Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ I.I Rainy Moment ---------------- „Warum hab ich überhaupt etwas anderes erwartet?“   Es regnete. Dicke, schwere Tropfen trommelten in einem steten Rhythmus zu Boden. Der Asphalt war glänzend und dunkel vor Nässe, der Tag sah aus, als hätte er vergessen, dass Helligkeit ein essentieller Bestandteil von ihm sein sollte. Die Straßen waren vergleichsweise verlassen, gemessen an der sonst so alltäglichen überfüllten tokyoter Hektik. Ein typischer Anblick für die frühsommerliche Regenzeit. Fuzuki Kai lachte gutmütig, als er seinen Regenschirm aus der Tasche wühlte. Obwohl er es nun wirklich sein ganzes Leben lang nicht anders gewöhnt war, hoffte er immer noch darauf, dass ihn ab und zu der Sonnenschein überraschte, auch wenn der Name Regenzeit allein die Wahrscheinlichkeit schon drastisch in den Keller senkte – und leider tat die Sonne ihm mehr als selten den Gefallen, sich nach seinen Wünschen zu richten. Immerhin, ein guter Trost war es, dass es bald vorbei sein würde. Er freute sich darauf. Sonnenschein, Ausflüge ans Meer, Wassermelone – all die guten Dinge eben. Wenn er bis dahin hart genug arbeitete, bekam er sicher den ein oder anderen freien Tag durchgeboxt! Und in gewissem Maß hatte der Regen auch Vorteile. Es war ruhiger. Die Straßen waren weniger überlaufen. Wer es konnte, vermied es, unnötig unterwegs zu sein, und das machte zumindest viele seiner Jobs bedeutend einfacher. Lieferbote zu spielen war bedeutend erträglicher, wenn man sich nicht durch Menschenmassen kämpfen musste! (Es war zwar auch bedeutend nasser, aber Kai war niemand, der dran starb, wenn er sich nach der Arbeit erst einmal aufwärmen und abtrocknen musste.) Wäre er etwas sentimentaler, hätte er wohl auch wertschätzen können, wie anders Tokyo im Regen aussah. Kai war aber nicht sentimental, und so war alles, was er sah, nasse Straßen und grauer Himmel, die keinerlei Reiz für ihn hatten. Es war einfach. Wetter. Gehörte zum Leben dazu.   Jeder seiner Schritte platschte auf dem nassen Asphalt. Jedes Auto, das vorbeifuhr, hinterließ eine Spur aus nassem Lärm, das dauerhafte Trommeln des Regens dämpfte die Geräuschkulisse, ließ sie so verschwommen wirken wie der Blick in die Ferne, der vom Regen getrübt wurde. Menschen unter Regenschirmen, teils grau und nichtssagend, teils grell und bunt wie Erinnerungen an die Sommerzeit, die vor ihnen lag, eilten mit gesenkten Köpfen über die Straßen. In typischer Großstadtmanier hatte kaum jemand einen Blick für den anderen übrig. Es war eine Form von schlechter Angewohnheit, die Kai dazu brachte, seine Mitmenschen zu beobachten. Uralter Reflex, den man sich einfach antrainierte, wenn man mit fünf kleinen Geschwistern aufwuchs und ganz selbstverständlich die Rolle des Babysitters einnahm; man musste seine Umgebung im Blick haben. Sehen, wenn etwas nicht stimmte, am besten noch, bevor es wirklich nicht stimmte.   Ohne diesen alten Reflex hätte er es übersehen.   Sie war genauso verschwommen wie der Rest der Welt, die kleine Gestalt, die gar nicht so weit von ihm entfernt den Gehweg entlangschlurfte. Keine ordentliche Jacke, völlig durchweicht. Langsam. Ziellos. Hängende Schultern. Als wüsste sie selbst nicht, wohin ihr Weg sie führen sollte. Sie wirkte verloren und absolut nicht zum Rest des Bildes passend. Kein Teil der Großstadthektik und der regenschirm- und kapuzengeschützten Menschen, die nur draußen waren, weil es Notwendigkeit war, und die zielsicher einen Weg zurück ins Trockene suchten. Kai konnte es nicht ignorieren. Kurzentschlossen schloss er mit ein paar langen, schnellen Schritten zu dem Mädchen auf, hielt den Schirm über ihren Kopf. Es war fruchtlos, wurde ihm im nächsten Moment klar, als er einen näheren Blick auf das dunkelgrüne Haar warf, das klatschnass an ihrem Kopf klebte, trotzdem blieb er dabei. Die kalten Regentropfen auf der sicher längst unterkühlten Haut waren sicher alles andere als angenehm, und sein Schirm war gut und gerne groß genug für ihn und so ein zierliches Ding! Einen Augenblick lang schien sie ihn nicht zu bemerken, dann hob sie den Kopf, sah ihn aus großen, ein bisschen trüb gefärbten Augen an. Sie schien völlig verständnislos zu sein. Sah höher, zu dem Schirm über ihrem Kopf, dann wieder zu Kai, ohne irgendwelche Anstalten, zu sprechen. In ihrem Blick lag etwas, das Kai noch einmal unangenehm die Fruchtlosigkeit seines Unterfangens deutlich machte, doch er grinste trotzdem freundlich. Etwas miaute, und bei einem näheren Blick bemerkte er ein schwarzes, nasses Fellbündel in den schmalen Armen seiner neuen Gesellschaft. Sie sahen so unglaublich erbärmlich aus, die beiden, dass es Kai mitten ins Herz stach.   „Hey“, begann er, offenbar ein bisschen zu laut, ein bisschen zu fröhlich, denn das Mädchen scheute merklich zurück. Er lächelte entschuldigend, ließ den Schirm ihrer Bewegung folgen, ohne selbst näher zu kommen. Dass dafür ihm nun der Regen in den Nacken prasselte, war völlig unerheblich. „Du solltest bei so einem Wetter lieber nicht draußen sein, hm?“ Sie zuckte mit den Schultern, senkte den Blick wieder. Da, wo der schützende Kreis des Regenschirms aufhörte, malten die herunterprasselnden Wassertropfen kleine Kreise auf den nassen Boden, stellte Kai fest, als er kurz ihrem Blick folgte. Das Kätzchen miaute, verbarg sich tiefer in den Armen des Mädchens, als wollte es vor der Kälte flüchten. Kai konnte es nur zu gut verstehen. Dafür, dass es quasi schon Sommer war, war es wirklich viel zu kühl. Und wer wusste schon, wie lange die beiden bereits durch den Regen irrten? Oder warum. Aber wenn er ehrlich war, dann war das Kai gerade relativ egal. „Kommst du aus der Gegend?“ Stille. Erst gar keine Reaktion, dann ein Kopfschütteln, zusammen mit einem leisen, verneinenden Laut. Ob sie Urlaub machte? Ein Schulausflug? Andererseits war das, was das Mädchen trug, sicher keine Schuluniform, also – unwahrscheinlich. Hmmm… „Na, wie auch immer. Meine Wohnung ist gar nicht so weit von hier, wenn man mit der U-Bahn fährt – möchtest du mitkommen, damit du trocknen kannst? Du kannst nach Hause, wenn der Regen aufhört.“   Das schwache Nicken, das er bekam, war Kai Zustimmung genug. Er setzte sich wieder in Bewegung, das Mädchen an seiner Seite. Sie lief langsamer, als er es üblicherweise tat, hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Sagte kein Wort. Sie wirkte… hilflos. Schutzbedürftig. Etwas an ihr rührte Kai. Er wollte sie beschützen, ohne recht zu wissen, wovor, wollte sich darum kümmern, dass sie raus aus diesen nassen Klamotten kam und sich aufwärmen konnte. Er wollte erfahren, was mit ihr los war, damit er herausfinden konnte, wie er helfen konnte. Über einen heißen Tee und trockene Kleider hinaus eben, die waren offensichtlich.   Sie wollte aber genauso offensichtlich nicht reden.   Kai versuchte mehrfach, ein Gespräch zu beginnen auf dem kurzen Weg bis zur U-Bahn-Station, während der ebenfalls nicht langen Bahnfahrt, während dem Weg von der Zielstation bis nach Hause, doch er stieß jedes Mal auf eisernes Schweigen; das höchste der Gefühle waren ein Kopfschütteln, ein Nicken, oder ein Schulterzucken.   Bis sie schließlich ankamen und er sie sanft in die Wohnung bugsierte, hatte er so überhaupt nichts Neues gelernt. Sie war nicht aus der Gegend. Sie wollte nicht sagen, wo sie herkam, oder warum sie auf Tokyos Straßen herumgeirrt war, wollte nicht einmal ihren Namen sagen, und recht bald gab Kai es auf. Es war deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte, und er ahnte, dass es nicht half, sie unter Druck zu setzen. Seine Brüder konnten unglaublich in sich gekehrt sein beizeiten, da half nachbohren auch nicht. Manchmal war es am besten, abzuwarten, bis das Gegenüber von alleine reden wollte. Gerade lagen seine Prioritäten ohnehin woanders. Den nassen Regenschirm brachte er ins Bad, nachdem er seine Schuhe durch Pantoffeln ausgetauscht hatte. In den Flur zurückkehrend fand er seinen kleinen Gast immer noch dort vor, die durchweichten Schuhe inzwischen ausgezogen stand sie auf nassen Socken im Eingangsbereich und schien nicht zu wissen, wohin mit sich. Sie tropfte, hinterließ kleine, dunkle Flecken auf dem dunklen Holzoptikboden. „Komm mit. Ich geb dir ein paar trockene Sachen und dann kannst du duschen, um dich aufzuwärmen. Möchtest du Tee? Oh. Und deinen kleinen Freund gibst du mir am besten, dann seh ich zu, dass er abgetrocknet wird und etwas zu futtern bekommt.“ Hatte er denn irgendetwas da, das er einer Katze anbieten konnte? Während Kai noch darüber sinnierte, ob er etwas anderes als Milch und Pudding im Kühlschrank hatte, führte er seine kleine Begleitung zum Badezimmer, ließ ihr die Gelegenheit, sich mit der Einrichtung vertraut zu machen, während er Kleidung holte. Eine Jogginghose mit Gummizug und Kordel, die sich eng genug schnüren lassen sollte, damit sie nicht verloren ging, ein Shirt, das sicherlich übergroß sein würde, aber wenigstens warm. Socken? Würde sie vermutlich verlieren, aber besser war es trotzdem, es zu versuchen, und die Hausschuhe sollten einiges festhalten können, das sonst einfach nur rutschen würde. Unterwäsche… Kai räusperte sich verlegen in seinem leeren Schlafzimmer, schob die Schublade mit den Shorts ganz schnell wieder zu. Nein. Also. Nein, gar nicht erst drüber nachdenken!   Die Sachen überreicht nahm er die kleine Mieze in Empfang und ließ das Mädchen dann allein im Bad zurück. Nachdenklich kraulte er dem kleinen Katzentier unter dem nassen Kinn. Es gab einen vagen Laut von sich, der gleichermaßen Protest wie Ermutigung hätte sein können. „Und was machen wir beide jetzt?“ Ein Handtuch holen. Das Kätzchen halbwegs abtrocknen, so gut er konnte – also gar nicht gut. Abgetrocknet werden fand der kleine Tiger nämlich gar nicht toll, offensichtlich. Nach ein paar Sekunden schon begann er, sich in Kais behutsamem Griff zu winden und es dauerte nicht lange, bis sich der Kater fauchend und kratzend aus dem Handtuch befreit hatte. Kai seufzte, warf das Handtuch einfach über die Schulter und stemmte die zerkratzten Hände in die Hüften.  „Gut. Dann kein Abtrocknen. Hast du Hunger? Durst?“ Fauchen klang unter dem Sofa hervor. Kai seufzte noch einmal, ging in die Hocke hinunter. Er sah unter dem Sofaspalt nur Dunkelheit, aber wenn er lang genug starrte, bildete er sich zumindest ein Paar leuchtender Katzenaugen ein. „Nun sei nicht so, Kätzchen. Ich tu dir doch nichts… Und ein bisschen Milch nimmst du sicherlich, hm?“ Dieses Mal kam nur Stille – Kai verbuchte es als positiv, als schweigende Zustimmung, also ging er rüber in die Küche und goss etwas Milch in eine niedrige Schale, damit der kleine Katzenkopf überhaupt an die Flüssigkeit herankommen konnte. Er fand Schweinefleisch im Kühlschrank, das er eigentlich fürs Abendessen gekauft hatte, wie er sich bei dem Anblick erinnerte. Eine kleine Portion konnte er ruhig für das Kätzchen abzweigen, so viel passte da doch gar nicht rein. Auch wenn er wohl für zwei kochen musste. Apropos kochen – „Der Tee!“ Schnell war der Wasserkocher eingeschaltet, und ein zweites Schälchen für ein paar Fleischstücke herausgekramt. Es war vorgeschnitten, aber relativ grob. Also… kleiner schneiden? Kleinschneiden, beschloss er, in Erinnerung an das winzige Bündel schwarzen Fells. Alles vorbereitet kehrte er ins Wohnzimmer zurück und stellte beide Schalen nahe des Sofas ab, ging daneben in die Hocke. „Hierher, Kätzchen. Komm raus. Ich hab essen und trinken für dich!“   Das Kätzchen ignorierte ihn.   Mit einem geschlagenen Seufzen ließ Kai sich auf den Boden plumpsen, doch er grinste noch, als er unter den Sofaspalt blickte. Er erkannte immer noch nichts in der Dunkelheit dort unten, aber er ging davon aus, dass sich der kleine Fellball keinen neuen Platz gesucht hatte in der kurzen Zeit, die er in der Küche gewesen war. Irgendwann würden Hunger und Durst es schon heraustreiben, und dann würde es merken, dass es keine Angst haben musste! Hoffte er zumindest. Bis das Öffnen und Schließen der Badtür ankündigte, dass sein Gast fertig war, hatte sich das kleine Tier aber keinen Millimeter bewegt. Mit einem halb resignierten, halb amüsierten Laut raffte Kai sich wieder auf und trottete dem Mädchen entgegen, das ein wenig verloren im Eingang zum Wohnzimmer stehen blieb. „Dein kleiner Freund hat Futter bekommen“, erzählte er, deutete auf die Schälchen vor dem Sofa, „Aber ich glaube, er ist schüchtern.“ So wie du, hm? „Und der Tee ist fast fertig. Zugegeben, ich hab ihn vergessen, aber es dauert nicht lang!“ Er lachte herzlich, begegnete nur einem weiteren eher nichtssagenden Blick. Er hatte Mühe, dem Impuls zu widerstehen, das unruhige, feuchte Haar des Mädchens zu zerwuscheln. „Setz dich. Ich kümmere mich um den Tee. Bist du hungrig?“ Kopfschütteln. Kai runzelte kurz die Stirn, nickte dann aber. Zum Abendessen würde sie aber etwas essen! Er wollte gar nicht wissen, wie lange sie schon durch den Regen geirrt war – und entsprechend nichts mehr gegessen hatte.   Obwohl er nicht ganz glücklich damit war, seinen kleinen Gast einfach zurückzulassen – sie blieb reglos stehen, wo sie stand, statt sich tatsächlich hinzusetzen –, kehrte er in die Küche zurück. Er war froh, dass er überhaupt Tee zur Hand hatte, denn er trank nicht häufig welchen, vor allem nicht im Frühling und Sommer. Es war doch viel zu warm für Tee! Meistens. Zur Regenzeit war das etwas anderes, aber da reichte eine warme Brühe genauso gut, und die kam mit dem Essen oft genug zustande. (Selbst, wenn es nur Cupnudeln waren.) Ein paar Minuten vergingen, bis der Tee fertig war und auf ein Tablett manövriert war, das er aus dem Schrank erst hatte suchen müssen. (Er war nun wirklich kein Chaot, aber vielleicht sollte er sich abgewöhnen, alles einzumotten, was er nicht zu brauchen glaubte. Es kam doch immer mal etwas Unvorhergesehenes dazwischen!)   Ein paar Minuten nur, und trotzdem war von seinem Gast keine Spur mehr.   Völlig verdattert stand Kai im Wohnzimmer, Tablett in den Händen, und konnte nur auf das leere Sofa starren. „Hey… Kleine Lady? Wo bist du?“ Keine Antwort. (Er hatte auch keine erwartet, eigentlich.) Besorgt die Stirn runzelnd stellte er das Tablett auf dem Tisch ab, lief dann los, um den Rest der Wohnung zu überprüfen. Die Wohnungstür war geschlossen. Die Schuhe seines Gastes standen noch nass im Flur, wo sie abgestellt worden waren. Im Bad war sie auch nicht. Im kleinen Schlafzimmer ebenso wenig, und in der Küche hätte Kai sie doch wohl bemerkt! Erst, als er noch einmal suchend durchs Wohnzimmer sah, bemerkte er, dass die Tür zur Veranda offen war. Er lachte erleichtert auf, schüttelte den Kopf. Da hätte er doch sofort drauf kommen können!   Sie saß auf dem Boden der Veranda, in den viel zu großen Klamotten, und sah noch viel verlorener aus als zuvor, aber… zufrieden? Es war schwer, in ihrem Gesicht zu lesen, aber Kai glaubte, dass sie zufrieden wirkte. Er lächelte, ließ sich mit einem kleinen Stück Abstand neben ihr nieder. „Hey. Dein Tee ist fertig.“ Sie sah kurz zu ihm hinüber, wandte den Blick dann wieder hinaus in den trüben Regen. Sonst reagierte sie nicht. Das  dauerhafte Prasseln wirkte angenehm beruhigend, wenn man ihm aus dem Trockenen heraus zusehen konnte. „Sollen wir deine Eltern anrufen?“ –„ Mh-mh.“ Es kam nicht unerwartet, trotzdem half es nicht gerade dabei, dass Kai sich weniger Sorgen machte. Sie wollte nicht nach Hause, offensichtlich. Warum? Streit? So oft Kai auch Streit in seiner eigenen Familie erlebt hatte, er war fest davon überzeugt, dass Familie schlussendlich doch immer zusammenstehen sollte – sie musste sich mit ihren Eltern aussprechen, früher oder später! Aber vielleicht nicht jetzt sofort. Er seufzte leise, wandte den Blick von dem zarten Profil ab und begann, den Regen zu beobachten. „Du bist weggelaufen?“ Stille. Erst nach einigen Minuten kam eine leise Bestätigung in Form eines knappen bejahenden Lauts, der in der wetterbedingten Geräuschkulisse beinahe unterging. „Du möchtest nicht zurück.“ Wollte sie nicht, nein – die Bestätigung kam beinahe augenblicklich. Kai presste die Lippen zusammen, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Bis auf einen Teil im Nacken war es dank Regenschirm trocken geblieben. Ihm fielen spontan mindestens fünf Menschen ein, die ihn tadeln und nur den Kopf über seine Entscheidung schütteln würden. Ihm fiel aber zumindest ein Mensch ein, der ihn bestärken würde, und er erinnerte sich an das schönste Lächeln, das er je gesehen hatte, an Krankenhauszimmer und Desinfektionsmittelgeruch; Erinnerungen, die sein Herz krampfen ließen. Kopfschüttelnd schob er sie von sich, sah wieder zu dem Mädchen hinüber, dessen Blick immer noch in endlos weite Fernen gerichtet war, die Kai nicht einmal sah, wenn er hinausblickte. Er wünschte sich, sie würde ihn ansehen.   „Du kannst hier bleiben, solange du willst.“     ***     Das erste Mal, dass die kleine Katze unter dem Sofa hervorkam, war am nächsten Morgen, als Kai gerade aus dem Bad kam. Vorhin noch nirgendwo zu sehen gewesen saß sie jetzt vor ihrer Milchschale, die Kai gleich nach dem Aufstehen frisch gefüllt hatte. Große, gelbe Katzenaugen sahen zu ihm auf und das kleine Tier begrüßte ihn mit einem energischen Maunzen. Er grinste zufrieden. „Siehst du. Hab dir doch gesagt, es ist alles halb so wild. Na, schmeckt es?“ Noch ein Maunzen später hatte das Tier seine Schnauze wieder in der Milch und Kai wurde uninteressant. Er seufzte amüsiert, begann, die Decken zusammenzufalten, die sein Nachtlager im Wohnzimmer markierten. Er hatte natürlich nicht in seinem Schlafzimmer geschlafen, nachdem er dem Mädchen sein Bett angeboten hatte. „Dein Frauchen muss ich auch noch wecken… Oder meinst du, es reicht, wenn ich ihr einen Zettel dalasse?“ Er bekam keine Antwort. Wenig überraschend. Sagte man nicht, Haustiere ähnelten ihren Herrchen? Das merkte man! Dabei hätte er dieses Mal eine brauchen können. Eigentlich wollte er das fremde Mädchen nicht stören, immerhin – man schlich sich  nicht in die Zimmern schlafender Mädchen! Andererseits wollte er genauso wenig, dass sie aufwachte und sich völlig verlassen fühlte, weil sie keine Ahnung hatte, was los war. Ob ein Zettel wirklich das Richtige war? Und was schrieb er denn? Dass er arbeiten ging, es würde später werden, weil er noch einkaufen musste, Frühstück war im Kühlschrank und sonst sollte sie sich bedienen, woran sie wollte? PS: Lass die Katze raus, damit sie nicht in die Wohnung macht! Erschien ihm irgendwie nur mäßig herzerwärmend.   Ein Blick auf die Uhr nahm ihm die Überlegung allerdings schnell genug aus der Hand – es würde beim Zettel bleiben müssen. Er hatte keine Zeit!   Entsprechender Zettel wurde an die Küchentür gepinnt, ein Frühstück in den Kühlschrank gepackt, und mehr schaffte Kai auch gar nicht mehr, bis er aus dem Haus musste. Hinaus in den Regen, auch wenn der immerhin nicht halb so stark wie am Vortag war. Immerhin war der Weg zur Arbeit heute lang genug, dass er genug Zeit hatte, darüber nachzudenken, was er jetzt mit seinen neuen Mitbewohnern machte. Durfte er überhaupt Haustiere haben? Er würde den Vermieter anrufen müssen… oder in den Mietvertrag gucken, das sollte auch helfen. Und er brauchte dringend eine Katzentoilette. Wie gut, dass er nur ein paar Stunden unterwegs sein würde? Und die kleine Mieze konnte ja auch über die Veranda hinaus, es dürfte also kein großes Unglück passieren. (Er würde zur Sicherheit trotzdem stärkeres Putzmittel und Desinfektionsmittel einpacken, wenn er daran dachte.) Futternäpfe. Katzenfutter. Mit dem Mädchen würde er reden müssen, was sie brauchte. Ein wenig Kleidung vermutlich? Zumindest Unterwäsche und Strümpfe, da konnte Kai ihr einfach nicht sinnvoll etwas borgen! Er könnte natürlich seine Schwestern fragen, aber… nein. Lieber nicht. Außerdem waren Mädchen doch immer ein bisschen eigen mit ihren Klamotten, sein Gast würde sicher keine Leihgaben wollen. Sie konnten morgen gleich losziehen und etwas kaufen. Kais Terminplan war nicht allzu streng gefüllt im Moment und er hatte früh Feierabend – vorausgesetzt, der Auftrag lief reibungslos, aber er ging davon aus.   Es würde nicht viel anders sein als heute – Umzugshelfer war ein dankbarer Job. Anpacken konnte er. Autofahren ebenso, und es machte Spaß, vor allem, wenn er runter von den überfüllten Innenstadtstraßen kam. Mit älteren Menschen zu arbeiten hatte obendrein den charmanten Vorteil, dass sie in der Regel immer für Verpflegung sorgten und ein kleines Trinkgeld gaben, wenn man nett und freundlich zu ihnen war und sich auch auf ein Gespräch einließ – Was Kai immer gern tat. Nicht aus Trinkgeldgründen, sondern einfach, weil es Spaß machte. Es machte ihn glücklich, den alten Leutchen noch ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern bei der Arbeit.   Als er für den Tag Feierabend machte, den Umzug einer netten, alten Dame erledigt, hatte er zum Dank für seine Arbeit neben dem abgesprochenen Lohn noch eine Tüte mit Süßigkeiten bekommen. Er grinste zufrieden, während er auf einem Stück mit Anko gefülltem Mochi herumkaute. Ob sein Gast Süßigkeiten mochte? Wo er gerade darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass der Großteil seiner Essensvorräte süß war. Süßigkeiten und Cupnudeln, strenggenommen. Und ein paar Zutaten zum Kochen. Ob sie kochen konnte? So scheu, wie sie wirkte, würde sie sich aber kaum einfach in seiner Küche austoben. Er konnte froh sein, wenn sie überhaupt etwas gegessen hatte, wenn er heimkam. Er seufzte. Er würde wirklich aufpassen müssen, dass sie gut versorgt war. Durch den Abstecher zur Zoohandlung dauerte es wesentlich länger als erwartet, bis er zuhause war. Schlussendlich hatte er neben der Katzentoilette und dem Streu auch einen kleinen Kratzbaum gekauft. Und ein Katzenbett. Katzenfutter dazu, und er war gut genug bepackt, dass es beinahe an einen Stunt heranreichte, wie er die Haustür aufgeschlossen bekam. (Mit den Tüten und Päckchen sah er obendrein albern genug aus, dass einige Passanten auf dem Heimweg ihm skeptische Blicke zuwarfen.) „Bin zuhause!“, rief er in den Wohnungsflur, als er die Schuhe von den Füßen kickte und seine Einkäufe achtlos in einer Ecke auftürmte. Er bekam, ganz wie erwartet, keinerlei Antwort. Ein erster Weg ins Wohnzimmer zeigte eine offene Verandatür, also war sein Gast wohl wieder draußen. Auch von dem Kätzchen war keine Spur zu finden. Obwohl Kai lieber nachgesehen hätte, wie es den beiden ging, ließ er sie erst einmal in Ruhe. Er hatte warten wollen, bis das Mädchen selbst auf ihn zukam, nicht wahr? Sie hatte gemerkt, dass er heimkam, da war er sich sicher, und wenn sie etwas brauchte, würde sie auftauchen. Taten seine Brüder auch immer, wenn sie ihre Einigelphasen hatten.   Außerdem bauten sich Kratzbäume nicht von allein auf, auch wenn sie klein waren!   Er war gerade dabei, eine Schraube festzuziehen, die nicht halten wollte, als ein Maunzen ihn aus seiner Arbeit riss. Verdutzt hob er den Blick. Sein kleiner Gast war hereingekommen, das Kätzchen auf dem Arm. Sie trug immer noch die viel zu großen Kleider, die er ihr gestern gegeben hatte und sah herzzerreißend liebenswert dabei aus. Grinsend legte Kai sein Werkzeug beiseite, stützte sich auf die Hände auf und grinste zu ihr hinauf. „Hallo ihr zwei! Ist irgendetwas gewesen, während ich weg war?“ Sie schüttelte den Kopf, ging behutsam in die Hocke, um das Kätzchen auf den Boden zu setzen. Neugierig tappte der kleine schwarze Teufel zu Kai hinüber, um den Kratzbaum zu beschnuppern, der noch nicht halb fertig war. Von seiner ursprünglichen Scheue hatte das kleine Tier offensichtlich nichts mehr übrig. (Er hoffte, dass sein Frauchen bald folgen würde und aus sich heraus kam.) „Wie heißt die Kleine?“ Selbst wenn das Mädel nicht über sich reden mochte, über die Katze würde sie vielleicht reden. Und Kai kam sich selbst ein wenig dumm damit vor, das arme Tier immer nur Kätzchen zu rufen. Die einzige Antwort, die er bekam, war allerdings ein Schulterzucken, zusammen mit einem ratlosen Blick. „Kein Name?“, hakte er verdutzt nach. Sie nickte. Kai schüttelte lachend den Kopf. „Dann müssen wir uns einen überlegen! Na, hast du Ideen? …Ist das überhaupt ein Junge oder Mädchen?“   Sie wussten es beide nicht, offensichtlich. Einen beherzten Blick später war immerhin das Geschlecht so weit klar, dass sie einen Namen suchen konnten – Kai hatte dabei auch nur ein paar Kratzer davongetragen! Er fand, er hatte sich gut geschlagen, auch wenn das kleine Tier nun beleidigt mit dem Schwanz peitschend außerhalb seiner Reichweite auf dem Sofa saß und ihn anfunkelte. Zu Recht, fand Kai, trotzdem hatte er wenig Schuldgefühle. „Sei lieber froh, dass wir dir jetzt einen passenden Namen geben können!“, kommentierte er glucksend. Leider schien der kleinen Kater nicht ganz überzeugt davon und peitschte nur aufgebracht weiter. Oh je. Vielleicht würde er ihn später mit ein bisschen Milch bestechen müssen. Aber erstmal… Ein Name. Für eine Katze. Kai war nicht gut in solchen Dingen! Er hatte nie ein Haustier gehabt, woher sollte er also die Erfahrung darin nehmen? Aber hm. Eigentlich war es einfach! Schwarze Katze. Erinnerte ihn an den Transportservice, der entsprechendes Tierchen auf seinem Logo hatte. „Wie wäre es mit Yamato?“ Der kleine Kater hörte kurz das Peitschen auf, doch sein Blick blieb misstrauisch – zumindest sah es so aus. Kai lächelte ihm gewinnend zu. „Was meinst du, Katerchen?“ Katerchen hatte keine Meinung, denn er kehrte lieber wieder dazu zurück, Kai anzufunkeln und mit dem Schwanz zu peitschen. Kopfschüttelnd wandte er sich von dem Tier ab, sah kurz zu seiner neuen Mitbewohnerin auf. Doch auch sie schien nicht viel dazu zu sagen zu haben, hob nur nichtssagend die Schultern. Es war nicht ganz, was Kai sich von der Sache erhofft hatte, aber er wollte sie wirklich nicht bedrängen, also lächelte er sie nur aufmunternd an. „Überlegt es euch, okay?“ Sie nickte kurz, Kai griff sich sein Werkzeug und kehrte an seine Arbeit zurück. Erst den Kater versorgen, dann sein hübsches Frauchen. Es wurde wirklich Zeit fürs Abendessen, vor allem bedenkend, dass sie gestern sehr zurückhaltend dabei gewesen war. Wenn er wenigstens wüsste, was sie mochte! Aber das ließ sich noch herausfinden. Kai war guter Dinge, dass es eigentlich nur besser werden konnte mit der Zeit. Und er liebte es, so viel zu tun zu haben! Er fühlte sich um einiges fröhlicher, als wenn er sich nur mit seiner Feierabendlangeweile herumschlagen musste. Außerdem tat Gesellschaft gut. Ihm wurde jetzt erst so recht bewusst, dass er beinahe einsam gewesen war nach dem Auszug aus dem Großfamilienhaus.   „Yamato.“   Die leise Stimme erklang so völlig unerwartet, dass Kai einen langen Moment gar nicht wusste, wo sie herkam. Er blinzelte verwirrt, sah von dem Kratzbaum auf, den er gerade ordentlich aufgestellt hatte. War das–? Sein Gast hockte vor dem kleinen Kätzchen, kraulte behutsam seinen Kopf. Yamato – der Name war doch offensichtlich angenommen! – schnurrte behaglich unter den Streicheleinheiten. Kai war sich sicher, ein kleines Lächeln auf dem hübschen Gesicht zu sehen. Er lachte, halb amüsiert, halb überfordert.   Keine Mitbewohnerin. Das war ein Junge.     ***     Abends zusammen auf der Veranda zu sitzen, dem Regen beim Regnen zuzusehen, Yamato zu kraulen und Pudding zu essen wurde ein Ritual, von dem Kai sich nicht sicher war, wie gesund es war, das er aber trotzdem nicht mehr missen wollte. (Immerhin war es eine Mahlzeit mehr, die sein kleiner Gast zu sich nahm! Das war positiv, selbst wenn es nur Pudding war.) Er mochte es. Auch wenn sein Mitbewohner auch nach fünf Tagen wenig mit ihm sprach, es wurde besser, und er hatte den Eindruck, dass die friedlichen Abende durchaus ihren Beitrag dazu leisteten. Die meiste Zeit sprach er, ohne irgendeine Antwort zu bekommen. Erzählte, was er den Tag über erlebt hatte, stellte immer mal wieder Fragen zu seinem Gegenüber – wo er herkam, was ihn interessierte, was er mochte. Sie blieben unbeantwortet. Auch der Witz, dass er seinen Namen doch brauchte, um ihn aufs Klingelschild zu schreiben, wurde konsequent ausgeschwiegen. Hin und wieder kam eine Reaktion, kaum mehr als ein vager Laut, aber es reichte, um Kai nur dazu zu ermutigen, weiter und weiter zu erzählen, was ihm einfiel. Yamatos tapsige Pfötchen rissen ihn aus seinen Gedanken, als der kleine Kater ungelenk versuchte, auf seinen Schoß zu klettern. Kai ließ ihn; das letzte Mal, als er hatte helfen wollen, hatte Yamato es ihm mit einem bekrallten Schlag auf den Handrücken gedankt. Letztlich schaffte der Kater es sogar, ohne seine Hose ganz zu zerkratzen. Schmunzelnd begann er, durch das weiche Fell zu streicheln, während er weiter hinaus auf den Regen starrte. Langsam war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er nicht schon vergessen hatte, wie ein blauer Himmel aussah. „Ich bin froh, wenn die Sonne wiederkommt. Es ist so– es ist schon fast Sommer! Da muss die Sonne doch einfach scheinen!“   „Ich mag Regen.“   Kai sah zu seinem Gesprächspartner hinüber, verblüfft, überhaupt eine Antwort zu bekommen. Auf dem hübschen Gesicht zeichnete sich die leiseste Spur eines Lächelns ab, etwas, das Kai nur noch verblüffter zurückließ, und einen langen Moment starrte er nur, unfähig, wegzusehen. Als er den Blick doch wieder losriss, lächelte er selbst, und sein Herzschlag hatte sich beschleunigt über das seltsame Triumphgefühl, das er gerade empfand. „Tatsächlich?“ Er selbst hatte nichts gegen den Regen. Er hatte aber auch nicht viel dafür, war eindeutig eher der Typ für Sonnenschein und blauen Himmel. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Junge bedächtig nickte. Es folgte Stille auf die Bewegung hin. Ob Kai das Thema wechseln sollte? Sehr zu seinem Erstaunen aber sprach der kleine Kerl schließlich doch weiter. „Ich mag, wie es klingt. Ich mag den Geruch. Regen… riecht überall anders. In der Stadt. Im Wald. In den Bergen. Und in verschiedenen Städten ist es auch unterschiedlich.“ Er hielt inne, legte den Kopf leicht zur Seite. „Tokyo riecht anders als zuhause. Zuhause riecht anders als in Übersee.“ „Übersee?“ „Ich war dort. Als Kind. Der Regen war beruhigend. Der Klang ist gleich, egal, wo man ist. Und es macht die Welt schöner, wenn alles so gedämpft vom Regen ist…“ Kai lauschte, sprachlos, betrachtete sein Gegenüber mit ungläubigem Staunen. So viel an einem Stück hatte er bisher noch nicht gesprochen! Und dabei so viel von sich erzählt. Kai speicherte jede einzelne Information für die Zukunft ab. Er mochte nicht ganz nachvollziehen können, was der Junge ihm sagen wollte, aber es war einerlei; darum ging es gar nicht. Was zählte, war der simple Umstand, dass er freiwillig mit Kai sprach, dass er ihm etwas anvertraute, das privat war, völlig ohne Zwang. Selbst wenn es eine Banalität sein mochte, Kai fand es unglaublich wertvoll und eindeutig einen ersten Schritt in die Richtung, die er gern einschlagen wollte. Er lächelte, während sein Blick wieder hinaus in den Regen wanderte, in dessen Prasseln die leise Stimme seines Gasts beinahe unterging, wenn er sprach. Aber es war ein hübscher Klang, wie sich beides vermischte. Vielleicht konnte Kai dem Regen doch etwas Positives abgewinnen. „Es hat wirklich etwas für sich.“   Sie verfielen wieder in friedliches Schweigen. Es war längst dunkel geworden, und Kai war sich sicher, dass sein neuer Mitbewohner bald ins Bett gehen würde. Inzwischen war er selbst doch wieder ins Schlafzimmer umgezogen, nachdem ihm bewusst geworden war, dass er da kein Mädchen vor sich hatte. Natürlich hatte er vorher erfragt, ob es überhaupt in Ordnung sei. Seine Antwort war ein beinahe verwirrtes Nicken gewesen. Es schien den Jungen wirklich nicht zu stören; er wachte nicht einmal von Kais Wecker auf, so tief schlief er. Wahrscheinlich könnte Kai eine Party im Schlafzimmer feiern und es würde ihn trotzdem nicht stören. Nicht, dass er so etwas je tun würde! In jedem Fall war es beruhigend, dass er einen tiefen Schlaf hatte und nicht von Kais morgendlichem Hantier belästigt wurde. Wäre es nötig, Kai könnte ihn ja trotzdem aus dem Bett scheuchen – er hatte Übung darin, Schlafmützen aufzuwecken. Aber wozu? Früher oder später würden sich wohl ein paar Dinge ändern müssen, aber für den Moment war Kai zufrieden damit, dem Jungen einen sicheren Rückzugsort bieten zu können, bis er wieder bereit war, sich der Welt zu stellen. Nachdenklich spielte er mit dem leeren Puddingbecher, der neben ihm stand. Yamato schlief inzwischen, zumindest ging Kai davon aus, denn er regte sich keinen Millimeter mehr und hatte auch das Schnurren wieder eingestellt. Wahrscheinlich würde er sitzen bleiben, bis der Kater wieder aufstand – was er spätestens dann tun würde, wenn sein Herrchen sich erhob. Yamato war total auf den Jungen gepolt, obwohl sie sich gar nicht so lange kennen konnten.   Kai konnte es nachvollziehen. Es war die eine Sache, in der der kleine Kater ihm viel zu ähnlich war.     Er grinste verlegen von dem Gedanken, strich Yamato behutsam über den Kopf. Das Tierchen regte sich gar nicht. Eingeschlafen, eindeutig. Wir sind Idioten, huh? Wissen gar nichts über ihn und trotzdem… Kai hatte ihn längst adoptiert. Er war immer schon emotional viel zu spontan gewesen, viel zu schnell darin, sich auf Menschen einzulassen, die er gar nicht kannte, weil ein erster Impuls in ihm es einfach wollte.   Er fühlte sich, als wäre er wieder zehn Jahre alt.   „Rui.“   „Eh?“ Völlig aus seinen Gedanken gerissen sah Kai verwirrt zu dem Jungen hinüber. Es überraschte ihn, seinem Blick zu begegnen. Für einen kurzen Augenblick setzte sein Herzschlag aus, während er die hübschen, aber neutral nichtssagenden Augen betrachtete. So sehr Kai es versuchte, er schaffte es nicht, in seinem Blick zu lesen. „Rui“, wiederholte er noch einmal. „Rui“, echote Kai. Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. Rui, wiederholte er still in Gedanken, und langsam fing der Name an, zu dem Gesicht zu gehören, das ihm gegenüber war, zu dem nichtssagenden Blick, der ihn weiter musterte, als würde er auf etwas warten. Fünf Tage für einen Namen. Wie lange für sein Leben? Sein Alter? Sein Lieblingsessen? Seine Gedanken und Wünsche? Kai hätte am liebsten alles auf einmal erfahren, doch gleichzeitig war er jetzt schon überglücklich. Und es war nicht, als wüsste er gar nichts! Er wusste, dass er Pudding mochte, zumindest orientiert daran, wie bedenklich schnell seine Vorräte neuerdings schwanden. Er kannte seine Kleidergröße, hatte er sie doch schon gebraucht, um ein paar neue Sachen zu kaufen, damit der arme Kerl nicht weiter in übergroßen Jogginghosen und Shirts herumlaufen musste, die ihm über die Schulter rutschten. Er wusste, dass er als Kind in Übersee gewesen war, und er wusste, dass er Regen mochte und gern Zeit damit zu verbringen schien, besagtem Regen von der Veranda aus beim Fallen zuzusehen. (Kai wollte ihm ein Sitzkissen besorgen, damit er es bequemer hatte.) Er kannte seinen Namen.   „Rui.“   Kai strahlte, als der Junge augenblicklich reagierte, den Kopf fragend schieflegte. Sein Herzschlag übertönte selbst das Trommeln des Regens, während sie da auf der Veranda saßen, Yamato auf seinem Schoß, und nach fünf langen, einseitigen Tagen hatte Kai zum ersten Mal das Gefühl, dass sie eine beidseitige Beziehung haben konnten, irgendwann. Freunde sein. „Kai?“ Es war das erste Mal, dass er Kai direkt ansprach. Vielleicht war es gar nicht irgendwann, sondern eher bald.   „Schön, dich kennen zu lernen, Rui.“ I.II Question Mark ------------------ Mit dem Sitzkissen sah die Veranda zum ersten Mal, seit Kai eingezogen war, wirklich benutzt aus. Es war leuchtend blau gegen den regengrauen Alltag; eine Farbe, die Kai an das Meer erinnerte und den Sommer, der bald kommen würde. Er legte es morgens nach einem Einkaufstrip auf Ruis angestammten Sitzplatz. Sein Mitbewohner schlief noch, wie es bisher fast immer der Fall gewesen war, wenn Kai vor dem Vormittag aus dem Haus musste. Seit gestern erforderte sein Job ihn erst nachmittags; es gefiel ihm, bedeutete es doch, dass die Zeit wenigstens für ein gemeinsames Frühstück reichen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte – nach bisheriger Erfahrung würde Rui bald aufwachen. Aber eigentlich hatte Kai keine Lust, noch zu warten. Das Frühstück war fertig. Yamato gefüttert. Die Hausarbeit erledigt. Eingekauft. Nicht, dass das allgemein viel zu tun gewesen wäre, aber jetzt fühlte er sich untätig und unruhig. Ob Rui ihm böse wäre, geweckt zu werden? Es war nicht mehr früh. Eigentlich gab es keinen Grund, noch im Bett zu liegen!   Kai beschloss, dass ein Versuch nicht schaden konnte. Ganz, wie er es erwartet hatte, schlief Rui noch tief und fest. Er lächelte, als er sich vorsichtig auf der Bettkante niederließ. Rui zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Wie kann man nur so tief schlafen?“ Aber das hatte er sich schon oft in seinem Leben gefragt! Einige seiner Geschwister waren auch unglaublich schlimm. Die Erinnerung an vergangene Weckaktionen ging schnell verloren, abgelenkt von dem Jungen auf seinem Bett. Ganz langsam streckte Kai eine Hand nach ihm aus, berührte nur flüchtig eine schlafwarme Wange. Ein paar Tage nur, aber trotzdem wollte er Rui nicht mehr aus seinem Leben wegdenken. Die gemeinsamen Abende auf der Veranda. Die Gespräche, die immer einfach eher einseitig blieben. Die leise Stimme, die im Regenprasseln beinahe unterging… Kais Mundwinkel zuckten, sein Lächeln wurde breiter, seine Finger malten behutsam die Konturen des hübschen Gesichts nach. Du bist hoffnungslos!, hatte seine kleine Schwester Nagi ihm einmal schnaufend verkündet, als er in einem Anfall von Wehmut von einer alten, kaum verblassten Kindheitserinnerung erzählt hatte. Gerade fühlte er sich mindestens genauso hoffnungslos.   Rui zog die Nase im Schlaf kraus, eine jähe, unerwartete Bewegung, die Kai völlig innehalten ließ. Seinen Wimpern zuckten, er zog die Augenbrauen einen Augenblick zusammen, ehe sein Gesicht sich wieder entspannte. Eine Bewegung später lag Ruis Wange auf der Hand, die ihn eben noch gestreichelt hatte. Kai entkam ein leises, hilfloses Lachen, sein Herz krampfte, und sein Gesicht fühlte sich verräterisch heiß an. Nach Sonnenbrand. „Und wie soll ich jetzt noch wieder aufstehen…?“ Klar könnte er. Sogar sehr einfach, es war nicht, als würde Ruis Kopf so viel wiegen, aber… wie könnte er jetzt noch aufstehen wollen? Hoffnungslos, echote die Stimme seiner Schwester in seinem Kopf noch einmal. Er sah ihr tadelndes Gesicht vor sich, konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, wie sie die Augen verdrehen würde, wüsste sie hiervon. Sein Daumen streichelte über warme, glatte Haut, er lehnte sich vor, bis seine Nasenspitze auf schlafzauses Haar traf. Ruis Schopf roch nach Kais Shampoo, ein bisschen zu herb, ein bisschen zu erwachsen, ein bisschen zu unpassend zu dem zarten Geschöpf. Er machte sich eine mentale Notiz, Rui eigene Duschsachen zu kaufen, als er sich wieder aufrichtete, jetzt noch mehr als vorher verlegen und rot um die Nase.   „…Kai?