Zum Inhalt der Seite

Inaba

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Begib' dich direkt auf 'Los'

Gott, wie schwer kann das sein, einzuschlafen. Ich hatte das Jetlag ganz außer Acht gelassen. Ich hatte ausprobiert, was mir einfiel, es blieb bloß noch dabei, zu warten, bis ich schlafen konnte....

...

Wo war mein MP3-Player wieder abgeblieben..?

..aber so langsam merkte ich, dass ich doch runterkam. Gut. Ein paar wertvolle Stunden zum Schlafen blieben mir noch.

Nicht auf die Uhr schauen.

...

..

Oh, ist das nicht die Arie der Seelen? Gerade richtig zum Wegdriften.

..wobei, vielleicht ein bisschen zu laut zum Einschlafen. Ich griff nach meinem MP3, um ihn ein wenig leiser zu stellen, bemerkte aber, dass sich der MP3-Player gar nicht in Reichweite befand.

Genau genommen hatte ich nicht mal Kopfhörer einstecken.

Ich blinzelte mich wieder ein bisschen wach, ehe ich feststellte, dass ich nicht mehr in Yunos - beziehungsweise temporär meinem Zimmer war, so sollte ich denken, auch wenn es sich so noch nicht so anfühlte - sondern stattdessen an einem Pult saß. War ich schon in die Schule gegangen und da eingeschlafen?

"Willkommen..."

DIe Stimme kam mir sehr bekannt vor.

"Im Velvet Room."

Ich blickte mich kurz um und stellte fest, dass ich mich sehr wohl in einem Klassenzimmer befand - wenn auch ganz sicher nicht in einem Klassenzimmer der Yasogami. Die Fenster waren vernagelt und großzügig mit Seide umgeben, die sich über jede der angenehm kobaltblauen Wände erstreckte. Mein Pult war das einzige - von dem Lehrertisch abgesehen - an dem ich einen mir sehr bekannt vorkommenden kleinen Mann sitzen saß.

Igor.

Er ließ mir die Zeit, mich in diesem Raum in aller Ruhe umzusehen, ehe ich meine Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

"Ein sehr aufmerksamer und unruhiger Gast scheint seinen Weg hierher gefunden zu haben", kommentierte er mein anfängliches Verhalten amüsiert.

"Und sie ist nicht allein. Ich kann mich nicht daran erinnern, zu einem anderen Zeitpunkt schon einmal zwei Gäste begrüßt haben zu dürfen. Welch angenehme Überraschung, nicht wahr?"

Eine Frau, die ich natürlich auch kannte - Margaret - trat an seine Seite.

"Ein Vertrag wird in ferner Zukunft geschlossen, einer ist es bereits."

..wieso hatten sie mich dann jetzt schon hierher gebracht?

"Oh, du missverstehst mich, Kind", nahm Igor meine Gedanken vorweg.

"Du bist nicht diejenige, die noch einen Vertrag zu schließen hat."

"Huh? Wann habe ich-?"

Ich unterbrach mich abrupt, um nicht ganz so viel von meiner Verwirrung durchhängen zu lassen... auch wenn ich genau wusste, dass es vollkommen sinnlos war und Igor mich genau durchschaute.

"Noch findet sich reichlich Nebel in deinem Verstand, aber fürchte nicht. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Umstand, den du ebensowenig wie das Wetter zu kontrollieren vermagst. Natürlich steht es dir frei, uns Fragen zu stellen, die dir die Furcht vor dem Nebel nehmen."

"Fragen..."

Aber welche Fragen konnten mir Igor wohl beantworten? Hm... nun, Dinge vor ihm zu verstecken hatte an diesem Punkt wenig Sinn, aber das bedeutete auch nicht, dass ich alles ansprechen sollte, was mir einfiel.

"Wie bin ich hierhergekommen? Bis vor wenigen Tagen war ich noch... älter, lange aus der Schule raus, nicht in der Lage, diese Sprache zu verstehen und schon gar nicht... na ja... auf die Idee, den Velvet Room zu sehen, wäre ich noch weniger gekommen."

"Manchmal stellt man sich diese Fragen, aber die Suche nach der Antwort gleicht dem Abtasten eines Seiles, das sich aus vielen, kurzen Seilen zusammensetzt. Es ist dir im Moment nicht möglich, dessen Ursprung zu finden, und deine neue Energie lässt sich woanders besser nutzen."

