. Sie schien vor nicht allzu langer Zeit erst eine Ausbildung zur Ärztin begonnen zu haben. Während der Katastrophe hatten nur Dr. Ewa und Evie als einzige Ärzte überlebt – es war nicht optimal, für eine Gruppe von 50 Überlebende nur zwei Ärzte vorweisen zu können, von denen eine nicht einmal fertig ausgebildet war. Doch es musste reichen. Evie sah auf und kreuzte seinen Blick. Da war eine Härte in ihren Augen, als würde sie eine Szene immer und immer wieder in ihrem Kopf abspielen. Und da war sie wieder, sein eigener, persönlicher Albtraum. Marises graue, kalte Augen, weit aufgerissen, als sie von dem Kristall durchbohrt wurde, das Flehen in ihrer Stimme, als sie ihn anwies, sich in Sicherheit zu bringen, seine eigene Unfähigkeit, ihr zu helfen ... Hätte er wirklich nichts machen können, um seine ehemalige Trainingspartnerin retten zu können? Plötzlich stand Naomi neben Fínn und legte eine Hand auf seine Schulter. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie nach vorne geschnellt war, um ihn zu stoppen. Er war geradewegs auf eine wenige Meter tiefe Klippe zugelaufen. Er schüttelte seinen Kopf, um seine Gedanken wieder auf die Gegenwart zu lenken. Seine fast schulterlangen Haare klebten in seinem Nacken, der kalte Schweiß fühlte sich beklemmend auf der Haut an. Schuld, das war, was er fühlte. „Fínn, ist alles in Ordnung?“ Naomi klang ehrlich besorgt. „Mhm. Sorry, ich war in Gedanken“, nuschelte Fínn, noch immer nicht ganz befreit von den sterbenden, grauen Augen Marises. „Wenn es dir nicht gut geht -“ „Es geht mir gut genug. Naomi, hör‘ auf dir Sorgen zu machen! Wir sollten uns lieber bereitmachen. Es ergibt keinen Sinn, sich aufzuteilen, um nach der Kommandozentrale zu suchen. Wir bleiben zusammen. Unser Ziel ist die Kommandozentrale, in der wir sämtlichen gespeicherten Strom in die Akademie umleiten können. Danach ziehen wir uns sofort wieder zurück – Ziel ist bei Sonnenaufgang das Kraftwerk wieder verlassen zu haben. Wir werden zum Kraftwerk rennen müssen. Auf mein Zeichen …“ Fínn hielt seine Hand hoch und betrachtete das Ödland vor sich. Als er keine kristallenen Wesen sah, lächelte er kurz – es gefiel ihm, die Kontrolle zu übernehmen. Dann bedeutete er Naomi und Evie mit einer Handbewegung ihren Aufbruch und sprang mit einem gezielten Satz die kleine Klippe hinunter, die er noch wenige Minute zuvor übersehen hatte. Er landete auf beiden Beinen – Kampftraining sei Dank – und lief sofort weiter. Währenddessen horchte er, ob seine beiden Gefährtinnen – besonders Evie - den Sprung unbeschadet überstanden, blickte aber nicht zurück. Er konzentrierte sich auf das Kraftwerk vor ihm. Als er zwei weitere Paar Füße hinter ihm hörte, atmete er erleichtert aus und sprintete weiter auf das Kraftwerk zu, welches einen guten, halben Kilometer von der Klippe entfernt lag. Immer wieder blickte er kurz nach links und rechts, um zu schauen, ob nicht doch ein Monster auftauchte, doch er erreichte den Eingang zum Kraftwerk ohne Vorfälle. Auch Naomi erreichte kurz nach ihm die Tür. Beide atmeten kurz durch und waren schon wieder bereit weiterzugehen, ohne dass ihre erschöpfte Atmung sie preisgeben würde. Das Training in der Akademie hatte sich schon bewährt gemacht. Einzig Evie machte ihm Sorgen. Sie erreichte fast eine Minute nach ihnen den Eingang, ihr lauter Atmen deutlich hörbar. Schlafmangel und Erschöpfung machte sich bei ihr bemerkbar, ihre Haut wirkte in der Dunkelheit gräulich, die Haut um ihre Augen seltsam weiß. Sie lehnte gegen die Tür und krümmte sich, als ob sie sich übergeben müsste. Fínn fasste einen schnellen Entschluss. „Evie, es macht keinen Sinn, dich so mitzunehmen. Du würdest unsere Anwesenheit verraten. Du versteckst dich hinter der Tür im Kraftwerk und verhältst dich ruhig!“ Fínn sah, wie Evie gegen seine Anweisungen protestieren wollte, doch plötzlich begann sie kaum merklich zu würgen. Sie hockte sich auf den Boden und kramte in ihrem Rucksack. Naomi hockte sich neben die junge Ärztin und legte ihre Hand auf ihren Rücken, sie schien Mitgefühl mit der jungen Frau zu haben. Fínn stand neben ihnen und blickte auf sie hinab. Schließlich holte Evie eine Spritze mit einer milchig-violetten Flüssigkeit aus dem Rucksack und setzte sich diese an den Hals. Sobald die Flüssigkeit in ihre Venen eingezogen war, schien ihre Erschöpfung zu schwinden und ihre Haut nahm eine gesunde Färbung an. Fínn erkannte die Flüssigkeit als Estryia – dem Grund für die technologische und gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit auf Skadis Kurz nach seiner Entdeckung vor wenigen Jahrzehnten wurde das Potential der Flüssigkeit erforscht und dabei seine Vielfältigkeit in den Bereichen der Medizin, aber auch für die Waffenindustrie festgestellt. In der Medizin eingesetzt wirkte es ähnlich wie künstlich zugefügtes Adrenalin. Zum anderen wurde Estryia genutzt, um die Waffen und Ausrüstungen herzustellen, die ihnen den technologischen Fortsprung ermöglicht hatten. Ohne Estryia würden Plasmapistolen und das GSS – und nahezu jede andere technologische und gesellschaftliche Weiterentwicklung - nicht funktionieren. Fínn wunderte sich, dass Evie noch immer einen Vorrat an reinem Estryia bei sich hatte, hoffte aber, dass sie nicht zu verschwenderisch mit dem diesem umgehen würde. Er bedeutete Naomi, sich bereit zu machen, dann schulterte er sein Gewehr und setzte sich in Bewegung. Die dunkelhaarige Frau folgte ihm in das Kraftwerk. Doch bevor sie das Gebäude betraten, hielt er kurz inne, reichte Evie eine kleine Plasmapistole, die er um einen Oberschenkel geschnallt hatte. Dann