Memories von Chibi-Neko-Chan ================================================================================ Prolog: Die Phasen des Trauerns ------------------------------- Man sagt, es gibt fünf Phasen des Trauerns. Aber jeder Mensch verhält sich anders innerhalb dieser Phasen. Ich habe die Phasen des Trauerns zusammen mit meinem Freund Dion erlebt. Nur die letzte musste er alleine abschließen. Das hier ist die Geschichte, wie ich gestorben bin. Und dieses Mal ist das Ende vorherbestimmt. Kapitel 1: Verleugnung ---------------------- Als die Ärzte mir sagten ich hätte Krebs, brach eine Welt für mich entzwei. Das war ok damals. Ich war alleine, ich hatte niemanden, um den ich mir wirklich ernsthafte Sorgen machen musste. Mit meiner Mutter habe ich mich selten gut verstanden, einen Vater habe ich nicht und meine Freunde? Na ja, sie waren eben Schulkameraden. Wenn man in seinem Leben die gleiche Diagnose erneut bekommt, kann man auf verschiedene Arten reagieren. Man kann anfangen zu schimpfen. Über alles, die Welt, Gott, das Schicksal. Worauf man eben sauer ist. Man kann anfangen zu weinen, alles aufgeben. Man kann es verleugnen, so wie viele es gerne tun. Oder man ist sprachlos, so wie ich. Ich sehe den Arzt an, sage jedoch nichts. Ich wüsste nicht was. Mein Kopf ist wortwörtlich leer. Wie kann es sein, dass mein angeblich geheilter Krebs wieder da ist? Wofür war ich ein Jahr lang in Amerika? Alleine? In einem beschissenen Krankenhaus? Wofür habe ich Dion ein Jahr lang warten lassen? Ich spüre, wie seine Hand sich in meiner verkrampft und sehe zu ihm auf. Sein Gesicht ist starr, er weiß, was das bedeutet. Ich weiß es ebenso. Es war beim ersten Mal schon ein Wunder, dass ich überlebt habe. Wie groß müsste das Wunder sein, wenn ich es ein zweites Mal schaffe? Ich schlucke leise. Was soll ich bloß sagen? „Ich lasse Sie beide einen Moment alleine und komme dann gleich wieder.“ Der Arzt verlässt den Raum und ich bleibe weiterhin auf der Liege sitzen. Langsam ziehe ich Dion zu mir, welcher verkrampft aus dem Fenster starrt. Er sieht wütend aus. Wütend auf mich? Weil ich wieder Krebs habe? Oder wütend auf die Ärzte, die auch nichts dafür können? Ich drücke mich schweigend an ihn. Wären wir in einem Film, würde jetzt eines dieser duselig-traurigen Lieder eingespielt werden. Dann würden wir weinen und es gäbe einen Szenensprung. Aber so ist es nicht. Wir müssen miterleben, was zwischen den Szenen passiert. Wir müssen miteinander reden. „Dion…“, beginne ich leise und löse mich von ihm, um ihn ansehen zu können. Sein Blick ist gequält, als er ihn auf mich richtet. „Sieh‘ mich bloß nicht so an“, meine ich forsch, aber sicher nicht böse. „Du weißt selber, dass man diese Blicke inständig hasst.“ Ich atme einmal tief durch. Dion ist der glückliche, freie, aufgedrehte Part unserer Beziehung. Ich bin eher introvertiert, trübselig, schweigsam. Und trotzdem ergreife ich das Wort, da er es nicht schafft, etwas über seine Lippen zu bringen. „Wir müssen darüber reden. Am besten so früh wie möglich. Wenn wir es vor uns herschieben, dann wird es nur schlimmer und-“ Dion unterbricht mich. „Worüber müssen reden?! Die sollen dich nochmal untersuchen! Das ist doch nicht wahr! Du warst ein Jahr lang in einer speziellen Klinik! Wenn die es nicht geschafft haben, deinen Krebs für immer zu heilen, wer denn dann?“ Er weiß genau, dass Krebs immer wiederkommen kann, wenn man ihn einmal hatte. Aber Dion sieht der Wahrheit nicht ins Auge. „Du weißt, dass dir das auch hätte passieren können, Dion. Bitte mach jetzt keinen Aufstand. Ich habe Krebs, in Ordnung. Ein zweites Mal, okay. Ich habe es einmal geschafft, ein zweites Mal wäre ein Wunder, aber es ist nicht unmöglich.“ Ich glaube meinen Worten selber kaum. Ich bin sicher nicht stark genug, um es ein zweites Mal auszuhalten. Wieder Chemo, wieder eine Glatze, wieder so viele Operationen. Wofür? Irgendwas in meinem Leben muss ich getan haben, weshalb ich so bestraft werde, oder? Aber warum Dion? Warum muss er es miterleben? „Du wusstest von Anfang an, dass du dich auf eine Zeitbombe einlässt. Ein Jahr lang hat es funktioniert. Aber irgendwann geht eine Bombe immer hoch. Und dann kann man sie nicht mehr aufhalten.“ Dion schüttelt nur langsam den Kopf. „Nein, verdammt! Sie werden dich nochmal untersuchen! Und dann werden sie feststellen, dass alles nur ein Fehler war! Du bist gesund! Dir geht es doch gut, oder nicht?! Du siehst gesund aus und du bist glücklich! Wir waren doch gestern erst schwimmen, wieso solltest du jetzt plötzlich Krebs haben?!