“   Rui war schön, wenn er schlief. Rui, wenn er gerade aufwachte, war atemberaubend. Kai öffnete den Mund, schloss ihn wieder, suchte nach Worten, ohne auch nur eine kohärente Silbe in seinem Kopf zu finden. Rui blinzelte, lange Wimpern über Augen, die noch mehr geschlossen als geöffnet waren. Blinzelte noch einmal, ließ die Augen dann wieder fast vollständig zufallen, so dass Kai unter den langen Wimpern nicht einmal mehr seine Augenfarbe so recht ausmachen konnte. Eine zierliche Hand strich wirres Haar aus seinem Gesicht, rieb über müde Augen, die danach immerhin ein bisschen weiter offen bleiben wollten. Nicht ganz wach und nicht ganz schlafend wirkte Rui so verletzlich, dass Kai sofort wieder den Drang bekam, ihn vor der gesamten Welt da draußen zu beschützen – und sich selbst. Der Gedanke half, ihn aus seiner Starre zu reißen. Vorsichtig zog er seine Hand zurück, grinste verlegen, liebevoll auf den Jungen hinunter, der nur verwirrt zurückblinzelte. Er setzte sich träge und viel zu langsam auf, schüttelte den Kopf. Das Haar, das er eben noch aus dem Gesicht gestrichen hatte, fiel zurück. Reflexartig strich Kai die wirren Strähnen wieder weg. Sein Dank war ein sichtbar dankbarer Blick, der ihn noch breiter grinsen ließ. „Guten Morgen, Rui.“ „...morgen.“ Er sah wirklich noch unglaublich müde aus. Träge rieb er sich  noch einmal das Gesicht, sah dann irritiert zu Kai auf, den Kopf fragend schiefgelegt. „Du bist noch da?“ – „Hm-hm! Bin heute wieder erst nachmittags raus. Frühstück ist übrigens fertig.“   Für Rui schien das kein wirklich gutes Argument zu sein, eher aus den Federn zu kommen. Er aß, auch wenn Kai nicht da war und darauf achtete, dass er es tat, aber es schien Kai nie so, dass er auch nur ansatzweise Portionen zu sich nahm, die für einen gesunden Jungen seines Alters auch angemessen waren. Zumindest war das Kais Meinung. Als er es Rui gegenüber beim vorgestrigen Abendessen erwähnt hatte, hatte der Junge ihn ohne jede Gemütsregung angeschaut und verkündet, dass das gar nicht stimme – Kai würde einfach nur viel zu viel essen. Vielleicht stimmte es sogar. Er war trotzdem der Meinung, dass es einen Mittelweg zwischen viel zu viel und viel zu wenig geben musste! Andererseits wirkte Rui gesund, und war das nicht die Hauptsache?   Er schüttelte den Kopf, schob die Gedanken, die gerade in eine viel zu schwere Richtung abzudriften drohten, konsequent beiseite und stupste Rui lieber sanft gegen die Stirn, um sich abzulenken. „Los, hoch mit dir.“   Er wusste, dass er vor den Gedanken nicht davonlaufen konnte, und dass er sich früher oder später mit allem auseinandersetzen musste, was Ruis Hiersein bedeutete, aber nicht jetzt, nicht an diesem Morgen, nicht wenn Rui ihn so selbstverständlich vertrauensvoll ansah, wo er noch vor wenigen Tagen kein Wort hatte mit ihm wechseln wollen.     ***     „Ich weiß, ich weiß.“ Kai seufzte. Yamato sah ihn an und miaute noch einmal, stieß den kleinen Katzenkopf gegen seine Hand, die unverschämterweise das Kraulen aufgehört hatte. Mit einem weiteren Seufzen kehrte er dazu zurück, durch das weiche Fell zu streicheln, während er nachdenklich in die Ferne starrte. Hinaus auf die Veranda, zu Rui auf seinem Sitzkissen, dessen eigener Blick wer wusste wohin schaute. „Ich muss mit ihm reden.“ Es war mehr als eine Woche, dass Rui jetzt bei ihm war. Es störte Kai nicht. Er hatte keinen Grund, etwas daran ändern zu wollen. Die Wohnung war groß genug für zwei. Er verdiente genug, um sie beide zu ernähren, und auch wenn Rui erst einmal auch viele größere Ausgaben bedeutete, weil er Kleidung und solche Dinge brauchte, machte Kai sich keine großen Sorgen; seine Eltern hatten ihm das Geld überlassen, dass sie eigentlich für sein potentielles Studium gespart hatten. Zwar war schon für Wohnungseinrichtung und Führerschein einiges draufgegangen, aber er hatte genug, dass er sich auf dieser Ebene keinerlei Gedanken machte für die nächste, längere Zeit. Aber all die anderen Dinge… Machte Ruis Familie sich nicht furchtbare Sorgen? Was war mit seiner Schule? Er sah nicht aus, als wäre er alt genug, um nicht mehr zur Schule zu gehen. Wie alt war er überhaupt? Fünfzehn? Sechzehn? Yamatos Maunzen riss ihn aus seinem Grübeln. Der Blick des kleinen Katers sah seltsam vorwurfsvoll aus – jetzt bring es hinter dich! Du machst es schlimmer, als es ist. „Ich weiiiiiß…“   Yamato sah nicht überzeugt aus. Kai fühlte sich so furchtbar getadelt von dem kleinen Tier, dass er mit einem unglücklichen Ächzen wieder auf die Beine kam und kapitulierte. „Du hast ja Recht, Yamato.“ Er sah selbstzufrieden aus, der kleine Rechthaber. Kai schmunzelte liebevoll, lehnte sich noch für ein paar letzte Streicheleinheiten wieder zu ihm hinunter. „Erinnere mich daran, dir keine Leckerchen mehr zu geben, du Frechdachs.“ Die einzige Antwort, die er bekam, war ein Maunzen zu einem so süffisanten Katzenblick, als wüsste Yamato ganz genau, dass Kai das maximal einen Tag durchziehen würde. (Wahrscheinlich wusste er es wirklich. Verdammter Kater.)   Rui reagierte gar nicht auf sein Herantreten, reagierte nicht, als Kai sich neben ihm auf der Veranda niederließ. Einen langen Moment sah er den Jungen einfach nur an, studierte das hübsche Profil, das dunkle Haar, das von verirrten Windböen immer wieder ein wenig aufgescheucht wurde. Er presste die Lippen zusammen, folgte Ruis Blick hinaus in die graue Ferne. Es regnete, ein feiner, kaum sichtbarer Nieselregen, der eine dünne Schicht Feuchtigkeit hinterließ. Er war so leise, dass man ihn kaum hörte. Heute hätte Kai stärkeren Regen gewollt. (Er hätte sich dahinter verstecken können.) Er atmete tief durch, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Rui. Hey, hör mal.“ Rui hörte. Er regte sich kaum, sah auch nicht zu Kai hinüber, aber seine Haltung veränderte sich kaum merklich, ein unauffälliges Zeichen, das Kai inzwischen längst als Aufmerksamkeit zu deuten gelernt hatte. Er lächelte schief, warf einen kurzen Blick zu ihm hinüber. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Wo wieder aufhören. Was überhaupt sagen. „Wie alt bist du?“ Es war nicht das, was Kai eigentlich hatte sagen wollen. Willst du nicht zurück zu deinen Eltern? Gehst du noch zur Schule? Was wirst du aus deiner Zukunft machen? Aber es war ein Anfang. „Sechzehn.“ „Also gehst du zur High School?“ „…nein.“   „Nein?“ Kai hob die Augenbrauen, sah verblüfft zu Rui hinüber. Gut, dass er gerade nicht ging, das sah er, aber das Schuljahr hatte im April begonnen, entsprechend war er doch wohl zur Schule gegangen! „Nein“, wiederholte Rui noch einmal, für seine Verhältnisse nachdrücklich. Er zog die Schultern hoch. Kai sah, dass ihm das Thema unangenehm war, und er wollte es fallen lassen, aber er konnte nicht. Er konnte sich nicht um Ruis Wohlergehen kümmern, wenn er überhaupt nichts über den Jungen wusste! „Wie kommt’s?“, hakte er also nach, versuchte, nicht zu drängend dabei zu klingen, nicht zu aufdringlich zu sein, nicht zu sehr das Gefühl zu geben, dass er auf einer Antwort beharren würde. Dass es Rui trotzdem unzufrieden stimmte, sah er augenblicklich. „Ich hätte auf eine Musikschule im Ausland gehen sollen. Das Schuljahr startet später als hier.“ Kurz herrschte Stille, in der Kai nicht wusste, was er sagen sollte. „Wahrscheinlich glauben meine Eltern, ich bin dort.“ Er wusste nicht, ob in Ruis teilnahmslosem Tonfall eher versteckte Bitterkeit oder Hoffnung steckte. „Glaubst du nicht, sie suchen dich?“ Die Antwort war ein Kopfschütteln. Es wäre… einfach. Kai sah hinunter auf die Verandadielen. Er fühlte sich schuldig, irgendwie. Eigentlich sollte er Rui drängen, zurückzugehen, nicht wahr? Er sollte ihn ermutigen, Kontakt zu seinen Eltern aufzunehmen, und das wäre vermutlich viel besser für ihn, aber gleichzeitig sträubte sich alles in Kai dagegen. Eine Hand landete auf seinem Knie. Als er aufblickte, sah Rui ihn eindringlich an, so viel Intensität in seinem Blick, wie Kai sie noch nie gesehen hatte. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, um die Situation abzuschwächen, aber Rui kam ihm zuvor – und ließ ihn damit völlig sprachlos zurück:   „Ich will nicht zurück.“   Das will ich auch nicht. Kai schluckte. Die kleine Hand auf seinem Bein brannte, Ruis kühle Finger trotz aller Kühle viel zu heiß durch den Stoff seiner Hose. Er verstand nicht, was in Rui vor sich ging, seine ganze Vergangenheit war ein Rätsel, aber Kai konnte sich nicht dazu bringen, es als ernsthafte Sorge zu betrachten. Rui war da. Das war alles, was er wollte. Er schluckte, leckte sich über viel zu trockene Lippen. „Bist du glücklich?“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, Blut rauschte in seinen Ohren, so laut, dass er sich unsicher war, ob er die Antwort überhaupt hören würde – wenn denn eine kam. Gerade sah Rui aus, als hätte ihm der unverhoffte Themenwechsel die Sprache verschlagen. Er sah Kai einen langen Moment noch an, dann wandte er den Blick zurück hinaus in die Ferne, immer noch schweigend. Kai fühlte sich dumm. Er lehnte sich erschöpft zurück, stützte sich auf seine Hände auf und starrte hinauf zum Verandadach. Was hatte er auch erwartet? Dass Rui eine ernsthafte Antwort gab? Bestätigen würde, dass ja, er glücklich war, damit Kai einen Grund hatte, vor sich selbst zu rechtfertigen, wieso er Herz über Verstand gewinnen ließ? Die Stille wurde erdrückend, je länger er dasaß und wartete. Sie dröhnte in den Ohren, drückte auf den Magen, ließ sein Herz krampfen. Er sah immer wieder zu Rui hinüber, doch an seiner Haltung änderte sich nichts, an seinem Blick änderte sich nichts. Wo auch immer er gerade in Gedanken war, Kai wollte bei ihm sein. Ihn verstehen lernen. Irgendetwas anderes, als seinem Schweigen ausgesetzt sein.   „Ich will dich nicht rauswerfen.“ Er redete, nur um die Stille zu übertünchen, wo der Nieselregen dafür schon nicht half. „Ich mache mir Sorgen. Du bist hier, und ich habe keine Ahnung, wer du eigentlich bist. Wo du herkommst, oder warum du weggelaufen bist. Mich stört es nicht. Ich hab dich gern um mich. Ich kümmere mich gern um dich. Geldverdienen ist auch kein Problem, das kann ich locker für zwei! …und Yamato, natürlich.“ Er lachte leise auf, überfordert. Verfiel doch wieder in Schweigen. Der Regen wurde stärker, hörbarer. „Aber… bist du glücklich so? Ich will dich nicht in meiner Wohnung einsperren oder so etwas! Wenn du irgendetwas brauchst, dann sag es. Wir finden… was auch immer. Ne Schule für dich. Oder… ich weiß nicht. In deinem Tempo! Es ist okay, wenn du gerade nichts willst. Jeder hat sein eigenes Tempo, und manchmal, da braucht man das einfach. Stehen bleiben. Abwarten. Sehen, wohin man will. Es ist okay, wenn du nicht so funktionierst, wie es vielleicht von dir erwartet wird. Das kommt. Das Leben ist noch da, wenn du bereit bist, dich ihm zu stellen. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst. Was du möchtest.“ Er verzog hilflos das Gesicht, grinste schief. Sein Ausblick verschwand hinter einem Schleier aus Regen, und es war seltsam beruhigend, dass die ganze Welt gerade so unwirklich erschien. Die ganze Situation war unwirklich… Wie ein Traum, einer von der Sorte, die man nicht träumen wollte, die nur unangenehme Erinnerungen wachriefen und einen schweren, harten Klumpen im Magen hinterließen, wenn man wach wurde und sich verloren in seinem eigenen Bett fühlte. „Es wäre schade, wenn du in ein paar Jahren feststellst, dass die dümmste Idee, die du im Leben hattest, war, diesem dummen Kerl nach Hause zu folgen.“   Ruis Hand lag immer noch auf seinem Bein. Kai merkte es erst, als seine Finger zuckten, für einen Moment fester zudrückten. Als wollte er sich festhalten. Oder einfach nur auf seine Anwesenheit aufmerksam machen. Es überrumpelte Kai so sehr, dass er seinem ersten Impuls folgte und behutsam seine eigene Hand auf Ruis legte. Sein Gegenüber reagierte überhaupt nicht auf die Geste – aber er zog seine Hand auch nicht weg, was Kai als positives Zeichen verbuchte.   Wie lange sie so dasaßen, das konnte Kai nicht sagen. Irgendwann kam Yamato zu ihnen und rollte sich auf Ruis Schoß ein, während ihr Schweigen immer noch vom Regen übertönt wurde. Kai beobachtete die dicken Tropfen, die vom Verandadach fielen, um am Boden zu zerbersten. Im Gegensatz zum Regen war Ruis Stimme nur ein leises Flüstern, wie ein Windhauch. Kai hatte Mühe, ihr zu folgen, und gleichzeitig hätte es nichts Einfacheres geben können – es war so schnell zur Gewohnheit geworden, die leisen Laute aus allen Geräuschen herauszufiltern.   „Ich mag Kais Veranda. Der Regen klingt so schön.“   Für Kai war das Antwort genug. I.III Getting Closer -------------------- „Weck mich, bevor du gehst.“   Es war beim abendlichen Auf-der-Veranda-Sitzen gewesen, dass Rui völlig aus dem nichts heraus mit seiner Bitte angekommen war. Kai war völlig verblüfft gewesen, und er war immer noch völlig verblüfft, jetzt am Morgen, wo er wieder im Schlafzimmer stand, um zu tun, was Rui wollte. Er hatte Frühstück gemacht, hatte sich soweit fertig gemacht, dass er nachher einfach die Schuhe anziehen und aus dem Haus gehen konnte, und Yamato war auch versorgt. Rui schlief noch, was ihn wenig verwunderte, gemessen daran, dass es recht früh für Rui-Verhältnisse war. „Hey. Hoch mit dir. Du wolltest doch, dass ich dich wecke?“ Nicht, dass Rui sich wachreden ließ. Es half auch nicht, ihn zu schütteln, auch wenn Kai zugeben musste, dass sein Versuch eher halbherzig ausgefallen war. Er wollte ihn auch gar nicht schütteln. Decke wegziehen mochte helfen, aber das brachte er genauso wenig übers Herz, also saß er nun eher ratlos auf der Bettkante und zupfte mit einem schiefen, liebevollen Grinsen verirrte Haarsträhnen zurecht. „Was mach ich denn mit dir…? Ich kann nicht jeden Morgen minutenlang hier hocken, bis du hochkommst, Schlafmütze.“ Also, strenggenommen könnte er wohl doch. Wenn er noch ein bisschen früher aufstand? Es war auch nicht, dass es ihn störte! Er schüttelte den Kopf, amüsiert über sich selbst. „Weißt du, so hübsch du bist, wach bist du mir trotzdem lieber.“   Rui ignorierte ihn. Kai war ehrlich gesagt insgeheim sehr froh darum. Seine Worte waren nicht für Ruis Ohren bestimmt! (Er wollte nicht wissen, wie er reagieren würde.) Er streichelte dem Jungen sanft übers Gesicht, fuhr den geraden Nasenrücken mit einer Fingerspitze nach. Rui zog die Nase kraus, brachte ihn damit zu einem leisen Lachen, das letztlich auch kein bisschen aufweckend war. Er brauchte wirklich eine Taktik. Beim letzten Mal war Rui einfach aufgewacht. Vermutlich, weil er so gut wie ausgeschlafen gewesen war? Beim letzten Mal war es aber auch Stunden später gewesen, also war es zweifelhaft, dass Kai allzu weit damit kam, hier auf ein Wunder zu warten. Seine Fingerspitze blieb an Ruis Mundwinkel hängen und sein Grinsen wurde noch viel schiefer. In Märchen ist so etwas viel einfacher! Andererseits war Kai kein Märchenprinz, also war er ganz froh darum, nicht in einem Märchen zu stecken. Er mochte seine Realität, wie sie war.   Es dauerte mehrere Minuten, bis Rui doch reagierte, bis seine Wimpern zu zucken begannen und er sich das erste Mal aus dem Schlaf regte. Kai lächelte, während Ruis blinzelnder, desorientierter Blick sich noch zu fokussieren versuchte, und er gab sich alle Mühe, zu ignorieren, wie schmerzhaft sein Herz krampfte. Wie gern er sich heruntergebeugt hätte, um dieses verwirrte Stirnrunzeln wegzuküssen. Er tat es nicht. Er strich Rui lediglich noch einmal das zerzauste Haar aus der Stirn, als er sich aufgesetzt hatte. „Na, bist du wach?“ Ruis Nicken sah eher so aus, als wäre er das Gegenteil von wach, aber er schwang tatsächlich die Beine aus dem Bett, kaum, dass Kai aufgestanden war und ihm damit den nötigen Platz machte. Er gähnte, zog und zupfte an seinem Shirt, um es halbwegs in Form zu bringen. Obwohl er längst genug eigene Kleidung besaß, hatte er ein Paar Shorts und ein Shirt von Kai zum Schlafen behalten. Einfach so. „Es ist bequem“ war die Erklärung dazu gewesen.   Es war nicht, als hätte Kai einen Grund, es ihm zu verbieten.   Mit einem schlurfenden Rui an seiner Seite kehrte in die Küche zurück, wo das Frühstück längst auf eine lauwarme Temperatur heruntergekühlt war. Es passierte ziemlich oft in letzter Zeit, wobei Kai auch noch nie talentiert darin gewesen war, sein Essen zu sich zu nehmen, wenn es noch die eigentlich angedachte Esstemperatur hatte. „Du siehst echt müde aus“, kommentierte er amüsiert, als sie schließlich saßen und er angefangen hatte, sein Frühstück in gewohntem Tempo in sich hineinzuschaufeln; zwischen zwei Bissen war trotzdem genug Zeit zum Reden. Rui ihm gegenüber war bedeutend langsamer, seine Bewegungen sogar noch träger als sonst. Er hob die Schultern. „Geh gleich wieder schlafen.“ Kai versteckte sein viel zu breites Grinsen hinter seinem Wasserglas und ertränkte seine überschwängliche Freude in einem viel zu großen Schluck.   Dass Rui aufstand, eigentlich nur, um ihn zu verabschieden, war etwas, dass er vor ein paar Tagen noch ehrlich nicht für möglich gehalten hätte.   Trotz aller Sorge, die er vor dem Gespräch gehabt hatte, das sie vor zwei Tagen geführt hatten, schien es nicht halb so katastrophale Folgen zu haben, wie er erwartet hatte. Rui hatte das Vertrauen in ihn nicht verloren. Wahrscheinlich tat es Rui sogar selbst gut, zu wissen, woran er war, statt sich ewig mit der Ungewissheit herumschlagen zu müssen, wie es für ihn weiterging. Ob Kai ihn nicht doch wieder vor die Tür setzte. Kai hätte es niemals getan. Aber es war wohl wirklich gut, das auch einmal gesagt zu haben. Rui wirkte entspannter. Aufgeschlossener. Als wäre er jetzt sicher genug, dass Kai ihn nicht wieder wegschicken würde, dass er anfangen konnte, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. „Was machst du heute?“ „Möbel aufbauen. Ist nicht weit von hier, theoretisch bin ich also nicht allzu lange weg. Wobei ich noch einkaufen würde…“ „Ich kann einkaufen gehen.“ „Sicher?“ Rui sah nicht sicher aus. Kai war sich auch nicht sicher, bedenkend, dass Rui die Gegend kaum kannte. Er sah ein unzufriedenes Stirnrunzeln auf dem hübschen Gesicht und verzog gleich selbst das Gesicht zu einer Grimasse – nur um dann gleich wieder aufmunternd zu lächeln. „Hier, wie wäre es? Ich komm heut Nachmittag erst heim, dann gehen wir zusammen einkaufen? Wenn du mal etwas brauchst, weißt du dann, wo du’s kaufen kannst.“   Das Stirnrunzeln verschwand. Ein kleiner Teil von Kai war fast enttäuscht darüber; er hätte ausprobieren wollen, ob sich Ruis Unmut wegküssen ließ. (Ein großer Teil von ihm war sehr dankbar darüber, dass seine Selbstkontrolle nicht unnötig belastet wurde.) Er lächelte letztlich zufrieden, wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Frühstück zu. Sie verfielen in friedliches Schweigen.   „Kai, musst du nicht los?“   Ein Blick auf die Uhr verriet ihm schnell, er hätte schon vor zehn Minuten losgemusst.     ***     Rui hatte den Abwasch gemacht, als er heimkam. Zumindest hatte Rui es versucht. Kai gab sich wirklich alle Mühe, aber er schaffte es nicht, das Lachen zu unterdrücken, das in ihm hochkam, als er das ungelenk gestapelte Geschirr auf dem Abtropfhalter sah, das – nun ja. Nicht sauber war. Weit entfernt von sauber war, strenggenommen. Selbst ohne näher hinzusehen entdeckte er noch festgetrockene Reiskrümel und einen Fleck, der aussah wie trockene Sojasauce, die sich nicht ganz wegspülen lassen wollte. Es war liebenswert. Strahlend wandte er sich zu Rui um. Rui, der alles andere als glücklich aussah, sondern im Gegenteil eher offenkundig beleidigt und verärgert. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und funkelte mit einer Intensität, die Kai bei ihm bisher nicht kannte. Er verstand es sogar, eigentlich. Rui hatte sicher nicht Unrecht damit, böse zu sein über sein Lachen, immerhin, ja, wirkte es ganz schön taktlos. Aber er konnte einfach nicht anders! Es war doch auch nicht im Geringsten böse gemeint. Oder auslachend. Er war glücklich. Irgendwie musste er seinem Glück eben Ventil lassen. „Danke, Rui.“ Ruis Antwort war ein sehr leises, sehr kaltes, aber für Kai gut hörbares „Hmpf“, dann wandte der Junge sich ab und stapfte beinahe energisch aus dem Raum. Es war fast überraschend, dass er nicht die Tür hinter sich zuknallte. Kai seufzte hilflos, kratzte sich am Hinterkopf. „Ich glaube“, begann er, während er in die Hocke ging, um Yamato zu kraulen, der quengelnd um seine Beine strich, „dass ich ihn jetzt böse gemacht habe. Glaubst du, Rui verzeiht mir noch einmal?“ Der kleine Kater behielt für sich, was er dachte. Es war okay. Kai war eigentlich recht optimistisch, dass Rui ihn jetzt nicht ewig hassen würde. Er seufzte noch einmal leise, erhob sich dann. Yamato tappte aus der Küche, miauend, und höchstwahrscheinlich mit dem Ziel, seinem Herrchen Gesellschaft zu leisten. Kai hätte es auch gern getan, aber gerade standen noch ein paar andere Dinge an. Und er wollte Rui die Gelegenheit geben, sich auszuärgern, bevor er sich entschuldigte.   Im Laufe der nächsten zwei Tage lernte er, dass es mit einer Entschuldigung nicht getan war.   Rui war sehr nachtragend.   Zuerst bemerkte er es gar nicht. Dass Rui am Morgen nicht aufwachen wollte trotz ihrer letzten Absprache, nahm er schlicht als Zeichen dafür, dass er einfach noch zu müde war, nicht als Signal von Beleidigung. Dass er Kai wieder ausschwieg, als sie am Abend gemeinsam auf der Veranda saßen, schien ebenfalls nicht wirklich unüblich. Rui war eben ein stiller Charakter, sollte er sich wirklich deshalb sorgen? Der zweite Tag, den Rui ihn konsequent ausschwieg, brachte dann langsam die Erkenntnis, dass der Junge immer noch verärgert sein musste. Es war keine hilfreiche Erkenntnis. Kais erster Reflex, nachzufragen, was das Problem war, wurde mit weiterem stoischen Schweigen und abweisender Miene beantwortet. Er seufzte resigniert, ein wenig überfordert. War Rui wirklich noch böse wegen dem Geschirr? Oder hatte er sich etwas anderes geleistet, das das sture Schweigen rechtfertigte? Er hatte sich entschuldigt. Was sollte er denn jetzt noch tun, um zu zeigen, dass es ihm leidtat? „Hey“, versuchte er es noch einmal. Keine Reaktion. Kein Signal dafür, dass Rui ihm überhaupt zuhören wollte. „Ich kann nichts ändern, wenn du mich nur ausschweigst?“ Nicht, dass Rui gerade danach wirkte, dass er Änderung wollte. Kai konnte so etwas nicht! Er kam aus einer Familie, in der grundlegend doch offen miteinander umgegangen wurde und Probleme auf den Tisch kamen, wenn sie auftauchten. Er war es gewöhnt, angemotzt und angefahren zu werden, und wenn es ganz schlimm war, dann auch mal angekreischt, aber angeschwiegen? War ihm neu. Und es war eindeutig eine Erfahrung, auf die er eigentlich dankend verzichten konnte. Wie ging man denn mit jemandem um, der einfach nur schweigend verärgert war? „Soll ich dich einfach in Ruhe lassen, bis es besser wird?“ Schweigen. Immer noch. „Es wieder gut machen?“ Keine Reaktion. Kein Wimpernzucken, gar nichts. Sollte er sich noch einmal entschuldigen? Er hatte es doch wirklich nicht böse gemeint!   „…es tut mir wirklich leid, dass ich dich verärgert habe, Rui. Entschuldige bitte.“ Es war offensichtlich auch nicht richtig. Kai schlug verzweifelt die Hände vor die Stirn, als Ruis einzige Reaktion war, schweigend aufzustehen und die Veranda zu verlassen. Er verließ seinen Lieblingsplatz, einfach nur, damit er von Kai wegkommen konnte, eine Tatsache, die schlimmer als eine Ohrfeige war.   Die Botschaft hätte kaum eindeutiger sein können.   Als Kai irgendwann selbst wieder in die Wohnung zurückkehrte, war Rui schon im Bett. Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob er nicht lieber auf dem Sofa schlafen wollte, um Rui nicht noch mehr Grund zum Ärgerlichsein zu geben, aber im Grunde war es Blödsinn; Rui würde seine Anwesenheit ohnehin verschlafen. „Ich hab’s verbockt“, verkündete er Yamato müde. Der Kater lag eingerollt in seiner liebsten Sofaecke und döste mehr, als dass er wach war. Aus trägen Katzenaugen linste er zu Kai hinüber, blinzelte. Ein Öhrchen zuckte. „Ich weiß ja, dass ich taktlos war, aber was soll ich jetzt machen?“ Er strich flüchtig über Yamatos schwarzen Kopf, kraulte ihn hinter den Ohren. Zumindest der Kater war ihm nicht böse, und das zufriedene Schnurren war nach der kalten Schulter der letzten Stunden wirklich Balsam für die Seele. Träge erhob das kleine Tier sich, tappte die paar Schritte zu Kai hinüber und kletterte üblich umständlich auf seinen Schoß. Ein paar Mal mehr als nötig um sich selbst gedreht fand Yamato wohl auch eine bequeme Position, um sich einzurollen. Kai lachte amüsiert, wenn auch immer noch ein bisschen unglücklich. „Wie gut, dass ich eh nicht schlafen gehen wollte.“ Nicht schlafen konnte? Er hatte wirklich ein unangenehm schlechtes Gewissen. Wenn er wenigstens wüsste, was Rui mochte… Vielleicht würde es ihn ein bisschen versöhnen. Aber weder kannte Kai seine Hobbies, noch solche banalen Dinge wie sein Lieblingsessen. Lieblingsfarbe. Lieblingsmusik. Musik. Das war ein Ansatz! Kai wusste zumindest, dass Rui in irgendeiner Form musikalisch veranlagt war, wo seine Eltern ihn auf eine musikorientierte Schule hatten schicken wollen. Wahrscheinlich mochte er Musik also grundlegend. Zumindest war es einen Versuch wert; Kai klammerte lieber an einem Strohhalm, als gar nichts zu tun, und allein der Gedanke, dass er etwas hatte, das mehr als Untätigkeit war, gab ihm neue Energie.   In einem Schrankfach unter dem Fernseher, der in letzter Zeit immer seltener lief, fand Kai einen großen Stapel CDs, die er zu lange nicht mehr gehört hatte, zusammen mit einem tragbaren CD-Player und einem Paar Kopfhörer. Er hatte keine Ahnung, was für Musik Rui mochte. Zum ersten Mal war er froh, dass er all die Geschenke, mit denen er nicht viel hatte anfangen können, doch behalten hatte, denn entsprechend groß war die Bandbreite bei seinen CDs. Behutsam bugsierte er den Stapel auf den Wohnzimmertisch, zusammen mit CD-Player und Kopfhörern. Sicher würde Rui etwas finden, das ihm gefallen würde. Nach einigem Überlegen beschloss er, keine Nachricht dabei zu hinterlassen und ließ den kleinen Haufen Krempel als schweigendes Friedensangebot einfach liegen, wie er lag.   Wo Worte nicht halfen, sollten eben Taten für ihn sprechen. (Kai fand ohnehin, in Taten sprach es sich oft leichter.)     ***     CD-Player und Kopfhörer wurden Ruis neue Begleiter. Es schmerzte, denn die Botschaft hinter den großen Kopfhörern auf den Ohren war sehr klar – ich will nicht mit dir reden. Aber trotzdem war Kai ein bisschen erleichtert. Rui war zumindest nicht so böse auf ihn, als dass er jede Geste ignorieren würde, und das war ein positives Zeichen. (Zumindest redete er es sich effektiv ein.) Es zehrte trotzdem an ihm. Er mochte es überhaupt nicht, und nachdem er einen ganzen Nachmittag und Abend damit zugebracht hatte, zuzusehen, wie Rui sich hinter der Musik versteckte, fühlte er sich unglaublich ausgelaugt und müde. Vielleicht lag es auch ein Stück weit mit daran, dass der Tag anstrengend gewesen war. Vielleicht lag es auch daran, dass ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, dass Tanabata vor der Tür stand, als er eine Gruppe Kinder hatte darüber reden hören, was sie auf ihre Tanzaku schreiben wollten.   Vielleicht war es alles auf einmal.   So, wie es war, stand er irgendwann in seinem Schlafzimmer, eigentlich, weil er schlafen gehen wollte, doch statt sich unter der Decke zu verkriechen, setzte er sich auf die Bettkante und sah auf Rui hinunter, der völlig ruhig und reglos schlief. Die Nacht war wolkenlos, der Mond hell genug, um silbriges Licht durchs Fenster zu werfen. Es war hell, auf diese unwirkliche, seltsam zweidimensionale Art, die Mondlicht mit sich brachte, alle Farbe von der nächtlichen Dunkelheit verschluckt. Es stand Rui. (Wahrscheinlich hätte ihm alles gestanden.) Er wagte es nicht, den schlafenden Jungen zu berühren, saß nur da, trommelte mit den Fingern am Bettgestell herum, zu unruhig, um ganz stillzuhalten. Er fühlte sich so hilflos! „Ich mag es nicht, hilflos zu sein“, gestand er leise. Der Dunkelheit, nicht Rui. Er würde es Rui auch nicht sagen wollen. Er sprach nicht gern über Schwäche, war viel lieber der Typ, bei dem andere ihre Schwäche abladen konnten. Er grinste unglücklich, mehr ein Verziehen der Mundwinkel als ein ehrliches Lächeln. Er fühlte sich wirklich wieder, als wäre er zehn Jahre alt.   Der furchtbare Teil vom zehn-Jahre-alt-Sein.   Er erinnerte sich viel zu gut. Krankenhaus und Desinfektionsmittel, ein kleines Mädchen in einem dieser furchtbar unpersönlichen Krankenhauskleider, das trotz allem Elend noch hatte lächeln können, als wolle es mit der Sonne konkurrieren. Er hatte sie geliebt. Auf eine naive, kindliche Art, aber er hatte sie geliebt, und er hatte geglaubt, es könnte einen Unterschied machen. Wenn er nur da war, ihr Geschichten erzählte, sie heimlich mit aus dem Krankenhaus nahm, um ein dummes kleines Straßenfest zu besuchen. Noch heute glaubte er, das Klingeln der Glöckchen zu hören, die an der Haarspange befestigt waren, die er ihr geschenkt hatte. Schlussendlich hatte er tun können, was er wollte. Er war hilflos gewesen im Angesicht ihrer Krankheit. Es machte keinen Unterschied, und bis heute verband er Hilflosigkeit immer noch mit dem scheußlichen Gefühl, das er gehabt hatte, als langsam aber sicher die Erkenntnis sackte, dass er sie nie, nie wieder lächeln sehen würde. „Das letzte Mal, das ich hilflos war, habe ich jemanden verloren, den ich sehr geliebt habe.“ Es war viel zu einfach, Parallelen zu ziehen. Ein kleines Ding, das seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte. Ein viel zu kurzer Sommer, den man gemeinsam verbrachte. Tanabata. Warum musste es immer Tanabata sein?   Es war erschöpfend. Müde fuhr er sich übers Gesicht, über die brennenden Augen. Das Schlafzimmer erschien ihm zu groß und zu klein gleichzeitig. Er vergaß immer wieder, wie schlimm es war, bis es ihn mit der Wucht eines Lastwagens doch wieder mitten ins Herz traf. Irgendwie war es leichter gewesen, als er noch zuhause lebte. In dem Lärm eines überfüllten Familienhauses wirkte das eigene Leid einfach so viel leiser… Aber jetzt? Ihm fehlte jede Ablenkung durch wilde Geschwister. Alles, was er hatte, waren ein maunzender Kater und ein kleiner, schweigsamer Mitbewohner, der gerade alles andere als heilsam war. (Kai wollte ihn trotzdem nicht missen. Niemals.) Langsam ließ er die Hände wieder sinken. Rui hatte sich bewegt, während er in Gedanken versunken hier gesessen hatte, hatte sich zur Seite gedreht. Ein Vorhang aus dunklem, mondbeschienenem Haar fiel ihm ins Gesicht und dem unzufriedenen Stirnrunzeln nach zu urteilen, das Kai auf seinen Zügen erahnte, schien es nicht angenehm zu sein. Vorsichtig strich er Ruis Haar zur Seite. Es mochte Einbildung sein, aber Kai war sich sicher, dass sein Gesicht sich wieder entspannte, kaum dass das störende Kitzeln verschwand. Er schluckte, hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals, der sich anfühlte, als wolle er ihn ersticken.   „Ich will dich nicht auch verlieren, Rui.“     ***     Er schlief katastrophal. Wirre Albträume, die zum Glück seinen Erinnerungen entwichen, kaum, dass er aufwachte, ließen seinen Schlaf wenig erholsam sein. Zusätzlich klingelte der Wecker früh, und selbst der grell strahlende Sonnenschein, der durchs Fenster hineinfiel, konnte seine Lebensgeister kaum wecken. Seufzend blinzelte er an die Decke hinauf. Es war anstrengend, sich aus dem Bett zu raffen. Yamato, der den Wecker ebenfalls gehört hatte, miaute vor der Schlafzimmertür; er wartete auf sein Frühstück, hatte er doch schon längst raus, dass er sofort gefüttert wurde, wenn Kai aus dem Bett kroch. Es half, irgendwie. Yamato verließ sich auf ihn, er konnte ihn nicht hängen lassen!   Insgesamt wurde es besser, als er erst einmal wirklich auf den Beinen und unterwegs war. Die Arbeit machte Spaß. Kai hatte es schon immer gemocht, sich körperlich zu verausgaben. Er konnte sich nicht vorstellen, freiwillig noch mehrere Jahre Universität abzusitzen. Natürlich hatte er im dritten High-School-Jahr einige Optionen in Betracht gezogen. Auch ein Studium, irgendwo im sportlichen Bereich. Er liebte Fußball, und wenn er ehrlich war, er vermisste den Verein ein bisschen, aber trotzdem hatte ihn der Gedanke, einfach arbeiten zu gehen, schlussendlich mehr gereizt. Er bereute es keinen Augenblick. Vielleicht mochte er es schwerer haben als Leute, die vorher noch studiert und sich eine Basis aufgebaut hatten, aber er war unglaublich glücklich mit seiner Entscheidung. Jeder Tag ein neues Abenteuer, immer neue Menschen, immer neue Aufgaben, die er zu erledigen hatte.   Immer neue Geschichten, die er irgendwann erzählen konnte.   Er wollte doch nicht, dass sie sich langweilte, wenn sie sich wiedersahen.   Ein anstrengender Tag voller Garagenausmisten und Autowaschen half, dass er am Abend auf eine gute Art erschöpft war. Es hatte außerdem nicht geregnet, was ein zusätzliches Plus war, und dass Yamato gleich eifrig angelaufen kam, kaum, dass er die Tür aufmachte, half auch. Kai lachte, kraulte den Kater sanft hinter den Ohren, ehe er sich von seinen Schuhen trennte. „Wie war dein Tag, Yamato?“ Yamato erzählte ihm nichts, Kai fragte trotzdem immer wieder nach. Irgendwann würde der Kater ihm bestimmt antworten – und sei es nur damit, dass er ihm eine tote Maus vor die Füße warf. Rui saß auf dem Sofa. Die Verandatür war offen, maßgeblich dafür, damit Yamato rein und raus konnte, wie er mochte. Bei der Hitze draußen hätte Kai sich auch nicht unbedingt hinaussetzen wollen, wenn er ehrlich war. Die kühle, klimaanlagenregulierte Luft war da um einiges erträglicher. „Hey, ich bin zuhause.“ Obwohl er keine Antwort erwartet hatte, stach es ihm ins Herz, dass er keine bekam. Andererseits – es war nur logisch. Womöglich hatte Rui ihn mit den Kopfhörern auch gar nicht gehört. Warum versuchte er es überhaupt? Er wusste es selbst nicht, aber es musste der gleiche Grund – Hoffnungslos, erinnerte ihn Nagi amüsiert – sein, aus dem er bemerkte, wie unzufrieden Rui an seinen Fingernägeln herumzupfte. Er wollte nachfragen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Es war eindeutig genug, dass er gerade eine Nagelschere brauchen könnte, also wozu? Und damit immerhin konnte Kai dienen.   Er legte die Schere wortlos auf den Tisch, bevor er wieder ins Bad trottete, um sich den Arbeitsschweiß abzuduschen.   Noch während er dabei war, den Gürtel abzunehmen, hörte er einen dumpfen Laut aus dem Wohnzimmer. Es hätte alles sein können. Frust, Ärger, Empörung, Schmerz – sein Duschbedürfnis komplett vergessen eilte Kai aus dem Bad, ignorierend, dass er nur noch mit seiner Hose bekleidet halbnackt war. „Rui!“ Rui saß noch auf dem Sofa. Er sah auf seine Hand hinunter. Das erste, das Kai sah, war Blut. Entsetzt stolperte er zu Rui hinüber, griff sich die verletzte Hand. Er hatte sich in den Finger geschnitten. Es war nicht schlimm. Es sah nur schlimm aus, und das allein reichte, dass Kais Herz immer noch raste, auch wenn wenigstens die Panik schnell abebbte. Er angelte ein Taschentuch hervor, wickelte es um den verletzten Finger. Als er zu Rui aufsah, bemerkte er, dass der die Kopfhörer abgenommen hatte und ihn schweigend ansah. „Alles halb so wild“, erklärte er mit einem beruhigenden Lächeln. Er drückte Ruis Hand sanft, behutsam. Sein Herz schmerzte fast, so heftig schlug es, aber das letzte, das er jetzt wollte, war, Rui unnötige Angst einzujagen. Es war schließlich nicht schlimm. Wirklich nicht. (Er musste es sich trotzdem einmal öfter als nötig selbst sagen, ehe er es glauben konnte.) „Ich geh ein paar Pflaster holen, hm? Und wenn du möchtest, kümmere ich mich um den Rest deiner Fingernägel. Ich hab Übung! Bei fünf kleinen Geschwistern…“ „Mh.“   Es war nicht aussagekräftig, aber es war eine Antwort.     ***     Tanabata kam als freier Tag mit bewölktem Himmel, aber einer Aussicht auf einen klaren Abend. Rui schlief, als Kai aufwachte. Rui schlief noch, als er irgendwann aus dem Haus ging, weil ihm die Decke auf den Kopf fiel und er dringend Bewegung brauchte. Es war drückend warm, obwohl die Sonne nicht direkt schien und schon nach wenigen Schritten hatte Kai den Eindruck, sein Shirt würde ihm am Oberkörper festkleben. Überall sah er die Bambusbäumchen voller Wunschzettel, die Tanabata ausmachten. Es war ein hübscher Anblick. Bunt, lebhaft. Sommerlich. Trotzdem fühlte er sich eher unwohl damit. Seit acht Jahren hatte er keine Zettel mehr aufgehängt. Er hätte gar nicht gewusst, was er sich wünschen sollte. Es erschien ihm auch nicht richtig, bedenkend, dass Tanabata so stark verknüpft war mit… Dingen, die er verloren hatte. Die ihm wichtig gewesen waren. Er trauerte immer noch, da schien es seltsam unpassend, sich Glück für die Zukunft zu wünschen. (Eine Zukunft ohne diesen Menschen, mit dem er Tanabata verband.)   Als er heim kam, war Rui wach. Er saß am Küchentisch mit einer Tasse Tee in den Händen, die bestenfalls noch lauwarm war, gemessen daran, dass sie nicht mehr dampfte. Die Reste vom Abendessen standen auf dem Tisch. Das Geschirr war nicht unbedingt, was Kai benutzt hätte, aber wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er die meisten Sachen, die er täglich brauchte, sehr weit oben in den Schränken bunkerte. Kein Wunder, dass Rui nicht drangekommen war. Und es schadete doch nicht, einfach kleinere Teller zu benutzen, huh? Es sah nur ein bisschen seltsam aus. Der Junge sah ihn forschend an, abwartend. Kai sah zurück, sprachlos von dem Anblick. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, wusste nicht was, schloss ihn wieder. Schüttelte den Kopf, um einen großen Berg wirrer Gedanken abzuschütteln und lächelte dann breit. Er wuschelte sanft durch Ruis Haar, als er an ihm vorbeilief, um sich ebenfalls hinzusetzen. „Lass das.“ – „Hm? Aber es macht Spaß!“ „Behandel mich nicht wie ein Kind.“ Kai grinste nur. Schief. Er behandelte Rui nicht wie ein Kind.   Aber vielleicht war es besser, wenn er so dachte.   Sie verbrachten den Tag überwiegend draußen auf der Veranda, zusammen mit Yamato und seinem Spielzeug. Gegen Nachmittag begann es zu regnen, ein jäher, plötzlicher Platzregen, der innerhalb von wenigen Sekunden die ganze Erde durchnässte und die Temperatur um gefühlt mehrere Grad senkte. Es tat gut nach der schwülen Wärme, die vorangegangen war. Kai seufzte behaglich, wischte sich mal wieder mit dem Shirtsaum den Schweiß von der Stirn. Rui neben ihm gab einen vagen Ton von sich, der alles hätte sein können, aber vermutlich Freude über den Regen war. „Zu warm“, murmelte der kleine Kerl erschöpft. Er blinzelte unzufrieden, strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es klebte ein bisschen. Kai musste schief grinsen, als ihm bewusst wurde, dass er Rui trotz allem Verklebtsein immer noch viel zu hübsch fand.   „Es wird besser. Bis heute Abend ist es angenehm kühl! Du magst keine Hitze, huh?“ „Nein. Kälte auch nicht.“ Kai lachte. „Magst du überhaupt etwas anderes als Regen?“ Was das Wetter anbelangte war die Antwort ein Nein. Es erschien Kai einseitig. Er hatte kein Problem mit irgendeinem Wetter. Wie seine Mutter immer zu sagen pflegte – es gab kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung! Aber wenn er es sich aussuchen könnte, hätte er auch am liebsten nur Sonnenschein. Er fühlte sich gleich noch bedeutend energiegeladener, wenn die Sonne schien! Er lächelte zufrieden, sah zu Rui hinüber, der selbst inzwischen völlig zufrieden aussah beim Anblick der schweren Tropfen, die vom Himmel fielen. Sein Lächeln wurde breiter.   Und vielleicht, ab und zu, ein bisschen Regen.   