Wenn das mal keine Igor-Antwort war. Natürlich machte er es mir nicht so leicht.

Aber eine andere interessante Information hatte er mir schon gegeben... dass ich nicht Soujis Platz in der Geschichte dieser Welt eingenommen hatte, sondern einen Pakt mit ihm geschlossen habe.

Das heißt... konnte ich davon ausgehen, dass ich eine Persona hatte? Und gemeinsam mit Souji und den anderen würde kämpfen können?

Ich... durfte mehr als ein NPC sein?

"Die Dämmerung ist nahe. Gibt es noch eine weitere Frage, die du mir stellen möchtest?"

"Igor-san, ich..."

Mir gingen viele Fragen durch den Kopf, aber es war schwer, daraus einen koherenten Strang zu formen und zu überlegen, welche die jetzt dringlichste ist.

"Die Zeit... f-fließt die Zeit in meiner... anderen Welt normal weiter, solange ich hier bin?"

Ein Blick ins Internet hätte meine Frage beantwortet, aber bisher war ich noch nicht dazu gekommen... und auch Leute zu kontaktieren, deren Nummern ich nicht in meinem alten Nokia-Handy eingespeichert hatte, stand außer Frage.

"Welten... nun, jede Welt verfügt über ihre eigenen Regeln und Gepflogenheiten. Ich bin mir sicher, du wirst bald verstehen. Sei dir dessen gewiss, dass du mehr gewinnst, als dass du verlierst... wie viel allerdings, das obliegt alleinig deiner Verantwortung."

In diesem Moment fielen einige Lichtstrahlen durch die schmalen Spalten, die sich zwischen den Nagebrettern boten. Ich musste ein wenig blinzeln, so grell trafen sie mich... bedeutete das, dass es schon dämmerte? Ah, Mist, das hatte Igor doch gesagt..!

"Wir werden uns wieder sehen. Furcht mag existieren, um dich zu beschützen, aber manchmal verfügst du über besseres Wissen als sie selbst, wann sie angemessen erscheint und wann nicht. Konfrontiere sie, wenn du dir nicht selbst im Weg stehen willst."

"Igor-san, moment, ich- ich-!"

Ich schlug die Augen auf und fuhr wie vor der Tarantel gestochen im Bett hoch. Mein Puls raste und der Blick auf die vollkommen fremde Umgebung half nicht. Erst ein Blick auf meine spärlich im Raum verteilten Besitztümer boten einen vertrauten Anblick, der es mir ein bisschen leichter machte und mir ermöglichte, mich zu beruhigen.

Unter normalen Umständen würde ich wohl davon ausgehen, dass das ein Traum war, aber... nein. So langsam aber sicher musste ich von der Vorstellung endgültig Abstand nehmen. Vorsichtig nahm ich Koro und setzte ihn an seinen Platz, ehe ich mein Bett machte und sich langsam ein lange verschwundenes Gefühl breit machte...

Zeit für die Schule.

"Guten Morgen!", begrüßte mich Frau Shinui.

Sie war bereits eifrig in der Küche am Schaffen - sicherlich bereitete sie sich ihr Frühstück für die Arbeit zu - was es mir schwer machte, mich einfach hinzusetzen und darauf zu warten, dass sie fertig werden würde. Irgendwie machte es mich unruhig.

"Wenn du möchtest, kannst du dir ein bisschen Omelette machen, ich habe zu viele Eier geschlagen!", erklärte sie freudig. "Es sind auch noch Onigiri von gestern übrig, und wenn die zu lange im Kühlschrank bleiben, ist das auch nicht so gut."

Das Angebot nahm ich gerne an. Ich hatte ja auch von Frau Furukawa noch ein bisschen Brot übrig, und ein einfaches Omelette war noch machbar vor der- oh, Mist, wie spät war es eigentlich? Hektisch sah ich mich nach einer Uhr um, die bestätigte, dass es kurz vor acht und somit in der Tat schon ganz schön spät war.

"Ah... Frau Shinui, ich frage das ja nicht gerne, aber... w-wann kommt mein Bus?"

"Ah, mach dir da mal keine Sorgen, ich denke doch an alles! Dein erster Schultag beginnt gegen 8:45 Uhr, und zufällig liegt die Schule fast auf meinem Weg zur Arbeit. Eine Viertelstunde zu laufen, macht dir doch nichts aus, oder?"