betraten er und Naomi das Kraftwerk. Hier war es vollkommen dunkel und Fínn wollte keinen Versuch wagen, Licht für sie beide zu machen, um sich nicht zu verraten. Auch, wenn es hier keine Monster gab, war die Chance, auf Plünderer oder schlimmeres zu treffen hoch. Langsam, immer mit einer Hand an der Wand, tasteten sich beide voran. Einzig an der Wand hervorgehobene Pfeile wiesen ihnen den Weg, auch wenn sie nicht wussten, ob diese sie überhaupt in den Maschinenraum bringen würden. Fínn schlich angespannt durch den Flur und zuckte bei jedem kleinen Geräusch in der Umgebung zusammen. Naomi bewegte sich so dicht hinter ihm, dass er ihren Atem in seinem Nacken fühlen konnte. Was er normalerweise als sehr angenehm empfinden würde, machte ihn noch nervöser, da er Naomis Furcht deutlich an ihrer Atmung ablesen konnte. An jeder Ecke blieben sie für wenige Sekunden still stehen und lauschten erneut ihrer Umgebung, dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Fínn versuchte sich nicht einzureden, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, wie er zum Kraftwerkskern kommen würde. Natürlich hatte er keine Ahnung, ob die Pfeile an den Wänden ihn wirklich zum Ziel bringen würden oder vielleicht nur den nächsten Notausgang anzeigten. Plötzlich blieb Naomi hinter ihm stehen. „Fínn, hörst du das Summen?“ Auch der junge Mann blieb stehen und horchte in die Finsternis hinein. Tatsächlich war ein leises Summen in der Stille wahrzunehmen. Fínn umfasste Naomis Arm und bedeutete ihr, weiterhin hinter ihm zu bleiben, während er begann, schnellen Schrittes auf das Summen hinzulaufen. Es musste sich um den Kern des Kraftwerks handeln. Und je schneller sie die Energie in die Überreste der Akademie weitergeleitet hatten, desto schneller konnten sie die Dunkelheit dieses Gebäudes wieder verlassen. Das Summen wurde mit jedem Schritt lauter und lauter und plötzlich standen Naomi und Fínn in der Kommandozentrale des Kraftwerkes, ihres Ziels. Erleichtert atmete Fínn aus und lehnte gegen eine Wand. Er hatte nicht damit gerechnet, ohne einen Angriff der Kristallmonster hier anzukommen. Naomi machte sich sofort an die Arbeit, die Computer der Anlage und die Generatoren zu starten. Ihre langen Finger schwebten förmlich über das Hologramm einer Tastatur, immer wieder leuchteten kleine Lämpchen hier und da auf. Fínn stellte sich hinter sie und beobachtete fasziniert Naomi. Vor der Attacke hätte er nie damit gerechnet, dass sie nicht nur versiert in Nah- und Waffenkampf war, sondern auch andere Talente besaß. Plötzlich wurde der Raum hell erleuchtet, als das Kraftwerk auf voller Kapazität hochgefahren wurde. Das leise Summen, dass im Hintergrund zu hören gewesen war, verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Dennoch war dieses Geräusch derzeit wie die schönste Symphonie für Fínn Ohren – sie besaßen wieder Strom! Zufrieden drehte er sich zum Reaktor – da sah er sie auf dem Boden liegen. Eine junge Frau mit weißen Haaren und schwarzer, verschmutzter Kleidung. Er kniete sich neben sie und drehte sie auf den Rücken – und ließ sie fast aus den Armen fallen. Marise! Marises Augen waren geschlossen, ihre Haut war aschenfahl und sie wirkte krank, doch sie atmete, wenn auch schwach. „Fuck …“ Naomi stand hinter ihm und schaute auf Marise herab. Dann sah sie sich den Reaktor genauer an, als Fínn ihren Körper über seine Schulter lag und sich aufrichtete. Der leicht violette Schimmer um die Generatoren herum nahm nun auch seine Aufmerksamkeit. „Es erzeugt Strom … mit Estryia? Das ist unmöglich!“ Auch Naomi schüttelte den Kopf. Doch dann weiteten sich ihre Augen. Ihr Blick lag nicht mehr auf dem Reaktor, sondern auf der Dunkelheit hinter diesem. Aus dieser starrten sie Augen aus purem Kristall an. „Fínn, wir …“ Da sah auch Fínn die Augen. „Lauf!“, brüllte er und setzte sich mit Marise über seinen Schultern in Bewegung. Er lief aus dem Generatorraum Richtung Ausgang. Hinter ihm konnte er Naomis Schritte, aber auch das metallische Stampfen des Monsters hören. Nein, verdammt, nicht jetzt! Das Monster schien immer näher zu kommen. Außer Atem liefen sie den langen Korridor zum Ausgang, doch das Kreischen von Metall auf Metall wurde lauter und lauter. Plötzlich öffnete sich die Tür und Evie stand in dessen Rahmen, Fínns Plasmapistole in ihren Händen und schoss zwischen Naomi und Fínn hindurch auf die Kreatur, die scheinbar schmerzerfüllt aufzuschreien schien. In einer Bewegung übergab Evie Fínn die Pistole, als er an ihr vorbeirannte und folgte ihm und Naomi über die offene Fläche, über diese sie vor vielen Stunden zum Kraftwerk gelangt waren. Von nackter Panik gepackt stolperten sie eher blindlings über kleine Unebenheiten. Als sie die Hälfte des Feldes hinter sich gelassen hatten hörten sie ein lautes Krachen. Fínn konnte nur vermuten, dass die Kreatur durch den Eingang gebrochen war und einen guten Teil des Mauerwerkes mitgenommen hatte, wollte aber nicht nach hinten schauen. Sie mussten es in die Wälder schaffen, dort waren sie – relativ gesehen – sicherer als auf der offenen Fläche. „In den Wald, los!