“ Wenn man alleine stirbt, dann tut es weniger weh. Aber die Person, die man liebt, so zu sehen, ist das schlimmste, was man erleben kann. Von beiden Seiten. Dion wird mich unter Umständen sterben sehen. Was Grausameres kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich sehe, wie sehr es ihn verletzen wird und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht gleichwertig zu betrachten ist. Ich fahre mir durch meine Haare. Denkt er denn, dass ich es mir wünsche, wieder Krebs zu haben? „Dion, es besteht die Chance, dass ich es gut überstehe. Die Medizin ist heutzutage doch schon so weit und mein Körper kennt die Prozedur auch schon. Ich bin doch stark und du solltest auch stark sein. Du solltest mir Mut machen und es nicht verleugnen.“ Er sieht mich wütend an, wendet sich um und verlässt das Zimmer, um nach dem Arzt zu suchen. Ich bleibe kopfschüttelnd zurück. Nein, so habe ich es mir sicher nicht vorgestellt. Leberkrebs. Das würde meine lange Appetitlosigkeit erklären, von der ich Dion nichts erzählt habe. Mein Fieber und meinen Gewichtsverlust. Ich hätte früher daran denken müssen, zum Arzt zu gehen. Jemand wie ich sollte das immer sofort tun. Aber wenn man so eine lange Zeit in der Klinik verbracht hat, dann ist es ehrlich gesagt der letzte Ort, wo man wieder hinwill. Wenn ich Pech habe, dann bin ich nicht mehr heilbar und das ist mir bewusst. Sie werden mich auf Metastasen untersuchen und alles probieren, um den Tumor wieder wegzumachen. Aber der Blick vom Arzt war aussagekräftig. Ich kenne das alles schon, ich weiß, wie Ärzte schauen, wenn die Nachrichten eher schlecht als gut sind. Ich weiß, wie mit Patienten wie mir umgegangen wird. Als der Arzt den Raum erneut betritt, ist Dion nicht dabei. Ist er einfach gegangen? Hat er mich jetzt hier zurückgelassen? Mein Blick wird düster. Wenn ich ihn später treffe, bekommt er erst einmal eine gescheuert! „Herr Preston“, beginnt der Doktor, aber ich unterbreche ihn. „Bitte nennen Sie mich nicht beim Nachnamen. Ich hasse so etwas.“ Er zögert zwar einen Moment, nickt dann jedoch. „Ok, Timo. Zu allererst möchte ich darauf hinweisen, dass du, da du inzwischen achtzehn bist, alle Entscheidungen alleine tragen wirst. Wir werden deine Mutter nicht benachrichtigen, wenn du es nicht willst. Wir werden dir deine Fragen beantworten und dir deine Möglichkeiten erläutern. Dann kannst du wählen.“ Ich nicke. Das ist mir bewusst. „Du hast Leberkrebs. Das Problem an dieser Krankheit ist, dass sie meist zu spät erkannt wird, um den Tumor operabel zu entfernen. Bei dir ist das der Fall.“ Ich nicke erneut. Mir wird übel. „Das heißt allerdings nicht, dass es keine Chance gibt, dich zu behandeln. Wir werden alles uns mögliche tun, um es dir erträglich zu machen.“ Ich schließe für einen Moment meine Augen. Es mir erträglich machen bedeutet ungefähr so viel, wie mir den Tod zu versüßen. Ich versuche mit diesen Gedanken in Einklang zu kommen, aber das ist leichter gesagt als getan. Dennoch nicke ich erneut. Ich will dieses Gespräch zu Ende führen. Der Arzt räuspert sich einen Moment. „Das heißt für dich allerdings auch ein erneuter Aufenthalt im Krankenhaus. Für längere Zeit, versteht sich. In erster Linie werden wir deinen gesamten Körper untersuchen. Wir müssen schauen, ob sich Metastasen gebildet haben und der Tumor andere Organe angreift. Zudem wird eine Chemotherapie von Nöten sein.“ Ich zucke zusammen. Die letzte Chemo hat Dion nicht mitbekommen. Das war alles in Amerika passiert, da war ich wieder alleine gewesen. Wenn Dion dabei ist, dann fällt mir vieles schwerer, wie ich gerade merke. „Gibt es eine andere Möglichkeit?“, frage ich daher nach. Der Arzt schüttelt den Kopf. „Die Medikamente werden das Wachstum verringern, es langsamer machen. Aber um den Tumor zu besiegen, ist die Chemo von Nöten. Und auch damit ist das Risiko, dass dein Körper dem Krebs nicht standhält größer, als die Chance, dass du ein zweites Mal Glück hast. Es tut mir leid, Timo.“ Ich nicke es ab, ehe ich aufstehe. „Ich darf jetzt gehen, oder?“ Der Arzt schreibt etwas auf einen Zettel und drückt ihn mir in die Hand. „Gib den vorne ab. Die Schwester wird dir einen neuen Termin für diese Woche geben. Bis dahin solltest du deine Sachen packen. Nächste Mal lassen wir dich nicht wieder nach Hause.