Ganz und gar nicht, ehrlich gesagt.

"Sehr gut! Ich arbeite zum Glück nicht ganz so früh, dafür aber jeden Wochentag. Weißt du, wie du vom Samegawa-Flussbett aus zur Schule kommst? Ah, selbst, wenn nicht, den anderen Schülern auf dem Weg zur Schule zu folgen dürfte eine Kleinigkeit sein."

Ja, das bekomme ich noch hin, ich konnte mich ja einfach unauffällig den anderen anschl-

Nein.

Nein, Moment. Das stimmt nicht. Ich durfte dabei eins nicht vergessen...

Unwillkürlich schwang mein Blick zum Fenster.

Grüne Augen mit einem grauen Stich und strohblonde Haare... ich sah alles andere als Japanisch aus und schon gar nicht wie jemand, der leicht untertauchen konnte. Mein Herzschlag beschleunigte sich leicht. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

...wobei, ich war ja immer noch in der gleichen Welt wie Yosuke mit seinen nussbraunen Haaren, Chie mit ihrem Fuchsbraun, sowie Naoto's blauem Bob. Darüber hatte sich ja auch niemand gewundert. Verlief das hier also nach dieser Art von Logik?

"Vergiss nicht dein Ei, Liebes!"

Der leichte Holzkohlegeruch, der sich nun verbreitete, war eine sehr willkommene Ablenkung und ein dringender Notfall beanspruchte all meine Aufmerksamkeit Sehr gut... es war eh sinnlos, sich auszumalen, was sein könnte.

...

Trotzdem wollte sich mein Herz einfach nicht wieder beruhigen.
 

"Da, siehst du die anderen Schüler, die die gleichen Uniformen tragen?", fragte mich Frau Shinui.

Ich fühlte mich ein klein wenig erstickt, aber tat mein Bestes, es mir nicht anmerken zu lassen und nickte.

"Vielen Dank", hörte ich mich sagen.

"Dann sehen wir uns heute Abend! Sei aufmerksam, schließlich nimmt die Yasogami nicht jeden... du wirst dich beweisen müssen, also streng dich an!"

Sie meinte es ja nur gut. Und immerhin... ein gewisses Vertrauen schien sie in mich zu setzen. Also verließ ich das Auto, stellte sicher, dass ich nichts verloren hatte und bedankte mich dann nochmals bei ihr, ehe sie weiterfuhr.

Gut, dass ich nicht den ganzen Weg laufen musste, mit dem Auto waren es sicher 10 Minuten oder mehr gewesen, das jeden Tag zwei Mal zu laufen- zwei Mal... stimmt, ich musste ja auch wieder zurück.

...

D-Darüber hatten wir überhaupt nicht gesprochen!

Mist, ohne Handy war es mit Sicherheit nicht leicht, zurückzufinden, und den Zettel mit der Adresse hatte ich auch nicht... und ich würde ihr sicher nicht gefallen, wenn ich wie ein kleines Kind später an der Schule stehen und warten-

...nein, jetzt nicht.

Erstmal war es jetzt wichtig, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Ein paar der Schüler guckten im Vorbeigehen, aber niemand kam auf mich zu... da hatte ich mir wieder umsonst Sorgen gemacht.
 

"Ah, da sind Sie ja", wandte sich Frau Sofue mit ihrer Pharaonenkrone freudig an mich, "Pünktlich wie die Post, typisch Deutsch!"

Gut, dass sie nicht "pünktlich wie die Bahn" gesagt hat.

Sie lachte kurz auf, dann ließ sie ihren Blick über den Schreibtisch schweifen, bis sie gefunden zu haben schien, wonach sie gesucht hatte. Sie nahm eine Mappe vom Tisch und überreichte sie mir.

"Die Formalien, für Ihre Unterlagen", gab sie an.

"Ich muss ganz ehrlich sagen, ich wusste, dass Ihr Japanisch gut sein würde, aber es ist ja wirklich nahezu makellos. Damit sollten Sie kein Problem damit haben, dem Unterricht folgen zu können! Es freut mich immer wieder, junge Menschen zu sehen, die die Deutsch-Japanische Freundschaft pflegen wollen!

Also dann... der Unterricht beginnt in 20 Minuten. Am Besten kommen Sie gleich mit mir!"