“, brüllte er, nicht sicher, ob Evie und Naomi ihn überhaupt hören konnten. Plötzlich spürte er einen spitzen Schmerz an seinem linken Fuß und er ging zu Boden. Geistesgegenwärtig drehte er sich im Sturz noch so, dass er Marise nicht unter sich begrub und ließ sie auf seinen Oberkörper fallen. Benommen hob er sein Bein und sah, dass ein spitzer Stein seinen Stiefel gespalten hatte und sich dann in seinen Fuß gebohrt hatte. Plötzlich erhob sich über ihm im Licht der aufgehenden Sonne eine Kreatur aus der Hölle in den Himmel. Sie wirkte wie ein groteskes Experiment, eine Kreatur bestehend aus verschiedenen Metalplatten und Kristall. Ihr langer Körper wurde von stählernen Flügeln in der Luft gehalten, ein Schwanz mit einer Kristallspitze versehen schien das Gleichgewicht zu halten. Der Kopf hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Reptil, jedoch mit rasierklingenscharfen Zähnen aus Stahl und Augen aus purem Kristall. Es schien Fínn zu beobachten, wie er hilflos auf dem Boden lag, ein Auge schien sich immer wieder zu verdunkeln. Scheinbar dort, wo Evie es getroffen hatte. Dann stieß es einen ohrenbetäubenden Schrei aus und preschte mit ausgefahrenen Klauen auf Fínn zu. Dieser lag noch immer bewegungslos auf dem Boden. Er konnte sein Bein kaum bewegen, sein Kopf schmerzte. Doch auch war er wie paralysiert. Der drohende Tod machte ihn handlungsunfähig – ein Gefühl, dass er seit Marises – scheinbar vermeintlichem - Tod nie wieder spüren wollte. Er spürte eine Träne über seine Wange laufen, und legte seine Hand auf Marises Rücken, so als drückte er sie fest an sich. Da bemerkte er, dass sich Marises Hand an seiner Hüfte bewegte und nach seiner Waffe griff. Plötzlich drehte sie sich auf den Rücken und feuerte, immer noch auf Fínn liegend, drei Schüsse auf das Monster ab. Der Rückstoß der Schüsse drückte ihren dünnen Körper gegen Fínns Brust und presste jegliche Luft aus ihm, doch er hielt die junge Frau fest. Die Schüsse trafen die Kreatur dort, wo bei organischen Lebewesen Herz, Hirn und Gaumen waren. Nahezu sofort erlosch das Glühen in ihren Augen und es fiel leblos aus dem Himmel auf sie. Marise drückte Fínn beiseite, um nicht von den fallenden Trümmern getroffenen zu werden. Es kam krachend auf dem Boden auf, wo sie wenige Sekunden zuvor noch gelegen hatten – vollkommen zerstört. Fínn lag noch immer auf dem Rücken, sein Kopf, Fuß und seine Brust schmerzten höllisch, doch er war am Leben. Marise lag schwer atmend auf ihm. „Marise … wie … warum … ich habe dich sterben sehen …“, stammelte er, doch fand keinen klaren Anfang. Sie hob ihren Kopf und sah ihn mit müden Augen an. Fínn atmete scharf ein. Anstelle der kalten, grauen Augen blickten ihn Augen auf reinem Kristall an. Dann verdrehten sich ihre Augen und sie fiel erschöpft ihn Ohnmacht. Fínn legte Marise auf den Boden und setze sich auf, als Evie und Naomi auf sie zugelaufen kamen. Nahezu sofort machte sich Evie daran, seinen Fuß zu verarzten. Naomi schaute zuerst auf die ohnmächtige junge Frau m Boden, dann zu Fínn. „Was zur Hölle ist passiert? In einen Augenblick stürzt sich dieses Monster auf euch, im anderen Moment ist es … tot? Und … Marise?“ Fínn schaute auf Marises Gesicht. Er musste an ihre Augen denken. Augen aus Kristall. „Ich weiß es nicht, Naomi. Ich weiß es wirklich nicht.“   Kapitel 5: Kapitel 5 - Marise ----------------------------- Kapitel 5 – Marise   Kalt.   Es ist kalt.   Von einiger Entfernung hörte Marise leises Tropfen.   Wo war sie?   Sie versuchte ihre Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei. Angestrengt lauschte sie ihrer Umgebung. Es war verräterisch ruhig, von dem monotonen Tropfen abgesehen. Über ihr konnte sie das leise Summen einer Lampe vernehmen, recht neben ihr hörte sie das unmissverständliche Tippen auf einem Infopad. Sie war also nicht alleine hier. Noch einmal wagte sie sie den Versuch, ihre Augen zu öffnen. Sofort – vom Licht der Deckenlampe geblendet – schloss sie diese wieder und stöhnte leise vor Schmerzen. Warum schmerzten ihre Augen nur so schrecklich? Ihr Stöhnen ließ die Person, die offensichtlich im gleichen Raum mit ihr war, scheinbar aufhorchen. Sie stoppte die Arbeit auf ihrem Infopad und kam scheinbar langsam auf Marise zu.   „Marise?“, fragte eine junge Frau. Marise konnte ihren Tonfall nicht einordnen. Überraschung? Angst? Vorsicht? „Wo bin ich?“, fragte Marise mit noch immer geschlossenen Augen. Bei dem Klang ihrer eigenen Stimme erschrak sie unwillkürlich. Ihre Stimme war kaum mehr als ihre eigene zu erkennen. Heiser und … metallisch? Panisch versuchte sie sich aufzusetzen, doch Hände drückten sie scheinbar mühelos herunter.   „Marise! Bleib bitte liegen. Wir … wir wissen nicht … was, was du …“, begann die junge Frau, doch brach mitten im Satz ab. „Ich …“, begann sie erneut, atmete tief durch und setzte fort, „ich bin Evie. Du kennst mich vermutlich nicht einmal. Aber ich bin deine … Ärztin. Bist du bereit, mir einige Fragen zu beantworten?“ Marise horchte in sich hinein. Sie wollte es nicht noch einmal wagen, ihre Augen zu öffnen. Ihr Kopf schmerzte und ihre Glieder fühlten sich schwer an. Und sie fror. „Kalt …“, brachte sie mühsam hervor. Sie hörte, wie Evie fortging und in etwas zu kramen zu schien. Dann kam sie zurück zu Marise und breitete eine Decke über ihr aus. Sie war seltsam feucht, doch besser, als zu frieren. Marise atmete langsam aus, als sie schon wieder von Schlaf übermannt wurde. Noch bevor sie hörte, wie Evie sie noch einmal ansprach, war sie schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.     „Lass‘ mich dich ablösen, Evie …“ Marise begann langsam, aufzuwachen und versuchte, ihre gereizten Augen erneut ein wenig zu öffnen. Wieder fühlten sie ich an, als würden kleine Nadeln in ihrer Netzhaut stecken, doch sie versuchte, sie offen zu halten.   Marise drehte langsam ihren Kopf in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Sie konnte nur Umrisse erkennen, doch sie erkannte die Silhouetten eines Mannes und einer Frau. Mit half geöffneten Augen beobachtete sie, wie die Frau aufstand und sich vor dem Mann aufbaute.   „Raphael, dein Bein ist kaum verheilt. Du solltest dich ausruhen. Ich kann nicht auf dich und … und Marise aufpassen.“ Dabei sprach sie Marises Namen mit einer solchen Angst aus, dass diese selbst innerlich zusammenzuckte.   Was war geschehen?   Da wurde plötzlich die Tür aufgestoßen und eine dritte Person stürmte in den Raum.   „Raphael! Was machst du hier? Du sollst Wache am Südeingang halten! Raus hier!“ Der Angesprochene setzte zu einer spöttischen Verbeugung an, dann verließ er leicht humpelnd den Raum. Der zweite Mann ließ sich auf einem Stuhl nieder und vergrub seinen Kopf in den Händen und raufte sich die Haare. „Fínn … du hast in den letzten drei Tagen kaum geschlafen. Gib‘ die Verantwortung für ein paar Stunden an Naomi oder sonst wen, aber Gottverdammt, leg‘ dich hin!“ Fínn ließ einen kaum merklichen Seufzer aus. „Naomi ist bereits überfordert. Das will ich ihr nicht weiter aufbürden. Und sonst … wem sollte ich sonst die Verantwortung übergeben? Raphael? Dir?“ Er schnaubte verächtlich. Mit leichter Verletzung in der Stimme erwiderte Evie: „Ich habe mich auch nicht gemeldet. Ich habe mehr als genug mit ihr zu tun.“ „Wie oft?“ „Drei Mal, seit wir angekommen sind. Obwohl sie heute für ein paar Minuten bei Bewusstsein gewesen –“   Abrupt stand Fínn auf und stieß den Stuhl um. Dann ging er bedrohlich einige Schritte auf Evie zu. „Marise ist aufgewacht? Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?“ „Es war für höchstens zwei Minuten, danach ist sie wieder in ein Delirium gefallen.“ „Ich habe verlangt, dass du sofort Bescheid gibst, wenn -“   „Finn …“   Obwohl Marise mit kaum merklicher und schwacher Stimme sprach, verstummte Fínn sofort und ließ von der jungen Ärztin ab. Er eilte zu Marise und schaute sie an – jedoch nicht, ohne einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu wahren. „Marise … du … du bist wach?“, stellte Fínn gezwungen ruhig fest, doch Marise konnte das Zittern in seiner Stimme deutlich hören. Evie drückte sich an Fínn vorbei und stellte sich vor Marise. „Ich glaube, dich kann sie gerade am wenigsten gebrauchten, Fínn. Es ist mir vollkommen gleich, wen du abstellst, um die Verantwortung über dieses Camp zu nehmen, aber du legst dich jetzt hin. Geh‘!“, presste Evie hervor.   Marise konnte kaum ausmachen, was sich vor ihr abspielte, doch nach einigen Augenblicken schienen sich Fínns Schultern zu entspannen und er ging aus dem Raum. Evie ließ einen erleichterten Seufzer aus, dann kam sie auf Marise zu.   „Ist es ok, wenn ich dich untersuche?“, fragte sie zaghaft. Marise war noch immer verwundert, warum sie jeder mit der größten Zurückhaltung betrachtete. Doch sie nickte. Evie setzte sich auf die Kante des Bettes, in welchem sie lag und begann, Marises Puls zu fühlen.   „So eine Schande, dass CAI zerstört wurde …“, murmelte Evie, während sie sämtliche Standarduntersuchungen selbst an Marise durchführen musste. Sie trug ihre Werte auf ihrem Infopad ein, dann holte sie ein kleines Gerät, dass aussah, wie eine Lupe, in welchem gläserneren Rand Lichter eingesetzt waren.   „Marise, ich … glaube, dass deine Augen noch sehr empfindlich sind“, bemerkte Evie, als sie mit einem Tuch, die Tränen abwischte, die aus Marises Augen austraten. Sie konnte ihre Augen nur mit größter Anstrengung aufhalten. „Dann … mach … schneller …“, presste Marise heraus. Wieder hörte sie das feine, metallische Klingen in ihrer Stimme. Evie lächelte, scheinbar froh über Marises Aussage, und richtete das Gerät über ihr linkes Auge.   „Du wirst mich jetzt vermutlich hassen, aber …“, sagte die junge Ärztin, dann stellte sie das Licht an. Sofort bäumte sich Marise unter Schmerzen auf und versuchte, ihre Augen zu schließen, doch Evie drückte sie, mit einer Kraft, die Marise nicht erwartet hätte, herunter und hielt gleichzeitig Marises linkes Auge offen. Dann machte sie das Gerät aus und legte es langsam beiseite. Nachdenklich nahm sie erneut ihr Infopad, doch ihr Finger schwebte für eine Weile über der Oberfläche. Dann schüttelte sie ihren Kopf und legte das Pad beiseite.   „Entschuldigung, Marise“, murmelte Evie.   Marise starrte mit tränenden Augen an die Decke. Sie wusste nicht, ob dies nur Tränen der Überanstrengung ihrer Augen waren oder auch Tränen der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. Sie wusste nicht, was mit ihr passiert war, sie wusste nicht, warum ihre Augen so schmerzten. Sie konnte sich nur daran erinnern, dass sie … dass sie … gestorben war … Plötzlich kam die Erinnerung an die Monster zurück, die die Akademie angegriffen hatten und an den Schmerz, als eines dieser Kreaturen ihren Oberkörper mit der Kristallspitze an seinem Schwanz durchbohrte. Panisch begann Marise, an den Schmerz zurückerinnert, nach Luft zu schnappen und zu schreien. Evie drückte sie erneut auf ihr Bett und versuchte sie zu beruhigen, doch dieses Mal stieß sie die junge Ärztin mit einer schnellen Bewegung vom Bett, sodass sie auf den Boden stürzte. Panisch versuchte Marise, aufzustehen, doch ihre Beine waren schwach. Sie taumelte einige Schritte zur Seite, dann stieß sie gegen einen Schrank. Evie lag noch immer benommen am Boden, also nahm Marise all ihre Kraft zusammen und schleppte sich, an dem Schrank festhaltend, einen Schritt nach dem anderen nach vorne, wo sie durch ihre verschwommene Sicht eine Tür ausmachen konnte. Ihre Beine konnten sie kaum tragen, doch Panik und Angst ließen sie immer weitergehen. Adrenalin durchströmte ihren Körper und als sie schließlich die Türklinke umfasste, stieß sie die Tür auf, fiel in den nächsten Raum und verriegelte die Tür, bevor Evie sich erreichen konnte.   