“ In ein paar Tagen wird Dion alleine in der Wohnung sein und ich alleine im Krankenhaus. Ich weiß, eben meinte ich noch, vieles fiele mir schwerer, wenn Dion dabei ist. Aber ich bin ehrlich: Als ich vorletztes Jahr mit Krebs im Krankenhaus war, war Dion derjenige, der mir überhaupt die Kraft gab, um dagegen anzukämpfen. Wie soll ich es alleine im Krankenhaus aushalten? Warum kann ich nicht direkt zuhause sterben? Viele werden jetzt sagen, das ist Schwarzmalerei. Aber ich nenne es Realität. Ich verabschiede mich von meinem Arzt und gehe den Termin ausmachen, ehe ich mich nach Dion umgucke. Wo ist der Junge hingegangen? Man darf ihn echt nicht für eine Sekunde aus den Augen lassen! Ich gehe hinaus und atme die frische Frühlingsluft ein. Hoffentlich kann ich wenigstens noch einen letzten Sommer erleben. Ich entdecke Dion auf einer Bank sitzen und mein Blick verdüstert sich. Ich stapfe auf ihn zu und reiße ihm die Zigarette aus der Hand. „Bist du des Teufels?! Was machst du denn da? Das ist pures Gift für dich! Willst du, dass du wieder krank wirst?!“ Mit einer Lungenembolie ist schließlich nicht zu spaßen. „Soll ich jetzt Alkohol trinken, damit es bei mir auch schneller geht?!“, werfe ich ihm an den Kopf. Er sieht mich wütend an. „Lass das mal meine Sorge sein! Was soll ich denn zuhause machen, wenn du weg bist?! Da komme ich lieber freiwillig mit ins Krankenhaus! Verdammt, Timo! Die wollen dich doch sicher hierbehalten! Dabei ist da gar nichts! Und wenn es die Leber betrifft, sollen sie den Tumor doch rausschneiden! Die regeneriert sich doch von alleine!“ Ich lasse mich langsam neben ihn sinken. Er ist völlig fertig mit den Nerven. „Dion, bitte hör mir jetzt zu, ich werde das nur einmal sagen können. Ich habe Krebs. Leberkrebs. Die Chance, dass er heilbar ist, ist gering, aber sie ist da. Ich will dir keine unnötigen Hoffnungen machen, aber ich möchte, dass du der Wahrheit ins Auge siehst. Es bringt nichts, es zu verleugnen. Ich bin krank und ich muss eine Chemo machen, um die Heilung voranzutreiben. Ich wünsche mir, dass du mir beistehst und keine Dummheiten machst, solange ich nicht zuhause bin. Kümmere dich um die Wohnung und den Haushalt. Geh weiterhin arbeiten und lebe dein Leben. Wenn ich auch nur einmal mitbekomme, dass du dich schleifen lässt, dann werde ich vorzeitig mit dir Schluss machen, um dir schlimmere Dinge zu ersparen. Wenn du mir aber jetzt versprichst, dass du das alles schaffst, dann bleibe ich bei dir, ok?“ Ja, das ist ein Ultimatum, was ich ihm stelle. Aber anders kann ich mit Dion scheinbar derzeit nicht umgehen. „Aber die haben dich doch gar nicht richtig untersucht! Wir wissen doch überhaupt nichts?! Warum lässt du dich von den Ärzten denn so belatschern?!“ Ich sehe Dion einen Moment schweigend an. „Ok?“, wiederhole ich langsam. Dion scheint mit den Tränen zu kämpfen. „¡Sale, mi corazón.“ Kapitel 2: Zorn --------------- „Verdammt! Verdammt, verdammt!“ Ich höre Dion in der Küche schimpfen. Ein Glas zerbricht und die Scherben klirren auf dem Boden. Morgen muss ich ins Krankenhaus ziehen. Ich starre aus dem Fenster und umklammere das Kissen, während ich mich tief ins Polster der Couch sinken lasse. Ich bin dafür noch nicht bereit. Aber für Dion möchte ich stark sein. Sollte er nicht auf mich aufpassen und nicht andersherum? Ich höre, wie er auf den Tisch schlägt. Langsam lasse ich das Kissen sinken, streiche mir einmal über meine Augen und atme tief durch, ehe ich aufstehe. Wie mechanisch gehe ich auf die Küche zu und halte Dions Hand fest, damit er sich nicht selber wehtut, indem er noch mehr Dinge zerstört. Ohne etwas zu sagen sehe ich zu ihm auf und schüttele den Kopf. Er sieht mich zerknirscht an. In seinen Augen steht purer Hass und reine Trauer. Es tut mir weh, ihn meinetwegen so zu sehen. Ich lasse ihn wieder los und hole den Handfeger, um die Glasscherben wegwerfen zu können. „Lass, ich mache das!