Ich musste ja nicht erwähnen, dass ich in Souji's Schuhen zahllose Male durch die Schule gelaufen war. Natürlich war es aus der eigenen Perspektive etwas anderes als durch den Vogelblick, den mir das Spiel gewährte, aber generell...

... das Spiel, hm. Natürlich war es schwer, sich das vorzustellen, aber... für den Moment und bis auf Weiteres war es meine Realität, also musste ich von ihr auch als solche denken. Sonst würde ich Gefahr laufen, mich zu sehr auf das zu verlassen, was das Spiel bot. Dinge zurücksetzen. Einfache, offensichtliche Fragen zu haben, auf die es leichte Antworten gab.

...leichter gesagt als getan, aber schließlich war ich ja auch erst den ersten Tag hier. Nichts überstürzen, ich ließ meine Gedanken wieder zu sehr kreisen. Also erstmal auf das fokussieren, was jetzt vor mir lag... das Überstehen des ersten Schultages.

"Hergehört, Klasse!", erbat die Lehrerin die Aufmerksamkeit ihrer Klasse.

Die Schüler musterten mich, soweit ich das beurteilen konnte, neugierig, also bemühte ich mich, ein bisschen zu lächeln und es nicht mit dem Blickkontakt zu übertreiben.

"Das hier ist eure neue Mitschülerin aus Deutschland, die den Rest des Jahres Teil unseres Klassenverbands sein wird. Kommt miteinander aus, okay? In der Geschichte brachten Fremde oft Veränderung, und es liegt an dem Volk, also euch, sie ins Positive oder Negative zu wenden."

Sie drehte sich zu mir, nickte mir zu und überreichte mir feierlich ein Stückchen Kreide.

Ein bisschen steif drehte ich mich an die Tafel und bemühte mich, einen möglichst hohen Punkt zu erreichen, um das Schreiben anzusetzen. Katakana also... hoffentlich konnte man es lesen.

Mit vollendeter Tat drehte ich mich zu meinen neuen Klassenkameraden um - von denen ich niemanden kannte, aber es wäre ja auch zu schön gewesen, mit Souji, Yosuke, Yukiko und Chie in eine Klasse zu kommen.

Ein paar von ihnen kicherten ein bisschen - vermutlich ob meines Geschmieres - ein paar andere versuchten verschiedene Varianten, wie man meinen Namen aussprechen könnte, von denen einige sogar ziemlich nah dran waren. Wenigstens mein Vorname war ein bisschen kana-freundlich.

"So, und ohne weitere Umschweife kommen wir aber gleich zum Unterricht, okay? Ihr habt bald genug Pause, da könnt ihr sie alles fragen, was ihr möchtet, in Ordnung?"

Uff. So toll ich es mir vorgestellt hatte, als ich selbst wirklich noch 16 war - das japanische Schulsystem hatte es durchaus in sich. Wenigtens hatte ich durchaus daran gedacht, gestern Abend noch alle Materialien einzupacken, die ich brauchen könnte, also kam ich wenigstens in Bezug darauf nicht in Verlegenheit. Schulbücher hatte ich von Yuno übernehmen dürfen.

..obwohl es schon eine gute Gelegenheit gewesen wäre, zumindest eine erste flüchtige Bekanntschaft zu machen.

Immerhin war ich besser darin geworden, neue Leute kennenzulernen, als ich es mit 16 war.
 

"Hey, Doitsu-san!", hörte ich jemanden sagen, war aber weiter damit beschäftigt, das Tafelbild langsam abzuschreiben - damit es leserlich blieb.

Die richtigen Bewegungen für die Zeichen gelangen mir zwar, aber nicht besonders schnell. Die Schulglocke hatte sogar schon geläutet, aber was sollte ich machen.

"Hey, Hey Chi- Tsu- äh, Doitsu-san!"

Jetzt schob sich jemand vor mich - ein Junge mit einem aufgeweckten Blick, der mir im Unterricht vorher schon ein bisschen aufgefallen war. Er hatte kurze, leicht strubbelige hellbraune Haare, wache Augen und eine gewollt oder ungewollt schiefe Mütze auf dem Kopf. Außerdem glaube ich, ich habe bunte Anhänger an seiner Schultasche gesehen.

Ein bisschen irritiert blickte ich zu ihm auf, woraufhin er zu meiner Überraschung verlegen reagierte.

"Ah, entschuldige, aber dein Nachname, er ist ein bisschen... kompliziert. Und, äh, ich hab gehört, Amerikaner wären in der Hinsicht ein bisschen unkomplizierter, also..."