Schwer atmend hob sie ihren Oberkörper an und schaute sich um. Scheinbar war sie in ein Badezimmer gelangt. Schnell evaluierte Marise ihre Optionen. Außer einer Dusche, einer Toilette und Waschbecken mit Spiegel befand sich nichts in diesem Raum. Kein Fenster. Nur die Tür, durch die sie gekommen war. Marise stieß einen lauten Schrei aus, als sie ihre Ausweglosigkeit erkannte und richtete sich langsam auf. Sie spürte das Flirren ihrer Augen, sie hatte Kopfschmerzen. Als ihre Augen unter ihrem Gewicht nachgeben wollten, stolperte sie gegen das Waschbecken und hielt sich an diesem fest. Der Spiegel gab in diesem Moment ein leises Piepsen von sich, er hatte die Person vor sich erkannt.   Marise konzentrierte ihre Sicht auf den kleinen Monitor.     Identität: Marise Lovess Medizinischer Status: Verstorben     Erschrocken riss Marise ihren Kopf hoch und betrachtete sich nun vollends im Spiegel. Zwar war ihre Sicht noch immer nicht vollkommen klar, doch sie erkannte sich gut genug, als dass sie auch den Grund ihrer schmerzenden Augen sah. Anstelle ihrer grauen Iris befanden sich dort violett-rosafarbene Kristalle. Sie waren nicht annähernd rund, sondern besaßen an manchen Stellen kleine Kanten. Entsetzt konnte Marise sich nicht von dem Anblick im Spiegel lösen, als sie ein lautes Knacken hörte. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass sie das Waschbecken so stark umklammert gehalten hatte, dass es ihrer ihrem Griff einfach eingerissen und an manchen Stellen abgebrochen war. Die Porzellanscherben schnitten in Marises Hände. Da sah sie, dass sie blutete. Doch das Blut, dass aus ihren Händen auf den Boden tropfte, war nicht das satte Rot, welches ihr so bekannt war. Es wies einen leicht pastellfarbenen Violettton auf.   Panisch ließ Marise die Scherben fallen und betrachtete ihre Hände von Nahen. Doch noch immer war die Farbe ihres Blutes violett. Sie starrte wieder in den Spiegel und schieß erneut einen lauten Schrei aus. Dann begann sie, panisch im Bad auf und ab zu laufen. Doch noch immer waren ihre Beine nicht annähernd stark genug, um sie zu tragen, sodass sie immer wieder zu Boden stürzte. Plötzlich hörte sie jemanden gegen die Tür trommeln.   „Marise, mach sofort die Tür auf!“   Sie konnte Fínns Stimme erkennen.   „Hau ab!“, brüllte Marise panisch, als sie versuchte, sich in die hinterste Ecke des Raumes zu schleppen. Dann hörte sie schon, wie sich jemand gegen die Tür warf, um diese aufzubrechen. Ängstlich kauerte Marise sich in die Dusche und beobachtete die Tür, während sie immer wieder auf ihre Hände blickte, aus denen noch immer das pastellfarbene Blut tropfte.   „Fínn, hau ab!“, brüllte Marise noch einmal, gerade, als dieser durch die Tür brach. Er blickte sich schnell im Raum um und erblickte das zerbrochene Waschbecken und das Blut. Dann ließ er seinen Blick schnell durch den Raum schweifen und als er Marise sah, atmete er aus. Langsam kam er auf sie zu.   „Marise … ich will dir doch nur helfen“, sagte er, seine Stimme von Traurigkeit und Angst gezeichnet.   „Ich will … eure Hilfe nicht! Lass‘ mich allein, Fínn!“, keuchte Marise. Sie fühlte sich plötzlich müde. Doch als sie die junge Ärztin im Türrahmen sah, die ein Tuch an ihre blutende Stirn hielt, drückte sich Marise an der Duschwand auf die Beine. Sie blickte auf Evies Wunde, dann durchzuckte sie die Erkenntnis, dass es ihre Schuld war. Von plötzlicher Angst vor Fínn und ihrer eigenen Kraft getrieben versuchte sie an ihm vorbei aus dem Raum zu gelangen. Doch noch bevor sie an dem überrumpelten Fínn vorbeistürzen konnte, brachte dieser sie mit einer schnellen Fußbewegung zu Fall. Sofort stürzte er sich auf sie und drückte Marise mit dem Gesicht voran zu Boden.   Diese trat wild um sich und versuchte, Fínn von sich zu stoßen. Dieser drückte sie mit all seiner Kraft auf den Boden.   „Marise, hör verdammt nochmal auf! Du wirst noch einen von uns verletzen!“   Marise aber schlug immer weiter um sich und schrie vor Panik. Sie sah Evie, wie diese eine Hand vor den Mund geschlagen hatte und mit bleichem Gesicht das Szenario vor sich beobachtete. Plötzlich griff Fínn Marise unter ihren Oberkörper und richtete sie so auf, dass sie kniete. Fínn schlug sofort seine Beine von hinten um ihre Körpermitte und drückte sie fest an sich, während er einen Arm um ihren Hals schlang und zudrückte.   „Es tut mir leid, Marise. Ich sehe gerade keinen anderen Weg“, flüsterte er von hinten in ihr Ohr, als sie schon spürte, wie sie langsam das Bewusstsein verlor. Mit letzter Kraft konnte sie Fínn einen Schlag in seinen Magen und sein Gesicht verpassen, bevor ihre Arme schwach neben ihren Oberkörper fielen. Bevor ihr endgültig schwarz vor Augen wurde, konnte sie spüren, wie Fínn hinter ihr zu zittern begann.     Einige Tage später saß Marise alleine in ihrem Krankenbett. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gezogen und ihren Kopf auf diese gelegt. Sie war kurz nach ihrer Panikattacke wieder aufgewacht, doch konnte sich an kaum etwas erinnern. Auch Evie wollte ihr auch nicht jede Frage beantworten. Das einzige, an das sie sich erinnern konnte, waren ihre Augen und ihr Blut. Selbst, wenn sie ihre Augen schloss, hatte sie noch immer ein Bild der kristallenen Iris und ihrer blutenden Hände vor Augen. Jetzt waren diese verbunden und jemand hatte den Spiegel im kleinen Badezimmer abgehangen. Seit ihrer versuchten Flucht hatte sie Fínn nicht mehr gesehen.   „Evie?