Bis zum Abend klarte es auf. Irgendwann wichen Regen und Wolken einem großstadttypisch lichtverschmutzten Sternenhimmel, und Kai suchte, ohne recht zu wissen, wonach er suchte, nach den beiden Sternen Wega und Altair. Er war nie gut darin gewesen, Sterne und Sternbilder am Himmel zu finden, und natürlich fand er sie nicht. Der Gedanke, dass Orihime und Hikoboshi heute in der Lage sein würden, einander zu sehen, war trotzdem tröstlich. Und ein bisschen herzzerreißend, wenn er ehrlich war. Wie anders sein Leben verlaufen wäre, wäre damals irgendetwas anders gewesen? Sie hatte ihn geprägt, daran bestand gar kein Zweifel. Ohne das hübsche kleine Mädchen mit dem strahlenden Lächeln wäre Kai heute mit Sicherheit ein anderer Mensch. Ob zum Besseren oder nicht, das konnte er nicht abschätzen, wollte er aber auch nicht. Grundlegend war er glücklich mit dem Menschen, der er geworden war. Wenn er sie gar nicht kennengelernt hätte… vielleicht hätte er doch lieber eine Universität besucht. Was würde wohl auf seinen Tanzaku gestanden haben, die letzten Jahre? Der Wunsch, das nächste Fußballspiel zu gewinnen? Die nächste Prüfung zu bestehen? Den Mut zu finden, seinen Schwarm nach einem Date zu fragen? Vielleicht hätte er einige Dinge langsamer angehen lassen. Manchmal war sein Leben wirklich hektisch! – Nicht, dass es ihn störte. Wenn sie nicht gestorben wäre… Eine Kindheitsliebe, die verging? Eine verblassende Erinnerung, die man mit einem bittersüßen Lächeln betrachten und dann wieder wegschieben konnte?   „Kai…?“   Rui sah besorgt aus. Da war wieder dieses Stirnrunzeln, das Kai einfach nicht mochte, die schmale, unzufriedene Linie zwischen Ruis zusammengezogenen Augenbrauen. Er lächelte, als könnte er sich damit davon ablenken, wie sehr ihn Ruis unzufriedener Gesichtsausdruck störte. „Hm?“ – „Du weinst.“ „Oh.“ Er hatte es nicht gemerkt. Völlig verwirrt hob er eine Hand, und tatsächlich – seine Wange war nass. Als er blinzelte, merkte er, wie Feuchtigkeit zwischen seinen Lidern hervorquoll und eine weitere Träne sein Gesicht hinabrann. Er lachte leise. Wischte sich langsam die wenige Nässe vom Gesicht und lächelte dann wieder, auch wenn es wehtat, wenn ihm eigentlich so gar nicht nach Lächeln war. „Entschuldige. Es ist nichts. Nur ein paar alte Erinnerungen.“ Über die er gar nicht reden wollte, wenn er ehrlich war. Rui sah ihn an, und in seinem Blick lag ein so fundamentales Verstehen, dass Kai erschauderte. Er fühlte sich unangenehm durchschaut. Und gleichzeitig erleichtert, denn in diesem Fall war er nur froh, dass er nichts weiter sagen musste. „Ist okay. Du musst nichts erzählen. Ich warte. Du wartest auch.“   Es gab so viel, das er über Rui wissen wollte. Aber natürlich würde er warten. Jahre, wenn es sein musste, bis Rui sich selbst dazu entschloss, es ihm zu erzählen. Und vielleicht, irgendwann, würde er seine eigene Geschichte erzählen. Er zweifelte ein bisschen daran, aber die Aussicht, vor allem darauf, in so vielen Jahren noch befreundet zu sein, war schön. Er beugte sich zu Rui vor, legte eine Hand auf seinen Hinterkopf, um ihn sanft festzuhalten, drückte einen Kuss auf seine Stirn. Inzwischen roch er nicht mehr nach Kais Shampoo, sondern nach etwas, das sauber und klar und unauffällig war – wie Regen. Es passte viel besser zu ihm. „Danke.“   Als er sich wieder zurücklehnte, stellte er mit einem zufriedenen Purzelbaum im Magen fest, dass man Ruis Stirnrunzeln tatsächlich wegküssen konnte.   Und dass seine roten Wangen den Anblick nur noch schöner machten.     ***     Der Futon war weg. Kai starrte verwirrt auf den Boden seines Schlafzimmers, auf dem am Morgen noch ausgerollt sein Futon samt Decken und Kissen gelegen hatte. Von besagtem Futon war keine Spur mehr zu finden, und sein Kissen und seine Decke fand er auch nicht. Sein Magen krampfte mit dem ersten Gedanken, der ihm kam – Rui war wirklich wütend auf ihn, warum auch immer. Der Abend war friedlich gewesen! Oder war es wegen dem Kuss? Panisch, und als könne er dort eine Antwort finden, sah er zu dem schlafenden Jungen auf dem Bett – und stutzte nur noch mehr. Da war sein Bettzeug. Decke und Kissen zumindest lagen da, ganz unscheinbar, wie eine stumme Einladung, die– die gar nicht sein konnte. Er starrte. Starrte noch ein bisschen länger, während sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte und sein Nacken vor Hitze brannte. Eigentlich war das nicht missverständlich.   Kai, solange er darüber nachdachte, fand zumindest keine andere Variante, es zu interpretieren.   Er schluckte, holte tief Luft. Er konnte nicht sagen, dass es ihm ungelegen wäre. Er mochte sein Bett. Es war bequem! Es klang ein wenig ungesund für sein Herz, Rui so nah zu sein, aber andererseits konnte er sich definitiv nichts Schöneres vorstellen. Leise trat er zu ihm hinüber. Im Gegensatz zu sonst lag der kleine Kerl gezielt ein gutes Stück weiter nur auf einer Seite des Bettes. Kai schüttelte überfordert den Kopf, grinsend wie ein sentimentaler Vollidiot. „Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe.“ Er fürchtete, wenn er nachfragen würde, würde er auch keine Antwort bekommen. Und im Grunde war das okay, Kai brauchte keine Antwort auf alles, musste nicht alles verstehen. Ob das irgendeine Form von Friedensangebot, Zuneigungsbekundung oder Ausdruck von Fürsorge war, schlussendlich war es einerlei. Was zählte, war der simple Umstand, dass es Ruis Entscheidung war. Warum auch immer, er wollte das Bett mit Kai teilen. Sein Bett. Sein Leben. Trotzdem fühlte er sich ein wenig seltsam, als er einmal im Bett lag, ein bisschen weiter auf der Kante, als es nötig gewesen wäre. Rui hatte sich kaum gerührt, schlief immer noch seelenruhig. Im diesigen Mondlicht sah er wunderschön aus. (Wie immer.) Kai streckte eine Hand nach ihm aus, strich flüchtig über seine Wange, seinen Kiefer entlang. Vielleicht tat es auch seinem Schlaf nicht gut, hier mit Rui zu liegen, denn trotz Müdigkeit und dem Wissen, dass sein Wecker morgen gnadenlos früh klingeln würde, wollte er gar nicht mehr schlafen. Einfach hier liegen und Rui betrachten… Solange, bis er sich jedes Haar eingeprägt hatte, das in sein Gesicht fiel, bis er niemals mehr vergessen würde, wie das silberne Mondlicht auf seiner hellen Haut aussah. Er seufzte leise, strich ein paar seidiger Haarsträhnen zur Seite.   Der Tag wog immer noch schwer. Tanabata war und würde so bald kein schöner Gedanke sein, aber es war zumindest nicht mehr ganz so schwer, wie es die letzten Jahre über gewesen war. Ich habe jemanden kennengelernt. Ich bin sicher, du würdest ihn mögen! Irgendwann würde er ihr alles erzählen. Von dem kleinen Jungen und seinem schwarzen Kätzchen, die sich ganz zufällig in sein Leben und sein Herz geschlichen hatten. Irgendwann, wenn er alt und grau war. Und so sehr er sich darauf freute, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, so sehr freute er sich, dass er noch lange, lange auf sich warten lassen würde. Als er die Augen schloss, dachte er nicht an Glöckchenbimmeln und Straßenfeste, sondern an den verregneten Ausblick von seiner Veranda aus, und als er die Augen wieder öffnete, sah er Rui vor sich und lächelte, mit einem Herzen, das krampfte, aber nicht vor Melancholie.   „Du bist wunderschön.“ I.IV Happy Birthday ------------------- Die bunte Karte, die im Flur auf dem Schuhschrank lag, erinnerte ihn erst daran. Er hatte Geburtstag. Kai lachte unwillkürlich auf, als ihm seine eigene Dummheit bewusst wurde. Er war schon immer gut darin gewesen, seinen eigenen Geburtstag zu verdusseln – den Geburtstag seiner Geschwister oder Eltern oder Freunde hingegen vergaß er nie! Er würde nicht einmal lange nachdenken müssen, um sich noch an den Großteil der Geburtstage seiner Schulfreunde zu erinnern. (Nicht, dass die so lange her waren. Er war doch auch erst seit diesem Jahr fertig mit der Schule.) „Ich bin zuhause!“ Sein Ruf verhallte unbeantwortet. Es war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war eher, dass Yamato nicht schon angetrippelt kam. Ungewöhnlich war auch, dass Rui ihn nicht begrüßen kam; seit ein paar Tagen hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihn noch im Flur zu begrüßen und knapp nachzufragen, wie sein Tag gewesen war. Kai liebte es. Jeden Tag mehr fühlte sich Rui weniger wie ein Fremder und mehr wie ein Freund an, der völlig unersetzlich geworden war.   Verwirrt darüber, dass er weder Katze noch Herrchen fand, lief er durch die Wohnung, wobei er seine Arbeitstasche in der Küche abwarf, weil da eine schmutzige Bentobox gespült werden wollte. Ein Blick in die Ecke, die Yamato für sein Futter bekommen hatte, zeigte, dass der Napf des Katers gefüllt war. Sein Shirt, vollgeschwitzt und fies, pfefferte er im Bad in den Wäschekorb, nachdem er ohnehin gleich duschen gehen wollte. Im Wohnzimmer erblickte er ein offenes Fenster statt offener Verandatür. Ein sorgfältiges Podest aus alten Büchern, die er nicht mehr brauchte, die innen wie außen auf der Fensterbank stapelten, ermöglichten Yamato das hinein– und hinauskommen. Es war eine Idee gewesen, wie sie Yamato seine Freiheit lassen konnten, auch für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie beide nicht zuhause waren. Also war Rui unterwegs. Kai schüttelte ungläubig den Kopf. Es war heiß draußen. Viel zu heiß für Rui, und außerdem wüsste er nicht, warum er so dringend hätte losmüssen sollen. Fehlte irgendwas? Kai war sich sicher, dass der Kühlschrank voll genug war. „Na. Er kommt schon wieder.“ Rui wusste, wo der Ersatzschlüssel war. Ein Blick in den kleinen Topf in der Küche zeigte, dass besagter Schlüssel auch nicht mehr dort war – also würde Rui problemlos hereinkommen, wenn er wiederkam, egal, was Kai gerade machte. Er wollte nämlich wirklich unter die Dusche.   Etwas, das sein klingelndes Handy ihm eindeutig nicht gönnte.   „Ich komme!“, rief er dem bimmelnden Gerät zu, lachend, resignierend. Es konnte nur seine Familie sein, und er freute sich über den Anruf, aber an ihrem Timing mussten sie noch einmal arbeiten! Mit dem Handy am Ohr  ließ er sich auf der Sofalehne nieder. Es tat gut, die vertrauten Stimmen zu hören. Kai hatte regen Kontakt zu seiner Familie, selbstverständlich, doch zu seiner Schande musste er feststellen, dass Rui ihn so sehr von aller normalen Routine abgelenkt hatte, dass er seit Ende Juni die Familienkontakte ein bisschen vernachlässigt hatte. Sei das übers Telefon, oder indem er gleich vorbeiging und mal hallo sagte, wenn die Arbeit ihn zufällig in die Nähe des tokyoter Wohnsitzes führte. Entsprechend seiner Schludrigkeit erwartete man nun Rechenschaft von ihm. Kai erzählte insgesamt sieben Mal die Geschichte, wie er Rui kennengelernt und von der Straße aufgesammelt hatte. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Seine Mutter lachte, und er war sich absolut sicher, dass sie die Augen verdrehte, als sie verkündete, wie absolut typisch das doch war. Sie mahnte ihn, dass er gefälligst aufpassen und seinen Mitbewohner gut behandeln sollte, und wenn er wollte, könne er ihn ruhig mal zum Abendessen mitbringen. Sein Vater brummte etwas davon, dass er einfach zu nett war, aber so wenig kritisch, wie er dabei klang, konnte Kai es nicht wirklich als negative Aussage nehmen. Für seine Brüder war ein neuer Mitbewohner kein Grund, den Familienfußball zu vernachlässigen. Seine jüngere Schwester, die gerade in das Alter kam, in dem Jungs interessant wurden, wollte nur wissen, ob er süß war – als Kai bestätigte, begann sie hemmungslos zu kichern, so sehr, dass am Ende das zweite Mädel im Haus ihr den Hörer aus der Hand riss. Ihre Reaktion war wenig unerwartet. „Du bist hoffnungslos, Kai-Nii“, seufzte sie, theatralischer als nötig, und obwohl Kai sie nicht vor Augen hatte, wusste er ganz genau, was für ein Gesicht sie gerade machte. Er lachte, und obwohl er versuchte, seine Ertapptheit damit zu überspielen, klang er am Ende nur noch ertappter. Sie seufzte noch einmal. „Im Ernst?“, fragte sie schnaufend. „Hey!“ „Das ist doch… Argh! Dein Geschmack wird auch mit dem Alter nicht besser, huh?“ „Nichts gegen meinen Geschmack!“ Jetzt war es Nagi, die lachte. Herzlich. Warm. Liebevoll. „Du weißt, was ich meine.“ Er wusste es. Und so gern er ihr widersprechen würde, ihm war selbst bewusst, dass er eine eigenwillige Art hatte, was solche Sachen anbelangte. Er bereute es trotzdem nicht, auch wenn es ihm schon viel Herzschmerz eingebracht hatte. Er seufzte amüsiert, grinste sein Handy schief an. „Im Ernst, Schwesterchen.“   Sie rollte mit den Augen. Er hörte es, und es brachte ihn zum Grinsen. Sie erzählte noch ein paar Minuten von ihrem aktuellen Schulkummer, dann reichte sie das Telefon an jeden weiter, der sich noch einmal verabschieden wollte. Als das Handy endlich still war, fühlte Kai sich ein bisschen verloren in der Einsamkeit seiner Wohnung. Einerseits wäre er gern zuhause geblieben. Andererseits hatte er es einfach nicht gewollt. Er hatte selbstständig werden wollen, und das ging eben nicht, wenn Mama und Papa da waren, um hinter einem herzuräumen! Es war gut, wie es war. Und er würde Rui die Einladung weitergeben. Mal gemeinsam zuhause vorbeizuschauen klang eigentlich wirklich schön.     ***     Nach der Dusche führte Kais Weg ihn immer zuerst zum Kühlschrank. Nur bekleidet mit einer losen Jogginghose und einem Handtuch um die nackten Schultern verging er sich wieder einmal an der Milch. Es gehörte einfach dazu. Er konnte nicht  mehr rekonstruieren, wo die Angewohnheit herkam, aber schon seit Jahren brauchte er einfach eine große Portion Milch, wenn er aus dem Bad kam. Als er die Milchpackung in den Kühlschrank zurückstellte – er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, ein Glas zu nehmen. So eine Packung hielt maximal drei Tage, da machte es auch nichts, wenn eine für den allgemeinen Gebrauch, und eine für seine Nachduschbedürfnisse gleichzeitig geöffnet waren –, bemerkte er erst, dass auf dem Küchentisch eine kleine Schachtel stand. Er blinzelte verwirrt, sehr sicher, dass die eben noch nicht da gewesen war, schon allein, weil seine Arbeitstasche den Platz eingenommen hatte. Apropos, und wo war die? Auf einem der Stühle, zeigte ein zweiter Blick. Das hieß, offensichtlich, Rui war wieder zuhause. Freude wärmte Kais Gesicht ein bisschen mehr als nötig bei dem Gedanken. „He, Rui? Bist du da?“ Die Frage war überflüssig, irgendwie, und er bekam auch keine Antwort, wie sich das für überflüssige Fragen eben gehörte. Er schüttelte amüsiert den Kopf, immer noch das Päckchen auf dem Tisch betrachtend. Was war das? Sah aus wie eine kleine Kuchenschachtel, wenn er es recht bedachte. Wenn Rui etwas gesagt hätte, er hätte Kuchen von der Arbeit mitbringen können!   Er bemerkte Rui erst, als der Junge hinter ihm stand, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Rui war viel zu warm, der Stoff seines dünnen Oberteils kitzelte unangenehm auf Kais Haut. Er unterdrückte mühevoll ein Erschaudern. Rui hinter ihm war still, Kai wusste noch weniger etwas zu sagen. Er war vollauf konzentriert darauf, wie heiß sich Ruis Berührungen in seine Haut brannten, eine Hitze, die sich immer weiter ausbreitete, bis sie ihm zu Kopf stieg. Sein Rücken kribbelte bis zum Nacken hoch. Etwas kitzelte ihn. Eine so zarte Berührung, dass es fast ein Windhauch sein könnte; er war sich nicht sicher, ob es Ruis Haar oder sein Atem war. Obwohl er sich extrem unkonzentriert fühlte, dämmerte ihm langsam, was es mit dem Päckchen auf sich hatte. Es war nicht, als hätte die Geburtstagskarte sich von allein aus dem Briefkasten auf den Schuhschrank manövriert, nicht wahr? Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, während er behutsam seine Hände auf Ruis legte. Sie wirkten so winzig im Vergleich. Ruis Finger regten sich, zuckten erst ziellos, dann schoben sie sich in die Zwischenräume zwischen seinen eigenen. Sie standen da. Reglos, für wie lange, das wusste Kai nicht, doch er genoss jede Sekunde. Irgendwann regte Rui sich doch wieder, entzog ihm ganz langsam seine Finger und löste sich von ihm. Mit einem Schlag wurde Kai viel zu kalt und er schauderte. Seine Haut brannte noch nach, dort, wo Rui sie berührt hatte, aber gegen die jähe Kühle half es kaum. Als er sich umdrehte, sah der Junge zu ihm auf. Kai bemerkte, dass das Haar ihm in der Stirn klebte; er musste eine gute Weile unterwegs gewesen sein in der brütenden Hitze. Für ihn.   „Ich habe kein Geschenk.“   Es war gleichermaßen Feststellung wie Entschuldigung. Kai schüttelte den Kopf, strich Rui sanft über die klammen Haare, strich ein paar störende Strähnen aus seinem Gesicht. Seine Stirn, jetzt freigedeckt, war kaum merklich gerunzelt. „Alles gut. Ich bin glücklich!“ Ruis Stirnrunzeln vertiefte sich. Er sah nicht überzeugt aus. Seine Mundwinkel verzogen sich kaum merklich, ein stummer Protest, den Kai erstickte, ehe er Laut annehmen konnte, indem er ihm einen Finger auf die Lippen legte. (Sie waren spröde, bemerkte er. Nicht sehr, aber spürbar. Sein Magen krampfte heiß zusammen.) Er brauchte kein Geschenk. Er war glücklich, weil Rui an ihn dachte, weil er offensichtlich wichtig war für diesen wunderschönen Jungen, und was sollte er mehr wollen? Ruis Blick ruhte immer noch auf ihm, abwartend, aber das Stirnrunzeln war verschwunden. Kai fühlte sich furchtbar, aber alles, woran er gerade wirklich denken konnte, war, wie gern er ihn küssen wollte. Entschlossen, seine Selbstkontrolle nicht weiter zu foltern, zog er den Finger wieder zurück. Es machte nicht viel besser, dummerweise.   „Kai. Willst du irgendetwas machen?“ Ja. Aber darüber reden wir nicht, okay? Er grinste schief, hilflos. Wollte er etwas machen? Ihm würde sicher einiges einfallen, angefangen damit, einfach hinaus zu gehen und die Sonne zu genießen, aber Rui mochte die Hitze eben nicht! Aber vielleicht gab es da einen Kompromiss… Letztlich war Kai gern draußen und in Bewegung, egal zu welcher Tageszeit. Außerdem war er morgen auch wieder erst gegen Mittag weg, weil seine Auftraggeber vorher nicht da waren, um ihm die nötigen Informationen zu übergeben; das bedeutete, er konnte relativ gut ausschlafen, musste sich nicht darum sorgen, dass er am Ende viel zu wenig Schlaf bekam. Er funktionierte zwar auch mit wenig Schlaf, aber es konnte ausgesprochen anstrengend sein. Und einen Hund zu suchen klang nicht nach etwas, das Kai tun wollte, wenn er gedanklich noch halb schlief. (Es war ein spontaner Eilauftrag gewesen, der sich im Laufe des Tages erst ergeben hatte. Ade, freier Tag, aber es war eine Kundin gewesen, die Kai sehr gern hatte, und überhaupt hätte er niemals nein sagen können, wenn es darum ging, zu helfen. Und noch dazu einem womöglich ganz dumm verlaufenen Hund.) Rui sah ihn fragend an, fast drängend. Er wollte seine Antwort.   „Was hältst du von einem Nachtspaziergang?“     ***     Die Gegend, in der Kai lebte, war ruhig, sobald man eine gewisse Uhrzeit überschritt. Diese Uhrzeit überschritten waren die Straßen weitgehend ausgestorben, als er mit Rui an seiner Seite schließlich hinausging. Es war spät – eigentlich spät genug, dass Rui schon das Bett anpeilen würde, aber dafür war immerhin die Temperatur so weit gesunken, dass man nicht nach wenigen Sekunden schon völlig verklebt war. Hin und wieder wehte eine laue Brise, ein leises Flüstern in Büschen und Bäumen, während das Zirpen der Zikaden dafür sorgte, dass es trotz Menschenleere einfach nicht still war. Kai mochte es. Rui sah zumindest nicht aus, als würde er es nicht mögen, und das war genug für Kai, um zufrieden zu sein. Sein Ziel war ein kleiner Park, der einige Straßen weiter lag. Es war nicht viel. Eine größere Grünfläche, ein paar unbefestigte Wege, hübsch bepflanzt mit Hortensien. An einem Ende war ein ebenfalls kleiner Spielplatz, der im Wesentlichen aus einem typischen Spielplatzkarussell, ein paar Schaukeln und einem Sandkasten bestand. Es war in jedem Fall ein hübscherer Anblick als die Straßen, auch wenn die ganze Gegend hübsch, ordentlich und gepflegt war – und nicht zu sehr betondschungelig, was für Kai auch ganz wunderbar war. Zwischen Hochhäusern und Plattenbauten fühlte er sich nur eingeengt, ganz gleich, wie sehr er als Stadtkind aufgewachsen war.   Sie liefen schweigend nebeneinander her. Langsamer, als Kai es gewöhnt war, weil Rui einfach langsamer war, weil die durch die geringere Körpergröße bedingt kürzeren Beine einfach nur kleinere Schritte zustande brachten.  Immer wieder warf er unauffällig einen Blick zur Seite – Rui sah zu Boden, bemerkte ihn nicht. Im Licht der Straßenlaternen, deren künstlich gelber Schein die Straßen erhellte, wirkte er wie ein gänzlich anderer Mensch, in Farben gehüllt, die sonst überhaupt nicht zu ihm gehörten. Ein Sonnenuntergang würde Rui unglaublich gut stehen. Ein Sonnenaufgang mit Sicherheit auch, das grelle Gold, das sich über den Horizont schob, um die Welt in Licht zu tauchen. Kai wollte es sehen. Sonnenaufgänge. Sonnenuntergänge. Kalte Wintertage und Schneeflocken, die sich in Ruis dichtem Haar verfingen, während sein Atem in kleinen weißen Wölkchen in der Luft zerstob. Herbststürme, die die ordentliche Frisur völlig zerwühlten, beißende Winde, die die Wangen rot vor Kälte zurückließen… Zusehen, wie Rui abends einschlief. Morgens aufwachte. Wie er hinaus in den Regen sah, als fände er in den nassen Schlieren Geheimnisse, die niemand sonst kannte. Beobachten, wie er mit Yamato spielte, eine seltene Gelegenheit, zu der er mehr mimische Regung zeigte als für gewöhnlich. Yamato entlockte ihm so oft ein Lächeln. Hoffnungslos, erinnerte ihn seine Schwester wieder einmal, mit dieser Stimme, die ihr Augenrollen so wunderbar verbalisierte. Kai lachte herzlich, unwillkürlich auf. Ruis Blick wanderte zu ihm, er legte fragend den Kopf schief. Im Licht der Straßenlaternen glühten seine Augen golden. Kai mochte die übliche, undefinierbare Farbe noch mehr. „Ich bin hoffnungslos“, erklärte er strahlend, musste gleich wieder lachen. Rui sah ganz eindeutig nicht, was so lustig war. Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick wieder von Kai ab. „Du bist komisch.“ „Hm-hm. Stört es?“ Kai grinste gutmütig. Er kannte die Antwort, ohne sie zu bekommen. Er freute sich gerade deshalb umso mehr, als sie trotzdem kam:   „…nein.“   Sie erreichten den Park an dem Ende, an dem sich der Spielplatz befand. Nebeneinander auf zwei Schaukeln sitzend starrten sie eine kurze Weile hinaus in die Nacht, lauschten den Zikaden, die einfach nicht leiser wurden. Neben sich hörte Kai Ruis Schuhe über den Sand scharren, während der Junge kaum vor und zurück schaukelte. Nach einer Weile verstummte das Geräusch; Rui hatte innegehalten. „Wie alt bist du geworden?“ „Neunzehn.“ Hatten sie darüber wirklich noch nicht gesprochen? Kai schüttelte über sich selbst den Kopf. Irgendwie war ihre Freundschaft wirklich unkonventionell, huh? „Wann hast du denn Geburtstag?“ „Sechzehnter Juni.“ „Also genau einen Monat vor mir! Also, fast genau.“ Um einen Tag daneben, aber das war nun wirklich ein Detail, das kaum der Erwähnung wert war! Kai seufzte zufrieden, lehnte sich zurück. Die Glieder der Schaukelketten knirschten bei der Bewegung leise. Das Schweigen kehrte völlig selbstverständlich und nicht störend zurück. Es war entspannend. Hatte Kai jemals einen Freund gehabt, mit dem er so viel Stille geteilt hatte? Er konnte sich nicht erinnern. Sein Leben war immer laut und voller Aktivität, und er liebte es so, aber Rui war ein überraschend angenehmer Tempowechsel.   „Hey. Rui.“ – „Mhm?“ „Erzähl mir ein bisschen. Was du magst.“ „…Musik. Deine CDs sind nett. Und du?“ Kai lachte hilflos auf. Wie sollte er das denn in einem Satz beantworten? (Aber er war überglücklich, weil er Rui mit den alten CDs wirklich noch eine Freude hatte bereiten können.) „Viel. Sommer. Das Meer. Sport. Fußball. Hauptsache Bewegung! Ich brauch das einfach, sonst stau ich zu viel Energie an! Hab noch nie ausprobiert, was passiert, wenn ich sie nicht loswerde, aber ich gehe davon aus, dass ich dann platze.“ „Klingt schmerzhaft.“ „Haha! Ja, nicht wahr? Also beweg ich mich! Du bist nicht so für Sport zu haben, huh?“ „Mh-mh.“ „Spielst du ein Instrument?“ „…“ Stille. Kai hielt inne in seinem vagen Herumgeschaukel, um einen Blick zur Seite zu werfen. Rui sah stoisch in die Ferne, die Art, wie er die Schultern kaum merklich gehoben hatte, signalisierte, dass er nicht über das Thema reden wollte, und dass er gerade sehr tief in Gedanken war an einem Ort, den Kai nicht erreichen konnte. Er streckte die Hand nach Rui aus, zog sie zurück, ehe er den anderen wirklich berührte. Streckte sich doch wieder nach ihm und umfasste sanft die zierliche Hand, die sich an der Schaukelkette festhielt. Rui bewegte sich, gerade so weit, dass er seinen Daumen unter Kais sanftem Griff hervorziehen konnte, um seinerseits Kai damit festzuhalten.   „Klavier. Aber ich hab aufgehört.“ Es klang so leise, dass es über den Lärm der Zikaden hinweg eigentlich kaum mehr zu hören war. Langsam setzte Rui sich wieder in Bewegung. Festgehalten von Kai brachte er die Schaukel damit nur zu einem unglücklichen Eiern, aber es schien ihn nicht zu stören. Vielleicht brauchte er die Ablenkung ja gerade einfach? Er wusste nicht, ob er weiterfragen sollte, oder schweigen und abwarten, ob Rui noch mehr erzählen wollte. Er wollte mehr wissen, keine Frage, aber er wollte Rui auch nicht drängen, wenn er so offenkundig an dem ganzen Thema knabberte. Aber es passte irgendwie zu ihm. Kai konnte sich gut vorstellen, wie Rui aussehen mochte, wenn er vor dem Klavier saß. „Ich hätte dich gern spielen gehört.“ Rui schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht… nicht bald. Irgendwann vielleicht.“ „Du hast also nicht für immer aufgehört.“ „…weiß ich nicht. Mein großer Bruder mag es nicht, wenn ich spiele. Er sagt, es ist unfair, dass ich besser bin als er. Er übt so viel, und trotzdem…“ Er zog die Schultern hoch, ließ sie dann beinahe erschöpft einfach fallen. „Wir hatten Streit.“ „…du bist deshalb weggelaufen.“   Rui nickte langsam. In die Stille hinein, die sich erneut auszubreiten gedachte, begann er zu erzählen. Von seinen Eltern, die beide in der Musikbranche arbeiteten. Mutter Pianistin, Vater Dirigent. Von seinem Bruder, der immer sein großes Vorbild gewesen war. Vom Klavierunterricht, den ihre Mutter ihnen gegeben hatte, davon, wie hart er immer dafür gearbeitet hatte, ein Lob von ihr zu bekommen. Er bemerkte nicht, dass er seinen Bruder damit verletzte, besser zu sein als er, bis es nicht eskalierte. Rui ging nicht ins Detail über diese Eskalation, aber er ließ durchklingen, dass die Folgen ziemlich hart für die ganze Familie gewesen waren. Seitdem – und es war schon eine ganze Weile her, ohne dass Rui konkretere Angaben machte – hatte er ein unglaublich gespanntes Verhältnis zu seinem Bruder. Der hatte ihm packen helfen sollen, für seinen Umzug nach Übersee, und hatte stattdessen noch mehr Dinge gesagt, die Rui verletzt hatten. Und dann war er fortgelaufen. Einfach so. Hatte sein Zuhause und seine Zukunft weggeworfen, ohne irgendwie zu wissen, was er stattdessen wollte. Kai kannte diese Menschen nicht. Und er war nicht der Typ, der sich vorschnell ein Urteil erlaubte, aber in diesem einen Fall war er sich sicher, er wollte sie auch gar nicht kennenlernen. Nicht einmal nur Ruis Bruder. Auch seine Eltern. Dass sie so blind gewesen waren für das Unglück ihrer Kinder, schockierte ihn, wo er selbst doch Eltern hatte, die ihm jede Gemütsregung schon an der Nase ansahen, ehe Kai sich ihrer selbst bewusst war. Ruis Familie klang… einsam. Nicht nach Familie. Die Vorstellung, wie der Junge dort gelebt haben sollte, war so furchtbar, dass Kai geradezu froh war über Ruis Weglaufen. Er wollte es besser machen. Er wollte, dass Rui glücklich wurde, egal, was er dafür tun musste. „Es gibt mehr als nur klassische Musik, weißt du?“, fügte er zum Schluss noch hintenan, immer leiser werdend, und für einen Moment glaubte Kai, Verzweiflung in den großen, hübschen Augen zu sehen. Verzweiflung, dass auch er nicht verstehen würde – genau so wie seine Familie aus klassischen Musikern? Kai lächelte. Er drückte Ruis Hand aufmunternd, ehe er sie losließ, um stattdessen seine Hand auf Ruis Wange zu legen. „Ich weiß.“ Die Wahrheit war, er verstand nicht viel von Musik – aber war das nicht in jedem Feld so? Es gab nicht nur die traditionellen Methoden, ans Ziel zu kommen. Man konnte nicht nur leben, indem man ganz selbstverständlich zur Universität ging und studierte, um dann einen stabilen, geregelten Job anzunehmen, der schlussendlich irgendwie immer das Gleiche war. Er stand auf, streckte beide Hände nach Rui aus, sah aufmunternd zu ihm hinunter. Er hatte gerade so viele Emotionen im Herzen, dass er das Gefühl hatte, platzen zu müssen.   „Musik ist wie Regen!“   Rui sah ihn verwirrt an. Verwirrt, und gleichzeitig war sich Kai sehr sicher, dass er das Bild verstand. Er grinste noch breiter, selbstbewusst, selbstsicher. „Sie klingt überall anders. Natürlich klingt deine Musik nicht so wie die deiner Eltern.“ Ruis Augen wurden immer größer. Groß, und voller Emotionen, so ungewohnt offen, dass es Kai beinahe ängstigte. Verzweiflung, Erleichterung, und noch so vieles mehr, das er nicht einmal lesen konnte. Dann ergriff Rui seine Hände, erhob sich von der Schaukel, und das bunte Wirrwarr an Gefühlen auf seinem Gesicht wich einem Lächeln, das für seine Verhältnisse unglaublich breit und strahlend war.     ***     Mitten zwischen den Hortensienbüschen blieb Rui stehen. Kai bemerkte es erst, als er schon ein paar Schritte weitergelaufen war und wieder einen Blick auf seine Begleitung werfen wollte. Rui sah glücklich aus. Glücklich, und wunderschön, umgeben von diesen Blumen, die im vagen Licht von ein paar Straßenlaternen in der Ferne ihre Farbe nur noch erahnen ließen. Kai wusste, sie waren violett. Erkannt hätte er es gerade nicht. Einen langen Moment blieb er stehen, um das Bild vor sich zu betrachten und sich einzuprägen, damit er es nicht mehr vergaß. Er wollte es nicht unterbrechen, aber er wollte gerade viel näher bei Rui sein, als er es war. „Sie sind hübsch“, informierte der Junge ihn, als er zu ihm aufschloss. Hier im Gebüsch waren die Zikaden noch viel lauter, so laut, dass sie Kais Gedanken übertönten, seine Vernunft verstummen ließen unter ihrem steten Zirpen, das keine Ruhe kannte.   „Du bist hübsch.“   Die Worte standen in der warmen Abendluft, bis ein Windhauch sie zerstieben ließ, der auch Ruis Haar aufwirbelte. Große, undefinierbar gefärbte Augen sahen Kai an, als sähen sie ihn zum ersten Mal, und als er eine Hand an Ruis Wange legte, war sie so warm, dass er sich sicher war, in einem besseren Licht hätte er ihn erröten sehen. Wunderschön. Eine Hand legte sich auf seinen Oberarm, zarte Finger griffen in den Stoff der dünnen Jacke, die Kai gegen den Abendwind trug. Sein Herz schmerzte, so schnell schlug es, sein Magen krampfte. Er war sich sicher, vergessen zu haben, wie man richtig atmete, zumindest meldeten seine Lungen Sauerstoffmangel, doch er hatte gar nicht genug Aufmerksamkeit, um irgendwie darauf zu reagieren. Da war nur noch Rui. Ruis Augen, die ihn unentwegt ansahen, groß und offen und kein bisschen ablehnend. Ruis Lippen, die leicht geöffnet waren, als wollte er etwas sagen, ohne selbst zu wissen, was eigentlich. Ruis Finger, die sich durch seine Jacke hindurchbrannten. Die Wärme seiner Haut. Der klare, frische Duft von Regen an einem heißen Sommertag. Kais zweite Hand legte sich auf Ruis Hüfte, behutsam genug, dass er sich sofort aus der Berührung herauswinden könnte. Er tat es nicht. Trat einen winzigen Schritt näher. Kai schluckte, holte bebend Luft. Sein Daumen strich über Ruis Gesicht, bis er an seinem Mundwinkel hängen blieb. Berührte nur flüchtig seine Lippen. Rui blinzelte, als er näher kam, nur um die Augen noch weiter aufzureißen. Ihre Nasenspitzen stießen aneinander, warm und viel zu nah, jede Berührung ein Impuls, der Hitze und Kälte gleichermaßen durch Kais Körper schickte. So nah war Ruis Gesicht verschwommen vor seinem Blick, doch es reichte, um zu erkennen, wie seine Augen langsam zufielen. Kai hatte ihn so oft beim Schlafen betrachtet, dass er genau wusste, wie die dichten, dunklen Wimpern auf seiner Haut lagen. Das Bild kehrte ganz selbstverständlich in seine Erinnerung zurück, als er selbst die Augen schloss.   Es war ein Kuss. Es gab keine großen, blumigen Metaphern dafür. Kein weltbewegendes, markerschütterndes Feuerwerk, keine Schmetterlinge im Bauch. Nur warme, spröde Lippen, die auf seinen lagen, eine kleine Hand, die sich in seinen Oberarm krallte und eine zweite, die auf seiner Taille lag. Obwohl die Zikaden nicht stiller wurden, bemerkte Kai sie nicht einmal mehr über das Rauschen in seinen Ohren, über Ruis Atem, den er so nah hören konnte. Seine Finger wanderten über warme, immer wärmer werdende Haut, bis sie sich in seidig weichem Haar verfingen, an Ruis Hinterkopf zur Ruhe kamen, ihn haltend, führend.   Die ganze Welt brach zikadenlärmend wieder über Kai hinein, kaum, dass sie sich gelöst hatten. Seine Hand ruhte nur noch in Ruis Nacken, seitlich an seinen Hals gelegt. Kai konnte seinen rasenden Puls spüren und die Hitze, die zweifelsohne immer noch sein Gesicht färbte. Hinter ihm war ein Meer aus Hortensien, für das Kai kaum einen Blick hatte, und es war völlig vergessen, als Rui behutsam an seiner Jacke zupfte.   „Alles Gute zum Geburtstag, Kai.“ I.V Search & Rescue ------------------- Sonnenstrahlen weckten Kai, noch bevor der Wecker klingelte. Sonnenstrahlen, und dunkelgrüne Haarsträhnen, die sein Gesicht kitzelten. Es war viel zu warm, trotz Klimatisierung; in der Nacht hatte einer von ihnen die Decke vom Bett bugsiert. Es half zumindest ansatzweise gegen die Hitze. Was nicht half, war die Tatsache, dass Rui so nah war, dass er dessen Körperhitze spüren konnte. Umständlicher als nötig reckte er sich nach seinem Handy, um den Wecker auszuschalten und einen Blick auf die Uhr zu werfen. Er hätte noch mehr als eine Stunde schlafen können, theoretisch. Praktisch… Er grinste selig, als er in Ruis schlafendes Gesicht blickte, das gleichermaßen viel zu nahe und nicht nah genug war. Da waren wieder wirre Haarsträhnen, die sich ausgebreitet hatten, wo sie nicht hingehörten, und Kais Grinsen wurde nur noch breiter, schmerzhaft fast, als er daran dachte, dass er jede Berechtigung hatte, sie wegzustreichen. Sich vorzulehnen und einen Kuss auf Ruis Stirn zu hauchen.   Sie hatten nichts ausgesprochen. Es gab Dinge, die waren so eindeutig, dass zumindest Kai fand, dass sie auch nicht ausgesprochen werden mussten. Und wenn er rein nach Ruis Verhalten ging, schien der Junge das grundlegend genauso zu sehen – er hatte völlig selbstverständlich begonnen, mehr Nähe zu suchen. Hatte Kais Arm als Kopfkissen missbraucht, als er eingeschlafen war, statt wie in vorherigen Nächten auf „seiner“ Seite des Bettes zu bleiben. In der Nacht hatten sie sich offenbar beide bewegt, denn inzwischen war sein Arm wieder frei, dafür waren ihre Beine unten an den Knöcheln verknotet und Ruis Hand lag an seiner Brust. Kai wusste nicht, was sich auf ab jetzt lange Sicht verändern würde. Ihm war bewusst, dass Beziehung – und das war es, was sie hatten, nicht wahr? Eine Beziehung – mehr bedeutete als Nähe zueinander und sanfte Küsse. Er wusste nicht genau, was all dieses Mehr war, aber er war aufgeregt, es herauszufinden. Das hier war vollkommen neu für ihn, und er zweifelte daran, dass es Rui anders ging. Ein neuer Lebensabschnitt, den sie gemeinsam erkunden konnten, miteinander. Und solange sie, miteinander, glücklich wurden dabei, war es doch nicht einmal wichtig, dass ihr Weg irgendeiner allgemeingültigen Vorstellung entsprach.   Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben. Es wurde nicht langweilig, Rui zu betrachten. Nicht, dass er nicht trotzdem in etwa einer Stunde aufstehen musste. Da war ein Hund, der sich darauf verließ, von ihm gefunden zu werden! Er seufzte leise, alles in allem trotz herannahendem Aufstehen aber zufrieden. Wie könnte er es nicht sein? Langsam richtete er sich ein Stück auf, auf einen Ellenbogen gestützt, und begann, mit der anderen Hand Ruis hübsches Gesicht zu liebkosen. Nur wegen Kai war er  gestern viel später als sonst ins Bett gekommen. Es wäre gemein, ihn jetzt zu wecken, wo es noch lange nicht nötig war. Ohne ihn aufzustehen klang aber ähnlich unattraktiv. Und es war nicht, als würde es Kai stören, einfach hier zu bleiben und ihn zu betrachten. Wie gern er ein Foto hätte! Rui sah so unglaublich friedlich und entspannt aus, das grelle Sonnenlicht von draußen ließ seine helle Haut beinahe leuchten. Unwirklich. Wie ein Geschöpf aus einem alten Märchen oder Volksglauben. Und zerbrechlich. Als könnte eine einzige falsche Berührung dafür sorgen, dass er klirrend zersplitterte wie eine Porzellanpuppe, die man fallen ließ. Er wollte ihn davor beschützen. Vor jedem Schaden.   Als Yamato an der Tür zu maunzen begann, beschloss er, dass es langsam doch Zeit wurde, aufzustehen. Ein Blick aufs Handy verriet, dass der Wecker auch in wenigen Minuten geklingelt hätte, hätte Kai ihn nicht ausgestellt. Er grinste viel zu zufrieden, legte das Gerät wieder zur Seite. Aufstehen. Rui wecken. Wie jedes Mal mit liebevollen Berührungen. Es funktionierte, auch wenn es entsprechend lange dauerte, bis der Junge aufwachte. Jedes Streicheln und Liebkosen half, ihn ein bisschen weiter aus seinen Träumen herauszulocken, und Kai liebte es, dieses langsame Aufwachen zu betrachten. Es dauerte gar nicht so lange, bis erste Regung in Rui kam. Ein kurzes Nasekrausziehen, ein Zucken in seinen Mundwinkeln. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Wimpern flatterten. Zuerst waren es winzige Bewegungen, kaum merklich, schnell vorbei, und dann doch eine deutliche Zeitspanne wieder Stille. Inzwischen wusste Kai genau, ab welchem Punkt es wirklich mit dem Schlafen vorbei war. Er wusste, dass die kleine Falte zwischen Ruis Augenbrauen bedeutete, dass er wach war, sobald sie sich nicht schnell genug wieder glättete. Auch wenn das nicht hieß, dass er dann freiwillig die Augen öffnete und aufstand. Lächelnd stupste er gegen die kleine missmutige Falte, lehnte sich dann weit genug vor, bis er Rui einen flüchtigen Kuss auf die Lippen hauchen konnte. Sein Magen machte einen seligen Purzelbaum und sein Herz schlug allein von der kurzen Berührung so heftig, dass es schon fast peinlich war. „Guten Morgen“, raunte er sanft. Rui gab einen leisen Laut von sich, und langsam öffneten sich seine Augen. Er blinzelte, einmal. Zweimal. Dreimal. Dann lagen plötzlich zierliche Finger auf Kais Wange. Behutsam fing er die schmale Hand ein, presste kleine Küsse auf jeden Fingerknöchel. Ruis Wangen waren gerötet, als er wieder zu ihm hinuntersah.   Kai wollte sich wirklich zusammenreißen, aber dann küsste er Rui doch lieber wieder, statt aufzustehen.     ***     „Was machst du heute?“ Rui reichte ihm einen Teller, den er gerade abgetrocknet hatte. Er war noch leicht klamm, aber es war nichts, das Kai irgendwie störte, also packte er das Geschirrteil kommentarlos in den Schrank zurück. Er hatte noch nicht die Gelegenheit gefunden, Rui-freundlich umzuräumen, nahm es sich aber wieder fest vor. (Ahnte, es doch wieder zu vergessen, weil es einfach so unglaublich selten war, dass Rui wirklich an das Geschirr musste.) „Einen Hund suchen“, erklärte er, „Ich weiß auch noch keine Details. Meine Auftraggeberin meinte, dass es sehr, sehr dringend sei und sie sei beinahe krank vor Sorge. Eigentlich hätte ich frei gehabt.“ „Kann ich helfen?