Doitsu-san - Frau Deutschland also. Okay.

Um es dem armen Jungen nicht noch schwerer zu machen, nickte ich einfach.

„Mein Name ist Ootori, Ootori Masao.“

„Freut mich.“

„Und… wie ist Deutschland so?“

„Wie es ist?“

„Na ja… ist es sehr anders als Japan?“

Jetzt, da die Pause angefangen hatte und sich die meisten Leute entschieden zu haben schienen, ob sie schon zu ihren Clubs gehen wollten oder heute nur den Heimgeh-Club besuchen wollen würden, kamen ein paar gleich zu mir.

„Na ja, wie ist es denn… eh, anders? Die Schule ist auf jeden Fall anders. Wir müssen früher kommen, können aber meistens auch früher gehen.“

„Vermisst du deine Freunde sehr? Seid ihr im Kontakt?“

Ja und Nein… was sollte ich denn sagen? Ich hätte mit der Frage rechnen müssen, aber ein bisschen hart war es schon. Es zwang mich schließlich, wieder die Realität zu akzeptieren, dass ich derzeit niemanden von ihnen erreichen konnte. Ich zwang mich zu einem leichten Lächeln.

„Na ja… wer würde das nicht? Aber ich bin ja eh gerade erst angekommen und muss mich noch an alles gewöhnen. Ich darf nicht zu viel dran denken.“

Ootori-kun gab mir einen vielsagenden Blick und nickte verständnisvoll. Vielleicht hatte er auch mal die Schule wechseln müssen, um herzukommen?

„Hey, Doitsu-san, kannst du mir sagen, ob-“

In dem Moment wurden wir abermals von einem Glockengeräusch unterbrochen. Hä? War die Pause wirklich so schnell vorbeigegangen?

„Liebe Schüler, bitte begebt euch ruhig und geordnet auf dem schnellsten Weg nach Hause! Clubaktivitäten entfallen heute mit sofortiger Wirkung.“

Ich erstarrte kurz ein bisschen, ehe mir wieder einfiel, was das bedeutete. Was gerade passiert war und welche Zeit wir hatten. Die Lausprecherdurchsage schien für einen Moment Unruhe im Klassenzimmer zu verbreiten, aber offenbar wussten die anderen Schüler gleich, was zu tun war.

Mein Herzschlag beschleunigte für einen Moment ein bisschen, aber ich zwang mich, mich zu beruhigen.

„Tja, du hast sie gehört. Bis morgen!“, verabschiedete sich Ootori-kun von mir, ehe ich irgendwas sagen konnte. Entweder war er unhöflich oder schüchtern, oder…

oder ich hatte etwas verkehrte Prioritäten.

...und jetzt? Ich hatte vergessen, mir die Nummer von Frau Shinui geben zu lassen und immer noch keine Informationen darüber, wann und wie ich heimkommen sollte. Oder eine reale Möglichkeit, mich zu orientieren.

Hm, vielleicht würde es zumindest helfen, erstmal an den Bahnhof zu kommen.

Ich schnappte schnell meine mittlerweile zusammengepackten Sachen und navigierte mich zielsicher zum Schulhof.

Draußen angekommen sah ich niemanden… jedenfalls niemanden, den ich kannte. Alle schienen mehr oder minder mit sich selbst beschäftigt, manche hatten offenbar bereits ihre Eltern angerufen und wurden von ihnen abgeholt, oder gingen mit zu Freunden Nachhause.

Hm…

Langsam bewegte ich mich aufs Schultor zu, wo ich auf sichere Distanz doch einen bekannten Haarschopf bemerkte.

Yukiko Amagi stand da, ihr gegenüber ein bekanntes Gesicht.

Fischauge, wie ich ihn immer liebevoll-abwertend bezeichnet hatte.

Ich stand zu weit weg, um zu hören, was sie sagten, aber ich wusste ja, um was es ging.

Hatte ich was zu verlieren?

Nein.

„H-Hey, Yukiko-san!“

Überzeugend. Okay, aber jetzt war keine Zeit dafür, mich wieder niederzumachen. Und sie hatte mich nicht gehört.

Also nochmal.

„Amagi-san! Ich müsste dich da noch was fragen-“

Ah.

Ah.