“, fragte sie schwach. Sie wusste, dass sie Ärztin irgendwo war. Trotz der Attacke auf sie war sie in den letzten Tagen nicht von Marises Seite gewichen. Sie hatte ihr erzählt, was seit ihrem … Tod auf Yadir geschehen war und wie sie Marise aus dem Kraftwerk gerettet hatten.   „Hast du nach mir gerufen?“, fragte Evie, die aus einem Nebenraum zu Marise kam. Sie hatte noch immer ihren Kopf verbunden, die Platzwunde heilte nur langsam. Marise fühlte sich schuldig. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben.   Ihre Sicht wurde mit jedem Tag stabiler. Sie sah kleine Fältchen neben Evies Augen – sie schien nur wenig Schlaf zu bekommen.   „Wie … wie geht es Fínn?“, fragte Marise leise, obwohl sie mit Evie in einem Raum war. In all den Tagen hatte sie sich nicht getraut, nach ihrem früheren Trainingspartner und –kameraden zu fragen. Evie schüttelte den Kopf und setzte sich zu Marise auf das Bett.   „Du hast ihn ganz schön zugerichtet, Marise. Er …“, Evie setzte an, doch brach mitten im Satz ab. Dann schüttelte sie den Kopf, „du fühlst dich gut genug, richtig?“   Als Marise nickte und Evie anschaute, stand diese auf und reichte ihr eine Hand.   „Vielleicht solltest du lieber selbst mit ihm sprechen.“   Marise schaute verwirrt zu der jungen Ärztin. Diese lächelte schwach.   „Er ist im Nebenzimmer.“   Zögerlich richtete sich Marise auf und stütze sich auf Evie. Gemeinsam gingen sie in einen kleinen Nebenraum, in dem Fínn auf dem Boden saß, in seinem Schoß sein Infopad, in dem er etwas las und neben ihm seine Plasmawaffe. Unwillkürlich wich Marise zurück, ihre Augen auf die Waffe gerichtet. Doch als Fínn sie und Evie bemerkte, stand er auf, nahm er die Waffe in seine Hände und steckte das Infopad in eine Jackentasche. Er nickte hinter sich und öffnete die Tür zu einem weiteren kleinen Raum, der vollkommen intakt schien. In diesem stand ein Tisch und einige Stühle.   „Evie, magst du uns allein lassen?“, fragte Fínn ernst.   Evie nickte und übergab Marise an ihn. Diese fühlte sich sehr unwohl, zumal Fínn sie kaum beachtete und die Waffe in seiner Hand umklammert hielt. Im Raum ging er zu einem Stuhl und ließ Marise Platz nehmen, dann ging er zur Tür und schloss diese ab. Noch immer der Tür zugewandt atmete er tief aus, dann drehte er sich um.   Marise zuckte leicht zusammen, als sie Fínns mit kleinen genähten Wunden und blauen Flecken übersätes Gesicht getrachtete.   „Fínn, es tut mir so leid“, brachte Marise hervor, während sie zitternd ihre Hände betrachtete. Nicht nur hatte sie scheinbar eine unschuldige, junge Ärztin verletzt, sondern auch Fínns Gesicht stark gezeichnet. Und sie konnte sich an nichts erinnern. Plötzlich hörte sie das leise Klicken einer Waffe. Erschrocken blickte sie auf und schaute direkt in den Lauf von Fínns Plasmawaffe, die er auf eines ihrer Augen gerichtet hatte. Seine Hand zitterte stark.   „Was bist du?“, fragte er mit gebrochener Stimme.   Marise schaute am Lauf vorbei in seine Augen. Sie waren weit aufgerissen und rot unterlaufen.   „Schau mich nicht an! Was bist du?“, brüllte Fínn nun fast.   Schuldbewusst ließ Marise den Blick senken und schaute auf ihre bandagierten Hände. Sie dachte an ihre Kristallaugen und das pastellfarbene Blut.   „Ich bin …“, begann sie, doch brach ab. Was war sie? Ein Mensch? Wohl kaum …   Fínn hielt seine Waffe noch näher an Marise heran. Langsam hob sie ihre Hände, als würde sie sich ergeben und richtete sich noch langsamer auf. Die Waffe wich niemals von ihrem Auge. Als sie stand, standen Fínn und sie nur durch die Pistole getrennt gegenüber.   „Fínn. Ich bin bereits tot. Ich bin schon gestorben! Etwas hält mich am Leben. Lass‘ mich herausfinden, was es ist. Bitte. Bitte halt mich nicht davon ab. Ich … will dir nicht noch mehr wehtun.“   Marise atmete aus. Es fühlte sich seltsam befreiend an. Selbst, wenn sie hier atmend vor ihm stand, war sie sich sicher. Sie war kein lebender Mensch mehr. Ihr Blut war pastellfarben, ihre Augen waren Kristalle und ihre Stimme hatte noch immer einen leichten, metallischen Unterton.   Plötzlich zitterte Fínns Hand, in der er die Waffe trug, so stark, dass er Mühe hatte, die Waffe unter Kontrolle zu halten. Doch bevor er einen Schuss abgeben konnte, ließ er die Waffe zu Boden fallen und ging selbst auf seine Knie. Seine Schultern begannen zu zittern. Marise kniete sich vor ihn. Er hatte seinen Kopf zu Boden gerichtet, einige Strähnen seiner braunen Haare hatten sich aus seinem Knoten am Hinterkopf gelöst.   „Ich habe dich sterben sehen“, flüsterte Fínn mit tränenerstickter Stimme, „du bist vor meinen Augen gestorben.“   Er hob seinen Kopf und blickte Marise direkt an. Seine Augen waren rot und von Tränen verschwommen, die nacheinander auf den Boden tropften. Er ballte eine Hand und schlug sie auf den Boden.   Marise legte eine Hand auf seine Schulter, doch er schlug sie beiseite und stand auf. Er schaute auf sie herab, dann drehte er sich um und schloss die Tür auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen ging er aus dem Raum.   „Fínn, was zur Hölle ist in dich gefahren!“   Marise konnte Evie rufen hören, doch ob Fínn ihr etwas sagte oder einfach ging, konnte sie nicht hören. Sie blieb in dem kleinen Raum auf dem Boden sitzen und, als Evie den Raum betrat, um nach Marise gesehen, spürte sie, wie auch ihr Tränen über die Wangen liefen und auf den Boden tropften. Als sie nach unten sah, bemerkte sie, dass auch ihre Tränen glitzerten – wie Kristall.        