“ Kai blinzelte verdutzt. Helfen. Beim Arbeiten? Er kratzte sich am Nacken, irgendwie verlegen. Es war sein Job! Da brauchte er keine Hilfe. Und er hätte auch nicht erwartet, ein Hilfsangebot zu bekommen. Irgendwie überforderte ihn das. Aber es war so lieb! Kai lächelte, wenn auch ein bisschen schief. „Wenn du wirklich möchtest, gerne. Das ist so ein Job, wo ich gar nicht abschätzen kann, wie lange ich brauchen werde.“ Und wenn er Rui dabei bei sich haben konnte, sagte er bestimmt nicht nein. Inzwischen strahlte er glücklich, während er das nächste Geschirrteil entgegennahm. Der Gedanke, Rui vielleicht ab und zu mal mitzunehmen, wenn es gut möglich war, war irgendwie wirklich nett. Ein paar kleinere Jobs konnte er sicher begleiten, Sachen, die nicht wirklich schwierig waren. Klar, bei einem Umzug wäre er fehl am Platz, keine Frage. Aber es gab genug anderes! Kai hatte schon die verrücktesten Sachen gemacht, und es war nicht wenig dabei gewesen, zu dem er sich Rui recht gut vorstellen konnte. „Ich komme mit“, verkündete der kleine Kerl leise, entschieden. Kai hätte ihm niemals widersprochen. „Danke! Vier Augen sehen mehr als zwei, zusammen können wir den Hund ja gar nicht nicht finden!“   Hoffte Kai zumindest. Er hatte eigentlich überhaupt keine Erfahrung im Hundesuchen. (Katzen aus Bäumen retten konnte er hingegen richtig gut!)   Ihr kleiner Ausreißer war, wie die Besitzerin zu berichten wusste, ein einjähriger Shiba-Inu mit rotem Halsband. Seit fünf Tagen verschwunden, weil er aus dem Auto ausgebüxt und in eine Nebenstraße abgedüst war. Sie hatten gehofft, er würde wiederkommen, doch so langsam nahmen die Sorgen überhand und aufgrund familiärer Umstände musste die Familie, der das Tier gehörte, bei nächster Gelegenheit für ein Weilchen raus aufs Land fahren. Da konnten sie den Hund natürlich nicht einfach irgendwo lassen. Das einzige, das Kai an der ganzen Sache störte, war der Name des Hundes – Kai. Schon die Vorstellung, durch die Straßen zu laufen und seinen eigenen Namen zu rufen, erschien ihm ein bisschen dämlich. Die tatsächliche Handlung dürfte sich noch bedeutend dämlicher anfühlen. Sie ließen sich von der Besitzerin bis zu der Ecke führen, an der Shiba-Kai verschwunden war. Obwohl sie insgesamt keine zwanzig Minuten draußen waren, klebte Kais Shirt ihm jetzt schon schweißnass am Körper. Es war typisch japanisch sommerlich viel zu heiß und drückend – wie schon die letzten Tage. Rui neben ihm wischte sich schon zum wiederholten Male das klebrige Haar vom Gesicht und sah allgemein eher unglücklich aus. Kai sollte Mitleid haben, aber der Anblick ließ sein Herz Freudensprünge machen.   Die Suche war, das wurde schnell absehbar, unglaublich erschöpfend. Es war heiß. Zu heiß, so heiß, dass es auch Kai nach der dritten Straße, die sie fruchtlos abklapperten, langsam wirklich viel wurde. Sein Hals war trocken und das dauerhafte nach-dem-Hund-Rufen machte es kaum besser. Die Wasserflasche, die er wohlweislich eingepackt hatte, hatte nicht einmal halb so lange überlebt, wie er gehofft hatte. Das Viertel war, unglücklicherweise, relativ groß. Laut der Besitzerin kannte Shiba-Kai sich theoretisch in der näheren Gegend aus, und allein deshalb wunderte sie sich sehr über sein Verlaufen. Das bedeutete für Kai, dass sie in den näheren Straßen gar nicht suchen mussten – und ihr weiterer Suchradius dafür umso größer wurde. Shiba-Kai hatte Angst vor Autos – weiser Junge! –, also vermied er die sehr verkehrslastigen Straßen. Es gab davon aber nicht einmal so viele im Viertel, also blieb immer noch mehr als genug übrig. Und mitten am Tag anzufangen zu suchen war natürlich auch nicht hilfreich, zumindest dem eigenen Wohlbefinden gegenüber nicht. Nach nicht einmal zwei Stunden, die sie durch die Hitze marschiert waren, legten sie eine Pause ein. Die Sonne brannte vom Himmel, Vögel zwitscherten, und die Zikaden waren ein dauerhafter, ohrenbetäubend lauter Lärm, der einfach niemals aufhörte oder leiser wurde. Er war einfach da. Sie hockten auf einer Bank am Rande einer winzigen Grünfläche. Das Gras leuchtete geradezu ungesund im grellen Tageslicht. Ruis Kopf kollidierte mit seiner Schulter. Es war zu heiß für jede Form von Berührung. Kai grinste müde. „Wir sollten unsere Taktik überdenken“, murmelte er seufzend. Sein ganzer Körper klebte, sein Shirt war ein einziger nasser Lumpen – es war echt fies. Rui sah kaum besser aus, aber irgendwie schaffte er es, trotz schweißverklebtem Haar und gerötetem Gesicht immer noch hübsch auszusehen. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als würde er auf Kais Schulter einschlafen, wenn sie nicht bald wieder hochkamen. „Hmmmm?“ Rui klang auch, als würde er gleich einschlafen. Kai strich ihm flüchtig über die Wange. Er lachte leise, als Rui die Nase krauszog und mit einem vagen Murren – „zu warm…!“ – den Kopf wegdrehte. Und sich dabei nur noch mehr gegen seine Schulter drückte. „Es ist so heiß! Vielleicht sollten wir anfangen, gezielt nur noch im Schatten zu suchen… Kein kluger Hund würde sich bei dieser Hitze in der Sonne aufhalten, huh?“   In der Theorie war es ein guter Plan. In der Praxis war er unrealisierbar, denn es existierte gar nicht genug Schatten, um sich effektiv darin zu verstecken. Und durchs Gebüsch kriechen, wo es immerhin wirklich schattig war, konnten sie auch nicht. Es war eine pure Tortur. Was sie auch taten – es half nicht. Shiba-Kai war unauffindbar. Kein Schlupfwinkel förderte den Hund zutage. Kai fragte jeden vorbeikommenden Passanten. Es waren, entsprechend der Hitze, nicht viele, und keiner von ihnen hatte den gesuchten Hund mit dem roten Halsband gesehen. Kein Hundebesitzer, der gerade dabei war, Gassi zu gehen, konnte helfen. Scheinbar gab es nicht einmal Ecken in der Gegend, die bekannt dafür waren, dass Hunde sich dort gern tummelten. Bis zur nächsten Pause hatten sie noch gar nichts erreicht. Inzwischen wurde sichtbar, dass der Tag sich langsam dem Ende entgegenneigte. Die Schatten wurden länger, das Licht, das ursprünglich eher grellweiß gewesen war, begann einen goldenen Schimmer mit sich zu bringen. Die letzten zehn Minuten waren sie durch schmale, dankenswert schattige Hintergassen gelaufen, doch der Hitze hatte es kaum Abbruch getan. Kai fühlte sich unglaublich erschöpft. Müde ließ er sich auf eine niedrige Gartenmauer plumpsen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es Rui dann erst ging. Schon die letzte Weile war deutlich geworden, dass der kleine Kerl eigentlich seine Grenzen erreicht hatte. Er wurde langsamer, träger, und mehr als einmal hatte Kai stehen bleiben und sich nach ihm umsehen müssen, weil er einfach nicht mehr hatte Schritt halten können. Er versuchte wirklich, sein Tempo an Rui anzupassen, aber es war schwieriger, als es aussah. Nach Hause wollte Rui aber auch nicht. Das Angebot hatte er mehrfach abgelehnt. Es machte Kai im gleichen Maße glücklich wie besorgt. Er seufzte noch einmal, stemmte sich entschlossen wieder von der Mauer hoch. Er grinste, einfach nur, um sich selbst wieder zu motivieren. „Bringen wir’s hinter uns.“ Eine Antwort bekam er nicht, aber das wunderte ihn nicht mehr; ein erschöpfter Rui war noch schweigsamer als sonst. Kai konnte es verstehen; die Hitze zehrte auch an seiner Konzentrationsfähigkeit, die bisherige Fruchtlosigkeit der Suche an seiner Energie.   Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Rui nicht mehr da war.   Mit einem Schlag wich jede gute Laune von seinem Gesicht und sein Magen verkrampfte sich zu einem beunruhigten, übelkeiterregenden Knoten aus Sorge und Angst. Er sah sich hektisch um, doch die ganze, schmale Straße entlang sah er keine Spur von seinem Freund. „Rui? Hey, Rui!“ Keine Reaktion. Kai lief zwei Straßen zurück, die sie vorhin noch abgesucht hatten, in der Hoffnung, dass Rui einfach nur irgendwo stehen geblieben war, um selbst kurz auszuruhen. Nichts. Die Straßen lagen im Licht der späten Nachmittagssonne friedlich und verlassen da, während eine lauwarme Brise ordentliche Hecken zerzauste und Vögel die zikadenschwere Stille mit ihrem Gesang füllten. Kein Rui. Kein Hinweis darauf, dass hier vor kurzem überhaupt ein Mensch gewesen war. Einen langen, entsetzlichen Moment lang konnte Kai nichts anderes tun als da zu stehen und fassungslos in die Nebenstraßenidylle zu blicken. Sein Hals schmerzte, als er schluckte, zugeschnürt von Panik.   Rui war weg.   Er hatte nicht nur nicht einmal den Hund gefunden, er hatte es vor allem irgendwie geschafft, Rui zu verlieren.     ***     Shiba-Kai hatte es geschafft, sich in einer Hecke zu verheddern, so dass er nicht mehr zwischen den Zweigen hinausgekommen war. Es war sein eigener Verdienst, dass Kai ihn fand; ohne das freudige Bellen des Hundes, als er seinen Namen hörte, hätte Kai ihn wohl nicht entdeckt. Er war munter, wie er Kai aus seinem Gefängnis an Zweigen und Blättern heraus hechelnd ansah. Es erleichterte, zumindest den Hund gefunden zu haben. Gleichzeitig konnte Kai sich nicht so recht freuen, weil er nicht aufhören konnte, sich zu fragen, was mit Rui passiert war. Im besten Fall war er einfach nach Hause zurückgekehrt und hatte sich dort in der kühlen Wohnung verschanzt. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Rui den Weg noch fand, quer durch dieses ewige Nebenstraßenlabyrinth? Letztlich. Hier waren überall Menschen. Zur Not konnte Rui nach dem Weg fragen. Kai klammerte sich an diese Hoffnung, so gut er konnte, während er sich daran machte, Shiba-Kai aus seinem Buschgefängnis zu befreien. Der Hund dankte es ihm mit noch mehr freudigem Gebell und eifrigem Schwanzwedeln. Er fragte sich, wie er sich überhaupt so weit hatte verlaufen können. Vermutlich hatte er einem kleinen Tier nachgejagt? Einer Katze vielleicht, davon gab es hier in der Gegend schließlich genug. Der Gedanke verlor sich schnell, als der Hund ihn wieder fröhlich ankläffte. „Ist ja gut, mein Junge! Na komm, wir bringen dich jetzt heim, hm? Lass mal sehen… du hast wohl keine Leine dabei?“ Hatte er natürlich nicht. Kai hatte auch keine, denn so weit hatte er bisher nicht gedacht. Er seufzte. Er konnte darauf verzichten, dass Shiba-Kai ihm noch einmal verloren ging, und der Hund war eindeutig zu klein, als dass Kai ihn am Halsband halten könnte, während sie liefen – oder er war zu groß. Oder beides. In jedem Fall blieb ihm keine andere Wahl, als das Tier auf den Arm zu nehmen und den ganzen Weg zurück bis zu seinem Zuhause zu tragen. Bei der Hitze. Mit seinem Schützling auf den Armen trottete er durch die dunkler werdenden Straßen zurück. Die Abendsonne flutete die Welt mit goldenem Licht, das immer rötlicher wurde. Bald würden die Straßenlaternen anspringen und die Sonne sich ganz hinter dem Horizont verbergen.   Auch auf dem Rückweg fand er von Rui keine Spur.   Er konnte die Sorge nicht abschütteln, so sehr er sich auch wieder und wieder daran erinnerte, dass Rui den Heimweg schon gefunden haben würde. Und das Schuldgefühl wurde auch nicht leiser. Er hätte besser auf Rui achten sollen. Er hätte längst daran denken müssen, ihm ein Handy zu besorgen, damit sie in Kontakt bleiben konnten, wenn mal etwas passierte und sie gerade nicht nebeneinanderstanden. Kai war viel zu selbstverständlich davon ausgegangen, dass Rui nie allzu weit entfernt von ihm sein würde, und das war eindeutig ein sehr, sehr dummer Gedanke gewesen. Obendrauf hatte er keine Ahnung, wo er suchen sollte. Ruis Denken war ihm so fremd, dass er nicht im Geringsten abschätzen konnte, wo er den Jungen finden würde, verliefe er sich einmal. Kai wusste, wo er seine Geschwister fände. Er kannte ihre Denkweisen und Ideen. Rui kannte er nicht ansatzweise gut genug, um ähnliche Einschätzungen zu treffen, und entsprechend fühlte er sich zu allem Überfluss unangenehm hilflos in der Situation. Es half alles nichts. Wie es war, hatte er keine Ahnung, wo Rui sein könnte. Er konnte sich nur weiter an die Hoffnung klammern, dass sein kleiner Freund den Weg nach Hause gefunden hatte und einfach in der kühlen Wohnung saß und sich ausruhte. Kai wusste nicht, was er tun sollte, wenn er gleich nach Hause kam und Rui immer noch nicht da war. Er würde ihn suchen, keine Frage. Die ganze Nacht, wenn es sein müsste. Und den nächsten Tag lang. Solange, bis er Rui wiederfand. Wenn Rui dann wütend auf ihn war, dann mit jedem Recht. Nichts könnte jemals entschuldigen, dass er Rui aus den Augen verloren hatte. Er hatte auf ihn aufpassen wollen, und bei erster Gelegenheit scheiterte er genau daran! Es war peinlich. Es war erbärmlich, und Kai hasste sich ein bisschen selbst dafür. Bei allem Beschützerinstinkt, er war eindeutig noch weit davon entfernt, tatsächlich irgendjemanden vor irgendetwas beschützen zu können.   Shiba-Kais Frauchen war überglücklich, als Kai ihr ihren Liebling aushändigte. Sie überschüttete ihn mit überschwänglichem Dank, dem er kaum folgen konnte, weil er in Gedanken schon wieder bei Rui war, und am Ende war er einfach nur froh, dass die Frau ihn relativ bald wieder aus ihren Fängen entließ. Inzwischen war er wirklich erledigt, durchgeschwitzt bis auf die Knochen und er konnte es kaum erwarten, die völlig verklebte Kleidung loszuwerden und kalt zu duschen, um irgendwie die gröbste Hitze aus seinem Körper zu verbannen. Trotzdem war ihm mulmig, als er vor der Haustür stand. Er hatte Angst, die Wohnung zu betreten und festzustellen, dass Ruis kleine Schuhe fehlten. Was sollte er dann tun? Würde er Rui wiederfinden können? Es konnte nicht so schwer sein, aber trotzdem verschwanden so oft Menschen spurlos! Er schluckte, ballte die Hände zu Fäusten. Es kostete ihn viel zu viel Überwindung, die Wohnungstür zu öffnen und in den Flur zu treten, so sehr, dass ihm jede gewohnte Begrüßungsfloskel im Hals stecken blieb.   Sein erster Blick ging hinunter zu der Ecke Flur, wo sie ihre Schuhe gelagert hatten.   Das Paar Schuhe, das Rui vorhin getragen hatte, stand fein säuberlich dort aufgereiht. Kai fiel ein Stein vom Herzen. Noch ohne sich selbst darum zu kümmern, seine Schuhe auszuziehen, polterte er in die Wohnung hinein.   „Rui!“ Der Junge saß im Wohnzimmer, trug kurze Shorts und ein übergroßes Muskelshirt, das er von Kai gemopst hatte. Er sah todmüde aus, mehr schlafend als wach, und sein Haar war feucht von der Dusche, die er sich zweifelsohne gegönnt hatte. Die Erleichterung, die gerade noch nur ein Stein vom Herzen gewesen war, traf Kai jetzt mit der vollen Wucht einer Dampfwalze und er musste sich ernsthaft am Türrahmen festhalten, um nicht einzuknicken. „Gottseidank bist du hier…“ Für Rui schien nichts Besonderes dabei zu sein. Er blinzelte träge. Kai wollte ihn umarmen und küssen und nie wieder loslassen, aber er kam keinen Schritt weit, bevor Yamato zwischen seinen Beinen hing, maunzend und quengelnd – hungrig, höchstwahrscheinlich. Es half auf eine seltsame Art, Kai zu beruhigen. Er lachte, erleichtert, überfordert, noch erleichterter, und ein bisschen fühlte er sich eigentlich nach Heulen, aber natürlich ließ er es bleiben. Es war ohnehin besser, wenn er Rui gerade nicht umarmte, huh? So verdreckt wie er inzwischen war, nachdem er den schmutzigen Hund herumgeschleppt hatte… „Ich komme ja, Yamato. …Oi, Vorsicht! Du willst nicht, dass ich über dich falle.“ Yamato plärrte noch einmal empört auf, dann stob er davon in Richtung Küche. Kai war froh, dass der Kater aufhörte, zwischen seinen Beinen herumzuscharwenzeln. Es war eine schlechte Angewohnheit, die das Tier dringend ablegen sollte! Irgendwann würde man ihn sonst versehentlich treten, und das wollte wohl niemand – am allerwenigsten Yamato selbst. Er sah zu Rui zurück, der immer noch träge auf dem Sofa saß. Allein der Anblick des Jungen – gesund, wohlbehalten – ließ ihn wieder breit und glücklich grinsen, alle Anstrengung des Tages vergessen über die Erleichterung. „Kommst du mit? Wir sollten auch langsam ein Abendessen kriegen, hm?“   Wobei Kai erst einmal seine Schuhe in den Flur kickte, bevor er in die Küche ging. Trotz Umweg war er schneller als Rui, der sehr, sehr langsam schlurfend ankam. Er sah wirklich fertig aus. Da würde wohl einer gleich nach dem Abendessen ins Bett fallen, huh? Wenn Kai ehrlich war, er war kurz davor, sich anzuschließen. Nach einer Dusche. Erst einmal bekam Yamato sein Futter, damit er das Quengeln aufhörte. Kai grinste zufrieden, als der Kater sich auf seinen Napf stürzte und Ruhe gab – wenn man von seinem lauten Schmatzen absah zumindest. Es hatte etwas unheimlich zufriedenstellendes, so ein kleines Tier glücklich zu machen.   „Hast du den Hund gefunden?“ Rui hatte sich an den Küchentisch gesetzt, bemerkte Kai, als er nach dem Händewaschen zu ihm hinüberblickte. „Ja! Er hatte sich in einer Hecke verheddert. Ganz schön dumm, was? Sah aber ganz gesund und munter aus. Bisschen dreckig, aber das war zu erwarten. Und du hast gut nach Hause gefunden?“ Rui brummte. Kai warf noch einen Blick zu ihm hinüber und begegnete einem unwilligen, fast beleidigten Trotzen. „Ich bin kein Kleinkind, Kai. Natürlich hab ich den Weg gefunden.“ „Hey, das hab ich nicht gesagt! Ich mein doch nur, du kennst die Gegend nicht besonders.“ Noch ein unzufriedener Laut. Kai schüttelte gutmütig den Kopf, trat zu Rui hinüber, um ihm über das wirre Haar zu streicheln. Einen Kuss auf die Stirn später hatte sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen wieder geglättet, aber die beleidigte Schnute war geblieben. „Ich sehe dich nicht als kleines Kind, Rui.“ „Du behandelst mich so.“ Kai seufzte. Wie könnte er Rui jemals wie ein Kleinkind behandeln? Es war etwas völlig anderes, dass er ihn gern umsorgte. Er sah ihn versöhnlich an, hauchte einen Kuss auf seinen unzufrieden verzogenen Mundwinkel. „Nicht. Vertrau mir?“   „…ich versuch’s.“     ***     Inzwischen war Rui schon mehr als einen Monat bei ihm. Es war ein bisschen seltsam, dass seine Familie ihn scheinbar immer noch nicht suchte, aber nachdem ein neuerlicher Kommentar dazu wieder nur damit beantwortet wurde, dass sie sicher davon ausgingen, Rui sei im Ausland auf seiner Schule, ließ auch Kai das Thema fallen. Es war nicht seine Verantwortung, was Ruis Familie tat, und es sprach wenig für sie, dass sie – ja. Scheinbar doch recht wenig Interesse an ihrem Sohn aufbrachte. Es war etwas so Erschütterliches, dass Kai insgeheim ganz froh war, dass Rui das Thema mied. Er wollte wirklich nicht schlecht über Menschen reden, die er nicht kannte, aber er war sich nicht sicher, wie gut er sich noch selbst unter Kontrolle haben würde. Er konnte Ruis Familie nichts Positives abgewinnen, je öfter er darüber nachdachte. Jedes Mal, dass er mit seiner eigenen Familie zu tun hatte, mit Mutter, Vater oder Geschwistern telefonierte, verglich er sie unabsichtlich mit Ruis Familie. Versuchte, sich vorzustellen, wie seine Familie reagiert hätte, wäre eines der Kinder weggelaufen. Anders, in jedem Fall. Nicht so desinteressiert. Kai war froh, dass er Rui gefunden hatte. Dieser wunderbare kleine Junge hatte es nicht verdient, in einem Umfeld zu leben, dem er so sehr egal war.   Mehr als ein Monat. Auch wenn der Gedanke immer noch mit der Bitterkeit Ruis Familie gegenüber verbunden war, Kai konnte trotzdem nicht anders, als sich zu freuen, dass Rui bereits schon so lange ein fester Teil seines Lebens war. Auch wenn es objektiv sogar eher eine kurze Zeitspanne war – für Kai war es viel, und es war viel passiert. Es fühlte sich nach einer ganz seltsamen Ewigkeit an und eigentlich doch viel zu kurz. Er freute sich darauf, zu sehen, wie aus einem Monat zwei wurden. Aus zwei drei. Aus drei vier.   Und irgendwann aus Monaten ein Jahr.   „Kai, du träumst.“ Er lachte ertappt auf, als Rui ihn aus seinen Gedanken riss. Sehr zu seiner Erleichterung hatte er vor lauter Träumen lediglich vergessen, das Fleisch auf seinem Brett weiter kleinzuschneiden; noch war kein Herd eingeschaltet, noch konnte nichts anbrennen. Er grinste selig, versuchte zu ignorieren, dass seine Ohren heiß zu kribbeln begannen. Nur von dir. Er antwortete letztlich nicht. Schenkte Rui nur ein kurzes glückliches Lächeln, ehe er an seine Arbeit zurückkehrte, damit an diesem Abend tatsächlich noch ein Essen auf den Tisch kam. Er war hungrig! Und Rui sollte es auch sein, immerhin war die letzte Mahlzeit – und der letzte Pudding – schon eine ganze Weile her. „Wovon träumst du?“ „Eigentlich hab ich nachgedacht.“ Er hielt noch einmal inne, sah über die Schulter zum Küchentisch hinüber, um erneut Ruis Blick zu suchen. Yamato saß auf seinem Schoß und blinzelte neugierig über die Kante des Tisches hinweg zu Kai auf. Seine Öhrchen zuckten aufmerksam, vermutlich dem lauten Vogelzwitschern folgend, das durchs offene Fenster hereinkam. Rui sah nicht halb so aufmerksam aus, aber Kai wusste, dass der Junge ihm zuhörte und ehrlich auf eine Erklärung wartete. Sein Magen machte einen glücklichen Purzelbaum. „Du bist schon über nen Monat hier! Die Zeit vergeht ganz schön schnell, nicht wahr?“ „Mhm.“ Ein kleines Lächeln lag auf Ruis Gesicht. Kaum ein Heben seiner Mundwinkel, so wie fast alles an Mimik auf seinem Gesicht eher unauffällig und unscheinbar war. Es reichte für einen zweiten Purzelbaum. „Es hat sich gar nicht so lang angefühlt.“ „Hah, ja! Ob das so bleiben wird?“ – „Vielleicht. Bei Kai ist doch alles immer hektisch.“   Sie waren totale Gegensätze. Rui war leise, wo er laut war, war langsam, wo er durchs Leben hetzte… Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fiel ihm auf, dass ihm kaum etwas Besseres hätte passieren können. War bestimmt nicht verkehrt, ab und zu alles ein bisschen ruhiger angehen zu lassen.   Er hatte nicht das Gefühl, in diesem letzten Monat-und-ein-paar-Tage etwas verpasst zu haben.   (Eher im Gegenteil.)   Inzwischen kochte das Abendessen – ein ziemlich unkonventionelles Curry, das aus den Resten bestand, die Kai überall gefunden hatte und so langsam verwenden musste – friedlich vor sich hin. Kai hockte rittlings auf einem der Küchenstühle, Rui gegenüber. Yamato war es irgendwann zu langweilig geworden und er hatte sich von Ruis Schoß verzogen, um lieber im Wohnzimmer mit seinem Kratzbaum zu spielen, der ein bisschen klein zu werden schien für den längst nicht mehr so winzigen Kater, der er bei seinem Kauf gewesen war. Kai konnte durch die Küchentür sehen, wie der Kater herumturnte, hinter ihm die offene Verandatür. „Ach übrigens.“ „Mh?“ „Hab die Wäsche vorhin rausgehängt. Meinst du, du schaffst das, die morgen abzuhängen?“ „Kai, ich bin kein Kleinkind.“ „Das sage ich auch nicht.“ „Du behandelst mich so.“ Rui sah ihn missmutig an. Kai grinste hilflos, hob beschwichtigend die Hände. Es war immer dasselbe. So sehr Kai auch beteuerte, dass dem nicht so war, Rui verlor seinen Eindruck nicht, und umgekehrt schaffte Kai es aber auch nicht, sich zu verändern. Zum Glück ließ es sich in der Regel relativ gut besänftigen. (Mit lieben Worten und zarten Küssen.) „Entschuldige, ja? Ich meine nur – ich hab Wäschefalten auch erst kurz vorm Auszug gelernt!“ Es hatte sich vorher einfach nie ergeben. Klar hatte er im Haushalt geholfen! Aber eben mit anderen Dingen. Und irgendwie war ihm auch nie bewusst gewesen, was für eine Wissenschaft das eigentlich war. Er schaffte es immer noch nicht, sein Zeug so ordentlich zusammenzufassen, dass es genauso platzsparend aufzuräumen war wie die Wäschestapel, die seine Mutter ihm immer auf den Schreibtisch gelegt hatte.   Rui antwortete nicht mehr, aber sein Blick hatte sich verändert. Er sah hinab, hatte die Mundwinkel kaum merklich heruntergezogen. Unzufrieden. Unwillig. Kai lächelte mitleidig, streckte sich über den Tisch hinweg, bis er Rui sanft über den Kopf streicheln konnte. „Andererseits, wer weiß, ob das Zeug dann überhaupt schon trocken ist, huh?“ Er bekam nur ein Brummen als Antwort, eine Form von unzufriedener Zustimmung. Es war okay. Kai würde sich merken, dass Rui eben keine Wäsche falten konnte, und damit war das Thema doch erledigt! Es war doch nicht schlimm. In seinem Tempo. Irgendwann würde das kommen, wenn es kommen wollte. Und wenn nicht, dann würde es auch nicht stören.   Yamato kam wieder, laut und quengelnd. Er stieß Kai mit bedenklicher Kraft gegen das Schienbein, maunzte dann noch einmal quengelnd auf. Lief zu seinem Futternapf hinüber und maunzte noch einmal. Schau, der ist leer! Gib mir Futter! Kai lachte herzlich. „Rui, würdest du?“ Da war ein Topf auf dem Herd, nach dem er eigentlich sehen musste… Und da wollte er nicht erst noch versuchen, Yamato Futter in den Napf zu füllen, während der Kater hektisch um ihn herumscharwenzelte und er am Ende dann überall Katzenhaare an den Fingern kleben hatte. Nein. Bis er dann die Hände wieder gewaschen hatte, war sein Curry längst angebrannt! Und aus Erfahrung wusste er, das schmeckte scheußlich. (Gegessen hatte er es trotzdem. Kai hasste es, Essen wegzuwerfen.)   Nachdem Rui sich um den Kater kümmerte, der bald wieder fröhlich schmatzend über seinem Futter hing, konnte Kai sich in aller Seelenruhe um das Curry kümmern – das auch entsprechend nicht verbrannte und durchaus essbar aussah, als es schließlich auf dem Tisch stand, zusammen mit einer großen Schüssel Reis. „Davon kann man eine ganze Familie ernähren“, kommentierte Rui, während er sich eine winzige Portion Reis und Curry in sein Schälchen schöpfte. Kai lachte nur. „Du übertreibst!“ „Du isst zu viel.“ – „Und du zu wenig. Wir gleichen uns aus! Denk dir einfach, ich ess deine Portion eben auch noch mit.“ Rui sah überhaupt nicht überzeugt aus. Du hast schon so viel gegessen, bevor ich da war, sagte sein Blick. Er schüttelte den Kopf, griff nach seinem Löffel, während Kai weiterhin fröhlich vor sich hin grinste. Er aß nur so viel, wie sein Körper brauchte! Offensichtlich, immerhin wurde er nicht fett. Auf der anderen Seite aß Rui damit scheinbar auch genug, immerhin wurde er nicht besorgniserregend dünn. „Also. Guten Appetit!“ – „Guten Appetit.“   Gemeinsames Essen war immer eine relativ schweigsame Angelegenheit. Nicht nur jetzt mit Rui, sondern auch schon zu Kindheitszeiten war es immer halbwegs still am Essenstisch gewesen – maßgeblich wohl deshalb, weil jeder mit Essen beschäftigt gewesen war. Erst nachdem schon halbe Portionen vertilgt waren, begann man, sich auf netten Smalltalk zu konzentrieren. Inzwischen blieb es auch weitgehend still, wenn die Teller sich langsam leerten. Kai fand es angenehm friedlich. Entsprechend hatte er auch heute mit Stille gerechnet.   Womit er nicht gerechnet hatte war der undefinierbare, aber eindeutig nicht positive kleine Laut, den Rui ausstieß, ehe er sich in einer Mischung aus Erschrockenheit und Überraschung die Hand vor den Mund hob und zu husten begann. Mit einem Satz war Kai wieder auf den Beinen, stolperte stuhlpolternd um den Tisch herum zu ihm hin. „H-hey! Ist alles okay? Was ist passiert?!“ Er legte eine Hand auf Ruis Schulter. Die Reaktion darauf war prompt: Eine kleine Hand schlug nach ihm, als wolle Rui ihn wieder wegschubsen. Kai blinzelte irritiert. Nahm die Hand weg. Blieb stehen, nah genug, jederzeit wieder zupacken zu können, wenn es nötig wurde, sah besorgt zu seinem Freund hinunter. Nach einem Moment nahm der zumindest die Hand vom Mund, so geschickt vor Kais Blick verborgen, dass er vermutete, er hätte auch gar nicht näher hinsehen wollen. Er griff nach einem Taschentuch, wischte sich die Handfläche ab und dann Tränen aus den Augenwinkeln. „Rui?“ Könnten Blicke töten… Nein, ganz so schlimm war es nicht, aber Rui sah wirklich alles andere als zufrieden aus, als er wieder zu Kai aufsah. Ein sehr halbherziger Schlag traf seine Schulter, und er blinzelte hilflos. Also… nein. Er verstand das gerade nicht. Gar nicht. Immerhin irgendeine Form von Erklärung kam noch: „Zu heiß.“ Das Essen war zu heiß. Kai lachte erleichtert auf – schlechte Idee, sagte Ruis missgelaunter Blick – und atmete beruhigt aus. Das war gut. Nichts Schlimmes. Das passierte, dass man sich den Mund verbrannte. Hatte Kai auch oft genug. Im Winter, wenn der heiße Tee ein bisschen zu verlockend aussah. „Zieh kein Gesicht, ja? Nächstes Mal pass ich besser auf.“   Im Ernst, wenn man hungrig war, konnte Kai total verstehen, dass man dafür keine Zeit mehr hatte! Und er war froh, wenn Rui aß, also kümmerte er sich eben darum, dass er es ohne Sorge tun konnte.   Und er mochte sie, jede kleine Banalität, die er für Rui tun konnte. I.VI Change of Pace ------------------- Er hatte verschlafen. So heftig verschlafen, dass es Rui war, der ihn geweckt hatte, mit der völlig verdutzten Frage, ob er nicht langsam los müsste. Musste er. Eindeutig. Zumindest viel zu bald, als dass er noch entspannt fertig werden würde, und natürlich hatte er es am Abend nicht für nötig gehalten hatte, sein Zeug schon bereitzustellen. Wäre doch zu einfach.   Er verstand nicht einmal, wie er so sehr hatte verschlafen können. Das war normalerweise überhaupt nicht Kais Art! Auch wenn sie wirklich lange wachgeblieben waren. Ein überraschender, nächtlicher Regenschauer hatte zur Abwechslung doch wieder auf die Veranda hinausgetrieben. Einfach nur dort sitzen, dem Regen zusehen, und gelegentlich ein paar Worte miteinander wechseln. Es war so vertraut geworden, dass es Kai beinahe schmerzte, als ihm bewusst wurde, dass es nach Ende der frühsommerlichen Regenzeit immer rarer geworden war. Gleichzeitig freute er sich. Nächstes Jahr würde der Regen wiederkommen. Nächstes Jahr würden die ewigen Stunden auf der Veranda wiederkommen. Es war nichts, das ihm verloren ginge. Sie würden neue Angewohnheiten für den Rest der Zeit finden. Wer wusste, was für welche es sein würden, aber sie würden sie finden. Vielleicht hatte er sich in den Gedanken ein bisschen zu sehr verlaufen. Vielleicht hatte ihn die Vorstellung davon, wie sie sich im Winter gemeinsam nach einem anstrengenden Tag auf dem Sofa unter eine Decke kuscheln und Tee trinken würden – nicht zu heiß! –, zu sehr abgelenkt. Als er irgendwann von einem meckernden Kater aus seinen Träumereien gerissen wurde, hatte der Blick auf die Uhr ihm fast einen Herzinfarkt beschert.   Und dann hatte er verschlafen. Einfach so.   „Kai, wenn du so weiterrennst, fällst du hin.“ Ruis Mahnung wurde mit einer vagen Geste abgewedelt, während er versuchte, sich daran zu erinnern, was er eigentlich im Wohnzimmer gewollt hatte. Seine Klamotten waren nicht hier, und seine Bentobox genauso wenig, und– er hatte keine Ahnung mehr! Er war es nicht gewöhnt, zu spät zu sein, und er war völlig überfordert damit. Er hörte Ruis Seufzen hinter sich, als er wieder aus dem Raum polterte und in die Küche hinüberlief. Frühstück. „Du bist selbst schuld“, fügte der Junge noch hinzu, als er zu Kai aufschloss, „Wärest du mal früher ins Bett gegangen.“ „Ich weiß, ich weiß! Jetzt mach es nicht noch schlimmer, Rui!” Rui hatte keinerlei Mitleid. Grausam, wie Kai fand. Aber ein bisschen auch doch berechtigt, denn er hatte ja Recht. Es half nur alles nichts, und nach ein paar Minuten, in denen er sogar sein Portemonnaie, sein Handy und seine Arbeitstasche gefunden hatte, stand er doch wieder ziellos in der Küche – und ihm fiel ein, dass er eigentlich ein Frühstück gewollt hatte. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran. So ein Glück, dass er ausnahmsweise einmal Toast im Haus hatte! (Und dafür sonst kaum etwas anderes.) Rui sah ihm interessiert zu, wie er versuchte, den frisch getoasteten Toast zu buttern, ohne sich die Finger dabei zu verbrennen. Wenn Kai es nicht besser wüsste – wusste er das wirklich? –, dann würde er fast glauben, er wäre schadenfroh.   Rui lachte, als der Toast ihm aus den Fingern fiel vor Hektik. Eindeutig schadenfroh.   Für den heutigen Tag war er als Umzugshelfer engagiert. In einem recht großen Umfang sogar; fünf oder sechs Personen, er hatte es sich nicht gemerkt, die in ein großes Wohnheim zogen. Mit Aufzug, aber sperrige Teile würden sie trotzdem über die Treppe manövrieren müssen. Es klang anstrengend. Es klang noch anstrengender, nachdem ein Blick nach draußen zeigte, dass der nächtliche Regen längst wieder grellem Sonnenschein gewichen war. Positiv: Yamato konnte wieder hinaus. Negativ: Kai würde eingehen vor Hitze. Noch negativer: Es würde spät werden, bis er wieder heimkam. Zu spät, um dann noch einzukaufen. Kai seufzte geschlagen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ihm bewusst wurde, wie sehr sein Plan gerade in die Hose ging, vor dem Arbeiten noch einkaufen zu gehen. Großartig! „Kai?“ – „Ich hab vergessen, dass ich heute früh einkaufen wollte.“ „Ich kann doch gehen.“ „Sicher?“ Kai hob die Augenbrauen, ehrlich besorgt. Rui war… na ja. Winzig. Schwach, und das war keine Übertreibung. Kai wollte ihm eigentlich nicht aufdrücken, schwere Einkaufstüten zu schleppen, wenn es nicht absolut dringend nötig war. Und eigentlich konnte man es sicher auch noch einen Tag hinauszögern, also… Aber Rui nickte, sehr entschlossen. „Ich kann ein bisschen Zeug schleppen. Dafür muss man nicht so idiotisch stark sein wie du.“ „Okay, okay! Verstanden! Du kannst Zeug schleppen. Einkaufszettel liegt im Flur.” Er lächelte gutmütig, wuschelte Rui sanft durchs Haar. Der Junge schob unwillig seine Hand wieder weg. „Hör auf damit. Ich bin kein Kleinkind.“   „Ich weiß, Rui.“ „Dann behandel mich nicht so.“ Er verzog trotzig das Gesicht. Kai öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Rui schnitt ihm mit einem entschiedenen Kopfschütteln das Wort sofort wieder ab. „Ich will–“, begann Rui, brach dann aber augenblicklich wieder ab. Gestikulierte vage. Hob die Schultern, ließ sie recht bald wieder resigniert sinken und seufzte. „Helfen. Ich mag es nicht, dass ich mich nur wie eine Last fühle. Und damit meine ich nicht nur Kleinigkeiten, wie dir Gesellschaft zu leisten, wenn du verlorene Hunde und Katzen suchst, oder mal ein bisschen einkaufen.“ „Rui…“ Kai lächelte mitleidig, entschuldigend. Behutsam legte er eine Hand unter Ruis Kinn und hob es an, damit der Junge ihn direkt ansah. Er hatte nicht gewusst, dass es Rui so sehr belastete. Wie auch? Es war das erste Mal, das es so direkt zur Sprache kam.   Es war… irgendwie süß. Er verstand zwar nicht, wo genau das ausgerechnet jetzt herkam, hatten sie die Kleinkind-Diskussion doch öfter, aber Kai war froh, dass es rausgekommen war. „Mach dir keine Sorgen darum, ja? Du bist mir keine Last, Rui. Ich hab dich gern bei mir! Und es ist genug, was du tust. Ehrlich. Und! Ich schwöre dir hoch und heilig, ich würde dich niemals wie ein kleines Kind behandeln.“ Er besiegelte den Schwur mit einem Kuss auf Ruis Lippen. Im ersten Moment war er recht sicher, dass er keine Reaktion bekommen würde, denn er bekam sie selten, wenn Rui noch beleidigt war – doch sie kam. Ruis Hände griffen sacht in sein Oberteil, warme Lippen drückten sich seinen entgegen. Kai erschauderte unwillkürlich, sein Herz setzte einen kurzen Moment aus. Sein Daumen griff sanft an Ruis Kinn, ein leichter Druck, der genügte, damit er die Lippen für Kais Zunge öffnete. Er konnte sich völlig darin verlieren. Rui zu küssen, zu berühren, festzuhalten. Seinen warmen Atem zu spüren, der über seine Lippen kitzelte. Es reichte, um ihm Hitze durch den ganzen Körper zu jagen und jeden Herzschlag schmerzhaft intensiv werden zu lassen.   Es kostete ihn jedes Mal wieder viel zu viel Mühe, sich zu lösen. Meist war es Rui, der den Kuss beendete, so auch dieses Mal. Als Kai die Augen wieder öffnete, sah er leuchtende Augen, rote Wangen und feuchtgeküsste Lippen – ihm wurde nur noch heißer. Er atmete tief durch und schob konsequent den Gedanken daran beiseite, wie gern er das hier vertieft hätte. Rui war einfach wunderschön, und Erröten stand ihm. Kai hatte keinen Zweifel daran, dass ihm noch mehr Farbe nur noch besser stehen würde. Aber daran wollte er nicht denken. Er wusste, wie es endete. (In kalten Duschen.) „Kai. Musst du nicht los?“   Er musste los. Schon seit einer ganzen Weile. Mit einem panischen Japsen schnappte er sich seine Arbeitstasche, vergaß seinen Toast kaum angebissen auf der Arbeitsplatte und stürmte aus dem Haus. Ruis Seufzen hörte er noch im Hinausrennen.     ***     „Kannst du singen?“   Kai blinzelte. Verdutzt. Es war früher Nachmittag, endlich Zeit für die erste Pause des Tages. Er hatte sich in der Lobby des Wohnheims verschanzt, um sich ein wenig vor der Gluthitze draußen zu schützen, saß auf einem modischen Ledersofa im Aufenthaltsbereich. Vor ihm stand ein gut gebauter Mann um die dreißig, würde Kai schätzen, der trotz der Hitze einen ordentlichen Anzug trug – sogar mit Krawatte. Er grinste ein gutgelauntes, ansteckendes Grinsen. Kai wusste nicht mehr über ihn, als dass er Mitarbeiter der Produktionsfirma war, für die sie gerade den Umzug einer Idol-Gruppe durchführten. Immerhin mussten sie das Zeug nur von den Umzugswägen aus ins Haus schleppen, und nicht noch jede Fuhre selbst fahren. Das machte es um einiges erträglicher, auch wenn es trotzdem unglaublich anstrengend war; so viele Möbel! Kein Wunder, bei insgesamt sechs jungen Männern, die Kai zumindest einmal flüchtig gesehen hatte, ehe sie schwatzend im Wohnheim verschwunden waren; die Truppe sah bunt aus. (Wortwörtlich. Einer der kleinsten hatte rosafarbenes Haar!) Er hatte geplant, ein paar Minuten zu entspannen, seine Bentobox zu leeren, und sehr, sehr viel zu trinken, bevor er sich wieder an die Arbeit machte – er hatte nicht geplant, Smalltalk mit einem Mitarbeiter zu führen.    „Bitte?“ Der Kerl lachte freundlich. Er ließ sich weit lockerer, als sein Auftreten vermuten lassen würde, auf den Sessel schräg gegenüber von Kai fallen. „Ob du singen kannst, Fuzuki-Kun.“ „Ich… denke?“ Kai lachte, halb amüsiert, halb hilflos. Was wurde das denn? Er hatte eigentlich nur seine Pause machen wollen, und jetzt das? Sein Gegenüber störte sich immerhin nicht sonderlich an seiner Verwirrung, lächelte nur gewinnend. Er lehnte sich ein Stück vor, in einer Bewegung, die irgendwie vertraulich wirkte; Kai fand ihn sympathisch. Er erinnerte ihn eher an eine Art von großem Bruder als einen knallharten Geschäftsmann. „Weißt du, du gefällst mir. Deine Ausstrahlung ist wirklich mitreißend! Hast du schon einmal über eine Zukunft als Idol nachgedacht?“ Nein. Kai hatte nicht über eine Zukunft als Idol nachgedacht. Warum auch? Er starrte entsprechend entgeistert in das grinsende Gesicht des Mannes. „Oh. Ich hab  mich gar nicht vorgestellt, oder? Hier.“ In selbstverständlicher Routine holte er eine Visitenkarte aus der Sakkotasche, reichte sie an Kai weiter. Sein Name, vorausgesetzt, er las die Kanji richtig, war Kurotsuki Dai. „Kurotsuki-San?“ – „Genau. Also, wo waren wir? Genau. Bei deiner Zukunft als Idol.“ Kai öffnete den Mund, nicht recht sicher, was er sagen sollte. Er kam auch nicht dazu, allzu viel hervorzubringen, denn Kurotsuki sprach weiter. Erzählte, dass er kürzlich erst den Job als Manager angenommen hatte, nachdem er vorher eigentlich eher als Bodyguard bei Tsukino Talent Production gearbeitet hatte. Es klang abenteuerlich, und allein wegen der verrückten Erzählung war der Mann Kai gleich noch sympathischer. „Momentan bin ich dabei, mir meine erste eigene Gruppe zusammenzucasten. Bisher recht erfolgreich, aber es fehlt einfach noch einiges – und ich denke, du würdest gut zu den bisherigen Mitgliedern passen. Also, was meinst du?“   Kai meinte gar nichts. Er schüttelte überfordert den Kopf. Sein Herz raste. Ein großer Teil von ihm wollte einfach nur ja sagen, sich auf dieses neue Abenteuer einlassen, denn es klang einfach nur großartig. Und aufregend. Und neuartig. Und genau nach etwas, das Kai einfach wunderbar finden würde. Aber da war ein kleiner Teil in ihm, der sofort ganz andere Sorgen hatte – Sorgen, die bedeutend lauter waren als Kais Abenteuerdrang. Rui. Er grinste sehr schief, schüttelte langsam den Kopf. Er würde Rui nicht alleine lassen – und genau das wäre es. Wie sollte er in irgendein Wohnheim ziehen, wissend, dass Rui dann keinen Platz nirgendwo mehr haben würde? Rui brauchte ihn. Kai brauchte vor allem Rui, und ohne ihn würde er nirgendwo hingehen. „Tut mir Leid, Kurotsuki-San, aber ich kann meinen Mitbewohner nicht so einfach im Stich lassen.