“ Dion nimmt mir den Handfeger mit etwas zu viel Kraft aus der Hand und sammelt die groben Glasscherben auf, ehe er die kleineren zusammenfegt. „Tut mir leid“, meint er leise. Ich muss schlucken. Mein Herz zieht sich zusammen bei dem Gedanken daran, dass ich ihn alleine zurücklasse. Mein Blick schweift durch unsere Küche. Er hatte sich damals so viel Mühe damit gegeben, eine Wohnung zu finden und alles mit meiner Mutter zu klären, damit wir zusammen hier leben können. Ich glaube der Tag, an dem ich aus Amerika zurückgekehrt bin, wird für immer der schönste in meinem Leben bleiben. Na ja, viele schöne Tage können ja auch nicht mehr kommen. Ich spüre, wie Dion mir von hinten seine Arme umlegt. Er ist so voller Zorn, dass er etwas zu fest zudrückt, aber es ist ok. Ich streiche mit meiner Hand an seinem Unterarm entlang und lasse den Kopf hängen. „Te amo, mi corazón.“ Ich bekomme eine Gänsehaut. Ich öffne meinen Mund, aber es kommen keine Wörter heraus, sondern lediglich ein Schluchzen. Verdammt! Schnell beiße ich mir auf die Lippe, aber meine Tränen fallen mir trotzdem aus den Augen. „Nicht weinen“, meint Dion leise und dreht mich zu ihm um. Er küsst mir die Tränen so zärtlich vom Gesicht, wie früher. Ich muss ein wenig lächeln und schlinge meine Arme um seinen Nacken, um ihn richtig zu küssen. „Es tut mir leid.“ Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl habe, mich bei ihm entschuldigen zu müssen. Er scheinbar auch nicht. „Du kannst nichts dafür!“, meint er direkt. „Die beschissenen Ärzte sind doch schuld! Die hätten das früher merken müssen! Wofür bist du denn zu den Nachsorgeuntersuchungen gegangen?! Warum haben sie es nicht bemerkt?!“ Wieder diese Wut. „Dion!“, keife ich ihn an. Ich will mich in so einem Moment wirklich nicht mit ihm streiten. „Bitte hör auf! Schieb die Schuld nicht anderen zu! Die Ärzte haben auch alles getan, was sie konnten!“ Ich will die Zeit, die ich mit ihm habe, doch schön verbringen. Ich habe schließlich schon jede Lebenshoffnung aufgegeben. Den Krebs einmal zu besiegen hat mir jegliche Kräfte geraubt. Dion drückt mich zu fest an sich. Ich keuche auf und versuche mich von ihm zu lösen, aber er lässt es nicht zu. Wir stehen schweigend einige Minuten so da, ich ringe ein wenig mit der Luft. Aber es ist ok, er soll mich halten. Ich brauche es und er auch. „Ich wünschte, ich könnte mit dir ins Krankenhaus kommen“, sagt er leise. Entschieden schüttele ich den Kopf. „Sei froh, dass du hier wohnen kannst! Stell dir mal vor, dann kommen wir nach ein paar Monaten wieder und hier sind überall Kakerlaken, weil sich niemand um die Wohnung geschert hat!“ Er lächelt traurig. Ich will wenigstens Dion davon überzeugen, dass ich zurückkommen werde. „Ich werde dich morgen hinbringen, ok?“ Ich nicke. Das hoffe ich ehrlich gesagt auch. Ich möchte dort einfach nicht alleine hin. Niemals. Vielleicht finde ich ja auch einen netten Zimmernachbarn, um nicht so einsam zu sein. Langsam lösen wir uns und ich greife nach Dions Hand. „Komm“, murmele ich und führe ihn aus der Küche hinaus ins Schlafzimmer. Das ist unsere letzte Nacht in dieser Wohnung. Und ich will sie auskosten und mit ihm zusammen verbringen. Ich schließe die Tür aus Gewohnheit hinter uns ab, Dion steht mir gegenüber. Ohne zu zögern hebe ich meine Arme und ziehe mein Shirt aus. Er beobachtet mich dabei, regt sich jedoch nicht. Vermutlich ist er verwirrt. Ich gehe zu ihm rüber und schiebe ihn auf das Bett zu. „Ich will, dass du mir die schönste Nacht bescherst, die ich je hatte und eine, die ich nicht mehr vergessen kann, ok? Ich werde für immer dir gehören Dion.“ Ich wünsche mir innerlich den alten Dion zurück. Den immer glücklichen und lächelnden. Aber ich weiß, dass das zu viel verlangt wäre. Jeder geht anders mit einer schlimmen Nachricht um, das ist wohl seine Art. Langsam setze ich mich auf seinen Schoß und schiebe meine Hände unter sein Hemd. Ich spüre die Gänsehaut, die sich auf seinem Körper ausbreitet und muss lächeln. Langsam knöpfe ich das Hemd auf und beuge mich hinunter, um seine Brust zu küssen. Ich kann seinen Herzschlag hören und meiner passt sich automatisch an seinen an. Es soll eine perfekte Nacht werden, schließlich könnte es die letzte gemeinsame für uns sein. Dions Hände streichen über meinen nackten Rücken und landen an meinem unteren Bauch, wo er geschäftig meine Hose öffnet. Ich lass es zu und muss lächeln. Langsam scheint er sich zu entspannen. Wir küssen uns liebevoll, während Dion sich aufrichtet und mich in die Kissen drückt, sodass er über mich gebeugt sitzen bleibt. Langsam lösen sich seine Lippen von meinen und er lächelt mich endlich wieder an. Ich bekomme das Gefühl, so etwas schon einmal erlebt zu haben und denke an unser erstes Mal zurück. Er ist stürmisch über mich hergefallen und ich habe mich ihm