Kapitel 6: Interlude II - Fínn ------------------------------ Interlude II - Fínn Fínn rollte sich rastlos in seinem provisorischen Bett herum. Er wusste, er sollte schlafen – auch ohne Evies ständige Erinnerung war ihm sein Zustand sehr wohl bewusst. Doch er konnte nicht, wollte nicht. Die letzten zwei Monate waren die Hölle gewesen. Noch immer versteckten sie Marise in dem kleinen Raum abseits des Krankenzimmers. Zu groß war die Angst vor Revolten in den eigenen Reihen. Oder Marises Reaktionen selbst. Doch auch waren viele Menschen erschöpft und hungrig. Immer öfter kamen sie zu ihm, um ihr Leid zu klagen. Doch er konnte ihnen nicht helfen. Um in die nötigen Lebensmittel zu beschaffen, müssten sie in die nächste Stadt – und hoffen, dass es noch Essbares dort gab. Doch er konnte niemanden losschicken, er selbst fühlte sich nicht wieder bereit, nach draußen zu gehen …   „Feigling!“, brüllte Fínn, stand aus seinem Bett auf und sah an sich herab. Er konnte deutlich seine hervorstehenden Rippen erkennen, seine Arme schienen nur noch die Hälfte er Muskelmasse zu besitzen wie noch vor einigen Monaten. Wütend schritt Fínn in dem ehemaligen Klassenraum, der als sein Zimmer galt, auf und ab.   „Du hast geschworen, zu kämpfen. Du hast geschworen, die Unschuldigen zu schützten. Du hast Gott nochmal geschworen, für die richtige Sache zu sterben“, wiederholte er die Kernpunkte der Initiationsrede junger Soldaten an der Akademie leise, „aber wer ist der Feind? Die Monster? Die Geschütze auf den Monden? Marise? Fuck!“   Müde lehnte er sich gegen eine Mauer. Schließlich nahm er sich Kleidung, die er unachtsam auf den Boden geschmissen hatte und verließ den Raum. Langsam schritt er den Korridor entlang, Richtung Innenhof. Dieser war früher ein Ort gewesen, an dem Studenten sich nach und zwischen Unterrichtsstunden getroffen haben, gelernt, gelebt. Jetzt war er der zentrale Punkt ihrer kleinen Gemeinde geworden. Durch den Angriff der Monster waren viele Gebäudeteile zusammengebrochen, auch um den Innenhof herum. Diese waren strategisch günstig gefallen, sodass sie nun wie ein Dach fungieren und die Überlebenden vor dem gelegentlichen Ascheregen aus der Atmosphäre schützen. Fínn betrat das Atrium – wie sie den Innenhof nun zynisch nannten. Sofort kamen einige Personen auf ihn zu und sprachen ihn auf ihr Leiden an. Sie waren in Decken gehüllt, ihre Gesichtsfarbe wies ein ungesundes grau auf. Fínn wandte sich ab und murmelte, dass er schon einen Weg finden würde, dann schritt er weiter durch den großen Raum. Immer mehr Menschen kamen auf ihn zu oder blickten ihn hoffnungsvoll an. Ihm selbst war zum Heulen zu Mute. Er wollte schreien und all die Verantwortung in irgendwelche Hände übergeben. Er wollte einfach nur … seinen Frieden. All die Menschen, die ihre Hoffnung auf ihn stützten, die Verantwortung, machten ihn einfach nur übel. Er musste handeln.   Fínn atmete tief durch, als er das Atrium verlassen konnte und in einem dunklen Flur stand. Er blickte sich um, fast unterbewusst ist er zur Krankenstation gegangen. Er fuhr seine Hände durch sein Haar, welches offen bis auf seine Schultern fiel, dann über sein Gesicht. Die hervorstehenden Wangenknochen weckten ihn endgültig auf, er musste handeln. Er stieß die Tür zur Krankenstation auf und schlurfte langsam auf eine der Liegen zu. Evie streckte den Kopf auf dem Raum, in dem sich Marise aufhalten musste.   „Fínn! Was machst du hier!?“, rief sie besorgt und kam auf ihn zugeeilt. Als sie vor ihm stand, musterte sie ihn. „Du siehst – verzeih mir – beschissen aus“, bemerkte sie trocken und begann, seine Augen zu untersuchen, die ohne Zweifel trocken und rot unterlaufen waren. Fínn selbst wusste es nicht, so lange hatte er in keinen Spiegel mehr geschaut. Halt die Klappe, dachte er, doch war unterbewusst froh, dass Evie ihn nicht wie den allmächtigen Retter behandelte, in dessen Rolle er sich befand.   „Ich bin hier, um Marise zu holen“, sagte Fínn leise und tonlos, als Evie nur wenige Zentimeter vor ihm stand und noch immer seine Augen kontrollierte. Sie stockte nur kurz, dann fand sie ihre Professionalität wieder und zog ein Augenlid hoch, während sie flüsterte: „Bist du verrückt? Wir hatten uns doch darauf geeinigt-“   „Sei nicht albern. Aber ich kann sie gerade wirklich gebrauchen. Wir verhungern, Evie. Ich will nach Herya, ich will sehen, ob ich nicht dort noch etwas Essbares oder zumindest Samen oder ähnliches finden kann. Das kann ich nicht alleine. Naomi ist … ich kann sie für diese Mission nicht mitnehmen. Das ist zu gefährlich. Marise, sie kann sie töten. Du hast es selbst gesehen.“ Evie ließ von Fínn ab und ging einige Schritte zurück.   „Was ist mit Raphael?“   Fínn schnaubte verächtlich.   „Wirklich Evie, versuchst du deinen Freund zu töten? Er würde keine Minute überleben – und schau mich bloß nicht so überrascht an. Ich mag kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch stehen, bin aber nicht blind! Pass‘ lieber auf ihn auf, er könnte noch zu einem ganz passablen Krieger werden – irgendwann.“   Evie drehte sich um.   „Du bist ein arrogantes Stück Dreck, Fínn … aber du hast Recht.“   „Evie, seit wann reden wir so mit unseren Patienten.“   Fínn hob den Kopf und sah Dr. Ewa im Türrahmen stehen. Sie hatte vor knapp einem Monat wieder begonnen, die ärztliche Leitung zu übernehmen, sehr zur Erleichterung Evies. Sie lächelte und ging zu Fínn.   „Fínn ist kein Patient. Er … ist einfach hier, jeden Tag“, murmelte Evie.   „Als ob du meinte Anwesenheit nicht genießen würdest. Ich sollte Raphael -“   „Genug ihr beiden!“, Ewa schritt ein, „ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist. Aber ihr solltet endlich beginnen, euch professionell zu verhalten. Falls es euch nicht bewusst ist, Hunderte hier in der Akademie sind auf euch angewiesen.