“ Der fremde Mann sah ihn einen langen Moment überrascht an, dann grinste er, halb amüsiert, halb unwillig. „Das macht dich nicht unsympathischer, Fuzuki-Kun.“ Kai wollte auch nicht unsympathisch sein! Es tat ihm auch Leid, aber– er konnte nicht. Nicht ohne Rui, niemals ohne Rui.   Es war so eine riesige Chance. Er seufzte schwer, begann mit der Wasserflasche zu spielen, die er seit Beginn des Gesprächs immer noch in den Händen hielt. Wenn er Rui einfach mitbringen könnte– „Ah! Kurotsuki-San, Sie sagten, Sie suchen noch mehrere Leute, ja?“ Der Mann nickte, wenn er auch eher skeptisch aussah. Kai ließ die Wasserflasche achtlos in seine Tasche plumpsen, zog dann sein Handy daraus hervor. Er machte nicht oft Fotos, entsprechend brauchte er nicht lange, um das Bild zu finden, das er suchte – und es dann dem Manager zu präsentieren. Er grinste breit, als er sah, wie Kurotsukis Blick sofort erstaunt größer wurde. „Mein Mitbewohner“, begann er atemlos zu erzählen, „Er mag Musik! Spielt Klavier. Braucht man als Idol zwar nicht, aber der Punkt ist, Musik ist sehr genau sein Ding! Vielleicht–“ Vielleicht was auch immer – Vielleicht wollte Kurotsuki ihn zumindest für ein Vorstellungsgespräch in Erwägung ziehen? Kai blickte den Mann hoffnungsvoll an, abwartend, das Handy immer noch in der Hand, unruhig, reglos. Nach einem Moment, der einfach entschieden zu lange dauerte, begann Kurotsuki breit zu strahlen und er klatschte vergnügt in die Hände. „Warum nicht? Er sieht interessant aus! Und du bist mir wirklich sympathisch, junger Mann. Bring ihn mit.“ Er lachte herzlich. „Kann nicht mehr als schief gehen, und dann bringen wir es trotzdem dazu, dass es läuft! Meine Jungs sollen Persönlichkeit haben, nicht perfekt funktionieren.“   „Ist das wirklich Ihr Ernst?“ Kai konnte es nicht glauben. Es klang viel zu einfach. So… perfekt. Er konnte diese Chance annehmen. Rui bei sich behalten. Und hatte Rui sich nicht etwas zu tun gewünscht? Das war doch genau richtig dafür! Und es war Musik. Kai hätte niemals alleine die Möglichkeit, Rui irgendwie Zugang zur Musik zu verschaffen, aber hier– das war eine unglaubliche Gelegenheit! Für sie beide. Zusammen. Er schluckte, starrte Kurotsuki riesig an, als der lachend noch einmal bestätigte, dass ja, das sein voller Ernst war.   Es war ein riesiges Chaos, es ging viel zu schnell, und Kai fühlte sich völlig überfordert. Sie unterhielten sich noch mehr als eine Stunde lang. Von seinem eigentlichen Job wurde Kai freigesprochen, um die Details ihres neuen Arrangements zu diskutieren. Er war sich nicht sicher, ob er alles verstand, aber Kurotsuki war geduldig mit ihm und erklärte ihm jedes Detail notfalls auch dreimal, wenn er es nicht auf Anhieb begriff. Im Endeffekt klang es dann sogar sehr simpel – sie machten einen Termin aus, um die Verträge zu unterschreiben und sobald die Band vollständig zusammen war, würden auch sie in dieses riesige Wohnheim ziehen. Bis dahin würde es bereits erste Crashkurse in Tanz und Gesang geben. Kai war dankbar darum. Er hatte nie bewusst irgendetwas Musikalisches in seinem Leben gemacht. Kurotsuki war optimistisch, dass mit ein bisschen Übung jeder lernen konnte, was nötig war, um ein Idol zu sein, und betonte noch einmal, wie viel wichtiger es ihm war, dass seine Jungs sich durch ihre Persönlichkeit von der Masse abhoben.   Nach dem Gespräch wurde Kai dann entlassen. Er hatte seinen Termin hinten auf die Visitenkarte gekritzelt bekommen, zusammen mit einer privaten Handynummer, falls etwas dazwischenkommen sollte und Kurotsuki nicht auf anderem Wege zu erreichen war. So verdreht es alles war, es fühlte sich unglaublich real an – und das machte es nur noch überwältigender. Ihm war schwindelig, als er aus dem Gebäude trat. Die Hitze, die ihm draußen entgegenschlug, machte es kaum besser und er schüttelte verwirrt den Kopf. Er lachte überfordert auf. Das war kein Traum. Das war wirklich passiert!   Er konnte es nicht erwarten, es Rui zu erzählen! Er wollte ihn umarmen und küssen und durch die ganze Wohnung wirbeln vor Freude.     ***     Dass er die U-Bahn nehmen musste, um nach Hause zu kommen, zwang ihn, zumindest ein bisschen ruhiger zu werden in aller Aufregung. Sein Herz raste immer noch, und sein Kopf schmerzte vor lauter Aufregung – er fühlte sich großartig. Bis über beide Ohren grinsend sah er auf sein Handy hinunter, das er vorsorglich so hielt, dass niemand so leicht draufschauen konnte. Er hatte das Foto niemals gemacht, um es jemandem zu zeigen, aber jetzt war er unglaublich froh darüber, dass er es doch getan hatte.   Es war aber auch atemberaubend schön.   Er hatte das Bild vor einigen Tagen erst gemacht. Nachdem er sich wieder und wieder morgens gedacht hatte, wie unglaublich schön Rui aussah, wenn er gerade langsam aus dem Schlaf erwachte, hatte er schon lange das stille Bedürfnis gehabt, es für die Ewigkeit festzuhalten. Er hatte es ziemlich lange doch gelassen, aber irgendwann war seine Vernunft einfach besiegt gewesen. Das Handy fotografierbereit auf dem Nachttisch hatte er Rui also schließlich geweckt, wie er es jeden Morgen tat – mit liebevollen Berührungen und zarten Küssen, bis er sich langsam regte und schließlich die Augen aufschlug. Der Anblick war unglaublich gewesen. Überwiegend vergraben im weißen Bettzeug, eine Hand lose in die Bettdecke gekrallt, das hübsche Haar ein wirrer Vorhang, der ihm in die Stirn fiel und sich bis aufs Kissen ausbreitete. Mit dem grellen Sonnenlicht, das durchs Fenster hineinfiel, sah es beinahe aus, als würde Rui leuchten. Er hatte ein Auge zugekniffen, das andere sah völlig träge und desorientiert in die Kamera, letzte Spuren an Röte auf seinen Wangen erzählten von den Küssen, die sie gerade noch geteilt hatten. Kai hatte ihn, kaum, dass er sein Foto gemacht und das Handy achtlos ans Fußende des Bettes gepfeffert hatte, gleich noch einmal geküsst. Und nochmal. Und dann hatte er einen mahnenden Klaps auf den Hinterkopf kassiert, weil es Rui zu viel geworden war, und er hatte lachend von ihm abgelassen. So, wie er es immer tun würde. Er starb lieber als alte Jungfer, als Rui irgendetwas anzutun, das er nicht wollte. (Bisher war es leicht. Kai hatte genug Selbstkontrolle, und wo Selbstkontrolle nicht mehr half, half kaltes Wasser.)   Die ganze Fahrt über grinste er auf das Bild hinunter und erst mit dem Aussteigen steckte er das Handy zurück in seine Tasche. Sein Puls hatte sich ein bisschen beruhigt – aber auch nur so lange, bis er aus der U-Bahn gestiegen war und in unnötig schnellem Tempo den restlichen Heimweg antrat. Er hatte keine Ahnung, wie Rui reagieren würde. Entgeistert, vermutlich, zuerst einmal – so wie Kai selbst reagiert hatte. Würde er sich freuen? Kai konnte sich nicht vorstellen, dass er sich nicht freuen würde. Es war Musik! Das allein sollte ein positives Argument sein. Und es war etwas zu tun. Und sie konnten zusammenbleiben. Im Endeffekt war es auf lange Sicht sogar besser so, da war Kai sich relativ sicher. Es war ein guter Anfang für Rui, einen eigenen Platz im Leben zu finden, und Kai konnte trotzdem bei ihm bleiben und ihn unterstützen, auf ihn aufpassen.   Im Hausflur angekommen stolperte er geradezu über seine eigenen Füße, als er die Schuhe abstreifte. „Bin zuhause!“, rief er laut in die Wohnung hinein. Yamato war wohl draußen, sonst wäre er längst zur Begrüßung gekommen, dafür kam Rui heran, der relativ erschöpft vom Einkaufen aussah – und verblüfft. „Du bist früh. Was war das denn für ein Umzug?“ Kai lachte unwillkürlich auf, völlig überwältigt, immer noch. Er griff nach Ruis Händen und zog ihn näher zu sich, küsste ihn flüchtig auf den Mund. „Unserer!“ „…was?“ Rui schüttelte den Kopf. Er trat einen Schritt zurück, um Kai stirnrunzelnd anzusehen, doch er zog seine Hände nicht zurück, und das reichte, dass Kai einfach weiterstrahlte. „Du ergibst keinen Sinn, Kai. Du redest wirres Zeug. Ist dir ein Schrank auf den Kopf gefallen und du bist deshalb schon zurück?“ Er schüttelte den Kopf, lachend. Zog Rui doch wieder näher an sich und in eine feste, ziemlich klebrige Umarmung. Gerade konnte er sich gar nicht daran stören.   Sie würden umziehen. Gemeinsam. Raus aus der ersten eigenen Wohnung. Sie hatte nicht einmal ein Jahr gehalten. Was für ein seltsamer Gedanke! Kai würde sie ein bisschen vermissen, wenn er ehrlich war. Die Wohnung, und vor allem die Veranda. Sie würden einen neuen Platz finden, um die Abende zu verbringen, hoffte er zumindest innig. Und auch wenn er der großen Veränderung zumindest mit einem weinenden Auge wegen dem sentimentalen Wert der Wohnung entgegensah, er war trotzdem überglücklich. Er packte Rui fester, wirbelte ihn lachend durch den Flur. „Kai, was soll das? Wah–! Hör auf! Kaiiii!“ Er hörte auf, lachend, ließ sich gegen die Wand sacken, während er Rui immer noch hochgehoben hielt. Der Junge sah auf ihn hinunter, stirnrunzelnd, mit geröteten Wangen, und Kai hatte nicht das Gefühl, dass Rui ihm wirklich böse wäre. Er reckte sich zu einem Kuss zu ihm hoch, der viel stürmischer ausfiel, als er es eigentlich geplant hatte. Trotz eines zuerst eher überrumpelten als begeisterten Laut erwiderte Rui den Kuss schließlich, beide Hände in seine Schultern gekrallt. Kai küsste ihn so lange, wie er es aushielt, doch irgendwann mussten all die wirren Worte einfach aus ihm heraus und er löste sich, strahlte Rui voller Glück und Liebe an.   „Wir ziehen um. Gemeinsam“, war der Beginn der Kaskade, und dann war Kai nicht mehr ruhig zu kriegen – zumindest solange, bis Rui ihn unterbrach.   „–was für ein Foto bitte?!“ II.I Surprises -------------- „–und deshalb musst du uns helfen, Kai-San!“   Es war noch keine sechs Uhr morgens, Kai war gerade aufgestanden und noch nicht einmal aus seinem Zimmer gekommen, da hatte es schon an der Tür geklopft. Eben jene Tür wurde gerade immer noch verstopft von drei kleinen Kerlen, die davor standen. Iku grinste sonnig, Koi hatte den schlimmsten Bettelblick aufgesetzt, und Kakeru sah aus, als hätte er allergrößte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. Er war so verdutzt, dass er gar nichts zu sagen wusste. Seit seinem Einzug im Wohnheim hatte er sich an einige Seltsamkeiten gewöhnt, aber dass früh morgens drei Kinder vor seiner Tür standen, von denen obendrein zwei als ziemliche Langschläfer bekannt waren, das gehörte einfach ganz eindeutig nicht dazu. Er war es gewöhnt, dass Yoru ihn schalt, wenn er sich nachts noch Instantnudeln kaufte, weil er hungrig war und zu faul, sich selbst etwas zu kochen. Er war es gewöhnt, dass man Shun effektiv mit frisch gekochtem Tee bestechen konnte. Er war es gewöhnt, dass You ihn ungefähr einmal wöchentlich darauf hinwies, dass er aufhören sollte, seine Bandkollegen zu bemuttern. Er war es auch gewöhnt, dass Koi und Kakeru manchmal kreischend zu ihnen flüchteten, wenn sie ihren eigenen Bandleader Hajime wieder einmal verärgert hatten. Er war noch viele andere kleine Macken gewöhnt, aber das änderte nichts daran, dass er gerade sprachlos war, weil das hier einfach völlig neu war. Seine Besucher missinterpretierten sein Schweigen beinahe augenblicklich als Ablehnung – Koi jammerte unselig auf, lehnte sich vor, um ihn am Arm zu packen. „Bitte, Kai-San! Wir tun auch alles! Es ist nicht unsere Schuld, dass sich nie jemand drum gekümmert hat, den Geburtstagskalender zu vervollständigen! Wir konnten es doch gar nicht früher wissen!“ „Genau! Wir können froh sein, dass Koi den Artikel gefunden hat, sonst hätten wir den Geburtstag gar nicht bemerkt“, fügte Kakeru hinzu, das Ende seines Satzes schon halb in ein Gähnen übergehend. Er rieb sich müde über die Augen. Koi, wenn man näher hinsah, sah auch müde aus – die Art Müdigkeit, die davon kam, wenn man die Nacht vor dem Computer klebend durchmachte und lieber im Internet surfte, als schlafen zu gehen. Kai ahnte schon, dass der rosahaarige Kerl sich mit der Marotte bald wieder Ärger mit Hajime und Haru einhandeln würde. Mal wieder.   Er konnte sich die ganze Szene nur zu lebhaft vorstellen, die zu dem Besuch der drei Jungs geführt hatte. Aus dem unruhigen Gebrabbel von Koi und Kakeru, die am Liebsten durcheinander gesprochen hatten, als sie ihre Geschichte erzählten, hatte er mitnehmen können, dass Koi wohl im Internet auf einen Artikel anlässlich Ruis Geburtstag gestoßen war und dann sofort wie ein aufgescheuchtes Huhn losgestolpert war, um Kakeru zu wecken – sie mussten ihrem Kameraden schließlich irgendetwas zum Geburtstag schenken. Weil sie keine Idee gehabt hatten, waren sie schnell dazu gekommen, sich bei Ruis Bandkollegen Hilfe holen zu wollen. Und dann hatte Iku auch nicht viel sagen können, außer „fragt doch Kai-San!“ – und so waren sie vor seiner Tür gelandet. Kakeru gähnte nun doch herzhaft, schüttelte den Kopf; er sah wirklich nicht so aus, als hätte er so früh schon aufstehen wollen. Zusammen  mit Kois garantiert nicht sanften Weckmethoden – Kai hatte Mitleid mit ihm. Grinsen musste er trotzdem, weil es einfach so herrlich amüsant aussah. Auch Iku grinste, als er einen Blick zu dem Jungen hinüberwarf; er sah als einziger der Gruppe ernsthaft wach aus. Iku war eben ein Frühaufsteher. „Das heißt, du hilfst uns?“ Natürlich interpretierte er Kais Grinsen richtig. Sie hingen nun schon zehn Monate täglich aufeinander, da lernte man so etwas! Und Iku war unfassbar gut in Zwischenmenschlichem; er hatte sehr schnell gelernt, selbst in Rui zu lesen. Kai fand das beeindruckend und sehr erleichternd, denn Rui brauchte einfach Freunde in seinem Leben, auf die er sich verlassen konnte. Er klopfte Iku amüsiert auf die Schulter. „Natürlich helf ich euch! Ich kann doch meine Junioren nicht hängen lassen. Kommt rein.“ Sein Bett war noch ungemacht. Kai pfefferte die zerknautschte Bettdecke einfach zur Seite, dann bedeutete er den drei Jungs, sich auf entsprechendes ungemachtes Bett zu setzen, während er selbst mit dem Schreibtischstuhl vorliebnahm. Die digitale Anzeige eines kleinen Weckers zeigte, dass es fünf vor sechs am Morgen des sechzehnten Juni war.   Gemessen daran, dass Rui in frühestens vier Stunden aufwachen würde, wenn ihn niemand vorher weckte – was heute nicht nötig war, er hatte frei –, theoretisch noch genug Zeit, um eine Geburtstagsüberraschung zu organisieren. „Dann erzählt mal, wie sahen eure bisherigen Ideen aus? Ich hab vorhin vor lauter Hin und Her nichts verstanden!“ „Wir wollten Kuchen backen“, begann Koi. Er grinste völlig schamlos, „Dummerweise kann das keiner von uns? Also  haben wir überlegt, ob wir einen kaufen. Und dann wusste keiner von uns so recht, was Rui-Kun eigentlich mag.“ – „Außer Pudding“, fügte Iku gutmütig hinzu. Koi nickte bekräftigend, „Außer Pudding! …Kann man Puddingkuchen backen?“ „Ich kann es zumindest nicht“, gab Kai lachend zurück, „Aber wie wäre es, wenn ihr Yoru fragt? Aoi?“ Koi war von der Idee so begeistert, dass er schon hochrumpeln und sie fragen wollte – obwohl die beiden noch schliefen. Kakeru hielt ihn wohlweislich zurück, und nach ein paar Sekunden, die die beiden darum kabbelten, ob das nicht doch rechtfertigte, sie einfach aufzuwecken, ließ Koi sich doch resigniert zurück aufs Bett fallen. Er griff nach Kais Kopfkissen und knautschte es im Schoß zusammen, um sich draufzulehnen, wiegte dann nachdenklich den Kopf hin und her. „Wir fragen also Yoru-San oder Aoi-San, ob sie Kuchen backen könnten – sobald sie wach sind. Falls sie Zeit haben. Wenn nicht, dann müssen wir welchen kaufen. Irgendwo! Wir Kleinen sind doch die einzigen, die heute gar nichts zu tun haben, ne?“ Es stimmte. Kai hatte den Terminplan für Procella sowieso immer im Kopf, weil Shun es nicht hatte – und nachdem sie die beiden Ältesten waren, war es doch nur selbstverständlich, dass einer von ihnen den Überblick hatte! –, und nach einem netten Gespräch vor ein paar Tagen mit Haru, der über Gravis Terminplan gebrütet hatte, wusste er auch zumindest die nächsten Wochen lang darüber Bescheid.   Dadurch wunderte er sich nicht, all die Schulkinder hier zu sehen; aufgrund einer allgemein echt vollen Terminplanung für die ganze Woche hatte man durchgesetzt, sie entsprechende ganze Woche von der Schule zu befreien. Dieser Montag war, nachdem sie Samstag und Sonntag hatten den ganzen Tag arbeiten müssen, ihr einziges Wochenende – bis zum nächsten Samstag oder Sonntag, je nachdem welchen der Jungs es betraf. Kais eigener Terminplan sah dagegen weitgehend human aus, wobei es ihn auch nicht störte, wenn er vollgestopft war; das gehörte einfach dazu! Er hatte ja aber auch keine Schule oder Studium nebenbei zu jonglieren, also war das halb so wild. Lediglich mit dem heutigen Auftrag war er nicht ganz glücklich; dass er vom frühen Morgen bis in den Nachmittag hinein unterwegs sein würde, bedeutete einerseits, dass er Rui nicht wecken konnte, und andererseits, dass er insgesamt nicht genug Zeit hatte, um etwas zu seinem Geburtstag zu organisieren. Natürlich hatte er ein Geschenk! Aber darüber hinaus? Er hätte gern etwas unternommen, aber die Arbeit ging vor. Sie hatten noch genug gemeinsame Jahre vor sich, um das nachzuholen. Und Kai war trotzdem glücklich – maßgeblich deshalb, weil da diese drei Knirpse in seinem Zimmer waren, die ihren freien Tag dafür opfern wollten, Rui glücklich zu machen. Am Anfang war es schwierig gewesen. Rui hatte keine neuen Bekanntschaften gewollt. „Ich will kein Idol sein!“, hatte er inbrünstig verkündet, selbst an dem Tag, an dem sie bei Kurotsuki gewesen waren und ihre Verträge unterschrieben – mitgekommen war er trotzdem. Entsprechend holprig war sein Start gewesen, aber irgendwie hatte er es im Laufe dieser zehn Monate doch geschafft, eine gute Beziehung zu seinen Kollegen aufzubauen. Rui hatte Freunde, vielleicht zum ersten Mal im Leben. Freunde, denen er wichtig genug war, dass sie jetzt hier saßen und hitzig darüber diskutierten, was sie denn jetzt zu seinem Geburtstag machen konnten – auch wenn sich die Diskussion gerade nur darum drehte, welche Konditorei da draußen wohl Puddingkuchen verkaufen würde, für den Fall, dass niemand im Haus Zeit zum Backen hatte. Oder ob sie einfach ein Rezept von Yoru bekommen konnten?   Dass sie eigentlich hergekommen waren, um bei Kai Hilfe für eine gemeinsame Unternehmung zu suchen, hatten sie scheinbar schon wieder vergessen. (Koi und Kakeru zumindest. Iku hielt sich amüsiert insgesamt aus der Diskussion zurück, immer wieder zu Kai hinübergrinsend.)   Es störte Kai nicht. Er verfolgte gern amüsiert, was die Jungs sich ausdachten. Irgendwann wurde ihnen die Kuchenüberlegung doch über und sie begannen, über ihren Ausflug nachzudenken. Eine der ersten Ideen, nachdem Kois Spielhallenvorschlag gnadenlos abgeschmettert wurde, war ein Kinobesuch. Nach mehreren Minuten, die Koi und Kakeru darüber diskutierten, welche Filme gerade überhaupt ansehbar waren, und ob Kino nicht eigentlich teure Zeitverschwendung war – „Die Snacks sind völlig überteuert, Koi! Dann gehen wir lieber nachher was essen!“ – „Aber Kakeru-San!! Das gehört einfach dazu!“ –, wurde die Idee dann endgültig verworfen. „Rui mag doch keine Menschenmassen“, erinnerte Iku in einer Atempause, „Ich bezweifle, dass er zwischen fremden Menschen eingepfercht herumsitzen so toll finden wird, hm?“ Kai mochte es wirklich – Iku, und die Tatsache, dass er so ein gutes Händchen im Umgang mit Rui hatte. Er verstand vieles, ohne dass Rui es erklären musste, er war geduldig, war kompromissbereit, war richtig gut darin, Rui zu besänftigen, wenn sie stritten. Und Rui vertraute ihm. Ikus Erinnerung führte leider aber auch dazu, dass viele andere Ideen erst einmal wieder verworfen wurden – sobald man rausging, fand man schließlich überall zu viele Menschen, und solche Sachen wie große Shoppingtouren waren obendrein ohnehin weniger Ruis Ding. Vergnügungspark, war schließlich eine Idee, die sich sogar etwas länger in der Besprechung hielt. Nachdem das Wetter nicht besonders gut war, typisch Juni und Regenzeit eben, sollte es schließlich auch nicht zu voll sein. („Haben wir genug Regenschirme?“ – „Ha! Kein Problem! Rui und ich haben letztens erst welche gekauft!“ – „Kakeru-San, du bist super!“) Ob das wirklich etwas war, das Rui gefallen würde, darüber waren sie sich aber alle nicht ganz einig. „Was meinst du, Kai-San?“   Kai wusste es auch nicht, zugegebenermaßen. Im letzten Jahr hatte er viel über Ruis Vorlieben und Abneigungen gelernt, und er hatte vor allem gelernt, dass sie relativ eigenwillig sein konnten, aber Vergnügungsparks waren ihm nicht untergekommen bisher – nicht außerhalb eines Werbespots, den sie für einen neu öffnenden kleinen Park gedreht hatten, der zu dem Zeitpunkt ihres Daseins aber bis auf die Komparsen und die Mitarbeiter des Filmteams völlig leer gewesen war. Rui hatte Spaß gehabt. Inwieweit sich das halten würde, wenn der Park voller Gäste war, die kaum auf ihre Umgebung achteten, konnte Kai nicht abschätzen, aber es war ein guter erster Ansatz. „Ich finde, es ist nen Versuch wert!“ „Na, ne Alternative haben wir eh nicht“, kommentierte Iku achselzuckend, „Oder wisst ihr noch was? Museen klingen ein bisschen langweilig, aber davon kenne ich durch die Schule immerhin ein paar…“ „Langweilig“, gab Koi kopfschüttelnd zurück, „Viel zu langweilig!“ Kai glaubte zwar nicht, dass Rui es zwingend langweilig finden würde, aber es half auch nicht, wenn seine Begleiter dafür keinen Spaß hatten, huh? Und vielleicht gab es ja doch noch andere Möglichkeiten, ihm zumindest fiel noch etwas ein: „Wie wäre es sonst mit dem Kasai Rinkai Park? Mein Bruder war letztens mit der Schule dort. Scheint ganz interessant zu sein, mit nem riesigen Aquarium und viel Vogelschutzgebiet. Und es gibt ein Riesenrad, damit habt ihr euer Vergnügungsparkflair auch ohne große Menschenmassen? Bei dem Wetter sollte es da wirklich recht ruhig sein.“   Den Park kannte scheinbar keiner so recht – also wurde recherchiert. Es sah liebenswert aus, wie die drei Knirpse sich um Kois Handy herum scharten und diskutierten. Von allem, was Kai aus dem bunten Stimmenpotpourri mitnahm, war es eine positive Diskussion: „Das Riesenrad ist so cool! Da müssen wir hin! Und es gibt Pinguine! Gibt es eigentlich irgendeinen Menschen auf der Welt, der keine Pinguine mag?“ – „Die Eintrittspreise sind außerdem echt günstig! So im Vergleich zum Vergnügungspark. Das ist cool! Im Aquarium gibt’s sicher auch genug Souvenirs, dann können wir Rui da sogar noch Geschenke kaufen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen!“ – „Ich finde, die Grünanlagen klingen auch gut. Also, nehmen wir’s?“ „Unbedingt! Vergnügungspark machen wir irgendwann anders. Es kommen noch genug Geburtstage!“, bestimmte Koi. Er sprang enthusiastisch vom Bett, wobei er Kais Kopfkissen einfach wieder in eine Ecke pfefferte, und verkündete, dass er sich nun um die Reiseplanung kümmern würde. Ohne Antwort zu erwarten wuselte er aus dem Zimmer, nur um noch im Türeschließen wieder inne zu halten und zurückzukommen. Er grinste breit in den Raum hinein. „Yoru-San ist grad aufgestanden. Los, Kakeru-San, schnapp ihn dir!“ Und war dann wieder weg. Kakeru und Iku tauschten einen verdutzt-amüsierten Blick, ehe Kakeru ihm folgte. Er blieb mit der Socke an der Leiste unter der Zimmertür hängen und stolperte, fiel aber immerhin nicht auf die Nase. Kai lachte herzlich auf.   „Ich sollte auch wieder los“, kommentierte Iku amüsiert, als er aufstand. Statt aber zu gehen baute er sich vor Kai auf und stemmte die Hände in die Hüften, bevor er sich grinsend vorlehnte. „Du kommst, wenn du mit deinem Job fertig bist, vorbei? Ich halt dich auf dem Laufenden, wo wir sind. Rui wird sich freuen.“ Kai sah ihn verblüfft an. Das kam unerwartet. „Iku–“ Der Junge lachte herzlich über die Verblüffung, die ihm entgegenkam. Sein folgendes Grinsen war ein kleines bisschen kleinlaut, in erster Linie aber sehr lieb. Er erinnerte Kai in diesem Moment unheimlich an Familie. „Nicht böse werden, dass Rui es mir erzählt hat!“ „Hat er?“ „…ehm. Ja.“ Iku lachte noch einmal auf, diesmal eher hilflos. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „War das nicht das Problem? Jedenfalls, ja. Hat er. Und deshalb finde ich, du solltest dabei sein! Ist nicht so, als ob Rui noch viel Energie haben würde, sich zu freuen, wenn wir erst abends wieder heimkommen.“ Kai lächelte dankbar. Eigentlich war er ursprünglich nur überrascht gewesen, weil er nicht damit gerechnet hatte, in den kleinen Ausflug eingebunden zu werden, aber – jetzt war er noch verblüffter als vorher! Und irgendwie gerührt. Iku war wirklich ein guter Freund für Rui. Er schüttelte den Kopf, zog Iku in eine kumpelhafte, grobe Umarmung, um ihm gehörig das Haar zu zerstrubbeln – es war ohnehin so wirr, dass es kaum auffiel. „Ich meld mich, wenn ich raus bin. Danke für die Einladung!“ Als könnte er böse sein, weil Rui seinen Freunden vertraute. Unfug! Es war genau das Gegenteil davon! Iku strahlte, als er sich mit einer knappen Verbeugung und einer Entschuldigung für die frühmorgendliche Störung verabschiedete. Kai strahlte auch, wenn auch aus anderen Gründen.   Er war sich mehr denn je sicher, dass es eine unglaublich gute Entscheidung gewesen war, herzukommen. Rui hatte wirklich gute Freunde hier gefunden.     ***     Das Aquarium war riesig. Dank einer ausführlichen Beschreibung von Iku wusste Kai relativ genau, wo er hinmusste; obwohl er sich gern umgesehen hätte, folgte er zielstrebig und ohne Umwege entsprechender Wegweisung. Er konnte jederzeit wieder herkommen, wenn er wollte, also war es nicht so wichtig. (Rui konnte er zwar auch jederzeit wieder sehen, aber das war einfach wichtig. Immer.)   Insgesamt hatte Iku ihm vier Nachrichten geschickt. Die erste war am Vormittag schon eingetrudelt – Sind jetzt unterwegs! Rui zu wecken war furchtbar anstrengend. Danke für den Tipp mit dem Deckewegziehen, hat geklappt! Yoru-San wird Kuchen für heut Abend backen. Die zweite war schließlich am Nachmittag gekommen, eine Information, dass sie sich nach dem etwas späten Mittagessen nun ins Aquarium begeben würden, einerseits, um vor dem Regen zu flüchten, der schlimmer wurde, andererseits, weil Rui eben Interesse bekundet hatte. Die Nachricht war zusammen mit einem Foto gekommen, das ihre Regenschirme zeigte – ein grellgoldenes Ungetüm, ein ebenso grelles, pink-gemustertes Monster, ein schwarzer Schirm und einer, der genauso neutral weiß war. Sie hatten sie vor dem überdachten Eingang des Aquariums aufgereiht. Kai grinste, als er das Bild sah, so offensichtlich sichtbar, welcher Schirm wem gehörte. Sein eigener war strahlend blau, wie das Meer an einem klaren Sommertag. Er wusste, dass Yoru einen dunkelolivgrünen hatte. Shun hatte seinen ursprünglich weißen – und riesigen – Schirm vor einer Weile gegen ein neues Modell eingetauscht. Immer noch riesig, aber violett. Um seine Liebe zu Hajime auch bei Regen zeigen zu können. Die anderen wusste Kai nicht auswendig, aber sie würden zweifelsohne genauso individuell sein. Er hätte sie gern alle nebeneinander aufgereiht gesehen. Die dritte Nacht war erneut mit einem Foto gekommen, das Koi, Kakeru und Rui vor dem aquariumeigenen Pinguingehege zeigte. Ihre Gesichter waren nicht zu sehen, aber ihre Körpersprache alleine reichte, um zu erkennen, dass sie riesig viel Spaß haben mussten. In einer kurzen Nachricht unter dem Foto bestätigte Iku genau das auch noch einmal – es gefiel ihnen, sie hatten Spaß, Rui war glücklich. Kai war glücklich.   Die letzte Nachricht war schließlich gekommen, als Kai Iku davon unterrichtet hatte, dass er den Park erreicht hatte. Sie seien immer noch bei den Pinguinen und würden bleiben, bis er kam, erklärte Iku zusammen mit ausführlicher Wegbeschreibung. Wie Kai bald feststellte, hätte er sich die Mühe gar nicht machen müssen; es gab genug Schilder, die das Aquarium sehr besucherfreundlich ausschilderten, und an sich hätte er auch einfach jemanden fragen können. Aber es war beruhigend! Dass Iku den Weg so präzise beschreiben konnte, hieß, dass er sich trotz Kakerus permanentem Pech keine Sorgen machen musste, dass die Jungs sich irgendwo verliefen.   Er hörte sie, bevor er sie sah. Präzise gesagt hörte er Koi und Kakeru, die lautstark darüber stritten, wer von ihnen beiden jetzt mehr Ähnlichkeit mit dem verfressenen Pinguin hatte, den sie gerade beobachteten. Kai näherte sich leise, amüsiert. Iku bemerkte ihn, als er noch ein paar Schritte entfernt war und winkte grinsend, ehe er sich wieder den Pinguinen zuwandte. „Du isst viel mehr als ich!“, beteuerte Koi empört, das zweite Mal, das Kai es hörte. Wer wusste schon, wie oft es vorher schon aufgekommen war? – „Aber du hast letztens meinen Kuchen weggegessen!!! Das ist viel schlimmer! Der da unten frisst auch anderen den Fisch weg!“ „Aber Kuchen ist kein Fisch! Und ich hab ihn dir ersetzt!“ „Das ist egal! Du hast ihn weggefuttert! Und davor den Pudding! Und davor die Schokoriegel! Koi, du bist genauso schlimm wie der Pinguin!“ „Aber du isst mehr! Schau doch, wie viel der in sich reinschlingt! Sieh endlich ein, dass das total du bist, Kakeru-San!“ Die Diskussion drehte sich im Kreis, völlig fruchtlos. Irgendwann merkten die beiden es sogar – am Ende wandten sie sich beide zu Rui um, der einfach nur schweigend da stand und die Pinguine beobachtete. Wie aus einem Mund kam ihre Frage: „Was meinst du?“   „Kai isst am Meisten.“   Koi und Kakeru blinzelten verdutzt. Iku schnaubte erheitert, und Kai wusste nicht, ob er lachen oder empört sein sollte – insgeheim freute er sich einfach, dass Rui gerade so spontan und aus  jedem Kontext gerissen an ihn dachte. Nett war das trotzdem nicht! „H-hey, das hab ich gehört!“ „Wah–! Kai-San ist hier!“ „Kai.“ Kai strahlte breit. Rui sah ihn völlig überrascht an, ein bisschen ungläubig, und unter dem verdutzten Blick fand Kai vor allem eines – Glück. Er wuschelte dem hübschen Jungen flüchtig über das Haar, erntete dafür einen eher prinzipiell beleidigten Blick und dann aber trotzdem ein Lächeln. Es tat gut, hier zu sein. Er war Iku wirklich dankbar für die Einladung. „Alles Gute zum Geburtstag, Rui.“   Sie verbrachten noch ein Weilchen bei den Pinguinen. Kai erzählte von dem Werbespot, den er den Tag über für einen Sportbekleidungshersteller gedreht hatte, erzählte von der Location, von seinen Kollegen. Iku beneidete ihn, hätte er doch selbst gern einen ähnlichen Job, der rechtfertigen würde, weshalb er sich den ganzen Tag sportlich verausgaben konnte. Koi, Kakeru und Rui waren allesamt eher weniger begeistert; Koi wollte lieber etwas schrilles – „Ne Spielhalle! Oder ein Cosplay-Café!“ –, Kakeru etwas mit weniger Stolpergefahr und Rui verzog schon bei der Erwähnung von Sport missbilligend die Nase. Obwohl man meinen sollte, dass er als Idol eine gesündere Einstellung zu Bewegung entwickelt hätte, war er immer noch ein echter Sportmuffel. Kai fand es liebenswert – und solange er das Tanzen trotzdem auf die Reihe bekam, war es doch auch nicht schlimm. Rui hatte andere Stärken, und davon genug. Schließlich setzten sie sich wieder in Bewegung, als das Gespräch sich weitgehend in fröhlichen Witzeleien verlor. Weil keiner von ihnen Lust hatte, die Pinguinbecken auch von unten zu betrachten, steuerten sie lieber wieder die Aquarien an – davon gab es schlussendlich noch mehr als genug, und die bunten Tropenfische, auf die ein Wegweiser sie aufmerksam machte, waren interessant genug, um ihm gleich zu folgen. Zwischen den Aquarien war es ziemlich dunkel. Die Beleuchtung, die aus den Aquarien selbst heraus kam, leuchtete bläulich und nicht sonderlich hell, tauchte alles in ein unwirkliches, Wasserreflektionen werfendes Licht. Es war wunderschön, selbst der Fußboden war faszinierend zu betrachten. Nicht, dass Kai dafür wirklich einen Blick hatte – die leuchtend bunten Fische, die in Scharen durch die riesigen Wasserbecken schwammen, waren viel zu interessant. Es war ein völlig neuartiger Anblick, der nicht nur ihn begeisterte: Koi und Kakeru taten ihre Überwältigung gut hörbar kund, und selbst von Ruis Seite aus hörte er ein leise gemurmeltes „Hübsch“. Erst nach einer ganzen Weile löste sich Kais Blick wieder von dem Anblick der leuchtenden Fische. Er warf einen Seitenblick zu seinen Begleitern hinüber. Er sah nichts anderes als Rui. Schweigend, großäugig, den Blick ohne jede Regung auf das Fischgetümmel gerichtet. Er sah begeistert aus, für Rui-Verhältnisse, und das in Schlieren durch die Wasseroberfläche fallende Licht malte wunderschöne Muster auf seine bläulich schimmernde Haut. In diesem Augenblick sah er selbst aus, als wäre er im Meer zuhause. Wie lange er Rui anstarrte, wusste er nicht, doch irgendwann begegnete er seinem Blick. „Du starrst, Kai“, stellte er neutral heraus, eine stille Frage schwang in seiner Stimme mit. Kai lachte sanft. Er hätte Rui gern geküsst. Einfach nur berührt. Aber in der Öffentlichkeit? In ihrer Position? Unmöglich. Manchmal war es wirklich schwer, sich das wieder in Erinnerung zu rufen. Schlussendlich musste er sich mit einem liebevollen Blick begnügen. Wie könnte er nicht starren?   „Du bist wunderschön, Rui.“     ***     „Wir müssen mit dem Riesenrad noch warten!“, hatte Koi bestimmt, als sie das Aquarium schließlich verlassen hatten, „Bis es dunkel ist! Dann wird es viel cooler! Außerdem hab ich Hunger!“   Also waren sie losgezogen, um etwas zu essen aufzutreiben. Sie hatten tatsächlich, wie am Morgen überlegt, Geschenke für Rui gekauft – einen riesigen Plüschpinguin, den Rui mit beiden Armen festhalten musste, damit er nicht herunterfiel, mehrere Schlüsselanhänger von Fischen, die Rui besonders gut gefallen hatten, und eine kleine Delfinfigur. Weil der kleine Kerl mit dem Riesenpinguin keine Möglichkeit mehr hatte, einen Schirm zu halten, teilte er mit Kai. Zusammen mit einem Spaziergang durch die Parkanlage – sie fanden neben zahllosen anderen Pflanzen sogar Hortensien, etwas, das Rui wieder ein kleines Lächeln entlockte – brachten sie genug Zeit herum, dass es dunkel geworden war, ehe sie das Riesenrad ansteuerten. Inzwischen hatte auch der letzte Regen aufgehört, ihre bunte Schar an Regenschirmen war schon vor einer Weile wieder in ihre Taschen verbannt worden. Der Himmel war zwar noch schwer bewölkt, aber ohne den Regenschleier war der Ausblick vom Riesenrad hoffentlich trotzdem mehr als lohnenswert. Das Riesenrad selbst war schon ein beeindruckender Anblick. Nicht nur, dass es riesig war, es war auch auffällig beleuchtet. Mit den Lichtern, die jede Strebe erhellen konnten, sah es aus wie eine überdimensionale aus Diamant geschliffene Blume – was ihm auch seinen Namen einbrachte: Daiya & Hana Riesenrad; das Diamanten-und-Blumen-Riesenrad. Das Lichterspiel kam in wechselnden Farben, kam in verschiedenen Rhythmen, und dadurch, dass nicht dauerhaft alle Lichter erleuchtet waren, malte es immer neue, faszinierende Muster, die manchmal einfarbig, und manchmal kunterbunt daherkamen. „So hübsch“, kommentierte Rui leise. Er war kaum zu hören über die begeisterten Ausrufe aus Kois Richtung – und trotzdem hörten sie ihn alle. Kai sah es daran, wie Kakeru und Iku einen zufriedenen Blick tauschten, daran, wie Unruhegeist Koi sich sofort grinsend zu ihm umdrehte und stolz strahlte. „Ne? War gut, dass wir gewartet haben, oder? Jetzt müssen wir nur noch da drauf kommen!“   Dank des schlechten Wetters gab es keine lange Schlange – eher im Gegenteil war es sogar sehr leer. So leer, dass sie den Luxus hatten, sich problemlos auf zwei Gondeln aufteilen zu können, statt sich eine teilen zu müssen. Es hatte praktische Gründe, dass sie das taten: Koi wollte lieber viel Platz haben, damit er niemanden über den Haufen lief, wenn er auf halbem Weg durch die Riesenradfahrt lieber zur anderen Seite der Gondel wollte, um dort aus dem Fenster zu sehen. Niemand war dagegen, und es war nicht schwer, sich auf eine Gruppenteilung zu einigen: Koi, Kakeru und Iku würden die eine Gondel nehmen, während Kai, Rui und der Pinguin, der groß genug war, um als eigener Fahrgast zu zählen, wie Iku augenzwinkernd kommentierte, die zweite nahmen. Die drei Jungs winkten fröhlich, nachdem sie eingestiegen waren, und keine fünf Sekunden, nachdem die Gondel sich langsam in die Höhe erhob, klebten Koi und Kakeru geradezu an der Fensterscheibe. Kai sah ihnen nach, bis die nächste Gondel vor ihnen hielt und sie selbst einstiegen. Sie saßen nebeneinander. Der Pinguin saß gegenüber und beobachtete sie aus schwarzen Plüschtieraugen. Eine ganze Weile blieb es still, während sie zusahen, wie das Riesenrad sich gemächlich weiterdrehte und ihre Gondel damit langsam in die Höhe beförderte. Rui war völlig gebannt von dem Anblick, der sich ihm bot, und auch Kai war fasziniert. Es sah abenteuerlich aus, wie die Welt unter ihnen langsam kleiner wurde, wie das eigene Blickfeld immer größer wurde. Tokyo war hell beleuchtet, ein Lichtermeer unter einem seltsam gelblich-violett wirkenden bewölkten Nachthimmel, und je weiter sie anstiegen, desto mehr von dem Lichtermeer bekamen sie zu sehen.   Es war ungefähr auf halber Höhe, dass Kai sich doch von dem Anblick löste. Aus seiner Tasche zog er Ruis Geburtstagsgeschenk, hielt ihm das Päckchen dann schweigend hin. Es war mit meergrünem Geschenkpapier umwickelt; Kai hatte es bereits im Laden verpacken lassen, denn ehrlich, er hatte dafür nun überhaupt kein Händchen. Er konnte tapezieren, aber er konnte keine Geschenke einwickeln. „Eh?“ Es dauerte einen langen Moment, bis Rui das Geschenk überhaupt bemerkte. Verdutzt griff er danach, sah Kai kurz an, dann wieder hinunter auf das Geschenk. „Du darfst es aufmachen, wenn du möchtest“, kommentierte er sanft. Er war aufgeregt. Rui ein Geschenk auszusuchen hatte sich als schwieriger herausgestellt, als er zuerst angenommen hatte. Natürlich hätte er so einiges finden können, aber es sollte etwas sein, an dem Rui nachhaltig Freude haben konnte und das ihm mehr bedeutete als ein hübsches Stück Deko, das er nie wieder brauchen würde. Mit dem, was er schlussendlich gekauft hatte, war Kai ziemlich zufrieden – er hoffte nur, Rui würde es auch sein. Es war ein leeres Notenbuch mit einem stabilen Einband in neutraler, schwarzer Farbe. Die in den Einband eingeprägte schwarze Katze hatte Kais Aufmerksamkeit erregt, sonst hätte er das Büchlein wohl niemals näher angeschaut. Rui mochte Musik. Rui liebte das Klavier, das im Wohnheim stand, und auch wenn Kai – oder sonst jemand – ihn beinahe nie spielen hörte, er wusste, dass Rui es tat. Er hatte die losen Notenblätter in Ruis Zimmer entdeckt, als er ihn einmal geweckt hatte. (Er hatte nicht einmal einen zweiten Blick darauf geworfen, es ging ihn nichts an. Was Rui ihm zeigen wollte, zeigte Rui ihm von selbst. Er hatte lediglich gesehen, dass sie handbeschrieben waren.)   