hingegeben. Es soll wieder so werden. Seine Hand rutscht in meine Hose und massiert meinen Penis über dem Stoff der Boxershorts. Ich keuche auf und schließe die Augen. Kurz darauf fällt meine Hose mitsamt der Boxershorts zu Boden. Dion beugt sich hinunter und umschließt meinen Penis mit seinen Lippen. Stöhnend fahren meine Hände durch seine Haare. Ich lege den Kopf etwas in den Nacken und lecke mir über meine trockenen Lippen. Es ist schwer, den Krebs vollkommen auszublenden. Es schwingt weiterhin mit, bei uns beiden, das spüre ich. Aber ich kann es genießen, ich muss. Ich will es. Noch einmal so wie damals. Wie vor der Diagnose. „D-Dion“, keuche ich und er nimmt meinen Penis noch tiefer in seinen Mund auf. Seine Zunge streift immer wieder meine Spitze und ich zucke jedes Mal leicht zusammen. „St-Stopp!“ Ich will nicht schon beim Vorspiel kommen. Er löst sich lächelnd von mir und leckt sich über die Lippen, ehe er mich küsst. Ich lege ihm meine Arme um den Nacken und beiße leicht auf seine Unterlippe. „Zieh dich aus“, meine ich fordernd, er nickt. Sein Hemd fällt hinter ihm auf die Matratze, ehe er aufsteht und seine Hose und seine Shorts von den Beinen streift. Ich beobachte ihn dabei und mein Blick fällt auf sein erregtes Glied. Und das, obwohl ich ihn bisher nicht einmal angefasst habe. Er ist wirklich süß, dass er so heftig auf mich reagiert. Lächelnd breite ich meine Arme aus, damit er wieder zu mir kommt. Er folgt dieser Aufforderung nur zu gerne und presst sich nackt an meinen Körper. Wir müssen beide in den Kuss keuchen. Dion beginnt, sich an mir zu reiben. „Mach schon…“, meine ich heiser. Wenn er so weitermacht, komme ich, bevor der Spaß richtig losgeht. Er grinst nur. Endlich! Sein ausgelassenes Dion-Grinsen. Wie sehr habe ich es vermisst! Er ist froh, das macht mich wieder froh und ich muss es automatisch erwidern. „Con paciencia se gana el cielo“, meint Dion weise und ich rolle gereizt mit den Augen. „Me sacas de madre!“ Seit ich mit ihm zusammen bin, habe ich ein paar spanische Wörter gelernt. Ich liebe diese Sprache, sie hat einen wunderschönen und seichten Klang. Dion kichert leise, ehe er seine Finger befeuchtet und sie an meinen Hintern führt. Ich verkrampfe nur kurz, als er sie einführt, entspanne mich aber direkt und stöhne auf. Manchmal ist es mir immer noch peinlich, wenn er mir dabei so direkt in die Augen sieht. Aber Sex mit ihm ist und bleibt das Beste, das ich je erlebt habe. Nach genügend Vorbereitung zieht er sich zurück und positioniert sich zwischen meinen Beinen. „Dispuesto, mia flor?“ Ich nicke. „Bereit“, erwidere ich und mein Atem geht schneller. Ich bin freudig erregt. Dion schiebt sich langsam vor und stöhnt auf. Seine Stimme ist Musik in meinen Ohren und für mich gibt es nichts Schöneres. Ich hoffe, dass wir noch ein bisschen Zeit zusammen haben werden. Vielleicht sollte ich auch positiver denken? Ich habe eine kleine Chance, den Krebs zu besiegen. Eine Chance ist immer da. Oder? Ich räkle mich unter ihm und sehe ihn an. Er beugte sich zu mir, hebt meine Beine etwas weiter und küsst mich eindringlich. Wenn wir uns lieben, dann liegt in jeder Bewegung und jeder Handlung so viel Gefühl, dass es mich zu erdrücken scheint. Es ist so viel unglaubliche Liebe auf einmal. Stöhnend bewegen wir unsere Körper gegeneinander. Irgendwann haben wir aufgehört, Kondome zu benutzen. Wir sind beide gesund. Na ja, jedenfalls was Geschlechtskrankheiten angeht. Und ohne ist es einfach schöner. „Te amo. Corazón mío!“ Ich schnappe nach Luft und öffne meinen Mund, um etwas zu erwidern, aber es kommt lediglich ein Stöhnen heraus. Nach einiger Zeit ergieße ich mich auf meinen Bauch und bleibe erschöpft mit geschlossenen Augen liegen. Einigen weitere Stöße später kommt auch Dion und zieht sich aus mir heraus. Er lässt sich neben mich fallen, greift nach Taschentüchern und macht uns beide ein bisschen sauber, ehe er mich nahe an sich heranzieht. Sein Atem geht so unglaublich schnell wie sein Herz und seine Brust hebt und senkt sich unter meinem Ohr. Ich lächele eine Minute schweigend, ehe ich zu ihm aufsehe. „Ich liebe dich auch, mein Herz.“ Kapitel 3: Verhandeln --------------------- Ich sitze mit meiner Tasche im Auto und warte auf Dion, der mich ins Krankenhaus fahren will. Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und starre unser Haus an. Ich glaube nicht daran, dass ich unsere Wohnung noch einmal sehen werde. Langsam gleitet mein Blick über das Armaturenbrett und dann auf die Uhr. Dion steigt ein und sieht mich einen Moment an. „Alles klar?“ Ich nicke lediglich. Was sollte schon sein. Er startet den Wagen und wir fahren schweigend los. „Timo. Timo Preston“, stelle ich mich an der Anmeldung vor. Mir werden Unterlagen zugeschoben, die ich ausfüllen muss. Gott sei Dank nicht so viel. So lange ist mein letzter Aufenthalt ja auch nicht her. Kurz darauf werden wir in mein Zimmer begleitet. Es ist nicht das gleiche wie damals und es ist ein Einzelzimmer. Ich lasse meine Tasche fallen und setze mich auf das Bett. Es wird mit uns also so aufhören, wie es angefangen hat, oder nicht? Kurz umspielt ein Lächeln mein Gesicht. Dion hingegen läuft wie ein Tiger auf und ab. „Wann kommt der blöde Arzt endlich? Wir müssen nochmal mit ihm reden! Das kann doch so alles nicht stimmen!“ Ich habe inzwischen aufgegeben, ihm in seine Meinung reinzureden. Jeder geht mit so etwas schließlich anders um. „Dion, setze dich bitte.“ Er sieht mich zögerlich an, ehe er sich mir gegenüber auf das Bett setzt und mich in den Arm nimmt. „Du wirst für immer mein Süßer bleiben.“ Ich lasse mich umarmen und schließe für einen Moment meine Augen. „Wie hast du damals von deiner Lungenembolie erfahren?“ Er zuckt ein wenig mit den Schultern. „Ich wurde von der Schule mit schweren Atemproblemen eingeliefert. War damals im Sportunterricht. Als ich beinahe erstickt bin. Na ja und dann wurde ich eben im Krankenhaus untersucht und schwupps. Da kam dann die Diagnose. Ich hatte zwischendurch auch schon Blut gehustet, aber das wollte ich nicht meiner Mutter erzählen. Hatte davor selber zu viel Angst.“ Ich nicke. Ich habe ihn das vorher noch nie gefragt. Warum gerade jetzt? Vielleicht erhoffe ich mir davon etwas Kraft? Für einen Moment schließe ich die Augen und lass mich von Dions kräftigen Armen umfangen, ehe ich mich von ihm löse und ihn anlächle. „Ich glaube ich werde hier ganz schön einsam sein. So ohne dich und in einem Einzelzimmer…“ Aber ehrlich gesagt habe ich inzwischen auch keine große Lust mehr, mich wieder mit jemandem anzufreunden. „Ich komme dich so oft besuchen, wie ich kann, ok?“ Dion lächelt mir zum ersten Mal aufmunternd entgegen, es befreit mich ein wenig von meinen Sorgen. „Bringst du mir meinen 3DS mit? Und ein paar Bücher!“ Daran habe ich natürlich nicht gedacht. „Alles was du brauchst, mia flor.“ Ich bekomme bei den Worten eine Gänsehaut. Das hat sich über die Jahre nicht legen können. Jedes Mal, wenn er spanisch spricht, schlägt mein Herz schneller. Als es an der Tür klopft, sehen wir beide auf. Der Arzt tritt ein, wenig Begeisterung kommt auf. „Hallo Timo.“ Ich nicke ihm zu. Er begrüßt Dion für einen Moment, ehe er sich vor uns auf einen Stuhl setzt. Es gibt nur seltene Momente, wo Ärzte sich wirklich Zeit für ihre Patienten nehmen und es sind immer schlechte Nachrichten, die damit übereinkommen. „Wann untersuchen Sie ihn nochmal?“, fragt Dion direkt nach, bevor der Arzt sich auch nur äußern kann. Dr. Johnson sieht kurz verwirrt zu Dion, dann zu mir. Ich sehe ihn nur bittend an und schüttele unbemerkt den Kopf. Er soll nicht fragen, er soll antworten. „Wir werden heute Nachmittag die Tests durchführen“, wendet Dr. Johnson sich an Dion. „Danach werden wir… genaueres wissen. Aber Ihnen ist bewusst, dass Timo auf alle Fälle-“ Ich räuspere mich. „Ich weiß, ich muss länger hier bleiben, aber das haben wir schon geklärt“, erläutere ich mit einem Lächeln. Dions Finger verschränken sich mit meinen. „Ich kann aber bis heute Abend bleiben, oder?“ Wir bekommen die Erlaubnis und der Arzt verabschiedet sich kurz danach wieder. Ich seufze leise. Wie wird Dion reagieren, wenn er die Ergebnisse selber sieht? Dann muss es in seinem Hirn doch ankommen? Aber wird es dann nicht direkt noch schlimmer, als es bisher schon ist? Ich setze mich mit Dion auf das Bett und kuschele mich an ihn. „Man, jetzt muss ich wieder den Krankenhausfraß essen“, versuche ich die Situation etwas aufzulockern. Dion brummt nur leise. „Ich bringe dir so oft Essen mit, wie ich kann. Das verspreche ich.“ Ich möchte nicht, dass er mir Sachen verspricht. Nicht, weil er sie nicht halten kann, aber weil er sich nur noch mehr Vorwürfe macht, wenn er sie nicht mehr erfüllen kann, sollte ich doch früh sterben. „Hey Timo?“ „Hmh?