Okay, ich hatte es getan. Jetzt schlug mein Herz doch wie wild. Einerseits hatte ich es die ganze Zeit tun wollen, andererseits hatte ich auch Angst vor der Reaktion… aber jetzt sehen wir ja, was passierte.

Ich hatte die Ichform „Boku“ benutzt.

Oh Junge.

Yukiko sah kurz zögerlich in meine Richtung, ehe sie sich kurz bei Fischauge entschuldigte, um zu mir zu kommen. Für einen Moment sah er ihr nach, dann gab er es offenbar auf und verließ ebenfalls das Schulgelände.

„Entschuldigung, kennen wir- ah!“

Sie sah mich verwundert an.

„Du bist ein Mädchen?“

Augenscheinlich.

„Aber warum würdest du… war das Absicht?“

Na ja, als Ausländer war es wohl nicht zu ungewöhnlich, dass man eine für Mädchen eher ungewöhnliche, gar als unhöflich angesehene Ichform benutzt. Aber ich wollte es, das wusste ich eigentlich schon die ganze Zeit.

„J-ja, war es.“

Für einen Moment herrschte unangenehme Stille zwischen uns, aber dann schien Yukiko ein bisschen aufzulockern.

„Ah, ist nicht schlimm. Vielleicht solltest du es nicht vor den Lehrern machen, aber ich glaube, den meisten anderen hier ist das egal.

Und als Ausländerin kannst du eh nicht wirklich untergehen.“

Wenn, dann richtig. Aber Moment, hörte ich da etwas von Yukiko? Ihr Unterton…

„Aber nicht so wichtig“, unterbrach sie sich selbst.

Wenigstens die Tatsache, dass ich ihren Namen bereits kannte, schien sie nicht zu sehr zu verwundern.

„Was wolltest du von mir wissen?“

„Ich weiß nicht, wie ich Nachhause komme. Äh, ich weiß, das hört sich blöd an, aber ich bin gestern erst hier angekommen und habe vergessen, meine Gastmutter zu fragen, wie ich wieder zurück finde.“

„Hast du eine Adresse?“

„Ja. Auf der Visitenkarte, die sie mir gegeben hat. Die Zuhause in meinem Koffer liegt.“

Yukiko kicherte kurz auf.

„Hehe, entschuldige, ich weiß es nicht witzig.“

„Hey, ich hab kein Problem damit“, beschwichtigte ich sie.“

„Aber die Art, wie du das gerade gesagt hast, das...“

„Yukiko!“

Genau in diesem Moment rief ein Mädchen nach uns, winkte und stürmte dann auf sie zu.

„Hast du dich Durchsage nicht gehört? Wir sollen schnell heim!“

„Ja, ich weiß dich, ich habe nur noch gewartet, bis ich den Austauschschüler treffen kann-“

„Austauschschüler?“

Chie sah mich aufgeregt an.

„Du also?“

„Jap.“

„Aaah, du kommst aus Deutschland, oder? Ist ja cool! Amerikaner kann jeder sein, aber Deutschland ist was ganz anderes! Mein Opa hat gesagt, er kannte früher viele Deutsche. Wie ist Deutschland denn? Es hat noch mehr Natur als hier, oder?“

„K-Kommt drauf an, wo man wohnt, wie hier auch.“

„Ist da nicht noch alles voller alter Schlösser und sowas?“

„Nicht wirklich, es ist eher… na ja, es gibt ein paar, aber die sind weit verteilt. Und darin wohnen kann man ja auch nicht.“

„Kannst du mal was für mich auf Deutsch sagen? Bitte!“

Oh Gott, ihre Aufregung war richtig ansteckend, aber auf eine positive Art. Sie brachte mich dazu, einfach zu reden und nicht zu viel zu überlegen.

„Ähm… ‚Ich bin ein Berliner‘.“

„Aaah!“

Sie schien sich sehr zu freuen.

„Und was heißt das?“

„Ich komme aus Berlin.“

„Und tust du das?“

„Nee, ich wohne weiter unten. Ich war aber schon Mal da.“

„Kannst du noch was sagen? Irgendwas!“

„Hey, Chie, Yukiko. Habt ihr die Durchsage nicht gehört?“

Aah, da war er ja! Jetzt ergänzte meine eigene Aufregung die von Chie verursachte.

Yosuke Hanamura, mein Lieblingscharakter…. Auch wenn ich von ihm nicht so denken darf. Gut, dass ich meinen Laptop nicht hier hatte, das wäre merkwürdig geworden.