Rui war viel zu behutsam mit dem Geschenkpapier, und entsprechend dauerte es – nach Kais Meinung zumindest! – viel zu lange, bis er sein Geschenk in den Händen hielt. Schweigend betrachtete er den Einband, fuhr die Prägung der schwarzen Katze mit einer Fingerspitze nach. Erst dann klappte er das Buch endlich auf, um das darin befindliche Notenpapier zu sehen. Er schwieg. Kai beobachtete ihn, doch mehr als ein leichtes, überraschtes Weiten seiner Augen sah er an Reaktion nicht. „Kai…“ Rui sah ihn jetzt direkt an, und sein Blick war vollkommen unleserlich. Behutsam strich Kai ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, selbst nicht wissend, was er sagen sollte. Plötzlich war er unsicher; hatte er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt? Er wusste, dass die Musik ein sensibles Thema für Rui war, und vor allem eines, das er sehr privat für sich behielt. Hatte er sich da in eine Sache eingemischt, die ihn nichts anging? Er presste unbewusst die Lippen zusammen, sein Herzschlag beschleunigte sich unangenehm. Ruis nichtssagender Blick wurde wärmer. Kai fiel ein Stein vom Herzen. Er sah zu, wie Rui das Buch an die Brust drückte und für einen Moment war er sich sicher, dass er errötete – dann wiederum war das bei den schlechten Lichtverhältnissen aber gar nicht wirklich abschätzbar. In jedem Fall sah Rui glücklich aus. „Danke.“ Es war nicht gerade überschwänglich, aber es war alles, was Kai brauchte. Er strahlte, zog Rui in eine sanfte Umarmung. Der Andere lehnte sich sacht gegen ihn, und einen Augenblick lang verharrten sie einfach so.   Es tat gut, ein bisschen körperliche Nähe zu bekommen. Es war nicht einfach in ihrem Job und einer Wohnung, die sie mit vier – oder zehn, je nachdem, wie eng man es sah – anderen Menschen teilten. Es war Kai zu wenig, wenn er ehrlich zu sich selbst war, und manchmal wurde es schlimm. Manchmal sehnte er sich danach, einfach wann immer er mochte Ruis Nähe suchen zu können, ihn zu liebkosen, zu küssen, wann immer ihm danach war. Manchmal war es zu wenig, in der Regel nur das morgendliche Wecken oder ein paar Minuten am Abend vor dem Zubettgehen zu haben. Rui schien es nicht zu stören. Ein Teil von Kai war froh darum, denn er wollte nicht, dass Rui von irgendetwas belastet wurde, aber ein anderer Teil von ihm konnte das mulmige Gefühl nicht abschütteln, das damit einherging. In solchen Momenten klammerte er sich regelrecht an die Erinnerungen an die wenigen Male, die Rui trotz aller Mitbewohner seine Nähe suchte. Manchmal schlief er in Kais Bett, statt in seinem eigenen. Er lehnte sich immer ganz selbstverständlich an Kai, wenn der ihn umarmte. Er erwiderte seine Küsse. Es gab nichts, worum er sich sorgen musste. Es half, sich daran zu erinnern.   Trotzdem sehnte er sich oft nach mehr.   „Darf ich dich küssen?“ Rui löste sich mit einem Stirnrunzeln aus seiner Umarmung. Sah ihn an, nicht wirklich zufrieden, eine winzige Spur verlegen. „Kai…“ Mahnend, ein bisschen. Wir sind in der Öffentlichkeit, reiß dich zusammen. Er grinste ertappt, verloren, streichelte sanft über Ruis Gesicht, stupste seine Lippen liebevoll an. Es war ihm selbst bewusst, dass das nicht der beste Ort sein mochte, aber andererseits – warum eigentlich nicht? „Hier sieht uns niemand.“ „…okay.“ In dem Moment, als sich ihre Lippen trafen, wünschte Kai sich, dass die Riesenradfahrt einfach niemals enden möge.   Sie endete trotzdem, viel zu bald sogar. Aber irgendwie war es okay.   Ruis überrascht-begeistertes Gesicht, als er den Puddingkuchen erblickte, der zuhause auf ihn wartete, zusammen mit sämtlichen noch übrigen Mitgliedern von Procella und Gravi, die ihm zum Geburtstag gratulierten, war ein Anblick, den Kai um nichts in der Welt hätte verpassen wollen – nicht einmal für einen endlosen Kuss. II.II Mint Candies ------------------ Sie hatten keine Veranda mehr. Keinen Balkon. Ruis neuer Lieblingsplatz bei Regenwetter war die riesige Fensterfront im Gemeinschaftsraum. Yamato leistete ihm immer noch Gesellschaft, aber sonst hatte sich fast alles verändert. Natürlich war Kai bei ihm, wenn es sich ergab. Ihre unterschiedlichen Terminkalender ließen das seltener zu, als es ihm lieb war, und selbst wenn sie sich gemeinsam den Regen ansahen, dann lief es häufig darauf hinaus, dass sie einfach nicht alleine bei waren. Es war fast immer jemand im Gemeinschaftsraum, der Fernseher lief, oder es wurde sich unterhalten. Kai mochte es. Die meiste Zeit. Manchmal wünschte er sich, obwohl er den Trubel liebte, ein bisschen mehr Zweisamkeit.   Manchmal bekam er auch die Gelegenheit dazu.   Der Juni neigte sich dem Ende zu, als die gemeinsame Wohnung das erste Mal seit langem wieder wie ausgestorben war. Weil am nächsten Tag ein größerer Dreh weiter außerhalb begann, waren sie alle schon über Nacht zu dem Ferienhaus gereist, das ihre Unterkunft für die nächsten Tage sein würde. Lediglich Rui hatte am frühen Morgen noch einen anderen Job, weswegen er zurückbleiben musste – zusammen mit Kai. „Damit Dai und Kanade nicht noch extra hin und her fahren müssen“, hatte Shun mit einem unschuldigen Grinsen erklärt – die beiden Manager hatten sie natürlich zum Ferienhaus begleiten müssen, es wäre tatsächlich ein Umweg für sie, Rui noch extra abzuholen. Dass einfache Nettigkeit nicht Shuns Motiv war, war für Kai aber schnell absehbar gewesen, als der Kerl sich mit den Worten „dafür schuldet mir Kai aber etwas~“ nach dem Mittagessen von ihm verabschiedet hatte. (Er ahnte schon, wie Shun seine Schuld einlösen würde. Auf den Beifahrersitz würde Kai ihn trotzdem nie wieder lassen, egal, wie oft er Chauffeur spielen musste!) Er wusste nicht, ob er Shun wirklich dankbar sein sollte – doch, war er –, oder eher besorgt, weil der Dämon wieder einmal viel zu gut über Dinge Bescheid wusste, über die er eigentlich nicht Bescheid wissen sollte. Wenn er Kai zu sehr damit ärgerte, konnte er immer noch aufhören, Tee für ihn zu kochen. Das sollte als Rache hoffentlich funktionieren.   Und im Endeffekt war er vielleicht doch einfach nur froh, dass in Shuns Wissen auch eine schweigende Akzeptanz steckte.   Rui verbrachte den gesamten Nachmittag vor dem Fenster. Betrachtete den Regen, kraulte Yamato, der es sich auf seinem Schoß gemütlich gemacht hatte. Kai saß neben ihm, beobachtete weniger den Regen als dass er Rui beobachtete, und er war völlig zufrieden mit der Welt. „Es ist lange her, hm?“, murmelte er, als die Stille irgendwann doch ein bisschen viel wurde; bis auf das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben war es völlig ruhig gewesen. Rui warf ihm einen kurzen Blick zu, wandte sich aber fast augenblicklich wieder ab. Er nickte kaum merklich. „Der Regen klingt anders hier.“ – „Schlecht anders?“ „…anders.“ Anders. Kai sah hinaus, schief lächelnd. So viel hatte sich verändert in dem letzten Jahr, dass es immer noch ein bisschen unfassbar war. Und war es wirklich schon so lange her, dass er Rui kennengelernt hatte? Er erinnerte sich noch lebhaft an den verregneten Junitag, an die kleine, durchnässte Gestalt ohne Regenschirm, die so verloren ausgesehen hatte auf den kalten, grauen Straßen. Vor einem Jahr hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Vor einem Jahr hatte Kai sich über jede einsilbige Antwort gefreut, als wäre sie ein kostbarer Schatz. Heute war es selbstverständlich geworden, dass Rui mit ihm sprach, ihm antwortete, vorausgesetzt, er hatte etwas zu sagen. Vor einem Jahr hatte er noch gar nicht darüber nachdacht, Rui näherzukommen als für ein nettes Haarewuscheln nötig war. Heute hingegen… Er streckte die Hand aus, streichelte Rui sanft über die Wange. Der Junge lehnte sich ihm kaum merklich entgegen.   Kai nahm es als Einladung. Seine Hand wanderte weiter, bis sie sich in tiefgrünem Haar verfing, behutsam drehte er Ruis Kopf in seine Richtung. Große Augen begegneten seinem Blick, doch es dauerte nicht lange, bis sie zufielen. Ihre Lippen trafen sich. Sanft, liebevoll. Ein zarter, behutsamer Kuss, der passend zu der Trägheit eines verregneten Frühsommertags lange brauchte, bis er intensiver wurde. Rui schmeckte süß. Ungewohnt, weil Rui normalerweise anders schmeckte, und gleichzeitig vertraut, weil Kai den Geschmack trotzdem kannte. Er stutzte. Behutsam löste er den Kuss. Rui sah ihn aufmerksam an, das hübsche Gesicht gerötet und seine Lippen glänzten feucht, einladend. Kai wollte ihn sofort wieder küssen, aber noch war er abgelenkt. Sehr sogar. „Seit wann magst du Minzbonbons?“ „Oh, das. Shun hat mir welche gegeben. Er meinte, du würdest es mögen, wenn ich sie esse.“ Kai wollte widersprechen. Er öffnete den Mund, ohne ein Wort herauszubekommen, während sein Nacken heiß prickelte und sein Magen einen Salto machte, der seine ungesagten Worte effektiv Lügen strafte. Er würde nie wieder ein Minzbonbon essen können, ohne an Dinge zu denken, die so ein armes, unschuldiges Bonbon eindeutig nicht verdient hatte. Shun bekam die nächsten zwei Wochen definitiv keinen Tee mehr!   „Gefällt es dir nicht?“ Kai lachte hilflos auf. Rui sah ehrlich bekümmert aus, und das tat ihm unglaublich leid. Er schüttelte den Kopf, streichelte ihm sanft über das Gesicht, seinen Hals hinunter. Seine Finger blieben kaum merklich an dem Pflaster hängen, das sich immer dort befand. Wirklich immer. Kai wusste nicht, warum. Er hatte nicht nachgefragt, denn er fragte aus Prinzip nicht nach, wenn er es vermeiden konnte, weil er wusste, dass Rui ohnehin nicht sprach, wenn er es nicht wollte. Alles, was er wusste, war, dass diese Pflaster da waren, nicht nur das an seinem Hals, sondern hier und da noch andere. Früher einmal war Rui kaum merklich zurückgewichen, wenn er ihnen zu nahe kam. Heute wich er nicht mehr zurück; er erschauderte unter dem Liebkosen, neigte den Kopf so, dass er Kai den größtmöglichen Platz an seinem Hals bot. Er presste einen Kuss auf die warme Haut, entlockte Rui damit einen leisen Laut. Schmale Finger vergruben sich in seinem Haar, streichelnd, zupfend. Jede Berührung hinterließ eine Spur aus kribbelnder Hitze, die sich von seiner Kopfhaut immer weiter hinunterzog.   Der nächste minzsüße Kuss jagte einen heißen Schauer durch Kais ganzen Körper und entlockte mit seiner Intensität Rui etwas, das schon fast ein Stöhnen war.   Vielleicht würde er das mit dem Teekochen doch beibehalten.     ***     Sie lösten sich erst wieder wirklich, als Yamato lautstark nach Futter verlangte. Inzwischen war Ruis ganzes Gesicht gerötet. Sein Cardigan war auf halbem Weg verloren gegangen, sein Shirt hochgerutscht, so dass es einen breiten Streifen heller Haut entblößte. Sein Haar war ein einziges Chaos – er sah wunderschön aus. Kai selbst ging es auch nicht viel besser; sein Haar zerzaust, Gesicht gerötet, Kleidung zerknittert. Er war nur froh, dass Rui nie der Typ gewesen war, auf seinem Schoß sitzen zu wollen. Es wäre… unangenehm gewesen. Es war unangenehm, so oder so. Kai fuhr sich seufzend mit einer Hand durchs Haar, während er im Kühlschrank nach der geöffneten Dose Katzenfutter suchte; er fand sie versteckt hinter Puddingbechern und Milchtüten, die irgendjemand – unter anderem er selbst – nicht ordentlich eingeräumt hatte. Rui hatte verkündet, er wolle duschen gehen, ehe sie zu Abend aßen. Kai wollte auch duschen.   Kalt.   Es war nicht das erste Mal. Es war zwar nicht oft passiert bisher, aber es war passiert, dass sie in den seltenen Momenten Zweisamkeit nicht nur beim Küssen blieben. Liebkosungen, Zärtlichkeiten – nur über der Gürtellinie, natürlich. Allgemein über aller Kleidung, eigentlich. Kai hatte sich fest vorgenommen, nichts zu tun, das Rui nicht wollte, also tat er es nicht, doch es nagte immer mehr an seiner Selbstkontrolle. Er wollte Rui. Alles von ihm. Es half nicht, dass seine Träume ihm das gerne einmal viel zu lebhaft illustrierten. Es half nicht, dass Rui so unfassbar hübsch war, dass Kai kaum den Blick von ihm nehmen konnte. Es half nicht, dass Rui diese wunderbare Eigenart hatte, mit jeder winzigen Reaktion einen riesigen Eindruck zu hinterlassen. Yamatos Maunzen riss ihn aus seinen Gedanken. Er seufzte resigniert, ging in die Hocke und stellte dem Kater sein Futter hin. „Ich hab ein Problem“, verkündete er geschlagen. Yamato unterbrach sein Futtern sogar kurz, um ihn anzusehen, maunzte dann noch einmal – und ab dem Moment war Kai vollkommen unwichtig. Natürlich, Futter war wichtiger als die Libido seines zweiten Herrchens, huh? Konnte Kai sogar verstehen, er würde Essen auch vorziehen, um sich nicht damit auseinander zu setzen. Nicht einmal kochen musste er. Es waren Reste vom Mittagessen geblieben, die sie essen konnten. Er brauchte etwas zu tun. Ablenkung. Irgendetwas, damit er nicht daran dachte, dass sie die ganze Nacht allein sein würden. Viel zu viel Zeit, um– Entschieden schüttelte er den Gedanken ab.   Er beschloss, weil ihm nichts Besseres einfiel, nach den anderen Tieren zu sehen. Es war eine absolut ernüchternde Arbeit, Futternäpfe zu füllen und Toiletten zu reinigen, und Kai war unglaublich dankbar darum. Bis Rui wieder aus dem Bad kam, waren seine Gedanken wieder jugendfrei und er verspürte akut auch keinerlei Bedürfnis mehr, das zu ändern. Für ein bisschen zusätzliche Ablenkung ging er trotzdem zuallererst duschen. Das kalte Wasser tat gut, um die Gedanken endgültig zu klären. Es war nicht, als würde es fehlen. Kai fühlte sich wohl in seiner Beziehung, auch wenn sie aufgrund aller äußeren Umstände immer ein bisschen holprig war und bleiben würde. Er brauchte zwar körperliche Nähe, aber sie musste nicht intimer werden als das, was er bisher bekam. Und Rui war noch so jung! Er war gerade erst siebzehn geworden, er hatte noch alle Zeit der Welt, um sich auf solche Dinge einzulassen. In seinem Tempo. Das war Kai einfach wichtig. Er wollte Rui nicht bedrängen, oder ihm das Gefühl geben, er wäre nicht gut genug, weil er vor einigen Belangen noch zurückscheute. Rui war perfekt, wie er war. Und Kai, wenn er es wirklich brauchte, wusste sich durchaus zu helfen.     ***     Ganz verschwinden wollte sie nicht, die Spannung vom Nachmittag. Kai war wirklich naiv genug gewesen, zu glauben, dass er sich unter Kontrolle hatte – und dann hatte er beim Abendessen bemerkt, dass zum ersten Mal, seit er Rui kannte, die Pflaster auf seiner Haut fehlten. Aus Respekt hatte er krampfhaft versucht, nicht zu sehr zu starren. Da war eine Narbe an seinem Hals, gut sichtbar und alles andere als klein. Er wollte erfahren, wo sie herkam. Sie, und die zweifelsohne anderen Narben, die unter den anderen Pflastern versteckt gewesen waren. (Er wollte sie mit dem Finger nachzeichnen und küssen, jede einzelne.) Rui bemerkte seine Blicke. Der Junge sah ihn auf den ersten Eindruck ruhig an, doch seine Wangen zierte eine kaum sichtbare Röte. Einen langen Moment sahen sie einander an, dann senkte Rui in plötzlicher Hast den Blick und wandte sich wieder seinem Essen zu. Kai folgte seinem Beispiel, ohne noch recht hungrig zu sein; zumindest verspürte er keinen Hunger mehr, obwohl die Portion, die er bisher vertilgt hatte, ungewöhnlich klein war. Er konnte sich auch nicht aufs Essen konzentrieren. Er konnte sich gar nicht konzentrieren. „Hey, Rui. Wollen wir einen Film gucken?“ Das würde ablenken, nicht wahr? Er versuchte ein heiteres Grinsen, das womöglich ein bisschen schief ausfiel. „Wir können Shuns Horrorfilmsammlung plündern.“   Kai hatte nicht viel für Horrorfilme übrig. Meistens taten ihm die bösartigen Geister und Monster einfach nur leid, weil sie doch Hintergründe hatten, die einfach traurig waren – davon ab war er relativ unempfänglich für alles, was Horrorfilm ausmachte. Er war kein Typ, der sich leicht gruseln ließ. Rui fand das Zeug aus irgendeinem Grund toll. Geistergeschichten. Alles Übernatürliche. Als er gehört hatte, dass Gravi eine Nachtwanderung planten, in der Hoffnung, Hitodama im Wald zu finden, hatte er sofort bekundet, mitkommen zu wollen. (Natürlich würde Kai sie ebenfalls begleiten. Shun hatte ein bisschen zu begeistert von der Idee ausgesehen, er wollte nicht riskieren, dass sie da in eine Dämonenfalle stolperten und er nicht da war, um auf Rui aufzupassen.) Es war typisch Rui. Kai verstand seine Faszination überhaupt nicht, aber gerade war er sogar beinahe froh darum, dass sie existierte. „Mhm. Klingt gut.“ Und natürlich sprang Rui auf die Idee an. Kai grinste, immer noch schief, aber in aller Erleichterung ein bisschen breiter. Vielleicht würden lächerliche Jumpscares und eher eklige als gruselige Gemetzel ihn wirklich von allem anderen ablenken.   Nach dem Abwasch – Kai spülte, Rui trocknete ab. Rui beklagte sich, dass es genauso gut andersherum ginge, immerhin war er kein kleines Kind mehr, aber beim Anblick des heißen Spülwassers überlegte er es sich schnell wieder anders – verschanzten sie sich im Wohnzimmer. Rui suchte den Film aus, nachdem Kai weder eine größere Ahnung, noch ein größeres Interesse an Horrorfilmen hatte. Ziemlich bald saß Rui neben ihm und der Film lief an.   Zu behaupten, er wäre interessant, wäre eine blanke Lüge. Nach ein paar Minuten begann Kai, in seinen Hosentaschen nach einem Bonbon zu wühlen, einfach nur, um sich beschäftigt zu halten. Sehr zu seinem eigenen Erstaunen fand er ausnahmsweise einmal keines. Mit einem frustrierten Seufzen ließ er sich zurück gegen die Sofalehne fallen und warf den Kopf in den Nacken. Er brauchte Zucker! „Kai?“ Rui sah ihn fragend an. Kai grinste schief. „Ich hab keine Bonbons mehr.“ – „Oh.“ Wirklich mitleidig sah Rui nicht aus. Er legte den Kopf schief, als würde er nachdenken, nickte dann. „Ich hab noch eins.“ Kais Grinsen wurde erleichtert. Es war ungewöhnlich, aber er würde sich sicher nicht darüber beklagen, dass neuerdings Rui der mit den Bonbons in den Taschen war. Sein Grinsen gefror allerdings, als Rui wie auffordernd gegen seine Lippen tippte. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt und er schluckte heftig. War Rui überhaupt bewusst– er sah so verdammt unschuldig aus! Kais Magen krampfte und die langsam altvertraute Hitze nistete sich überall dort wieder ein, wo Kai sie eigentlich nicht haben wollte. Das war doch garantiert auch auf Shuns Mist gewachsen. Er würde dringend mit dem Kerl reden müssen, dass er aufhörte, Rui so viele Flausen in den Kopf zu setzen!   Doch so wenig er Shuns Flausen unterstützte, das hinderte ihn trotzdem nicht daran, sich zu Rui vorzubeugen und ihn zu küssen. Er schmeckte süß, nach Zucker und Minze – und er hatte tatsächlich noch ein Minzbonbon, das er mit unerwartetem Selbstbewusstsein mit der Zunge in Kais Mund schob. Der Film war augenblicklich vergessen. Der Film, und jede Selbstbeherrschung. Mit einer geschickten Bewegung brachte er Rui unter sich, so dass der Junge auf dem Sofa lag. Ihm entkam ein überraschter kleiner Laut, der in ihrem Kuss erstickte, und warme Hände griffen nach Kais Schultern, um sich festzuhalten. Die Berührung brannte heiß durch den Stoff seines Shirts. Rui keuchte, als Kai den Kuss löste. Im flackernden Licht des Fernsehers begegneten ihm große, dunkle Augen. Zarte Fingerspitzen strichen über sein Gesicht. „Kai.“ Ruis Stimme klang rau, ungewohnt, fremd. Wunderschön, auf eine Art, die Kai erschaudern ließ. Er lehnte sich zu einem weiteren kurzen Kuss vor, nur, um Rui den winzigen Rest seines Bonbons zurückzugeben. Seine Haut war warm unter Kais Lippen, als er begann, eine Spur sein Gesicht hinab zu küssen, seinen Hals entlang. Er spürte, wie Rui die Luft anhielt, als er sich dem Punkt näherte, an dem die Narbe war. Kai wusste nicht genau, wo sie war, sah sie gerade auch nicht, doch er spürte die plötzliche Erhebung in der sonst ebenmäßigen Haut, als er sie erreichte. Ruis Reaktion war ein leises, fast hilflos klingendes Stöhnen, das Kai für einen Moment die ganze Welt vergessen ließ.   Es waren insgesamt drei Narben, die sich zwischen Ruis Hals und Brustbereich befanden. Sie waren völlig unterschiedlich in ihrer Länge. Im flackernden Licht des Fernsehers konnte Kai bei einer von ihnen Spuren entdecken, dass die Wunde genäht worden war – auch wenn er die Information nur für später abspeicherte und im nächsten Moment schon wieder verdrängt hatte. Gerade hatte er entschieden andere Prioritäten. Rui keuchte, wenn er den Narben zu nahe kam. Seine Finger krallten in Kais Haar, doch er versuchte nicht ein einziges Mal, ihn wegzudrücken. Stattdessen bog er sich den Berührungen entgegen. Sein Puls ging zu schnell; jeder Kuss auf Ruis Hals machte es spürbar. Aus dem Lautsprecher des Fernsehers klangen gequälte Schreie, die verdächtig nach Mordopfer klangen. Kai bemerkte es kaum. Rui auch nicht, zumindest reagierte er nicht im Geringsten, abgelenkt von fremden Händen, die seine Hüften hinabstreichelten und ihm wieder einen leisen Ton entlockten.   Rui war nicht laut. Seine Reaktionen beschränkten sich überwiegend auf geräuschvolles Atmen, doch immer wieder einmal entkam ihm ein leiser Laut – ein Keuchen, ein Stöhnen, ein sanftes Murmeln, ein wohliges Seufzen. Es war wunderschön und berauschend. Berauschend wie die zarten Hände, die hitzige Spuren auf Kais Haut zeichneten, seinen Schultern hinab, über seine Seiten, unter sein Shirt, das ihm schon seit einer Weile völlig überflüssig erschien. Ruis Hände waren unerwartet warm, ließen ihn erschaudern. Er verlor sich in der Hitze des Augenblicks. Verlor sein Shirt, so wie auch Ruis längst verloren war. Seine Küsse schmeckten immer noch nach Minze, nach Atemlosigkeit und Erregung. Sie hatten den ganzen Abend nur für sich. Niemand, der sie unterbrechen würde, kein Grund, zu hetzen. Oder aufzuhören. Entsprechend hätte Kai es am liebsten ewig herausgezögert, mehr zu tun. Rui liebkost, geküsst, erkundet, welche Reaktionen er bekam, wenn er mit der Zunge die Narbe an seinem Hals entlangfuhr, wenn er Küsse auf seiner nackten Schulter verteilte, und tausend andere Dinge mehr, doch– Ihm fehlte die Geduld. Jeder Laut, jede Berührung, jedes überraschte Luftschnappen nagte mehr an seiner Selbstbeherrschung. Versunken in einen minzig süßen Kuss streichelten seine Finger weiter hinab, als sie sich bisher gewagt hatten, über einen flachen Bauch, bis sie Ruis Hosenbund erreichten und erst einmal hängen blieben.   Weiter kamen sie auch gar nicht mehr.   „Kai… stopp.“ Ruis Finger hielten sein Handgelenk. Der Kleinere sah zu ihm auf, seine Augen riesig groß geweitet, sein Gesicht gerötet. Er sah nicht direkt panisch aus, aber eine leise Spur von Angst lag in seinem Blick. Kais Finger zuckten. In ihm ging zu viel auf einmal vor sich – Sorge, in erster Linie, denn natürlich machte er sich Sorgen, wenn Rui Unwohlsein ausdrückte. Enttäuschung, darüber hinaus, denn natürlich hätte er sich mehr gewünscht. Wie könnte er nicht? Dankbarkeit und Erleichterung, weil Rui so offen mit ihm sein konnte. Frust, ein bisschen. Betont langsam stieß er die Luft aus, dann richtete er sich auf. Zog Rui in eine sanfte, unschuldige Umarmung und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Stopp“, bestätigte er. „Alles, was du brauchst, Rui.“ „Aber Kai–“ Rui musste den Satz nicht beenden. Seine Blickrichtung war eindeutig, und Kai musste auch nicht hinsehen, um zu wissen, worauf der kleine Kerl anspielte. Er lachte verlegen auf. „–hat keine Probleme damit, auf dich zu warten, Rui. Erinnerst du dich? Es ist okay. Ich kann warten, wo du es brauchst. Du wartest auch.“ Eigentlich war es zwar eine sehr andere Situation gewesen, aber… es war doch irgendwie das Gleiche. Er lächelte aufmunternd, liebevoll. Rui war ihm viel zu wichtig, um ihn zu sehr zu bedrängen. Er sah die Mundwinkel des Jungen zucken, zu etwas, das fast ein Lächeln war. „Warten. Für jemanden, der immer so wild ist, kann Kai gut warten.“ – „Nur für dich, Rui.“ „Gefällt mir.“ Kai gefiel es auch. Er schloss die Augen, atmete den klaren Regenduft von Ruis Haar ein. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam, die Hitze begann, abzuflauen. Nur ein bisschen, und es würde dauern, bis es ganz vorbei war, aber es war okay. Erträglich.   Überhaupt so viel Zweisamkeit zu haben, war unbezahlbar. Egal, womit sie sie verbrachten.   Eine Weile blieb er so sitzen, genoss es einfach nur, dass Rui schweigend an ihn gekuschelt bei ihm war, dann stupste er ihn sanft mit der Nasenspitze an. Es war immer noch dunkel, abgesehen von dem Fernseher, dessen Bildschirm inzwischen wieder das Hauptmenü der DVD anzeigte. Von dem leisen Ton abgesehen, den ein eingeschalteter Fernseher eben abgab, und ab von ihren eigenen Atemzügen, war es still; wo auch immer sich der ganze Kleinzoo versteckt hatte, er war ruhig. „Wir haben den Film verpasst.“ „…oh.“ „Sollen wir ihn noch einmal ansehen?“ „Gerne.“   Im zweiten Anlauf fand Kai es gar nicht mehr so unerträglich – auch wenn das vermutlich nur daran lag, dass Rui die ganze Zeit an ihn gekuschelt blieb.     ***     Zwanzig Minuten des Films schafften sie dieses Mal. Zwanzig Minuten, und diesmal war es nicht Kai, der unterbrach, sondern Rui, der sich plötzlich regte und Kais Hand einfing; er hatte gar nicht bemerkt, wie er abwesend begonnen hatte, über Ruis Hals zu streicheln – und über die Narbe, die sich dort befand. „Kaiiii.“ Es klang nicht wirklich nach einer Beschwerde. Es klang mehr nach dieser Art liebevoller Empörung, die man nur Menschen entgegenbrachte, die man – ja, liebte. Kai hielt lächelnd inne, drückte Rui versöhnlich an sich. „Entschuldige.“ „Mh-mh. Ist okay. Aber komisch. Ungewohnt.“ „Du hast sie doch auch immer versteckt, die Narben.“ Rui nickte. Er richtete sich ein Stück weit auf, fuhr sich mit einer Hand über den Hals. Jetzt so langsam schien es ihm unangenehm zu werden, die Narben so offengelegt zu haben. „Das bleibt auch. Muss niemand sehen.“ Er holte tief Luft. Kehrte an seinen Platz an Kais Seite zurück und knautschte sich an ihn. Er wirkte so klein und hilfebedürftig gerade, dass Kai allen Ernstes eine große Portion schlechten Gewissens überkam, als er sich daran erinnerte, was er vor kurzem noch mit diesem kleinen, hilfebedürftigen Jungen getan hatte. Er fuhr sich in verzweifelter Resignation über das plötzlich wieder viel zu heiße Gesicht. Vielleicht war es wirklich einfach noch zu früh für solche Dinge. Viel zu früh.   Dann begann Rui zu erzählen. Völlig aus dem Nichts heraus und völlig unerwartet für Kai begann er zu erzählen. Von seinem Bruder. Von dem Tag, an dem sie einen Streit gehabt hatten, dem Tag, an dem sein Bruder ihm all die hässlichen Dinge an den Kopf geknallt hatte, von denen er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Er hatte ihn geschubst, Rui war gestürzt – und direkt auf eine große, ausgesprochen zerbrechliche Vase gefallen, die entsprechend zerbrochen war. Es war die Geschichte hinter den Narben. Er hatte in die Notaufnahme gemusst. Der ganze Vorfall war mit viel Panik und vielen Tränen einhergegangen. So, wie das klang, war Rui ziemlich jung gewesen, und das machte es nur noch schlimmer. „Danach… haben wir eigentlich gar nicht mehr richtig gesprochen“, endete er schließlich leise. Seine Worte gingen fast unter in dem panischen Kreischen, das aus dem Fernseher drang. Einerseits hatte Kai den Drang, das Gerät einfach auszuschalten, andererseits schien die lärmende Geräuschkulisse Rui dabei zu helfen, frei sprechen zu können. Also ertrug er den Lärm, hielt Rui schweigend fest und wartete. Er würde merken, wenn sein Freund sich genug Ballast von der Seele gesprochen hatte. „Meine Eltern auch nicht. Wir haben da nie drüber gesprochen. Es ist einfach… passiert.“ Er zog die Schultern hoch. Kai konnte es sich nicht vorstellen. Wie konnte man so etwas geschehen lassen und es dann nicht einmal gemeinsam aufarbeiten?! Das war eine Familie! Oder zumindest hätte es eine sein sollen, und stattdessen fühlte es sich mehr an, als wären es ein paar Menschen, die zufällig im gleichen Haus lebten. Es war furchtbar. „Wir reden immer noch nicht wirklich“, fuhr Rui nach einer Weile fort, in der nur das Gemetzel aus dem Fernseher die Stille durchbrochen hatte.   Es wunderte Kai wenig. Natürlich waren Ruis Eltern darauf aufmerksam geworden, dass ihr Sohn neuerdings als Idol arbeitete. Sie hatten sich gemeldet. Kai hatte es nicht mitbekommen, weil er an dem Tag außerhalb gewesen war, aber Rui hatte ihm auf seine typisch zugeknöpfte Art davon erzählt. („Meine Eltern waren hier.“) Seitdem hatte er nichts mehr aus der Richtung gehört. Keine Details von Rui, keine weiteren Treffen. Was er jetzt hörte, klang auch nicht wirklich positiv. Sie waren in Kontakt geblieben – oberflächlich. Seine Eltern hatten ihm die Idol-Sache durchgehen lassen, auch wenn sie nicht begeistert davon gewesen waren. (Offenbar hatten sie tatsächlich vorher geglaubt, Rui sei brav auf seiner Musikschule in Übersee. „Rei hat ihnen erzählt, er hätte mich zum Flughafen gebracht.“ – Kai mochte diesen Bruder einfach nicht.) Kai verstand es nicht – sie unterstützten nicht, was ihr Kind machte. Sie kritisierten es aber auch nicht ernsthaft. Es wirkte so… egal. War das ihre Art, zu versuchen, Rui seinen Freiraum zu lassen? Wenn es das war, dann waren sie unglaublich schlecht darin. Seinen Bruder hatte Rui gar nicht mehr gesprochen, seit er weggelaufen war. Er sagte es nicht, aber Kai hatte das Gefühl, dass es ihn belastete. Er hatte so lange zu seinem Bruder aufgesehen, es musste hart sein, jetzt keinerlei Kontakt mehr zu ihm zu haben. Kai würde es ihm gönnen, dass es sich irgendwann wieder ändern möge – wenn Rei nicht so ein unglaublich unsympathischer Charakter wäre. Er wollte den Mann nicht in Ruis Nähe wissen. Er seufzte stumm, legte den Kopf in den Nacken. Die Zimmerdecke war dunkel, nur erhellt von gedämpftem, flackerndem Horrorfilmlicht. Es war nicht seine Entscheidung. Es war Ruis Leben. Ruis Glück, um das es hier ging. Und wenn es Rui glücklich machte, mit seinem Bruder reden zu können, sollte Kai das nicht trotz aller Abneigung unterstützen? „Ich kann nicht sagen, dass ich deinen Bruder allzu sympathisch finde, Rui. Aber wenn du ihn vermisst, dann lad ihn ein. Sprecht euch aus.“   „Und wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will?“ Kai grollte dunkel. Instinktiv drückte er Rui fester an sich. Wenn dieser Mann wirklich so dumm wäre, dann–! Er schob den Gedanken rigoros beiseite. Rui war wichtig. Nicht seine eigene Abneigung. „Dann weiß er nicht, was er an dir hat, und hat es gar nicht besser verdient. Du bist ein wunderbarer Mensch, Rui, und nur ein Dummkopf würde das ignorieren. Und ich glaube nicht, dass dein Rei so ein Dummkopf ist.“ Ein Jahr Funkstille. Ein Jahr veränderte Menschen. Wer wusste, was aus dem eifersüchtigen großen Bruder geworden war? Kai wünschte Rui, dass er sich inzwischen zu einem halbwegs erträglichen Mann entwickelt hatte. Ihm selbst wäre es beinahe lieber, wenn nicht, aber – es war nicht sein Leben. Er grinste aufmunternd, wuschelte Rui liebevoll durchs Haar. „Und du bist nicht allein. Wir stehen alle hinter dir, hm? Wenn er etwas Dummes tun will, muss er erst an uns vorbei! Und glaubst du nicht auch, Shun würde ihn verfluchen?“ Der Gedanke entlockte Rui tatsächlich sogar ein kleines Lachen. Kai strahlte ihn glücklich an. So war es besser – nicht mehr viel übrig von der bedrückten Stimmung der letzten Minuten. Rui seufzte, doch es klang nicht mehr halb so schwer, wie es hätte sein können. Er ließ sich gegen Kais Schulter sinken und schloss die Augen. Er wirkte müde. Es war spät, es wunderte Kai nicht. Es war wohl auch besser, wenn Rui bald schlief – er musste morgen früh aufstehen, und auch wenn Kai wusste, wie er den Jungen aus dem Bett bekam, das half nicht viel, wenn er dann noch so extrem müde war, dass er wie ein Zombie durchs Bad schlurfte und es einfach nicht schaffte, sich fertig zu machen. Es war ein liebenswerter Anblick, aber er war einfach kontraproduktiv. Trotzdem hatte Rui keinen Antrieb, sich in Richtung Bett zu bewegen. Er lag einfach da auf Kais Schulter, hatte die Augen geschlossen und regte sich kaum mehr. Ob er gerade einschlief?   „Du behandelst mich schon wieder wie ein Kind.“ Nicht eingeschlafen. Kai lachte leise, küsste Ruis Stirn – oder vielmehr den dichten Vorhang aus dunklem Haar, der sie verbarg. Es war das erste Mal überhaupt, dass Ruis Protest überhaupt nicht unwillig klang. „Nein.“ Rui gab einen vagen, absolut nicht überzeugten Laut von sich. Er schüttelte den Kopf, machte sich aber nicht einmal die Mühe, noch einmal aufzusehen. Er klang ohnehin, als würde er schon mehr schlafen als wach sein. „Doch. Oder wie willst du es dir sonst erklären?“ Kai lächelte zufrieden. Die Frage hätte Rui sich schon früher stellen sollen.   „Ich behandle dich wie einen geliebten Menschen, Rui.“ II.III Reconciliation --------------------- Die Familienähnlichkeit hielt sich in Grenzen. Dunkles Haar, der Farbton gerade einmal ähnlich wie Rui. Dunklere Augen; schmaler, wobei das auch daran liegen mochte, dass sie zusammengekniffen waren. Eine Brille mit einem schmalen, geraden Gestell. Die Frisur war ordentlicher. Kürzer. Er sah unglaublich korrekt aus; ein bisschen verkrampft. Ungefähr genau das, was man sich unter einem Vorzeigeschwiegersohn vorstellte. Ihre Ausstrahlung war so grundverschieden, dass es schwer war, zu glauben, dass sie gemeinsam aufgewachsen waren. Sie saßen im Wohnzimmer, er und Rui. Einander auf dem Sofa gegenüber, und letztlich sprach doch keiner von beiden. Kai stellte den Tee, den er gerade gekocht hatte, auf dem Tisch ab. Er erntete ein relativ nichtssagendes „Danke“ von Rei und nur einen kurzen Blick von Rui. Es war eine absolut unangenehme Stimmung im Raum – total verkrampft, abweisend, distanziert. Kai hatte so etwas noch nie erlebt bei Menschen, die sich eigentlich schon ihr ganzes Leben lang kennen sollten. Seine eigene Familie tickte einfach wirklich viel zu anders – und er war wirklich froh darum. In so einem Umfeld hätte er nicht aufwachsen wollen! (Was das für einen Menschen aus ihm gemacht hätte?) Er räusperte sich leise, sah die beiden Männer am Tisch kurz an. „Also, wenn ihr noch was braucht–“ – „Kai.“ Rui packte ihn an Ärmel, hielt ihn fest. Die Botschaft war klar genug. Er nickte kaum merklich, ließ sich neben ihm nieder. Eigentlich hatte er gehofft, dass Rui und Rei sich in Ruhe miteinander auseinandersetzen konnten. Es war einfacher, oder? Aber andererseits würde er sich niemals beklagen, bleiben zu dürfen. Sein Beschützerinstinkt fühlte sich seltsam befriedigt davon, dass Rui ihn gerade nicht gehen ließ. Sofort als Kai saß verschwand die kleine Hand, die ihn gehalten hatte, wieder, legte sich zu ihrem Kameraden in Ruis Schoß, und das Schweigen kehrte zurück. Kai sah zu, wie Rei nach seinem Teebecher griff und einen Schluck trank. An seinem Ringfinger war ein schmaler, silberner Ring. Verlobung? „Rei hat einen Ring.“ Rui hatte es auch gemerkt. Sein Bruder sah ihn kurz an, ein unübersehbares Stirnrunzeln auf dem Gesicht. Unzufrieden, unwillig. Er verzog die Mundwinkel, stellte den Teebecher wieder auf den Tisch und schüttelte den Kopf.   „Ich glaube nicht, dass das der Grund ist, weshalb du mich herbestellt hast, Rui.“   Kunststück. Es ist nicht, als hätte er es vorher gewusst. Kai biss die Zähne zusammen, um jeden Kommentar herunterzuschlucken. Er bemühte sich um einen neutralen Blick, als er zu Rei sah, dessen Mund zu einem schmalen, ausgesprochen ablehnenden Strich verzogen war. Die Stille kehrte zurück, legte sich schwer und bedrückend auf die kleine Gesellschaft.   Rui hatte noch am Tag nach ihrem Gespräch seine Familie kontaktiert. Seinem Bruder ausrichten lassen, er wolle mit ihm reden. Erst nach fast einer Woche hatte er Rückmeldung bekommen, einen Termin, zu dem Rei vorbeikommen könnte – der sich zum Glück tatsächlich mit Ruis eigenem Terminplan deckte. Er hatte nicht mehr mit Kai darüber gesprochen. Alles, was er wusste, war, dass Rui sich Versöhnung mit seinem Bruder wünschte, aber nicht, ob der kleine Kerl sich bereits Gedanken darum gemacht hatte, wie entsprechende Versöhnung zu erreichen war. Er konnte nicht viel tun, außer hier zu sein und stumm Beistand zu spenden, denn er bezweifelte stark, dass Rui es schätzen würde, würde er das Gespräch für ihn beginnen. Und, zugegeben – Kai fand auch, dass das etwas war, wo Rui in gewissem Maße allein durchmusste. Sie standen alle hinter ihm, das war keine Lüge, aber das bedeutete eben nicht, dass sie es ihm aus der Hand nehmen konnten, so gern er es auch getan hätte. Seine Erfahrung mit Familie war allerdings, dass es am Heilsamsten war, wenn man tatsächlich selbst die Konfrontation suchte und sich nicht hinter einem Boten versteckte. Er glaubte daran, dass Rui das konnte. Er war stark. Er hatte nur ein eigenes Tempo darin, diese Stärke zu mobilisieren. Und sollte Rei das nicht eigentlich wissen? Kai suchte in dem Blick des Mannes nach irgendetwas, das zumindest im Entferntesten an Verständnis erinnerte, doch alles, was er fand, war zugeknöpfte Unwilligkeit.   Zeit verging. Rei sprach nicht. Rui sprach nicht. Kai auch nicht. Ruis Tee wurde kalt, Reis wurde leergetrunken. Der fremde Mann sah aus, als würde er am Liebsten wieder abhauen, doch noch blieb er, und zumindest ein bisschen musste Kai ihm das positiv anrechnen. Vielleicht war es doch nicht so weit hergeholt, auf eine Versöhnung zu hoffen. Vielleicht hatte er Rei von Ruis Geschichten her doch ein bisschen falsch eingeschätzt – vielleicht hatte ein Jahr aber auch wirklich einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Einen, der Rui-kompatibler war. „Spielt Rei noch Klavier?“ Ruis leisen Worten begegnete zuerst nur eiskalte Stille. Rei rückte bedächtig seine Brille zurecht, eine langsame Geste, die für Kai danach aussah, dass er Zeit schinden wollte. In seinen Augen blitzte kurz etwas auf, das unverhohlen Ärger war, doch es verschwand schnell wieder. „Nein“, erwiderte er. Sein angespannter Kiefer ließ seine Worte gepresst klingen, seine Stimme war eisig, „Ich habe aufgehört. Mutter und Vater waren so enttäuscht von mir.“ Jetzt klang er beinahe hohl. Bitter. Bemüht tonlos, um nicht durchklingen zu lassen, wie sehr ihn die Tatsache belastete, dass er vor seinen Eltern einfach nicht die Rolle erfüllen konnte, die sie ihm angedacht hatten. Kai warf einen kurzen Blick zu Rui hinüber, begegnete dort blankem Entsetzen, das er so noch nie auf Ruis Zügen gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf, ungläubig, unwillig. Kai wollte ihn festhalten und trösten, aber– jetzt nicht. „Ich mag Reis Klavierspiel.“ Rei schnaubte. Kai presste die Lippen zusammen und sah ihn mit einem mahnend harten Blick an. Für einen kurzen Moment erwiderte Rei seinen Blick mindestens genauso hart, angriffslustig, dann schüttelte er den Kopf und kehrte zu etwas zurück, das mehr Resignation und Taubheit war.   „Du bist auch ein Idiot. Du hast es doch alles nie begriffen. Und wenn ich Klavier spielen kann – es macht keinen Unterschied. Im Vergleich zu dir und Mutter werde ich ewig schlecht bleiben. Ich hab kein Talent. Und Übung bringt mich irgendwann nicht mehr weiter. Wozu soll ich mein Leben mit solchen Dingen verschwenden, wenn’s eh keinen Sinn hat? Mich lobt niemand, Rui.“ Rui öffnete den Mund. Er gab nur einen erstickten Laut von sich, dann schüttelte er noch einmal den Kopf. Seine Augen waren feucht – der Anblick versetzte Kai einen Stich ins Herz und sein irrationales Bedürfnis, Rei einfach einen ordentlichen Schlag zu verpassen, wuchs mit jeder Sekunde mehr. Der Brillenträger schüttelte erschöpft den Kopf und winkte ab, ehe Rui seine Stimme wiederfinden konnte. Kai ballte die Hände zu Fäusten. „Vergiss es. Vorbei ist vorbei. Stell dir vor – ich bin glücklich ohne die Musik. Das ist einfach nicht meine Welt. Ich bin es leid, mein ganzes Leben für etwas zu opfern, das mir am Ende überhaupt nichts bringt, außer der Erkenntnis, dass ich nicht einmal gegen meinen kleinen Bruder ankommen kann.“ „Rei…“ „Ich dachte, es würde besser werden, wenn du erst einmal gar nicht mehr da bist“, fuhr er fort. Langsam verschwand der bemüht dumpfe Tonfall aus seiner Stimme und machte Platz für ehrliche Emotion. Kais Hände entkrampften wieder und seine Mundwinkel zuckten zu einem kurzen, sehr vorsichtigen Lächeln. Er begann, tatsächlich etwas in dem Verhalten der beiden wiederzuerkennen, das ihn an Familie erinnerte. Rei fuhr sich mit einer Hand durch das ordentliche Haar, ruinierte seine Frisur damit spürbar, ehe er weitersprach: „Es wurde nicht besser. Weißt du, ich dachte, wenn da niemand mehr ist, der besser ist, würde Mutter schon sehen, wie sehr ich mich anstrenge. Wie viel Zeit ich in das Klavierspiel investiere, um sie stolz zu machen. Sie hat mich nicht gelobt. Sie hat mich nicht bemerkt – wie immer. Im Grunde warst du völlig egal.“   Im Grunde warst du nie Schuld an meiner Misere.   Mit einem letzten, erschöpften Seufzen verstummte Rei. Er sah auf seinen Teebecher hinunter, dann zu Kai. „Könnte ich noch einen Tee bekommen?“ – „Ah. Natürlich.“ Trotzdem warf er zuerst einen Blick zu Rui. Er sah entsetzlich bedrückt aus. Konnte er ihn denn wirklich alleine lassen? Und sei es nur für die paar Minuten des Teeholens? Sein kleiner Freund bemerkte seinen Blick mit leichter Verspätung, sah ihn verwirrt an, nickte dann aber doch zögerlich. Kai erhob sich, drückte flüchtig seine Schulter. „Bin gleich zurück.“ Im Hinausgehen folgte ihm nichts weiter als noch mehr Schweigen, eine Tatsache, die ihn erleichterte. Er hoffte ehrlich, dass er nichts wichtiges verpasste, während er sich um den Tee kümmerte. Er wollte da sein, um Rui in irgendeiner Form Beistand zu leisten, wenn seine kleine Welt noch mehr erschüttert wurde.     ***     „–ist der Kerl eigentlich?“   Kai bekam gerade noch die gestellte Frage mit, als er zurück ins Wohnzimmer trat. Rei sah kurz zu ihm, Ruis Blick folgte, blieb aber hängen. Er grinste schief, unangenehm berührt, während er den neuen Tee vor Rei hinstellte. Erneut bekam er einen einsilbigen Dank. „Mein Freund“, erklärte Rui. Nüchtern, nichtssagend. Rei nickte langsam, nippte an seinem Tee. Rui hatte in der Zwischenzeit immer noch nicht ausgetrunken. So kalt, wie sein Getränk inzwischen war, dürfte es auch gar nicht mehr schmecken. Kai würde ihm später einen neuen Tee kochen. „Er hat mich gefunden, als ich weggelaufen bin.“ – „Gefunden?“ Rui nickte. „Draußen im Regen. Zusammen mit Yamato.“ „Seinem Kater“, fügte Kai hinzu, weil Rei ehrlich verwirrt aussah von Ruis fragmenthafter Erzählung. Der Mann nickte, auch wenn er nicht so aussah, als könne er wirklich gut folgen. Vermutlich fragte er sich, wo Rui das Tier herhatte, nachdem er ohne Begleitung abgehauen war. Ob es Rei leidtat, so viel verpasst zu haben, was bei seinem kleinen Bruder passiert war? Ob es ihn überhaupt interessierte? Kai konnte auf seinem Gesicht nur schwerlich lesen – etwas, das er faszinierend mit Rui gemeinsam hatte. Erziehung brachte eben auch Familienähnlichkeit zustande, auch wenn sie nicht äußerlich war. Der Ältere seufzte schwer, behielt den Blick auf seinen Becher gerichtet, während er wieder zu sprechen begann:   „Ich bin ganz schön erschrocken, als du abgehauen bist. Keiner hat’s mitbekommen. Vater war ja noch arbeiten und Mutter gerade drüben bei ner Nachbarin. Als sie wiedergekommen ist, hab ich Panik bekommen – ich wollte einfach nicht schuld sein. Hab deinen Koffer versteckt und behauptet, ich hätte dich schon zum Flughafen gebracht, weil du es nicht erwarten konntest. Sie hat’s geglaubt.“ Das in sich war irgendwie ein Armutszeugnis, fand Kai; er konnte seinen entgeisterten Blick gar nicht zurückhalten. Als Rei es sah, grinste er dünn, verstehend – vermutlich war es für ihn selbst als Schock gekommen, dass sie die fadenscheinige Lüge überhaupt geglaubt hatte. „Danach ging’s einfach weiter wie bisher. Und dann haben sie irgendwann die Werbeplakate von eurer Band entdeckt.“ Es klang, als wäre zumindest das ein relatives Spektakel gewesen, auf seine Art. Rei hatte schlussendlich die Wahrheit sagen müssen, ein Geständnis, das mit der aufgebrachten Erklärung einherging, wieso er überhaupt zu solchen drastischen Mitteln gegriffen hatte – zu wenig Aufmerksamkeit, zu großer Druck, der Wunsch, beachtet zu werden. Er hatte Ärger und eine Strafe bekommen, aber schlussendlich hatte sich nichts verändert; nach einigen Tagen war alles wieder wie vorher gewesen, mit dem Unterschied, dass seine Eltern nun wieder Kontakt zu Rui hatten. „Sie waren völlig erschüttert darüber, dass du dich lieber mit billiger, unwürdiger Popmusik abgibst als mit ordentlicher Klassik, und als ich aufgehört habe? – Es war ihnen ein müdes Schulterzucken wert. Es war absehbar. Ich hätte es eh nicht weit bringen können. Vielleicht ist es sogar besser so. Natürlich waren sie schrecklich enttäuscht, aber glaubst du, sie haben das Thema je weiter verfolgt? Nein. Über deine Entscheidung weinen sie immer noch.“ Rei schnaubte hasserfüllt. Rui verzog das Gesicht, sah hinunter auf seinen Schoß.   Während Kai so langsam begann, Rei zu verstehen und sein Handeln beinahe tolerieren zu können, rückten Ruis Eltern in ein immer schlechteres Licht. Sie meinten es sicherlich nicht böse. Würde er mit seinen eigenen Eltern darüber reden, sie könnten ihm vermutlich von einem Eltern-Standpunkt aus wunderbar erklären, was eigentlich das Problem war, und dass da hinter allen dummen Handlungen sehr viel verquere elterliche Sorge steckte, aber gerade konnte Kai sich das überhaupt nicht vorstellen. Gerade wollte er es sich auch nicht vorstellen.   In die aufkommende Stille hinein richtete Rui sich plötzlich aufrecht auf, sein Blick ungewohnt fest, als er seinen Bruder fixierte. „Musik ist wie Regen, Rei.“ Wenn Rui es sagte, klang es, als wäre es eine Erklärung für alles, wo es doch im Grunde fast gar nichts erklärte. Kais Herz machte einen überglücklichen Hüpfer, nicht nur, weil er die seltsame Erklärung verstand, sondern weil er sich noch sehr genau daran erinnerte, woher sie kam. Rei sah einen Moment entgeistert aus. Dann lachte er. Anders als Rui, bei dem alles leise und bedächtig klang – wie die Welt hinter einem Regenschleier –, war Reis Lachen laut und herzlich und warm. Ansteckend. „Ich weiß, Rui.“   Kai hatte den Eindruck, dass das Worte waren, die Rui dringend schon vor langer, langer Zeit hätte hören müssen.     ***     „Spielst du noch Klavier, Rui?“   Die Frage kam unerwartet – nicht nur für Kai, auch Rui sah verdutzt drein. Vorhin noch hatten sie darüber gesprochen, was Rui im Laufe des letzten Jahres erlebt hatte, und als er nichts mehr zu erzählen hatte, waren sie in eine behagliche Stille verfallen. Kai hatte gar nicht erwartet, dass es allzu bald zu einem neuen Gespräch kommen würde. „…mh“, war Ruis unbestimmte Antwort. Er zuckte mit den Schultern, griff nach seinem Teebecher und nippte an der kalten Brühe. Kai musste sich ein Grinsen verkneifen bei der Erinnerung daran, wie unglaublich entsetzt Shun gewesen war, als er Rui das erste Mal erkaltenden Tee hatte trinken sehen. Er hatte ein Theater veranstaltet, als wäre das eine neue Todsünde. „Manchmal. Aber anders als zuhause.“ Rei nickte langsam. Er fixierte Rui über den Rand seiner Brillengläser hinweg nachdenklich. „Es wäre schade, wenn du ganz aufhörst. Du hast das nötige Talent, um es weit damit zu bringen. Und du hast es immer geliebt, zu spielen, nicht wahr? Anders als ich.“ Er schüttelte den Kopf. Seufzte. Leerte seinen dritten Becher Tee. In der letzten Stunde hatte seine Mimik sich deutlich entspannt; er sah völlig anders aus als der verkniffene Mann, dem Kai die Tür geöffnet hatte. Bedeutend sympathischer. Erleichterter. Es machte Kai glücklich, dass am Ende nicht nur Rui seinem Bruder nachgehangen hatte. Er war noch lange nicht ganz warm geworden mit dem fremden Mann, aber inzwischen hatte sich jedes Bedürfnis danach, Streit mit ihm zu suchen, weitgehend gelegt. Er traute dem Frieden noch nicht so ganz, aber es wurde besser. Und Rui war glücklich. Für Kai war es unübersehbar, und allein dass Rui glücklich war, war ihm Grund genug, Rei zu akzeptieren, wie er war.   Rui antwortete nicht mehr. Er fand etwas anderes, das ihn interessierte: „Rei… der Ring.“ Einen Moment lang sah Rei auf das Schmuckstück hinab. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, das zweifelsohne das Lächeln eines Mannes war, der sehr, sehr verliebt war. „Ich werde demnächst heiraten. Meine Verlobte habe ich vor etwa einem halben Jahr kennengelernt. Die Hochzeit wird im Herbst sein; sie mag das bunte Laub so sehr.“ „Das klingt schön.“ Rui lächelte flüchtig. Er sah wirklich aus, als würde er sich für seinen Bruder freuen – und eine Spur traurig. Ein Jahr war eine lange Zeit. Man verpasste viel, wenn man nicht miteinander sprach. Aber solange das jetzt vorbei war, war es doch in Ordnung, oder? Das konnte man aufarbeiten, da war Kai sich sehr sicher. „Es wird hektisch werden“, gab Rei mit einem schiefen Schmunzeln zurück, „Wir müssen noch alles organisieren. Die Feier, die Verpflegung… meine Verlobte sucht aktuell nach ihrem Hochzeitskleid. Sie will mir nicht einmal verraten, ob sie etwas findet, weil sie Sorge hat, dass ich sonst spitze. Es soll eben perfekt werden, so wie man sich wünscht, wenn man heiratet. Mutter und Vater sind übrigens nicht ganz zufrieden – finden, ich bin zu jung. Ich denke, das kann ich selbst entscheiden.“ „Ich finde, du hast recht“, bestätigte Rui leise. Der Blick des Jungen traf kurz auf Kai, fast so, als wolle er nach seiner Meinung fragen – er nickte lächelnd. Grundlegend, ja, war Kai ganz dafür, dass junge Menschen ihre eigenen Entscheidungen trafen. Er hatte sich auch über den ersten Willen seiner Eltern hinweggesetzt, und er würde es definitiv niemals bereuen. Er hatte es vor einem Jahr nicht bereut, und heute bereute er es noch viel weniger.   Rei lächelte kurz, nickte. Er sah ehrlich erleichtert aus, als wäre eine Last von ihm abgefallen, der er sich vorher vielleicht selbst nicht einmal ganz bewusst gewesen war. „Danke.“ Kai vergaß manchmal, wie wichtig es war, ab und zu Zuspruch zu bekommen. Er selbst nahm es einfach als selbstverständlich, irgendwie, denn er hatte immer Rückhalt von seiner Familie gehabt, selbst wenn sie mal  nicht einer Meinung waren. Dass es so anders sein konnte… war immer noch einfach nur unfassbar für ihn. Wahrscheinlich würden seine Eltern ihn auslachen für seine Gedanken. Vermutlich würden sie das. Er freute sich darauf, seine Erfahrungen mit ihnen zu teilen, nur um dann am Ende wieder festzustellen, dass er eigentlich noch gar nichts wusste und viel zu viel zu lernen hatte. Es war okay. Er war noch jung genug, um das alles zu lernen. Und irgendwann…   Sein Gedanke wurde unterbrochen, als Rei verkündete, dass er langsam wieder gehen müsste. Sie brachten den jungen Mann hinunter zur Eingangstür des Wohnheims, wo sie noch einmal zum Abschied stehen blieben. „Vielen Dank für die Einladung, Rui.“ „Mhm.“ „Und vielen Dank für den Tee.“ Reis Blick wanderte zu Kai hinüber, fragend. Er hatte sich gar nicht vorgestellt, fiel ihm mit einem verlegenen Lachen auf. „Fuzuki Kai. Sehr erfreut.“ „Fuzuki-San. Danke.“ Er hielt kurz inne, schüttelte dann den Kopf. „Und auch danke dafür, dass du auf Rui aufgepasst hast.“ Es war das Letzte, wofür Kai einen Dank brauchte – und trotzdem war es unglaublich wertvoll. Er mochte von Ruis Familie halten, was er wollte, aber es tat gut, zumindest den Zuspruch seines Bruders zu haben. (Auf den seiner Eltern hoffte Kai gar nicht erst. Aber er glaubte auch nicht, dass er ein Mensch sein wollte, der Zuspruch von ihnen bekommen konnte.)   „Kommst du wieder, Rei?“ Ruis Blick war groß, hoffend. Rei sah ihn verblüfft an. „Wenn die Zeit es zulässt, gern. Sag mir Bescheid, wenn du einen Auftritt hast und ich sehe zu, dass ich da bin. Aber nur unter einer Bedingung!“ Er lächelte, unerwartet sanft, legte Rui eine Hand auf die Schulter. „Hör nicht mit dem Klavierspielen auf, kleiner Bruder. Nicht ganz zumindest.“ „Rei–“ „Kein Widerspruch“, mahnte er sanft. Grinste.   „Wer soll denn sonst auf meiner Hochzeit spielen?“ II.IV Childhood Ghosts ---------------------- Als er aufwachte, waren die Bilder seiner Träume nur noch vage Schlieren, wie der Ausblick aus einem verregneten Fenster. Er starrte an die Decke seines Zimmers. Es war heiß draußen, das wusste er, auch wenn er es dank Klimaanlage nicht spürte; die Sonne schien leuchtend grell ins Zimmer. Es hatte seit Tagen schon nicht geregnet, war seit Tagen drückend warm, der Wetterbericht hatte keinen Grund gegeben, wieso sich das heute ändern sollte. Ein Blick hinaus zeigte wolkenlosen Himmel. Er seufzte müde, ließ den Kopf wieder zurück aufs Kopfkissen fallen. Er fühlte sich scheußlich. Die Uhrzeit auf dem Wecker zeigte, dass es noch verdammt früh war – er hatte nicht einmal einen Grund, aufzustehen. Selbst Iku würde noch nicht wach sein, was ein recht guter Indikator dafür war, dass es wirklich viel zu früh war. Und er wollte nicht aufstehen. Er wollte hier bleiben und ergründen, warum er aufgewacht war, mit viel zu wenig Schlaf. Er erinnerte sich gar nicht mehr so recht, was er geträumt hatte. Er wusste es, weil es Träume waren, die sich jedes Jahr wiederholten, doch er erinnerte sich nicht mehr an diesen Traum spezifisch. Erinnerte sich nicht an das kleine Straßenfest, das von hübschen Papierlaternen erleuchtet wurde. An das kleine Mädchen in Krankenhauskluft an seiner Seite, das die Welt um sich herum mit einer Begeisterung betrachtete, als hätte sie nie ein größeres Wunder gesehen. Das Glöckchenklingeln, als sie ihren Haarschmuck befestigte. Er schloss langsam die Augen wieder, versuchte die zentnerschwere Last zu ignorieren, die sich auf seine Brust legte. Sie machte ihm das Atmen schwer.   Er erinnerte sich nicht.   Als er die Augen wieder öffnete, wirkte die ganze Welt grell und unwirklich im Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel. So grell und unwirklich, als wäre das hier der Traum, aus dem er nur aufwachen müsste, damit er sofort wieder wusste, wie ihr Lachen klang und wie es sich angefühlt hatte, an ihrer Seite zwischen den Straßenfestbuden hindurchzulaufen. Neben ihm regte sich etwas, riss ihn aus allen chaotischen Gedanken. Er drehte den Kopf zur Seite. Rui lag neben ihm, entspannt, schlafend. Kais Herz krampfte und plötzlich war ihm nach Weinen, ohne dass er genau wusste, warum eigentlich. Er streckte eine Hand nach ihm aus, streichelte über sein warmes Gesicht. Warm. Real. Kein Traum. Mit schmerzhafter Intensität wurde ihm bewusst, dass er auch gar nicht wollte, dass dieses Leben ein Traum sein könnte. Niemals. Er schüttelte entschieden den Kopf, schob jede Erinnerung und Nichterinnerung an seinen Traum wieder von sich. Es war genug. Er kannte das. Jedes Jahr dasselbe. Er konnte es abschütteln, es würde vorbei gehen. Es warf ihn jedes Mal wieder mit einer solchen Wucht aus der Bahn, dass er Zeit brauchte, um sich neu zu orientieren und zu seinem eigentlichen Selbst zurückzufinden, aber er konnte das. Es war kein Unterschied zu sonst. Und er war nicht alleine damit. Er hatte Freunde. Ein kunterbuntes Leben, das ihn von der Schwermut ablenken würde, sobald er sich erst dazu aufraffen konnte, aus dem Bett zu kriechen. Der Tag war ohnehin vollgeplant, er hatte kaum Zeit, um sich in seinem Kummer zu verlieren. Es war gut. Er war froh darüber, und er freute sich eigentlich auf all die neuen Erfahrungen, die auch heute ihm bringen würde. Auf dass er irgendwann wirklich eine spannende Geschichte haben würde, die er erzählen konnte, wenn sie sich wiedersahen.   Für den Moment konnte er all das noch von sich schieben. Rui neben ihm war wie ein Anker, der ihn daran hinderte, im Meer seiner Erinnerungen fortzutreiben. Er lächelte flüchtig, streichelte sanft durch Ruis Haar, über seine warme Haut. Erinnerte sich an dieses Jahr, das sie jetzt miteinander verbracht hatten. Zuerst allein in einer kleinen Wohnung, dann zwischen so vielen anderen Leuten in diesem bunten Chaoshaufen. Rui hatte sich verändert. Er war viel offener geworden, kam viel mehr aus sich heraus. Er war glücklicher geworden. (Kai wusste nicht, ob er sich verändert hatte. Heute wollte er darüber auch nicht nachdenken.) Und immer noch so wunderschön. Kai grinste unwillkürlich schief, als ihn der Anblick des schlafenden Jungen daran erinnerte, dass da auf seinem Handy immer noch ein Foto verborgen lag, das Rui jedes Mal dazu brachte, sehr beleidigt zu sein, wenn er sich daran erinnerte. Er würde es nicht löschen, und das nicht nur, weil es einfach viel zu schön war – es war vor allem eine wertvolle Erinnerung, die Kai nicht verlieren wollte. Er wollte keine einzige Erinnerung an Rui verlieren. Die Vorstellung, dass er in zehn oder zwanzig Jahren, warum auch immer, dieses wunderhübsche Gesicht vergessen könnte, die Art, wie Ruis Wimpern zuckten, wenn eine verirrte Haarsträhne ihn an der Nase kitzelte… es war erschreckend, es war angsteinflößend. Da war er wieder, der Impuls, zu weinen, ein verdächtiges Brennen in den Augen, das Kai stur wieder abschüttelte.   Rui regte sich wieder, zog unwillig die Augenbrauen zusammen. Kai hielt inne darin, ihm übers Gesicht zu streicheln. Der Tränenkloß in seinem Hals vermischte sich mit tausend anderen Emotionen, die ihn fast erstickten. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn. Wollte Rui so viel sagen und fand doch keine Worte dafür, und am Ende lehnte er sich einfach nur vor und presste einen Kuss auf seine Stirn, sanft, behütend. „…Kai.“ Ruis Blick war so schlafgetrunken, dass Kai unwillkürlich lächeln musste. Sein Freund blinzelte, runzelte irritiert die Stirn, blinzelte dann noch einmal. Schüttelte flüchtig den Kopf und rieb sich über die Augen. Er hatte Mühe, sie überhaupt offen zu halten, trotzdem verließ sein Blick Kai keine Sekunde lang. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken.“ Rui schüttelte noch einmal den Kopf, fast energisch. Er richtete sich ein Stück weit auf, legte eine zarte Hand an Kais Wange. „Ich bin da, Kai.“ Ein Jahr zusammen zu sein bedeutete nicht nur, dass er gelernt hatte, beinahe mühelos in Rui zu lesen – es bedeutete auch, dass Rui seine eigenen Macken kannte, besser, als es Kai in solchen Momenten lieb war. Meist vergaß er es, weil er keinen Grund hatte, daran zu denken, und deshalb kam die Erkenntnis jedes Mal aufs Neue mit einer großen Portion Überraschung und einer Mischung aus Scham und Glückseligkeit. Er lächelte, seine Lippen bebten. Seine Augen waren verräterisch feucht. Es war ein grauenhaftes Gefühl, schwach zu sein. Kai mochte es nicht. Er wollte nicht schwach sein, wollte nicht derjenige sein, der Schutz und Unterstützung brauchte. Er wollte selbstständig sein. Stark. Genug Kraft haben, um auch die Menschen, die er liebte, stützen zu können, wenn sie es brauchten.   „Ich weiß. Danke.“ Er umfing Ruis Gesicht sanft mit beiden Händen, zog ihn zu sich hinunter. Als sich ihre Lippen berührten und Kai die Augen schloss, erinnerte er sich an Regentrommeln und kühle Frühsommertage, die sauber und wie frisch gewaschen rochen, und zumindest für den Moment wurde sein Herz wieder leichter.     ***     „Du solltest drüber reden.“   Shun grinste. Es war das typische, rätselhafte Dämonenköniglächeln, das Kai so vertraut geworden war. Er nippte entspannt an seinem Tee und seufzte wohlig, als er den Becher zurück auf den Tisch stellte. „Ah. Kais Tee ist einfach der Beste.“ „Übertreib nicht.“ Aber selbst wenn Shun übertrieb, Kai grinste trotzdem glücklich. Er mochte es, sich gebraucht zu fühlen. Und wenn es nur alberne Banalitäten waren. Das Gefühl, dass es gewertschätzt wurde, motivierte ihn dazu, selbst solche Kleinigkeiten mit vollem Einsatz zu erledigen.   Und das Thema war ihm bedeutend lieber als der andere Einwurf. Kai seufzte stumm, drehte seinen eigenen Teebecher zwischen den Händen. Er wollte Shuns Blick ausweichen, doch die durchdringenden Augen des Mannes durchschauten ihn sowieso, ganz gleich, was er tat. Verstecken zwecklos. Er schüttelte vage den Kopf, grinste schief. Sagte nichts, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Nein, er wollte nicht reden. Er fühlte sich nicht bereit dazu, diesen Teil seiner Vergangenheit irgendwie offen zu legen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Vielleicht war er auch einfach noch nicht bereit, das zu teilen, diesen drückend heißen Sommer vor neun Jahren, der nur ihm gehörte. Kai fand, es war ohnehin zu spät für solche Gespräche. Er war erschöpft nach einem arbeitsreichen, lebhaften Tag voller Autogrammstunden und Promotionaktionen, der ihn trotz aller schwermütigen Laune dazu gezwungen hatte, beinahe dauerhaft zu lachen und zu strahlen. Der Sonnenschein hatte geholfen, seine Energiereserven aufzufüllen und am Laufen zu halten, trotzdem hatte es mehr an ihm gezehrt, als er gern zugeben wollte. Er funktionierte einfach nicht ordentlich an diesem Tag. Shun seufzte theatralisch, schüttelte den Kopf. Als Kai wieder direkt zu ihm sah, war sein Blick ungewohnt ernst und weich geworden – und auf eine sehr unangenehme Art wissend. Er konnte keine Gedanken lesen, nicht wahr? (Bei Shun wusste man ja nie… Aber das hätte Kai doch früher schon gemerkt!)   „Drüber zu sprechen kann neue Erkenntnisse bringen, Kai.“ Kai glaubte nicht daran, dass es neue Erkenntnisse bringen konnte. Seit neun Jahren gab es keine neuen Erkenntnisse, aus dem simplen Grund, dass es vergangen war. Shuns Grinsen kehrte an seinen Platz zurück, er verbarg es hinter seinem Tee. Seine Augen blitzten. Kai konnte sich nicht ganz entscheiden, ob es eher von Zuneigung oder nahendem Unheil kündete, aber es war vertraut, weit vertrauter als der ernste Blick, der vorangegangen war, und das war beruhigend. Sie schwiegen. Shun nippte an seinem Tee, mit dieser typischen Ruhe, als hätte er alle Zeit der Welt und noch mehr, während Kai sein eigenes Getränk gerade gar nicht anrühren mochte. Der Teebecher in seinen Händen war schlicht eine willkommene Ausrede dafür, seine Finger beschäftigt zu halten und sich damit zumindest ein bisschen von seinen Gedanken abzulenken. Es hörte einfach nicht auf – wie jedes Jahr. Die alte Geschichte verfolgte ihn, oft schon Tage vor Tanabata, verschwand auch meist erst Tage später, wenn der Alltragstrott ihn langsam wieder einholte und die Erinnerungen an das Sternenfest zu unbestimmten Erinnerungen verblassten. Wie der schlierige Ausblick aus einem verregneten Fenster. Kai lehnte sich gegen die Sofalehne zurück, sah hinaus in den klaren Abend. Trotz Großstadtbeleuchtung sah man einige wenige Sterne leuchten. Wega und Altair fand er immer noch nicht, etwas, das sich wahrscheinlich auch nie ändern würde. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Shun seinem Blick folgte. „Ah~ noch ein Jahr, in dem Orihime und Hikoboshi ihre Liebe zelebrieren können. Wie schön. Hajime und ich sollten es auch tun, findest du nicht?“ Er wollte lachen, aber Kai blieb jeder Laut irgendwie in der Kehle stecken und er nickte schlussendlich nur mit einem schiefen Grinsen. Er freute sich für Orihime und Hikoboshi, sicherlich, und trotzdem war es wie immer – der Gedanke kam mit einem unangenehmen Beigeschmack, der ihn an die Dinge erinnerte, die er vor langer, langer Zeit verloren hatte und nie wiederfinden würde. Seine Orihime war fort, und es würde ewig weiterregnen für sie beide.   Zumindest war das bisher jedes Jahr das Gefühl gewesen, das er hatte. Der metaphorische Regen trennte ihn und das, was er liebte. Und heute… Er seufzte tief, plötzlich fühlte er sich todmüde, obwohl es strenggenommen noch gar nicht so spät war. Kurz nach dem Abendessen, und aus der Küche hörte er You und Yoru, die beim Abwasch lautstark diskutierten und lachten – wobei er überwiegend You hörte, und ganz selten einen herzlichst empörten Ausruf von Yoru. Iku und Rui hatten sich mit Koi und Kakeru bei den Tieren verschanzt, wie sie es oft taten, seit Haru vor zwei Tagen kommentiert hatte, dass Kuroda zu fett wurde. „Wenn er nicht abnimmt, setzen wir ihn auf Diät“, hatte er verkündet – die Kleinen hatten dem Bettelblick des Hasen nicht standhalten können und beschlossen, sie würden mehr mit ihm spielen, immerhin verbrauchte Bewegung bestimmt genug Kalorien, dass er sein Fressverhalten nicht verändern musste. Kai hatte ihnen einmal dabei zugesehen, wie sie mit Kuroda durch die halbe Wohnung jagten, und er stellte sich ehrlich die Frage, wer der Beteiligten am Ende nun mehr Kalorien verbrauchte, der Hase oder seine Personal Trainer. Sie hatten Spaß, das war die Hauptsache, und Bewegung tat sowieso gut. Iku hatte gegrinst, stolz wie sonst etwas, als er Kai am gestrigen Morgen erzählt hatte, dass Kuroda damit wohl endlich eine Sportroutine gefunden hatte, die Rui freiwillig absolvierte. Kai stieß müde die Luft aus, ließ den Blick wieder sinken. Er fühlte sich, als würde er versinken, und gleichzeitig aus einem anderen Versinken wieder an die Oberfläche treiben. Keine acht Uhr abends und trotzdem fühlte er sich so entsetzlich müde – und irgendwie alt. Shun ihm gegenüber grinste, als wüsste er schon lange, welche Erkenntnis ganz langsam erst Gestalt annahm in seinem Kopf.   Er hatte sich verändert.   Er schüttelte den Kopf, lächelte flüchtig, weil die Alternative wieder eine Schwäche war, die er sich nicht eingestehen wollte. „Vielleicht hast du Recht“, lenkte er ein. Shun sah viel zu selbstzufrieden aus bei seinen Worten, wedelte lässig ab. „Natürlich habe ich Recht, Kai. Ich habe immer Recht. Das ist eine meiner charmantesten Eigenschaften.“ Sein typisches Ego war eine herzerwärmend angenehme Ablenkung zu Kais wirren Gedanken. Er verdrehte amüsiert die Augen, sparte sich jeden Kommentar aber – Shuns Ego war alles, aber nicht charmant, und trotzdem liebten sie ihn schlussendlich doch alle, wie er war. Mit allen dummen Macken, allem großen Ego, und auch wenn es unangenehm war, insgeheim war er trotzdem fast dankbar für Shuns Scharfsinn und Beobachtungsgabe. Vielleicht war es wirklich nicht falsch, auch nach neun Jahren noch neue Erkenntnisse finden zu wollen. Vielleicht konnten auch Dinge, die längst vergangen waren, sich noch verändern. Vielleicht taten sie es zum Positiven.   Er hatte gelernt, den Regen zu lieben.     ***     Rui saß auf seinem Bett, als Kai in sein Zimmer zurückkehrte. Er blätterte in einer Fachzeitschrift über Musik, die er aus seinem eigenen Zimmer mitgebracht haben musste, hörte aber sofort auf, als die Tür leise hinter ihm ins Schloss fiel. „Du bist spät“, kommentierte er. Seine Stimme klang träge, doch seine Augen, trotz sichtbarer Müdigkeit, waren aufmerksam und forschend auf Kai gerichtet. Er ließ sich neben Rui nieder, küsste ihn flüchtig. Die Tatsache, dass er letzte Spuren von Minzbonbons auf Ruis Lippen schmeckte, ließ seine Kopfhaut kribbeln. Es hatte nur ein kleiner Kuss werden sollen, doch jetzt küsste Kai ihn noch einmal und noch einmal, bis sie irgendwann beide atemlos und keuchend in den Kissen lagen. Ruis Hand lag auf seiner, seine schmalen Finger malten kleine Muster auf seine Handfläche. „Geht es dir gut?“ Wirklich unerwartet war die Frage nicht. Kai wusste, dass er auffällig erbärmlich war an diesen Tagen. Trotzdem erstarrte er für einen Augenblick wie ertappt. Sein Reflex war es, zu lächeln und die Sache herunterzuspielen, aber er– konnte nicht. Nicht vor Rui. So wenig er es mochte, anderen Leuten Sorge zu bereiten, Ruis Anwesenheit hatte etwas so tröstliches, dass er sich in diesem Moment kaum schlecht dafür fühlen konnte. Behutsam zog er seine Hand unter Ruis weg, um seinerseits die schlanken Finger einzufangen und festzuhalten. „Habe nachgedacht“, gab er leise zurück. Seufzte. Sah hinauf an die Zimmerdecke, die so unpersönlich und nichtssagend war, dass sie Kai nur noch mehr zwang, sich mit dem Tumult in seinem Inneren auseinander zu setzen. Er konnte nicht einmal zusammenfassen, wie er sich fühlte. Melancholisch, aufgewühlt, sehnsüchtig, überfordert. Verzweifelt, vor allem deshalb, weil es dieses Jahr noch so viel schlimmer zu sein schien, und gleichzeitig so viel leichter; er verstand es nicht. Shun hatte wirklich Recht. Es wurde Zeit, dass er darüber sprach, er hatte es lange genug in sich hineingefressen und vor der Welt versteckt, aber nach all den Jahren hatte Kai keine Ahnung, wo anfangen und wo aufhören. Selbst Nagi, als er es ihr erzählt hatte, hatte nur eine sehr konfuse, bruchstückhafte Erzählung abbekommen, und das war obendrein Jahre her. Damals war die Wunde frischer gewesen, die Erinnerung auch, Kai jünger, weniger stolz – es war leichter gewesen, darüber zu sprechen. Ruis Finger griffen um seine. Obwohl sie so klein waren im Vergleich zu Kais eigenen, war ihr Griff fest und selbstsicher. „Ich höre zu, wenn du es brauchst. Und ich warte, wenn du es brauchst.“   Kai brauchte beides, wenn er ehrlich war. Er verzog müde das Gesicht, drehte sich herum, so dass er es an Ruis Schulter verbergen konnte, um sich vor der Welt zu verstecken. Er atmete seinen vertrauten Regenduft ein und spürte, wie zumindest ein Teil der Anspannung von ihm abfiel. Einfach hier bleiben… er war sich sicher, er könnte schlafen, könnte sich vor dem ganzen Thema verstecken, bis es für ein weiteres Jahr in trübe Vergessenheit geriet. Es war eine lange Zeit, die sie so blieben. Auf seinem Bett liegend, lose beieinander. Kai rührte sich nicht mehr. Rui rührte sich nur, um einen Arm um ihn zu legen, seine Hand kam auf Kais Hinterkopf zum Ruhen. Er hörte nichts außer dem leisen Summen der Klimaanlage und Ruis ebenso leisem Atmen. Es war beruhigend, entspannend. In der Dunkelheit seiner geschlossenen Augen verschwand die Welt bald wieder hinter einem Schleier aus Regen. Er erinnerte sich an den Ausblick von seiner Veranda, erinnerte sich an die Maserung der Holzdielen, aus denen sie gebaut war. Das leuchtend blaue Sitzkissen, das dort gelegen hatte und heute immer noch in Ruis Zimmer lag. Die gemeinsam verbrachten Abende, in denen das Dröhnen des Regens ihre Stimmen übertönte und in einer eigenen kleinen Welt gefangen hielt, in der es nichts außer ihnen beiden gab.   Es war der Beginn eines wirren Traums. Im einen Moment war Kai ein erwachsener Mann mit einer eigenen Wohnung, der einen kleinen Mitbewohner hatte, der ihm kaum seinen Namen sagen wollte, und im nächsten Moment trat er durch eine Tür und befand sich plötzlich wieder in dem Krankenhaus, in dem er viel zu oft gewesen war, in dem Sommer, als er zehn Jahre alt gewesen war. Das Licht eines frühen Abends ließ den ganzen Flur in einem unwirklichen, rötlichen Licht erstrahlen. Es war beinahe unheimlich, aber Kai kannte es zur Genüge – er war schon so oft hier gewesen, er könnte seinen Weg blind finden. Er wusste genau, wie lange er brauchte. Er hatte sogar seine Schritte gezählt, oft genug. Sie lag in ihrem Bett, klein und zart und wunderschön, auch wenn Kai es kaum sah; das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenstern fiel, ließ ihr Gesicht in so scharfe Schatten getaucht erscheinen, dass er nichts erkannte. Er wusste, dass sie lächelte, und er erwiderte ihr Lächeln strahlend, als er zu ihr lief, um ihr die heutigen Abenteuer zu erzählen.   Es war der Abend von Tanabata, und Kai, zehn Jahre alt und verliebt, beschloss zum ersten Mal in seinem Leben, diesem spontanen Impuls nachzugeben, der ihn noch Jahre später dazu bringen würde, die seltsamsten Entscheidungen zu treffen – und glücklich damit zu sein.   Das Straßenfest war genau so, wie es in seinen Erinnerungen immer gewesen war. Kleine Festbuden, leuchtende Papierlaternen. Nur ihr Licht war so seltsam, gleichzeitig grell und diffus, dass die ganze Umgebung völlig unwirklich schien. Es war wunderschön. Seine Begleitung war glücklich, völlig gefangen von dem Ausblick, der sich ihr bot. Kai wusste, dass sie lachte, auch wenn er es über den Trubel des ganzen Festes hinweg nicht einmal hören konnte. Er war selbst obendrein abgelenkt von dem bunten Treiben, beobachtete Kinder, die sich als Goldfischfänger versuchten, ihre Eltern, die lachend bei ihnen standen, um sie zu ermutigen. Ein Stand verkaufte Schmuckstücke. Sie waren hübsch. Zierliche, filigrane Haarspangen in typisch japanischen Designs mit verschiedenstem Zierrat – an einigen waren kleine Glöckchen befestigt. Kai sah die Spangen, und er wusste sofort, er wollte eine kaufen. Sein Taschengeld reichte nicht für viel; er war schon tagsüber mit seinen Eltern und Geschwistern auf dem Fest gewesen und hatte Geld für Süßigkeiten ausgegeben, für Äpfel, die mit Zuckerglasur überzogen waren, die so hart war, dass man sie kaum beißen konnte. Es genügte trotzdem für eine Spange, die er ganz besonders hübsch fand – sie war schlicht, und sie hatte ein paar Glöckchen befestigt, die leise klingelten, als der Verkäufer sie ihm im Austausch gegen sein Geld reichte. Das Licht der Papierlaternen verfälschte ihre Farbe. Mit seinem Einkauf kehrte er stolz zu seiner Begleitung zurück. Sie hatte gewartet, weil sie sich andere Stände ansehen wollte, und Kai war insgeheim froh darum gewesen, sollte das Geschenk doch eine Überraschung sein. Als er sie erreichte, war sie noch ganz fasziniert von den bunten Fächern, die sie gerade betrachtete. Er tippte ihr sanft auf die Schulter und hielt ihr strahlend die Spange hin, aufgeregt, ungeduldig. Sie drehte sich zu ihm um.   Ihr Gesicht war ein einziges, blankes Nichts.     ***     Kai erwachte mit einem erstickten Schrei. Er riss die Augen auf, sah im ersten Moment aber nichts als Dunkelheit. Panik griff nach seinem Herzen, ließ seinen Atem flacher werden und seinen Magen krampfen. Ihm war speiübel. „Kai.“ Rui war da. Warme Hände, die nach seinen Schultern griffen, eine leise, besorgte Stimme, die die letzten grausamen Bilder des Traums fortscheuchen wollte. Es half kaum; Kai konnte es immer noch vor sich sehen, das Mädchen ohne Gesicht, die grell beleuchtete, verdrehte Welt, die so nicht existiert hatte, doch er wusste es nicht einmal mehr besser. Er wusste, es war anders. Er wusste es, aber er wusste nicht mehr, wie es sein musste. Es war beinahe wie am Morgen, nur dass er diesmal nicht dadurch geschützt war, dass er sein eigenes Vergessen nach dem Aufwachen wieder vergaß. Sein Magen krampfte noch mehr, der Kloß in seinem Hals beinahe unerträglich groß. Er vergaß.   Etwas klickte; plötzlich war es heller. Die Lampe auf seinem Nachttisch brannte, und Rui sah auf ihn hinunter, groß und übermüdet und besorgt. War er wachgeblieben? Warum? Es war viel zu spät, als dass Rui noch wach sein sollte! Er schüttelte irritiert den Kopf, setzte sich langsam auf und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. Erst langsam dämmerte ihm, dass das Deckenlicht noch angeschaltet gewesen war, als er eingeschlafen war. Rui hatte es ausgeschaltet, scheinbar. Es war ein seltsames Gefühl; einzuschlafen, um zu einer Veränderung aufzuwachen. Wie ein Kind. Oder schlicht ein Mensch, der nicht alleine war. „Warum schläfst du nicht?“ Rui schüttelte den Kopf. Er kniete sich Kai gegenüber hin, hielt ihn aufmerksam im Blick, der keinen Deut weniger besorgt werden wollte. „Du warst so unruhig. Ich konnte nicht schlafen.“ Obwohl er wusste, dass kein Vorwurf darin steckte, fühlte Kai sich grauenhaft. Er strich Rui zärtlich über die Wange. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht wachhalten.“ Noch ein Kopfschütteln folgte. Rui sagte, er sei froh darüber. Kai solle mit seinem Kummer nicht alleine sein – „Du bist auch immer für mich da.“ Selbst wenn es ein Thema war, das er lieber für sich behalten wollte, er war es Rui schuldig, mit ihm zu sprechen. Und gerade, so wenig Kai sich wirklich danach fühlte, wollte er reden. Wollte die ganze alte Geschichte noch einmal erleben, um sich zu versichern, dass es alles nicht so schlimm war. Seine Träume waren immer wirr. Es war normal, dass ihm nicht jede Einzelheit sofort wieder einfiel. Es war nichts dabei. Wenn er erst davon erzählte, würde der Rest von alleine wiederkommen, nicht wahr? Erschöpft ließ er den Kopf in den Nacken fallen, schloss die Augen. Sein Kopf war ein einziges, chaotisches und erschreckendes Durcheinander aus Erinnerungsfetzen und verblassten Farben, die nicht wiederkommen wollten. Rui hielt seine Hand, schweigend, ohne einen Ton von sich zu geben. Kai sah ihn nicht, doch er wusste ganz genau, wie der aufmerksame, abwartende Blick aussah, der auf ihm lag. Die leichte Besorgnis in den hübschen Augen. Die Art, wie Rui kaum merklich den Kopf schief legte, wenn er auf eine Antwort wartete. Die Eigenart, dass er kaum mehr blinzelte, wenn er jemanden ansah.   „Ich war zehn“, begann er schließlich leise, schluckte. Seine Stimme klang brüchig, obwohl er noch geradezu gar nichts erzählt hatte. Er hielt inne, schluckte noch einmal. Holte tief Luft. Öffnete die Augen doch wieder, und begegnete Ruis Blick, genau so, wie er ihn vorhergesagt hatte. Sein Herz krampfte. Wollte er wirklich darüber reden? Konnte er mit Rui von allen Menschen darüber reden? (Über seine erste Liebe.) Könnte er je mit jemand anderem darüber sprechen? Mit Shun. Vielleicht. Aber allein der Gedanke fühlte sich falsch an, so falsch, dass Kai keine Sekunde länger darüber nachdenken wollte. So sehr er Shun mochte, das war eine Sache, die ihn dann doch einfach nichts anging. „Ich warte, Kai. Du musst nicht–“ Er schüttelte entschieden den Kopf, zog Ruis Hand näher, so dass er einen Kuss auf seine Handfläche drücken konnte. Er hatte Angst, aber das änderte am Ende doch nichts daran, dass die ganze Geschichte rausmusste. Dass er wollte, dass Rui es erfuhr. Er hatte so viel von Rui bekommen, in diesem letzten Jahr, so viele kleine und größere Fetzen, dass er inzwischen guten Gewissens sagen konnte, dass er ihn kannte – es war nicht fair, ihm das im Gegenzug nicht auch zu geben. Rui wollte an seinem Leben teilhaben, Kai wollte, dass er teilhaben konnte. Auch in den Momenten, in denen es schwer war. Er lächelte seinen Freund kurz an, begegnete einem warmen, liebevoll-besorgten Blick. Dann erzählte er.   Es wurde viel zu schnell schmerzhaft absehbar, dass er wirklich vergaß. Es waren so viele Details, die ihm nicht mehr einfallen wollten. Die Farbe ihres Haars. Die Farbe der Haarspange, die er gekauft hatte. Der genaue Betrag, den sie gekostet hatte. Der Klang ihrer Stimme. Der Klang des Glöckchenbimmelns. Je länger er erzählte, desto mehr wurde ihm bewusst, wie viele Lücken sich inzwischen aufgetan hatten in dem alten Erlebnis. Er wusste nicht mehr, wie ihr Gesicht aussah. Hatte sie eine Stupsnase gehabt? Sie hatte viel gelacht, aber war ihr Mund breit oder klein gewesen? Und ihre Augen? Welche Farbe hatten sie gehabt? Da waren Tränen in seinen Augen, die fallen wollten, aber Kai wollte nicht, dass sie fielen. Er wischte sie rigoros weg, schüttelte den Kopf und all die grausamen Gefühle zumindest für den Moment ab, um weiterzureden. Die Tränen, die er nicht weinen wollte, schwangen in seiner Stimme mit, als er berichtete, wie er schlussendlich damit konfrontiert worden war, dass seine erste Liebe ihrer Krankheit erlegen war. Er erinnerte sich kaum noch an den Anblick ihres leeren Krankenbettes, obwohl er immer geglaubt hatte, dieser Anblick würde ihn sein Leben lang verfolgen. Rui, die ganze Zeit über, war still gewesen. Er hatte kein Wort gesagt, hatte Kai nur aufmerksam und unbewegt angesehen, selbst seine Mimik zeigte kaum eine Regung. Er war einfach nur da, und Kai schöpfte mehr  Kraft daraus, als er es je für möglich gehalten hätte. Jetzt, wo es vorbei war, fühlte er sich trotzdem kraftlos, hatte noch die letzten Energiereserven aufgebraucht, die Tanabata ihm übriggelassen hatte.   