“ „Wenn du wieder rauskommst aus dem Krankenhaus… Dann fahren wir zum Strand, ok?“ Ich muss ein wenig lächeln und nicke langsam. „Ja, das sollten wir machen.“ Ich darf nicht wieder weinen. Wenn ich weine, dann verliert Dion nur immer mehr den Mut und das darf nicht passieren. „Die Ärzte werden bestimmt noch feststellen, dass es ein Fehler war. Und dass es alles nur halb so wild ist. Bestimmt nur irgendein falscher Fleck gewesen. Nichts Weltbewegendes.“ Ich antworte darauf nicht. Dion soll sich keine blinden Hoffnungen machen. Er muss es verstehen. Er muss es akzeptieren. Sonst wird es ihn am Ende noch mitumbringen. „Sollte es dir jemals schlecht gehen, Dion, solltest du jemals wieder Blut spucken oder Atembeschwerden haben, versprich mir, dass du sofort zum Arzt gehst.“ Ich sehe ihn ernst an. „Klar, sonst schickst du mich ja“, scherzt er. Ich sehe ihn mahnend an. Dion nickt langsam und lässt sich mit mir auf die Matratze fallen. „Ich liebe dich, Timo. Und ich verspreche dir, dass ich nie jemand anderen lieben werde.“ Ich muss schlucken. Genau das ist es, was mir am meisten Sorgen bereitet. Kapitel 4: Depressionen ----------------------- Es sind schon einige Monate vergangen, die ich im Krankenhaus verbringe. Ich glaube ich habe Dion noch nie so viel weinen sehen. Er ist still geworden, lächelt kaum noch. Ich glaube, er kommt alleine in der Wohnung auch nicht mehr gut zurecht. Das einzige, was er aktiv tut, ist zu mir ins Krankenhaus zu kommen. Von seinem Arzt wurde er krankgeschrieben, da er nicht in der Lage ist, richtig zu arbeiten. Nennt man das schon Depressionen? Ich habe meine dritte Chemotherapie angefangen und ich weiß nicht, ob überhaupt noch etwas meinen Magen verlassen kann. Es wird die letzte Therapie sein, die ich mache. Ich möchte das nicht mehr. Gesund kann ich nicht werden und den Tod in die Länge ziehen ist für mich nur eine Qual. Aber wie soll ich Dion in diesem Zustand alleine lassen? Im Moment bin ich über einen Eimer gebeugt, seine Hände liegen beruhigend auf meiner Schulter und ich übergebe mich. Ein paar vereinzelte Tränen fallen in den Eimer, dann stelle ich ihn wieder beiseite und spüle meinen Mund aus. „Tut mir leid…“, murmele ich Dion zu, aber er schüttelt nur den Kopf. „Du kannst nichts dafür.“ Wenigstens das hat er endlich begriffen. Ich habe mir das Leben so nicht ausgesucht. Ich fahre mir mit meiner Hand über den Kopf, Haare sind dort schon lange keine mehr. Dion setzt sich neben mir auf das Bett und zieht mich in seine Arme. „Pass auf die Kabel auf“, murmele ich, kuschele mich aber an seine Brust. Er riecht immer noch so wie damals, er ist immer noch so warm und groß. Er trägt auch die gleichen Klamotten, aber trotzdem wirkt er nicht mehr wie mein Dion. Schweigend liegen wir da und starren ins Nichts. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch sagen soll. Dion selber schweigt sowieso nur noch. Ich bin überfordert mit der Situation. „Wollen wir ein Eis essen gehen?“, frage ich nach einiger Zeit und lächele Dion an. Er scheint zu überlegen, ehe er mit den Schultern zuckt. Dann steht er auf und hebt mich aus dem Bett in den Rollstuhl. Wie komme ich in meinem Zustand auf so eine Idee? Es bleibt doch sowieso nichts in meinem Magen. Den Tropf befestigt er an meinem Rollstuhl, ehe er mich aus dem Zimmer schiebt. „Dion, erinnerst du dich noch daran, als ich die Diagnose bekam? Und du völlig durchgedreht bist? Ich meinte, wenn ich merke, dass es dich völlig kaputt macht, dann trenne ich mich von dir.“ „Ja, ich weiß das noch.“ Wenigstens antwortet er mir dieses Mal. „Dion, ich merke, dass es dir nicht gut geht. Und das gefällt mir nicht. Ich kann verstehen, dass ich ein grauenvoller Anblick bin, aber-“ Plötzlich bleiben wir stehen und Dion kommt um den Stuhl herum, um sich vor mich zu knien. „Nein! Du bist kein grauenvoller Anblick. Du bist immer noch das schönste, was ich je in meinem Leben sehen werde. Du hast immer noch das Funkeln in den Augen, wenn du lachst und ich… Ich will meinen Blick niemals von dir abwenden müssen. Dazu wäre ich gar nicht in der Lage.