„Du bist die Austauschschülerin, oder? Freut mich! Hanamura Yosuke mein Name.“

„Yosuke, du störst!“

Chie schob ihn ein kleines Stück weg.

„H-Hey, Chie!“

Erst jetzt fiel mir auf, dass Souji auch bei uns stand, neben Yosuke.

„Hm? Stimmt ja, Seita-kun. Aber das bedeutet ja, dass es zwei Austauschschüler gibt.“

Ich sah kurz zu Souji und nickte ihm zu.

„F-Freut mich.“

Er nickte zurück, ohne ein Wort zu sagen. Wir waren ja nicht einmal in derselben Klasse!

„Yosuke-kun hat aber Recht“, gab Yukiko jetzt zu bedenken, „Wir sollten Nachhause gehen. Ah, wo wohntest du nun?“

Sie hatte sich an mich gewandt, aber die Antwort musste ich ihr etwas hilflos schuldig bleiben.

„Ganz bei mir in der Nähe“, meinte Yosuke. „Eigentlich bin ich hier, um dich abzuholen. Äh…“

„Shou geht okay“, gab ich an.

„Ich zwar nicht mein Name, aber… seien wir ehrlich, mein Name ist für euch eher schwer auszusprechen.“

Und auf Spitznamen-Territorium wollte ich noch nicht gehen. Das wäre viel zu aufdringlich gewesen… und so gerne ich mit den anderen befreundet sein wollte, ich durfte es nicht überstürzen und vermasseln. Also einfach ruhig bleiben.

E i n f a c h.

„Und Shouko wäre in etwa das japanische Äquivalent, wenn man den Namen übersetzen würde“, erklärte ich weiter.

Yukiko sah mich ein bisschen besorgt an, aber mit meinem Nachnamen war es ja nicht besser.

„Äh, und nach der gleichen Logik könnt ihr auch Matsuda sagen.“

„Matsuda Shouko?“, fragte Yukiko noch einmal.

Es war ein bisschen peinlich, wenn sie mich dabei so fragend ansah, aber ich nickte.

„Okay, und jetzt, wo das geklärt ist“, mischte sich Yosuke wieder ein, „sollten wir wirklich gehen. Es dämmert ja schon so langsam und meine Mutter hatte mich gebeten, Shouko-san sicher Nachhause zu bringen.“

Oh Junge. Mein Herz machte einen kleinen Satz. So von ihm genannt zu werden, hatte schon was.

„Oh, s-sehr nett. Allerdings weiß ich leider nicht, wie meine Adresse heißt, also kann ich nicht verlangen-“

„Ich aber“, mischte er sich ein.

„Frau Shinui ist eine gute Freundin von meiner Mutter. Eh, ein bisschen schrill, aber ganz okay. Und wir wohnen da ganz in der Nähe. Deswegen nehme ich dich einfach mit, wenn das okay ist. Ah, wenn dir das zu viel wird, kommt Chie bestimmt auch mit.“

Zum Glück wurde er nicht verlegen. Es hatte Vorteile. Nicht wirklich wie ein Mädchen zu wirken.

„Entscheide das nicht einfach!“, beschwerte Chie sich.

Ich fühlte mich fast ein bisschen angegriffen, aber ich wusste ja, dass es nicht wegen mir war.

„Aber du wohnst doch eh da in der Nähe!“, schimpfte Yosuke.

Die Routine zwischen den Beiden also.

„Aber trotzdem! Wer sagt, dass ich mit dir Nachhause gehen will! Vielleicht hab ich schon was vor!“

„Die Lehrer, die uns befohlen haben, sofort Nachhause zu gehen, sagen das! Und da könnten wir auch schon eine halbe Stunde lang sein!“

„Wir, äh, gehen dann auch“, meinte Yukiko verlegen und entfernte sich, woraufhin Souji gleich nachzog.“

„Dude!“, beschwerte sich Yosuke, als ob er sich vom einzigen anderen Mann im Bunde Unterstützung erhofft hatte.

„Möchtest du, das ich mitkomme?“, wandte sich Chie erstmal an mich.

„Äh, aber nur, wenn es keine Umstände macht.“

„Sag doch einfach ja! Der Rest liegt ja dann bei mir.“

Sie nickte.

Tatsächlich fing es schon an, zu dämmern, und ich wusste, dass Chie uns würde verteidigen können, wenn jemand auf uns zukam.