Shun hatte tatsächlich Recht behalten. Es hatte neue Erkenntnisse gebracht, darüber zu reden. Andere, als Kai erwartet hatte allerdings. Er hatte geglaubt, Tanabata würde einfacher werden, jetzt, wo die Prioritäten in seinem Leben begonnen hatten, sich zu verändern. Sein Herz lebte nicht mehr nur in der Vergangenheit, sondern hatte seinen Platz in der Gegenwart gefunden, so fest verankert, dass es sich auf eine Zukunft freuen konnte. Und trotzdem tat es einfach nur weh. Vergessen war eine angsteinflößende, erschreckende Sache, die Kai nicht erfahren wollte, nicht jetzt, und in Zukunft noch viel weniger. Und wie sollte er überhaupt noch in der Lage sein, ihrer zu gedenken, wenn er eigentlich nichts mehr über sie wusste? Wie konnte es sein, dass dieser eine Teil Vergangenheit, der ihm so wichtig war, so gnadenlos verblasste? Würde er irgendwann ganz verschwinden? Bis nur noch die Erinnerung daran blieb, dass er sich einmal erinnert hatte… „Kai.“ Sein Gedankenfaden riss von Ruis sanfter Stimme, von der kleinen Hand, die sich zärtlich auf seine Wange legte. Ein Daumen an seinem Augenwinkel. Rui sah aus, als würde er allein unter Kais sichtbarem Leid mindestens genauso sehr leiden, wie Kai es gerade tat. Er presste die Lippen zusammen, und plötzlich waren es seine Augen, die feucht glänzten. Kais Herz zerriss, noch mehr als ohnehin schon. Er schüttelte den Kopf, hob eine Hand, wollte die Feuchtigkeit wegstreichen, doch er kam nicht so weit. Da war eine Träne auf Ruis Wange, eine schmale, feuchte Spur, die sich an seinem Kinn verlor. „Es ist okay“, sagte er leise. Seine Stimme war fest, trotz der Tränen. Es verschlug Kai die Sprache, es tat weh und war tröstend zur gleichen Zeit, und er begriff nicht, warum Rui weinte. Seinetwegen. Weil er unglücklich war. Ruis Mundwinkel zuckten, dann lächelte er, und der Anblick war so wunderschön und herzzerreißend traurig gleichzeitig, dass er Kai noch mehr Tränen in die Augen trieb, die er nicht fallen lassen wollte. „Du bist nicht allein, Kai. Ich bin hier. Weine ruhig.“   Kai wollte nicht weinen. Aber er hatte nicht die Kraft, es nicht zu tun – ehe er auch nur über einen Protest nachgedacht hätte, fiel die erste Träne. Statt Worten drang nur noch ersticktes Schluchzen über seine Lippen. Sofort war Rui da und hielt ihn fest umarmt, die schmalen Ärmchen unerwartet stark, wenn es nur darum ging, ihm Halt zu geben. „Ich bin da“, wiederholte Rui leise, wie ein sanftes, tröstendes Mantra. „Ich bin da.“ Kai klammerte sich an seine Worte. Klammerte sich an den schmalen Körper, der ihm Halt gab, von dem ihm nie bewusst gewesen war, dass er ihn brauchte. Er fühlte sich, als würde er in dem Meer seiner eigenen Tränen versinken können, aber Rui hielt ihn fest, ließ ihn nicht mehr los, und mit jeder Träne, jedem erbärmlichen Schluchzen fühlte Kai sich ein bisschen leichter.   Ein bisschen mehr bereit, zu akzeptieren, dass er keine zehn Jahre mehr alt war und auch gar nicht mehr sein wollte.   Es war vorbei. II.V New Beginning ------------------ „Wir gehen jetzt auf Geisterjagd!“   Mit diesen Worten hatte Kakeru vor seiner Zimmertür gestanden, ausgerüstet mit einer Taschenlampe und einem Schmetterlingsnetz. Er grinste breit, und Kai brachte es nicht über sich, auch nur ansatzweise durchklingen zu lassen, dass er selbst nicht begeistert war. Tanabata lag hinter ihnen, aber die letzten Spuren waren noch nicht wieder verblasst, entsprechend erschien Kai das Timing mehr als ungünstig. Aber es war nicht, als konnte er noch ablehnen. Nicht nur, dass er sowieso schon zugesagt hatte, er wollte Rui da auch nicht allein in der Dunkelheit lassen. Und er wollte Kakeru und den anderen ihren Spaß nicht verderben, indem er ihnen jetzt irgendeine Enttäuschung, und sei sie noch so klein, entgegenwarf. Also grinste er, verkündete, er müsse sich noch eben fertig machen und war froh, damit tatsächlich noch ein paar Minuten für sich allein zu haben, ehe er sich dem großen Abenteuer stellte. Er hatte den Termin völlig vergessen. Ein kleiner Teil von ihm wünschte sich, er hätte ihn auch weiterhin vergessen können, ein anderer Teil wünschte, er hätte ihn einfach gar nicht vergessen, dann wäre er wenigstens bereit gewesen. Er war nicht sicher, ob es einen Unterschied gemacht hätte.   Ihm stand gerade einfach überhaupt nicht der Sinn danach, die Seelen von Verstorbenen zu suchen.   Er packte zur Sicherheit eine Taschenlampe mehr als nötig ein, bevor er zu der Gruppe aufschloss, die in den Wald hinausgehen wollte – Gravi minus Haru, der am Morgen so früh aus den Federn musste, dass er lieber schon ins Bett gegangen war, sowie Rui und er selbst. Shun stand viel zu amüsiert neben der Wohnungstür, die Arme entspannt vor der Brust verschränkt. Natürlich hatte er darauf bestanden, sie noch zu verabschieden. Natürlich machte ihm das alles viel zu viel Spaß. Und Kai konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. An jedem anderen Tag, in jeder anderen Situation, hätte er selbst riesigen Spaß gehabt – nicht gerade an dem Gruselaspekt, aber schlicht an einer Nachtwanderung im Sommer. Es gab so viele Leuchtkäfer! Als Kind hatte er nie lange genug draußen bleiben dürfen, um Leuchtkäfer zu sammeln, also klang es umso reizvoller, jetzt als Erwachsener die Gelegenheit zu haben. Nächstes Jahr vielleicht. Vielleicht würden ihn die Käfer aber auch davon ablenken, dass er sich eigentlich nur mulmig fühlte bei der Aussicht auf womögliche Geistersichtungen.   „Ihr solltet wirklich vorsichtig sein“, singsangte Shun vergnügt, „Immerhin sind Hitodama dafür bekannt, gern Schabernack zu treiben. Verlauft euch nicht im Wald. Man weiß nie, was da sonst noch so zu finden ist, wenn man lang genug sucht… Oder versehentlich hineinstolpert.“ Er hatte wirklich zu viel Spaß. Und er spielte seine Rolle gut. Kai fühlte sich selbst schon unwohl nur von Shuns beunruhigender Tonlage; er hatte ein verblüffendes Talent darin, selbst dem heitersten Plaudertonfall einen kaum spürbaren, drohenden Unterton zu verleihen, der einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Er zweifelte nicht daran, dass Shuns Worte auch auf den Rest der Gruppe einen spürbaren Effekt hatten, auch wenn nicht jedes Gesicht leicht zu lesen war. (In Ruis Augen sah er vor allem am Ehesten Vorfreude. Manchmal war er schon ein verrücktes Kerlchen.) „Wir werden gar nichts finden!“, erwiderte Koi fast schon krampfhaft entschlossen – es klang für Kai sehr stark danach, dass er sich selbst beruhigen wollte. Er sah ungewohnt blass um die Nase aus, hatte aber ein sehr mutiges Gesicht aufgesetzt. Shun lachte melodisch auf. Seine Augen blitzten gefährlich, als er den rosa Wuschelkopf fixierte; der Junge wich instinktiv ein Stück zurück, nicht, dass er allzu weit kommen konnte; er stieß schnell genug gegen den Schuhschrank. Er tauschte einen besorgten Blick mit Kakeru. „Oh, Koi. Sorge dich lieber darum, was euch finden wird…“ „Gar nichts wird uns finden, Shun-San!“ So inbrünstig sein Widerspruch war, so wenig glaubhaft war er. Kai musste grinsen. Es war unübersehbar, dass ausgerechnet die beiden Drahtzieher hinter der Aktion, Koi und Kakeru, sich jetzt schon viel zu sehr in Shuns Gruselstimmung hineinsteigerten; wenn das so weiterging, würden sie gar nicht mehr rauskommen, weil sie kniffen. Erinnerte an die Mutproben, die er, seine Geschwister, Nachbarskinder und Freunde als Kinder immer durchgezogen hatten – oder eben auch oft genug nicht.   „Shun, lass es.“ Hajimes Mahnung brachte Shun tatsächlich dazu, sich von den Kindern abzuwenden. Er grinste breit zu ihm hinüber, warf ihm einen typisch theatralischen Luftkuss zu. Hajimes Reaktion war nicht mehr als ein absolut unberührtes Augenrollen. Wie immer. „Armer Shun-San“, murmelte Kakeru, aber erklang viel mehr belustigt als mitleidig dabei. Koi nickte grinsend, während Shun sich dramatisch leidend an die Brust fasste. Das Theater brachte die halbe Gruppe zum Lachen – Kai eingeschlossen. Es war einfach immer das Gleiche, sobald Shun und Hajime in einem Raum waren. Nach so langer Zeit zusammen lernte man einfach, es mit Humor zu nehmen, sonst wurde man doch auch nur wahnsinnig. Nur Hajime fand es nicht lustig. Er schüttelte den Kopf, fixierte Shun dann mit einem Blick, der nicht nur unterschwellig drohend war. „Mach keinen Ärger.“ Jeder, der nicht Shun war, hätte sich ohne Diskussion daran gehalten. Bei Shun hingegen sah es aus, als wäre es eine Herausforderung, die er nur zu gerne annehmen würde. Seine Augen glühten unheilverkündend, während er verspielt den Kopf vor Hajime senkte. Kai war sich sicher, es war Spott. „Natürlich doch, mein König. Dir würde ich niemals Ärger machen.“ Hajimes Blick sagte ganz klar, was auch Kai sich schon dachte – da waren noch sechs andere Leute, denen Shun Ärger machen konnte. Und er würde es tun, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Na, es würde nicht langweilig werden? Kai grinste schief, schüttelte amüsiert den Kopf. Er klopfte Kakeru, der ihm abgesehen von Rui am nächsten stand, kameradschaftlich auf die Schulter.   „Na los, hauen wir ab, ehe der Dämon uns verflucht.“     ***     Der Wald lag still und dunkel vor ihnen, eine große Masse an schwarzen Schemen, die sich vom sternenklaren Nachthimmel abhoben und bedrohlich in die Finsternis hinaufragten. Das Zirpen der Zikaden war hier draußen mitten im Grün so ohrenbetäubend laut, dass es beinahe kopfschmerzerregend war. Straßenbeleuchtung gab es hier keine mehr; bis auf die Lichtkegel ihrer Taschenlampen war es finster. „Wir sollten darauf achten, dass wir zusammenbleiben“, mahnte Hajime mit einem kaum sichtbaren Stirnrunzeln. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe wandte sich von den äußeren Ausläufern des Waldes ab und zu ihrer kleinen Abenteuergruppe hin. „Habt ihr das verstanden? Keine Erkundungstrips. Kein kreischendes Wegrennen. Ich garantiere für gar nichts mehr, wenn ihr allein da drin seid.“ „Verstanden, Leader!“, flötete Kakeru vergnügt zurück. Er wedelte enthusiastisch mit seiner Taschenlampe. Kai sah sie schon fliegen – seiner Grimasse nach sah Aoi ähnliche Horrorszenarien in seiner Vorstellung. „Wir gehen nicht verloren! Mach dir keine Sorgen. Können wir nun los?“ Kaum, dass sie rausgekommen waren, weg von Shun und seiner unheilvollen Aura, war Kakeru wieder Feuer und Flamme für die Aktion gewesen. Jetzt wippte er ungeduldig auf den Fußballen vor und zurück, offensichtlich kaum abwarten könnend, sich in sein Geisterjägerabenteuer zu stürzen. „Können wir.“ Hajime wandte sich ab, setzte sich in Bewegung. Es dauerte nur wenige Schritte, bis die Dunkelheit des Waldes den Lichtkegel seiner Taschenlampe verschluckte. Koi und Kakeru folgten ihm fast augenblicklich, dann Aoi und Arata. Kai war ganz froh, das Schlusslicht der seltsamen Prozession sein zu können. Sanft stupste er gegen Ruis Oberarm, bot ihm seine Hand an. „Besser, wir werden nicht getrennt, nicht wahr?“ Ihm begegnete ein vertrautes, unwilliges Stirnrunzeln. Kai kannte den Protest, der da kommen wollte, und unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. „Ich weiß.“   Es war nicht einmal nur die übliche Besorgnis. Natürlich wollte Kai sichergehen, dass Rui nichts passierte, und ein bisschen fürchtete er tatsächlich, dass der Junge sich ein bisschen zu sehr von einem Rascheln im Gebüsch oder einem seltsamen Leuchten in der Ferne ablenken lassen könnte, als dass er noch darüber nachdachte, wo er gerade hinlief. In erster Linie aber war das Problem, dass Kai sich selbst nicht vertraute. Dass er fürchtete, am Ende derjenige zu sein, der auf den falschen Weg abbog, weil er glaubte, etwas zu sehen, das da nicht sein konnte. Er wusste nur nicht, wie er es in Worte fassen sollte.   Er musste es auch nicht, scheinbar. Nach einem Moment, in dem Rui schweigend in seinem Gesicht nach Antworten gesucht hatte, ergriff er genauso schweigend seine Hand, drückte sie flüchtig. „Gehen wir.“   Einmal vom Dickicht verschluckt war die Welt wie ein anderer Ort. Die dichtbelaubten Bäume standen nah genug beieinander, dass dazwischen kaum noch Fetzen des Himmels sichtbar blieben. Silbrige Sprenkel Mondlicht sickerten durchs Geäst und malten fremdartige, im Wind immer wieder wechselnde Bilder auf den weichen Waldboden. Es roch nach Holz und Moos und Feuchtigkeit, und über allem lag der ohrenbetäubende Lärm der Zikaden. Es dauerte nicht lange, bis sie keinen Hinweis mehr auf einen Ausgang aus dem Pflanzenlabyrinth fanden, wenn sie sich umdrehten. Es war friedlich, wenn man nicht vor dem gelegentlichen Rascheln im Gebüsch erschrak. Es war friedlich, wenn man sich nicht an knackenden Ästen unter den eigenen Füßen störte. Es war friedlich, wenn man sich nicht gegenseitig aufpeitschte, weil man etwas gehört hatte. Schritte, behauptete Koi ziemlich bald erschrocken. Ein paar Minuten später war sich Aoi sicher, dass er Gelächter gehört habe. Hajime hatte ein gutes Händchen dafür, alles zu entkräften – die Schritte waren entweder ihre eigenen gewesen, oder nur ein Echo, und Aois Gelächter war nur der Wind in den Bäumen. Es klang logisch, wenn man daran glauben wollte, und Hajime hatte genug Überzeugungskraft, dass niemand seine Ideen infrage stellte. Kai war froh darum. Er war kein allzu abergläubischer Mensch, und er war mit Sicherheit niemand, der Angst vor Geistern hatte, aber heute war ihm wirklich, wirklich nicht wohl mit der ganzen Sache.   Je weniger sie sich aufpeitschen ließen, desto besser. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn am Ende jemand verkündete, er habe Glöckchenbimmeln gehört.   Die zikadenschwere Stelle, die sich irgendwann festsetzte, hatte etwas seltsam Drückendes. Kai horchte schon halb darauf, dass irgendetwas anderes passierte als ein paar knackender Ästchen und raschelnder Büsche. Immerhin war er nicht der einzige, den es störte: „Die Zikaden werden ganz schön nervig, wenn man nichts anderes hört, huh?“ Kakeru lief rückwärts, leuchtete  mit seiner Taschenlampe in Richtung seiner Freunde, um ihre Gesichter sehen zu können. Obwohl er noch grinste, sah er ein bisschen beunruhigt aus. „Findet ihr nicht?“ – „Es ist echt anstrengend“, gab Aoi mit einem leisen Seufzen zurück. Im Gegensatz zu Kakeru versuchte er gar nicht mehr, fröhlich auszusehen. Seine Stirn war zu einem besorgten Runzeln verzogen und sein Blick huschte besorgt durch die Dunkelheit. „Vielleicht können wir es übertönen“, fügte er noch nachdenklich hinzu, nachdem ein besonders lauter Windstoß ihn zusammenzucken ließ. „Großartige Idee!“, stimmte Kakeru eifrig zu. Er gestikulierte wild, stolperte über irgendeinen losen Ast. Riss die Augen panisch auf. Koi streckte die Hand nach ihm aus, um ihn noch zu packen, doch es half nichts – Kakeru fiel auf den Hintern. „Uwaaaaaaaaaah!!!“ Und seine Taschenlampe flog in hohem Bogen durch die Luft, bis sie mit einem dumpfen Rascheln irgendwo im Gebüsch landete und flackernd ausging. Sie blieben stehen, und einen langen Augenblick herrschte vollkommene Stille, in der Kakeru aus riesigen, erschrockenen Augen hinaus ins Dickicht blickte. Dann wandte er sich wieder zu seinen Freunden hin, Schreck wich Hilflosigkeit. Wie er da auf dem Waldboden saß, furchtbar mitgenommen von seiner verlorenen Taschenlampe, erinnerte er Kai eher an ein Kind als an einen jungen Mann. Seine Unterlippe bebte verdächtig. „Meine Taschenlampe…“   Kai hatte gewusst, dass es eine gute Idee war, einen Ersatz mitzunehmen.   Mit neuer Taschenlampe ging es schließlich weiter, Kakerus Laune schnell wieder gehoben. Immerhin war er für den Moment aber vernünftig genug, sich nicht wieder herumdrehen zu wollen – dafür tat das nun Koi, der sich auf den ersten Blick aber um einiges geschickter dabei anstellte. „Wir können ein Spiel spielen, um die Zikaden zu übertönen!“ „Nette Idee, Pinkie. Und was spielen wir?“ – „Schlag du doch was vor, Arata-Kun.“ Arata hatte aber genauso wenig einen Vorschlag wie Koi selbst. Es war auch nicht gerade einfach, in einem dunklen Wald ein Spiel zu finden, das man spielen konnte – und das dabei auch laut genug war, um gegen den steten Tumult der Zikaden anzukommen. Und sicher genug, dass man nicht verloren ging. Die üblichen Outdoor-Spiele wie Fangen und Verstecken kamen also sowieso erst einmal gar nicht infrage. Es wurde eine Überlegung, die Kai auf amüsierende Art an die Diskussion an Ruis Geburtstag erinnerte – viel hin und her zwischen Koi und Kakeru, ohne zu einer handfesten Lösung zu kommen, und kaum Raum dazwischen, dass jemand anderes sich einmischen konnte. Zusätzlich dann solche verrückten Ideen wie Flaschendrehen mit einer Taschenlampe zu spielen. „Lampendrehen!“, wie Koi es stolz taufte. Außer ihm fand die Idee allerdings niemand gut. „Ihr wollt nicht hier übernachten, also sucht euch ein Spiel, das man auch nicht-stationär spielen kann“, mahnte Hajime mit einem Seufzen. Koi grinste ihn sonnig an und verkündete, dass sich das bestimmt auch irgendwie im Laufen spielen ließ. Aoi lachte leise. Arata verdrehte die Augen – „Wir brauchen eine ordentliche Idee, bevor dem Kerl noch eine Umsetzung für seine idiotische Spinnerei einfällt.“ Kai war ganz seiner Meinung.   „Wie wäre es mit einem simplen Frage-Antwort-Spiel?“, schlug er schließlich vor, bevor es noch weiter ausarten konnte. „Es ist etwas, das wir als Kinder oft im Auto gespielt haben, wenn es uns langweilig wurde. Einer stellt eine Frage, alle beantworten sie, dann ist der nächste dran. Wir haben damals Strichliste geführt, wer wie oft gekniffen hat und keine Antwort gab, und der musste dann am Ende irgendeine Strafe ausführen – Süßigkeiten für alle kaufen oder so.“ Es war lustiger, als es im ersten Moment klang, solange man die richtigen Fragen stellte. Es brachte interessante Antworten zutage, und zumindest für eine Gruppe von gelangweilten Kindern hatte es immer großartige Dienste geleistet, um langwierige Autofahrten erträglich zu machen. Und obendrein war es eine charmante Art, sich noch ein bisschen besser kennenzulernen, nicht wahr? „Dann brauchen wir aber erst eine passende Strafe!“ „Wer zu oft kneift, wird im Wald ausgesetzt.“ „H-Hajime-San!!! Das ist überhaupt nicht witzig!“   Kai fand es witzig. Außer Koi fand es jeder witzig, wenn man nach ihrem Gelächter gehen konnte.   Eine wirklich gute Idee zum Thema Strafe hatte insgesamt auch niemand. Es kam einiges auf: Toilettenputzen, Nachtischverbot, Tierkümmerpflicht für die nächsten Wochen, und noch viele andere Dinge, die von irgendeiner Seite aus aber so vehement abgelehnt wurden, dass sie doch verworfen wurden. Im Endeffekt endete es darin, dass sie aufgaben, eine Strafe zu finden – sie würden sich bei Gelegenheit in Ruhe eine ausdenken, im Zweifelsfall auch erst nach Spielende. Mit den Zikaden im Ohr dachte es sich ohnehin ziemlich schwer. Gerade, als sie das Spiel beginnen wollten, fiel Arata noch ein anderes Problem auf: „Haben wir überhaupt eine Möglichkeit, die Kneifer zu notieren?“ „Handys!“, verkündete Koi grinsend und hielt sein Mobiltelefon demonstrativ hoch, „Damit können wir das locker notieren!“ – „Solange du es nicht tust, Pinkie, denn du schummelst garantiert.“ – „Arata-Kun, das tu ich nicht!“ „Hey, hey, beruhigt euch.“ Aoi hob beschwichtigend die Hände. Er lächelte sanft in die Runde. „Lassen wir es doch von Hajime-San notieren, er wird nicht schummeln.“ „Na schön. Es ist eigentlich nur fair, wenn der Leader es macht“, willigte Koi unzufrieden ein. Er zog eine Schnute, reichte sein Handy aber an Hajime weiter, nachdem er ein Notizprogramm geöffnet hatte; er war der Einzige, der sein Mobiltelefon mitgeschleppt hatte. Als er sich wieder umdrehte – rückwärtslaufen schien ein neues Hobby zu werden –, war die Schnute längst verschwunden und er grinste wieder.   „Also los! Mögen die Spiele beginnen!“     ***     Es fing harmlos an – Lieblingsfarben, Kindheitsträume. Kindheitsängste. Lieblingsessen. Hassessen. Geheime Hobbies, die so peinlich waren, dass man sie gar nicht erst sagen wollte. Zwischen Stolz und Staunen stellte Kai fest, dass Rui unerwartet offen bei dem ganzen Spiel war und Antworten gab, statt sich auszuschweigen. Und es waren interessante Antworten! Es war nicht, als hätte Kai alles gewusst. Jede neue Information speicherte er sich penibel ab.   Es blieb aber nicht harmlos. Kai hatte geahnt, dass es früher oder später dazu kommen würde, dass das ganze Spiel in privatere Themen abrutschte; so war es immer. So war es auch bei ihren Autofahrten gewesen, in den letzten Jahren vor seinem Auszug. Letztlich war es Arata, der die Grenze zwischen losem Geplänkel und Privat ganz lässig überschritt: „Wie alt wart ihr bei eurem ersten Kuss? Ich war zwölf.“ Kai hörte sein Grinsen aus der Frage heraus, und er musste selbst grinsen, weil sie Koi ins Stolpern brachte und Kakeru dazu, seine Taschenlampe fast wieder fallenzulassen. „Definiere erster Kuss“, forderte Hajime gelassen. Er leuchtete kurz zu Arata zurück, wandte sich aber schnell wieder um. „Erster ernsthafter Kuss aus romantischen Gründen, oder zählen auch alle Mutproben und Schultheaterküsse dazu?“ „Ernsthaft“, erwiderte Arata. Kai musste grinsen, weil Koi und Kakeru immer lustigere Gesichter zogen. „Ändert meine Antwort übrigens nicht. Zwölf.“ „Vierzehn“, war Hajimes Antwort. Aoi verkündete ebenfalls zwölf. „Sechzehn“, sagte Rui. Ein bisschen leise, und Kai war sich nicht sicher, ob er wirklich gehört worden war, doch eigentlich sprach Kois empört-entgeisterter Blick Bände. „Was?! Sogar Rui-Kun–?!“ – „Sag nicht, du hast noch nie jemanden geküsst?“ Arata feixte unverhohlen. Koi gab einen langgezogenen, leidenden Laut von sich und schüttelte dann vehement den Kopf. „Ich verweigere die Aussage!“ „Wir wissen deine Antwort doch eh alle. Sag’s doch einfach, dann sparst du dir den Strich.“ – „Kein Kommentar!!!“   Selbst Kakeru hatte etwas vorzuweisen – er war elf gewesen, erzählte er vor Verlegenheit stammelnd – und Kai stolperte fast einen Moment über sein eigenes Alter, weil er beinahe vergaß, dass er gerade neunzehn Jahre alt geworden war.   Das Thema blieb, zumindest jedes Mal, wenn Arata die Fragen stellte, erhalten. Er schien sich einen ganz besonders großen Spaß daraus zu machen, Koi zu piesacken, denn es wurde schnell absehbar, dass der Kerl jede Frage in die Richtung einfach nicht beantworten wollte. Ganz egal, ob es um Dates, Valentinsschokolade oder Schwärmereien ging, er machte konsequent dicht. (Und provozierte damit einen immensen Vorsprung vor den Anderen, was sein Verliererpotential anbelangte.) Kais Herz machte einen riesigen, aufgeregten Sprung, als Rui die Frage danach, ob er verliebt sei, mit einem simplen „Ja“ beantwortete. Natürlich wusste er es. Genauso, wie Rui seine Antwort auf die Frage kannte, und trotzdem war es ein ganz aufregendes Gefühl, das zu hören, denn bisher hatten sie eigentlich… nie darüber gesprochen. Es nie ausgesprochen. Es fehlte Kai nicht. Ein bisschen war er sogar froh darum, dass sie schweigend miteinander funktionierten, denn es konnte verblüffend schwer sein, drei kleine Worte über die Lippen zu bringen. Irgendwann. Aber es war gut, dass irgendwann nicht zwingend bald sein musste. Und dass sie es nun trotzdem irgendwie gesagt hatten. Er sah zu Rui hinunter, begegnete zu seiner Überraschung seinem Blick. Er sah zufrieden aus, brachte Kai damit zu einem strahlenden Lächeln. Inzwischen war er wirklich froh, dass er mit hinausgegangen war. Keine Geister. Keine unheimliche Einbildung, die ihn zu Dummheiten verleitete. Nur ein paar dumme Spiele, ein paar Freunde, viel Gelächter, eine weitere Gelegenheit, Zeit mit Rui zu verbringen.   Und das leise Klingeln von ein paar Glöckchen, das vom Wind davongetragen wurde.   Ruis Hand packte mit einem Mal viel fester zu. Kais Herz blieb stehen, seine Beine quittierten ebenso den Dienst und er verharrte einfach, wo er stand. Es musste Einbildung gewesen sein, ein Streich, den sein eigenes Bewusstsein ihm gespielt hatte, weil er sich gerade erst wieder an seine ursprünglichen Sorgen erinnert hatte. Es musste Einbildung gewesen sein, und trotzdem sah Rui ihn mit großen, durchdringenden Augen an, in denen ein leiser Anflug von Beunruhigung lag. Und seine Hand. Kai spürte den unvertrauten Druck immer noch, der ihn festhielt, als hätte Rui Angst, er würde einfach verschwinden, wenn er es nicht tat. „Hast du–?“ Er traute sich gar nicht, die Frage zu stellen. Schluckte sie auf halbem Wege wieder hinunter. Rui schüttelte ganz langsam den Kopf. Da war es wieder. Nur ein leiser, heller Ton, der irgendwo aus der Ferne kam und wieder verschwand, ehe Kai ganz wusste, in welche Richtung er sich wenden musste, um ihm zu folgen. „Kai.“ Der scharfe Tonfall in Ruis Stimme ließ ihn innehalten. Er schüttelte den Kopf, drückte Ruis Hand in seiner. Sein Nacken kribbelte, als würde er beobachtet werden, aber er fühlte sich gerade doch wieder ruhiger, aufgerüttelt durch Ruis Ansprache. Was auch immer es war, er sollte sich nicht näher damit auseinandersetzen. Sie sollten einfach weitergehen, nicht wahr? Zu den Anderen aufschließen, ihr olles Spiel weiterspielen und die ganze Sache mit dem Glöckchenklingeln einfach vergessen.   Erst jetzt fiel Kai auf, dass es seltsam ruhig geworden war. Als er sich umsah, entdeckte er nichts außer Bäume, Gebüsch, dunkler Schatten und kleiner Sprenkel Mondlicht auf dem Boden – und in der Luft. Instinktiv wich er einen Schritt zurück. Ein Zweig knackte unter seinem Schritt, ließ ihn zusammenfahren. Da waren kleine, bläulich schimmernde Flammenkugeln um sie herum, mit langen, fadendünnen Schweifen. Sie schwebten gerade weit genug über dem Boden, dass sie die Erde nicht berührten. Laut einer Legende würden sie in tausend kleine, schwarze Bröckchen zerstieben, wenn sie den Boden berührten. Das Glöckchen war zurück, und das Bimmeln klang beinahe quengelnd. Es war unnatürlich still. Selbst die Zikaden klangen, als wären sie weit, weit entfernt. War da Gelächter? Es klang wie ein kleines Mädchen… „Kai.“ Er schüttelte entschieden den Kopf, holte tief, bebend Luft. „Entschuldige. Gehen wir. Die anderen machen sich sicher schon Sorgen!“ Rui sah ihn an, als wäre er überhaupt nicht glücklich, zutiefst besorgt und beunruhigt, doch er nickte. Kai wollte ihn aufmunternd, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge, als das Glöckchen wieder bimmelte. „Kai?“   Eine Stimme rief nach ihm, aber es war nicht Rui. Er sah sich verwirrt um, völlig vergessen, wo er gerade war und warum er hier war. Zwischen seltsamen blauen Lichtkugeln erblickte er in der Ferne eine kleine, menschenförmige Gestalt in dumpfen, hellen Kleidern. Sein Herz setzte einen Moment aus und er öffnete den Mund, rief einen Namen, von dem ihm gar nicht mehr bewusst gewesen war, dass er ihn überhaupt noch kannte. Die kleine Gestalt reagierte, indem sie sich umwandte und loslief. „…Kai!“   Als er sich von der Hand löste, die ihn festhielt, fühlte Kai sich wieder, als wäre er zehn Jahre alt.     ***     Er war zehn Jahre alt.   Es war Sommer, er hatte Ferien, und sie waren auf dem Land, weil sie seine Großmutter besuchten, die im Krankenhaus lag. Seine Geschwister waren laut und anstrengend, und er liebte sie so, aber trotzdem brauchte er manchmal Ruhe vor ihnen. Deshalb hatte er sich hier draußen mit seiner Freundin getroffen, wo sie alleine sein konnten. Er hörte ihr Lachen, hörte das schrille Bimmeln der Glöckchen an ihrem Haarschmuck, und er folgte ihr lachend zwischen den Bäumen hindurch. Sie spielten fangen. Obwohl er immer ein schneller Läufer gewesen war, war sie schneller als er. Manchmal verlor er sie ganz aus den Augen in dem dichten Geäst, doch egal, ob er sie gerade sah oder nicht – er hörte sie, hörte ihr Lachen und ihre Glöckchen, und nie hatte er Mühe, sie wiederzufinden.   Als sie ihr Spiel beendeten, war er erschöpft, doch er lachte bei aller Atemlosigkeit noch immer. Sie stand lachend inmitten einer kleinen Lichtung, die hell von Mondlicht erleuchtet war. Ihr Krankenhaushemdchen wehte in einer lauen Brise. Sie sah aus, als würde sie auf etwas warten. Kai sah sie verwirrt an, doch sie antwortete nicht, legte nur den Kopf schief. Abwartend. Um sie herum schwirrten kleine, bläuliche Feuerbälle mit langen, fadendünnen Schweifen, die beinahe auf den Boden aufkamen. Einer von ihnen schien das Gleichgewicht zu verlieren, er sackte ab, berührte die Erde – und zerstob in tausende kleine, schwarze Gestalten, die hektisch über den Waldboden krochen. Kai folgte ihrem Treiben fasziniert, und als er wieder aufsah, waren alle übrigen Feuerkugeln ein Stück weiter hin die Höhe geschwebt, als fürchteten sie das gleiche Schicksal. Eine schwebte ganz in seiner Nähe vorbei, brachte den Klang von Glöckchenklingeln mit sich. Eine andere roch nach der klebrigen, süßen Luft von Sommerfestbuden, die Süßigkeiten verkauften. Es erinnerte ihn an die Äpfel mit Zuckerglasur, die er so gern mochte, und die Nagi so sehr hasste, weil sie die Zuckerkruste einfach nicht durchgebissen bekam. Sie sah ihn immer noch abwartend an, und so langsam dämmerte Kai, was sie wollte. Er lachte verlegen auf. „Stimmt ja! Ich hab dir so viel zu erzählen!“ Sie klatschte vergnügt in die Hände, nickte eifrig. Kai strahlte sie an. Er erinnerte sich. Er hatte ganz viele Erinnerungen gesammelt, nur, um sie ihr erzählen zu können!   Also erzählte er.   Er erzählte von seiner Großmutter, mit der sie einen langen Ausflug in die Berge gemacht hatten, als sie endlich wieder gesund aus dem Krankenhaus gekommen war. Er erzählte von dem Fußballturnier, das sein Team im gleichen Jahr nur knapp verloren hatte. Er erzählte davon, wie es gewesen war, auf die Mittelschule zu wechseln, weg von alten Schulkameraden und alten Schulgebäuden, weg von seinen Geschwistern, die teilweise einfach zeitgleich mit ihm die Grundschule besucht hatten. Es war so eine Umgewöhnung gewesen, alleine aus dem Haus zu gehen und einen anderen Weg einzuschlagen! Einsam. Kai hatte es anfangs wirklich gar nicht gemocht. Als sie dann nach und nach ebenfalls auf die Mittelschule gewechselt hatten, war es besser geworden – abgesehen davon, dass Kai schon längst auf der High School war, ehe sie alle nachgezogen hatten. Da waren noch Jahre voller Fußballturniere, bei denen seine Mannschaft in der Regel immer gut abschnitt – sie schafften sogar den Landesmeister im zweiten Jahr der High School. Die Siegesfeier war bunt und laut gewesen und die Senpais hatten sie zum Essen eingeladen, in einem kleinen Familienrestaurant, das den Eltern ihres Torwarts gehörte.   Er fing an, neben der Schule zu jobben; es waren nur Kleinigkeiten. Gassi gehen, Einkäufe erledigen. Rasenmähen. Aber er lernte viele neue Menschen dabei kennen, hörte viele spannende Geschichten, und jede einzelne, an die er sich erinnerte, erzählte er jetzt weiter. Alldieweil hörte sie zu, vergnügt und fröhlich. Sie lachte, als er erzählte, dass er wegen einem riesigen Hund, den er hatte Gassi führen sollen, in einem Tümpel gelandet war. Am Ende waren er und der Hund unfassbar schmutzig und schlammig gewesen, aber zumindest das Tier hatte Spaß gehabt, und sein Frauchen hatte herzlich gelacht, als die beiden tropfnassen, schmuddeligen Gestalten vor ihrer Tür gestanden hatten. Kai hatte den Hund im Garten mit dem Gartenschlauch säubern dürfen, und er selbst bekam eine Dusche angeboten und ein paar Kleidungsstücke ihres Mannes. Es war das erste und einzige Mal, dass er freiwillig Anzughose und Hemd trug – es fühlte sich viel zu einengend an!   „Es ist viel passiert, nicht wahr?“ Irgendwo im Hinterkopf hatte Kai den Eindruck, er sei zu klein für diese riesige Fülle an Erinnerungen, doch er schob den Gedanken sofort wieder von sich, abgelenkt von ihrem Strahlen und ihrer Fröhlichkeit, abgelenkt von den seltsamen Feuerkugeln, die immer neue aufregende Eindrücke mit sich brachten, wenn sie ihm zu nahe kamen. Manchmal bildete er sich ein, sie würden die Farbe wechseln, und dann erinnerten sie ihn an die Papierlaternen, die sich auf Straßenfesten so oft fanden. Er liebte den warmen, orangefarbenen Lichtschein. Ein Glöckchenbimmeln lenkte ihn von dem Anblick ab und er riss seinen Blick von den schwebenden Flammenkugeln los. Sie sah ihn abwartend an und er lachte, fast ein bisschen schuldbewusst. Er hatte sich ablenken lassen. „Ich weiß. Ich war noch nicht fertig. Entschuldige bitte! Wo war ich denn dran…? Ah, genau!“ Er grinste sie breit an, beinahe stolz. „Und nach der High School bin ich ausgezogen!“ Es war ein sehr turbulenter Auszug gewesen. Er hatte vorher mit seinen Eltern darüber gesprochen, und nach einigem Hin und Her hatten sie ihm auch geholfen, alles vorzubereiten. Sein Zimmer hatte so leer und unpersönlich ausgesehen, nachdem seine Sachen in Kartons verstaut gewesen waren! Die letzten Tage zuhause hatte er den Auszug nicht mehr erwarten können, nur um aus dem Kistensammelsurium herauszukommen. Er hatte nicht viel an Möbeln mitgenommen; die Wohnung, in die er einziehen würde, hatte vorher einem Familienfreund gehört, der jetzt auszog, um mit seiner Verlobten zusammenzuziehen. Beinahe alles an Mobiliar würde dort bleiben. Am Tag von Kais Umzug herrschte Stau. Sie kamen erst Stunden später als geplant an der Wohnung an, und irgendwie waren sie dann die halbe Nacht damit beschäftigt, Kartons in die Wohnung zu schleppen und das nötigste Zeug auszuräumen – Geschirr, Kleidung, Bettzeug.   Am Ende schliefen sie alle in Kais Wohnzimmer auf ein paar Futons, die sein Vater noch von zuhause holte, als schon absehbar wurde, wie verdammt spät es sein würde, bis sie fertig mit der Arbeit wurden. Es war unglaublich lustig! Nagi machte am Morgen Frühstück, und weil es ihr zu lange dauerte, bis ihre Geschwister aufwachten, bewarf sie sie irgendwann allesamt mit nassen Waschlappen. Es funktionierte immerhin! Es endete in einer Kissenschlacht, die Nagi verlor. Eine ganz gerechtfertigte Rache für ihre rüden Weckmethoden. „Meine Wohnung war super“, erzählte er eifrig, „richtig schön und groß! Besonders dafür, dass sie noch ganz gut in Tokyo lag. Aber in einem hübschen Viertel, das mehr nach Vorstadt aussah.“ Er hatte sie sehr gemocht. Genauso, wie er seinen wirren Job gemocht hatte – quasi jeden Tag etwas anderes, immer fordernd, immer aufregend. Umzüge, Renovieren, handwerkliche Arbeiten. Er hatte ganz schön viel gelernt in der Zeit! Dabei war es nicht einmal lang gewesen, wenn er so drüber nachdachte. Nicht einmal ein halbes Jahr.   „Kai!“   Er hielt mitten im Erzählen inne, verwirrt. Sah sich um. Hatte ihn da jemand gerufen? Er sah verwirrt zu ihr hinüber, doch sie lächelte immer noch, abwartend, dass er weitersprach. Als hätte sie gar nichts gehört. Musste Einbildung gewesen sein, huh? Er schüttelte irritiert den Kopf, sah sich noch einmal um. Da waren nur wirre Flammenbälle und Glöckchenbimmeln. Wie dumm von ihm. Mit einem leisen Lachen wandte er sich wieder zu ihr um, doch das Gefühl von Desorientiertheit blieb. Irgendwie wirkte die Welt um ihn herum auf einmal bedeutend fremder.  „Nanu? Bist du geschrumpft?“ Sie sah irgendwie kleiner aus! Ihr Lachen verblasste auf einen Schlag. Zurück blieb nur ein Gesicht, das beinahe traurig wirkte. Verloren. Kai hob sofort beschwichtigend die Hände. „H-hey, sorry! War nicht so gemeint! Haha, wahrscheinlich bin ich einfach auf nen kleinen Hügel getreten oder so!“ Sie lächelte wieder, doch es wirkte… ruhiger. Kai fühlte sich auch ruhiger, jetzt plötzlich, nicht mehr so viel kindlicher Enthusiasmus übrig, wie man den mit zehn Jahren eben so hatte. Sie sah ihn an, drängte ihn, weiterzuerzählen.   „Ich habe jemanden kennengelernt. Zuerst hat er mich an dich erinnert.“   „Kai!“   Aber Rui war anders. Da war Wärme, die sich in seinem Inneren ausbreitete, als er begann, von seinem geliebten Freund zu erzählen. Von ihrem ersten Treffen im Regen, von den ersten Tagen, die er fast nur geschwiegen hatte. Von Yamato, der am Anfang ein wunderbarer Eisbrecher gewesen war. Von Abenden auf der Veranda, von blauen Sitzkissen und leeren Puddingbechern. Von der Selbstverständlichkeit, mit der Rui sich in sein Herz geschlichen hatte, ohne es überhaupt zu versuchen. Selbst an ihre Meinungsverschiedenheiten dachte er mit einem Lächeln zurück, denn letztlich waren sie ein wichtiger Teil des Weges, der sie an den Punkt gebracht hatte, an dem sie jetzt standen. An den Punkt, an dem sie sich nachts zwischen Hortensien in einem kleinen Park zum ersten Mal geküsst hatten. Den Punkt, dass sie gemeinsam durch die unglaublichste Verkettung von Umständen dazu gekommen waren, Teil einer Idol-Gruppe zu werden, die Kai nie wieder aus seinem Leben missen wollte. Er lachte, sein Herz schwer und warm und berstend voll mit Gefühlen. Sie stand ihm gegenüber, wirkte inzwischen geradezu winzig klein im Vergleich zu ihm. In ihrem Lächeln lag etwas, das Kai nicht entziffern konnte. Etwas endgültiges, melancholisches, und trotzdem – schien sie glücklich zu sein. Ich freu mich für dich, schien sie sagen zu wollen. Er grinste schief. „Weißt du, ich–“   „Kai!!!“   Plötzlich stand Rui vor ihm. Seine Augen waren riesig groß, geweitet, angsterfüllt und feucht. Erleichtert, jetzt, wo sie ihn sahen. Kai verstand nicht – gar nichts. Es half nicht, dass Ruis kleine Fäuste plötzlich auf seine Brust einschlugen und der Junge ihn dann genauso plötzlich und unerklärlich umarmte. „Kai, ich dachte–! Lauf gefälligst nie wieder einfach so weg!“ „Ich bin nicht–“ Aber er war fortgelaufen, oder? Behutsam legte er eine Hand auf Ruis Hinterkopf, strich ihm sanft durch das wirre Haar. Er fühlte sich desorientiert, wie aus einem wirren Traum erwacht. Er sah über die Schulter zurück. Die kleine Lichtung, mondbeschienen, zauberhaft… leer. Da war niemand. Die seltsamen Feuerkugeln schwirrten noch herum, doch es waren weniger geworden, und der Platz auf dem weichen Gras, an dem sie gestanden hatte, war nur eine leere Fläche unter dem klaren Himmel. „Sieh nicht hin.“ Es war ein Befehl. Kai kam ihm nach, ohne darüber nachzudenken, sah wieder zu Rui hinunter, dessen Blick immer noch vor Sorge überlief wie die Tränen, die seine Wangen befleckten. So sanft er konnte wischte Kai die Feuchtigkeit von seinem Gesicht, hauchte einen flüchtigen Kuss auf die vor Aufregung ganz heiße Haut. „Verzeih mir. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“   Er verstand nicht, was passiert war. Aber er verstand, dass er eine Gelegenheit bekommen hatte, sie noch einmal wiederzusehen und sein Versprechen einzulösen. Er hatte ihr von seinem Leben erzählen können, ganz, wie er es gewollt hatte, hatte sie noch einmal lachen hören können. Sie war glücklich gewesen, zuletzt, da war Kai sich sicher. Glücklich, dass er ein neues Lebensziel gefunden hatte. Wo auch immer sie war, sie war gut aufgehoben dort. Er hatte keinen Grund mehr, für sie zu leben – nur noch für sich selbst. Für sich selbst und für die Menschen, die heute an seiner Seite waren und ihn vor den Geistern der Vergangenheit beschützten. Das Glöckchenklingeln war verhallt. Das ewige Zirpen der Zikaden wieder zu ohrenbetäubendem Lärm angeschwollen. Wenn Kai die Augen schloss, konnte er sich fast vorstellen, es sei Regen, der auf die Erde prasselte. „Kai?“ Rui sah ihn immer noch an. Langsam verschwanden die Sorge und Angst aus seinem Blick. Sein mondbeschienenes Gesicht war wunderschön. Kai strahlte, als er sich zu ihm hinunterbeugte, um einen kurzen Kuss auf warme Lippen zu hauchen, die nach einer Mischung aus salzigen Tränen und süßen Minzbonbons schmeckten. Neun Jahre waren genug Zeit, um sie in der Vergangenheit zu verbringen. Die nächsten neunzig würden seiner Zukunft gehören.   „Ich liebe dich, Rui.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)