“ Immer wenn Dion so etwas Unerwartetes tut, kommen mir die Tränen. Zum einen weil ich weiß, was ich verliere. Zum anderen, weil es mir selber so sehr wehtut, ihn alleine zurückzulassen. Gerade durch die Zeit, die er mit mir im Krankenhaus verbringt, hat er sich von seinen anderen Freunden abgewendet. Er klammert sich so sehr an mich, dass ich wirklich die Sorge habe, was passiert, wenn ich nicht mehr da bin. „Danke“, meine ich leise und mit brüchiger Stimme. Dion gibt mir einen Kuss auf die Stirn und lächelt das erste Mal seit längerer Zeit wieder ein wenig. „Das Eis wartet…“ Er schiebt mich wieder voran, in das kleine Krankenhauscafé. Damit ist das Gespräch wohl beendet. Er weiß, was ich ihm eigentlich sagen wollte und ich weiß, dass er es nicht hören will. Aber ich mache mir ernsthafte Sorgen. Seufzend lasse ich mich von ihm an einen Tisch schieben und denke an die Zeit zurück, als ich damals das letzte Mal im Rollstuhl gesessen habe. Er hat sich mir wirklich aufgezwungen, mich einfach geküsst, als ich nicht weglaufen konnte. Und ich hatte gedacht, er hätte mich alleine gelassen. Dion hätte damals sterben können und hat es geschafft. Wieso muss ich jetzt in die Knie gezwungen werden? Als würde man nicht wollen, dass wir glücklich zusammenleben. Aber wir hatten eine glückliche Zeit. Ein Jahr waren wir zusammen und unzertrennlich. Und unsere Beziehung war perfekt. Natürlich haben wir uns ab und an in die Haare bekommen, aber das war nie ein Zeichen dafür, dass wir uns nicht lieben würden. Es war meine kleine, perfekte Welt, in die ich mich blind gestürzt habe und die ich nun verlassen muss. Um der Realität zu begegnen. Dion geht und zwei Eis kaufen und kommt damit zu mir zurück. Ich lächele und nehme das Schälchen entgegen. Dann stelle ich es ab und sehe es an. Ich habe keinen Hunger, ich vertrage auch kein Eis. Es ist viel zu kalt und zu süß. Aber Dion hat es mir extra gekauft und er sieht mich lächelnd und erwartungsvoll an. Weil er sich immer noch wünscht, dass der Alptraum bald endet. Meine Mundwinkel ziehen sich nach unten, aber ich will nicht weinen. Ich kann es auch kaum noch, es ist zu anstrengend geworden. Ohne den Rollstuhl könnte ich nicht einmal mein Bett verlassen und auch das aufrechte Sitzen fällt mir schwer. Ich sehe Dion an, der seine Kugel in Ruhe isst und aus dem Fenster schaut. Wenn ich irgendwann weg bin, sucht er sich dann einen neuen Freund? Wird er unsere Wohnung aufgeben und umziehen? Ein glückliches Leben führen? Ich wünsche es mir für ihn und doch zerreißt der Gedanke mir das Herz. Er soll ohne mich weiterleben können, dennoch bin ich egoistisch genug, zu denken, dass ich das eigentlich nicht will. „Hast du keinen Appetit?“, fragt mich Dion, als er seine Kugel aufgegessen hat und reißt mich somit aus meinen Gedanken. Ich blinzel ein paar Mal und schlucke heftig, ehe ich lächelnd den Kopf schüttele. „Entschuldige. Übelkeit und so.“ Er nickt verständnisvoll und isst mein Eis einfach für mich mit. Danach schiebt er mich nach draußen und wir verbringen ein wenig Zeit an der frischen Luft, bevor ich wieder in mein Bett muss. Meine Kraft hat mich verlassen und meine Augen fallen mir immer wieder zu. Dion trägt mich und legt mich sanft auf die Matratze, bevor er mich gut in die Decke einwickelt und sich vorsichtig neben mich legt. Er streicht mir sanft durch die Haare und legt seinen Arm um mich herum. „Humpty Dumpty Sentado en un muro, Humpty Dumpty Se dio un golpe muy duro ; todos los Caballeros y pinete des rey, fueron a levantarlo y no pudieron con él.“ Ich weiß nicht, wann Dion damit angefangen hat, mir den Kinderreim immer und immer wieder ins Ohr zu murmeln, aber ich glaube er beruhigt sich selber damit, während er hofft, dass es mir hilft. Weil ich sein Spanisch so sehr liebe. So wie seine Stimme, seine Augen, seinen Geruch. Alles an ihm würde ich für nichts auf der Welt umtauschen wollen. Er ist und bleibt für mich der perfekte Freund. „Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?“, frage ich leise nach und Dion nickt. „Natürlich, wie könnte ich das denn vergessen?“ Er sieht mich amüsiert an und ich erwidere sein Grinsen mit einem Lächeln. Meine Hand streicht sanft über seine Wange, bevor ich meine Augen schließe. „Erzählst du mir davon?“ Es ist nicht so, als wüsste ich es nicht mehr. Aber ich fand es immer toll, Dion dabei zuzuhören, wie er mir seine Seite von der Geschichte erzählte. Seine Gefühle und Gedanken, die er damals hatte, zu erfahren. Damit ich es nicht vergessen kann, will ich unsere kleine Geschichte in meinem Herzen verschließen. Niemand anderes soll sie erfahren, sie gehört nur uns und ist unser kleines, perfektes Märchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)