“   Fínn stand von der Liege auf. Ewas Ansprache hatte sein Herz für einen kurzen Augenblick aus dem Tack gebracht.   „Wisst ihr was? Ja, ja ich weiß, sie beschissen unsere Situation ist. Ich weiß, wie viele Menschen auf mich zählen! Und ich habe Angst, ok? Angst, dass ich sie enttäusche, dass sie alle sterben müssen. FUCK!“   Fínn schlug mit einer Hand auf die Liege, Schweiß stand auf seiner Stirn. Ewa legte ihre Hände auf seine Schultern und beruhigte seinen aufgebrachten Atem, während Evie sich zurückzog und in einer Schublade wühlte.   „Dann sollten wir keine Zeit verlieren, Fínn.“   Alle drei Köpfe wandten sich der Stimme entgegen. Marise stand lässig an den Türrahmen gelehnt. Sie sah erholt aus, ihre kristallenen Augen leuchteten.   Fínn wischte sich einige Strähnen aus dem Gesicht, dann schaute er verwirrt zwischen Marise, Evie und Ewa hin und her. Marise durchbrach die peinliche Stille.   „Ewa hat nach ihrem ersten Schock schnell mein … Potential erkannt und begonnen, mich zu studieren und sämtliche Tests an mir durchzuführen“, Marise schüttelte sich kurz bei der Erinnerung, „vielleicht können wir so etwas über diese Dinger erfahren. Und über mich“, fügte sie leise hinzu.   Fínn stand noch immer wie angewurzelt im Raum. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er Marise nicht mehr gesehen, geschweige denn gesprochen. Sie schien ihr altes Selbstbewusstsein wiedergefunden zu haben, im Gegensatz zu ihm. Isolation schien ihr viel Zeit zum Nachdenken gegeben zu haben. Sie schien ihr Schicksal nahezu akzeptiert zu haben und trug es mit einer äußeren Gelassenheit, die überraschend war, wenn er an ihren Zusammenbruch nach ihrem Erwachen zurückdachte.   „Okay“, erwiderte Fínn lang gedehnt. Er hoffte, ihm würde etwas Schlaues einfallen, was er Marise entgegnen konnte. Doch ihm fiel einfach nichts Passendes ein. Also drehte er sich zu Evie, die noch immer in einigen Schubladen kramte und eine kleine Tasche packte.   „Ich werde eines der Fahrzeuge nehmen. Die Straße nach Herya sind so ungeschützt, dass wir uns wenigstens schnell fortbewegen sollten. Ich gehe zur Garage und bereite alles vor, wenn ihr fertig seid, bringt mir bitte alles vorbei. Und … lasst sie unentdeckt.“   Mit diesen Worten drehte er auf den Absätzen um und verließ die Krankenstation. Hinter seinem Rücken konnte er spüren, dass mehrere Augenpaare auf ihn gerichtet waren, wobei das Paar aus Kristall ihn wie einen Dolch durchbohrten.     Fínn stieß die Tür zur intakten Garage auf. Seit dem Angriff hatte niemand mehr eines der Fahrzeuge genutzt. Er hoffte inständig, dass sein Plan aufging und sie noch funktionstüchtig waren. Denn ohne ein gepanzertes Fahrzeug war der Weg durch die Wüste nach Herya nahezu unmöglich. Die Temperaturen, die vor dem Aufschlag geherrscht hatten, waren schon nahezu unerträglich gewesen. Nun streiften auch noch Monster durch die Wüste. Fínn öffnete die Tür eines der vier identischen Wägen und setzte sich hinter das Steuer. Er startete den Motor und hoffte, dass das Estryia, das den Wagen befeuerte, durch die monatelange Inaktivität noch nicht wieder erstarrt war. Doch zu seiner positiven Überraschung begann der Bordcomputer alle Systeme hochzufahren. Selbstzufrieden lächelte Fínn, lehnte sich auf dem Sitz zurück und schloss die Augen. Die Luft im Wagen erwärmte sich langsam und entkrampfte seine steifen Glieder.   „Ich glaube, ich habe dich noch nie lächeln gesehen.“   Evies Stimme riss Fínn aus dem kurzen Moment der Stille. Er öffnete die Augen und blickte träge in Richtung Tür. Ewa, Evie und Marise standen dort. Marise trug zwei Rücksäcke bei sich. Wie selbstverständlich öffnete sie die Beifahrertür und warf diese auf den Sitz. Dann schloss sie die Tür wieder und kletterte auf die Ladefläche hinter der Fahrerkabine.   „Ich bin kein Fan kleiner, geschlossener Räume“, murmelte sie und lehnte sich mit dem Rücken gegen das semitransparente Fenster der Fahrerkabine hinter den Sitzen.   „Wie du meinst.“   Fínn zuckte mit den Schultern und stieg noch einmal aus. Dann ging er zu Evie und Ewa.   „Habt ein Auge auf die Akademie. Wenn ich zurück bin, möchte ich noch Menschen um mich herumhaben, die mir dankbar sind, etwas zu essen aufgetrieben zu haben.“   Ewa nickte und wünschte Fínn viel Erfolg, dann drehte sie sich um und verließ die Garage. Fínn wollte sich schon auf den Weg zum Wagen machen, da packte Evie ihn am Arm und drehte ihn zurück zu sich.   „Ich erwarte, dass ihr beide wohlbehalten wiederkommt. Ich weiß, dass du dich vor Marise fürchtest. Sie hatte genügend Gelegenheiten, uns alle zu vernichten, und doch sind wir alle noch hier.“   „Schwachsinn“, zischte Fínn und funkelte Evie wütend an. Während er sich aus ihrem Griff wand und sich bereitmachte, in den Wagen zu steigen, drückte die junge Ärztin ihm mehrere Ampullen reines Estryia in die Hand.   „Ewa weiß nicht, dass ich noch immer einen kleinen Vorrat habe. Ich habe aber das Gefühl, dass ihr beiden diese eventuell nötig habt“, sagte sie leise, dann ging. Als sie ihre Hand auf der Klinke der Tür hatte, drehte sie sich noch einmal um. „Viel Erfolg, Fínn.“   Auch Fínn drehte sich vor dem Wagen um, nickte Evie zu und stieg ein. Marise hatte die gesamte Szene von der Ladefläche aus beobachtet, zeigte aber keine Emotion.   „Ich habe dich im Auge“, sagte Fínn, während er sie durch den Rückspiegel beobachtete. Marise hob nur lässig eine Hand.   Der junge Mann seufzte, dann öffnete er das Tor vom Wagen aus und fuhr langsam aus der Garage, in Richtung Herya. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)