Außerdem mochte ich sie.
 

Der Heimweg war zum Glück deutlich kürzer, als ich befürchtet hatte. Wir mussten lediglich zum Bahnhof und von da aus zwei Stationen fahren, ehe wir aussteigen konnten und in der Nähe der vertrauten Furukawa-Bäckerei herauskamen. Eine Karte für den Nahverkehr hatte ich zum Glück schon von Frau Sofue überreicht bekommen.

„Findest du dich von hier aus zurecht?“, fragte Yosuke.

„Ich wohne nur die Straße da runter, dann das weiße Haus. Steht Hanamura außen dran. Wenn du was brauchst, äh, dann kannst du vorbeikommen, okay? Wir sehen uns sicher eh nochmal wegen meiner Mutter.“

Da hatte er Recht. Hehe.

„Einen Schlüssel hat dir Frau Shinui aber gegeben, oder?“

Ich griff in meine Tasche und konnte zum Glück einen finden.

„Ich wohne weiter da hinten, direkt am Sportplatz“, erklärte Chie.

„Bevor du zu Yosuke gehst, kannst du auch zu mir kommen. Oh, und wenn du dir jemals einen Film ausleihen willst, dann sage Bescheid!“

Das würde ich auf jeden Fall in Anspruch nehmen. Heh… wer hätte gedacht, dass ich so früh schon die Chance bekomme, mal mit allen zu reden? Zumindest mit allen, die ich auch jetzt schon kenne.

wobei natürlich auch nichts dagegen spricht, Naoto, Kanji oder Rise anzusprechen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

„Dann bis morgen!“, verabschiedete sich Chie, auch Yosuke winkte kurz und ging dann weiter.
 

Im Hausinneren angekommen warf ich als Erstes meine Tasche aufs Sofa, da wir zum Glück noch keine Hausaufgaben bekommen hatten – das kommt erst ab morgen auf mich zu – und zu großen Hunger hatte ich dank meines Omelettes zum Mittag auch nicht.

Wobei ich mir schon unterwegs was zu Essen hätte holen können...wenigstens von den Furukawas.

….Furukawas, und sie haben eine Bäckerei? Ahaha.

Als ich allerdings die Küche betrat, um mir wenigstens ein Ei in die Pfanne zu hauen, durfte ich feststellen, dass es tatsächlich nicht mehr nötig war, sich noch was zu kochen – das hatte tatsächlich Frau Shinui für mich übernommen!

Es hab Misosuppe, leicht angebratenes Tofu und dazu ein bisschen grünen Tee, auch wenn der schon ein bisschen abgekühlt war.

Ein beiliegender Zettel verriet:
 

„Hallo!

Ich hatte zwischen meinen Schichten heute ausreichend Zeit, dir was zu Essen zu machen. So liebend gerne ich es jeden Tag tun würde, gewöhn‘ dich am besten nicht dran – aber ich hoffe trotzdem, dir schmeckt, was es heute gibt. Ich bin leider nicht so vertraut mit westlicher Küche. Im Gegenzug wäre es allerdings sehr lieb, wenn die Küche sauber und aufgeräumt ist, wenn ich zurückkehre. Es wird spät werden, also bleib‘ nicht lange auf und geh bald ins Bett. Hast du dich schon an die Zeitumstellung gewöhnt?

-Shinui“

Gut, ich wusste, was das hieß – ich würde das Geschirr auf alle Fälle machen müssen, wenn ich morgen kein unangenehmes Erwachen wollte. Aber es war immer noch deutlich weniger Arbeit, als mir was zu Kochen und das dafür benötigte Küchenwerkzeug noch mit abzuwaschen.

Also war alles gut.
 

Nach dem Duschen merkte ich erst einmal, wie erschöpft ich eigentlich war. Kaum, dass ich mich aufs Bett gesetzt hatte, fühlten sich meine Glieder schwer an und fast automatisch legte ich mich hin.

Dabei fiel mein Blick auf den Fernseher, den ich bisher nicht beachtet hatte. Heute war ich definitiv zu müde, um noch Fernzusehen, aber… im Frühling 2011… lief da nicht Steins;Gate in Japan? Gab es in dieser Welt überhaupt Fernsehen, wie ich es kannte?

Hoffentlich hatte dieser Fernseher einen Rekorder angeschlossen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück