Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ II.V New Beginning ------------------ „Wir gehen jetzt auf Geisterjagd!“   Mit diesen Worten hatte Kakeru vor seiner Zimmertür gestanden, ausgerüstet mit einer Taschenlampe und einem Schmetterlingsnetz. Er grinste breit, und Kai brachte es nicht über sich, auch nur ansatzweise durchklingen zu lassen, dass er selbst nicht begeistert war. Tanabata lag hinter ihnen, aber die letzten Spuren waren noch nicht wieder verblasst, entsprechend erschien Kai das Timing mehr als ungünstig. Aber es war nicht, als konnte er noch ablehnen. Nicht nur, dass er sowieso schon zugesagt hatte, er wollte Rui da auch nicht allein in der Dunkelheit lassen. Und er wollte Kakeru und den anderen ihren Spaß nicht verderben, indem er ihnen jetzt irgendeine Enttäuschung, und sei sie noch so klein, entgegenwarf. Also grinste er, verkündete, er müsse sich noch eben fertig machen und war froh, damit tatsächlich noch ein paar Minuten für sich allein zu haben, ehe er sich dem großen Abenteuer stellte. Er hatte den Termin völlig vergessen. Ein kleiner Teil von ihm wünschte sich, er hätte ihn auch weiterhin vergessen können, ein anderer Teil wünschte, er hätte ihn einfach gar nicht vergessen, dann wäre er wenigstens bereit gewesen. Er war nicht sicher, ob es einen Unterschied gemacht hätte.   Ihm stand gerade einfach überhaupt nicht der Sinn danach, die Seelen von Verstorbenen zu suchen.   Er packte zur Sicherheit eine Taschenlampe mehr als nötig ein, bevor er zu der Gruppe aufschloss, die in den Wald hinausgehen wollte – Gravi minus Haru, der am Morgen so früh aus den Federn musste, dass er lieber schon ins Bett gegangen war, sowie Rui und er selbst. Shun stand viel zu amüsiert neben der Wohnungstür, die Arme entspannt vor der Brust verschränkt. Natürlich hatte er darauf bestanden, sie noch zu verabschieden. Natürlich machte ihm das alles viel zu viel Spaß. Und Kai konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. An jedem anderen Tag, in jeder anderen Situation, hätte er selbst riesigen Spaß gehabt – nicht gerade an dem Gruselaspekt, aber schlicht an einer Nachtwanderung im Sommer. Es gab so viele Leuchtkäfer! Als Kind hatte er nie lange genug draußen bleiben dürfen, um Leuchtkäfer zu sammeln, also klang es umso reizvoller, jetzt als Erwachsener die Gelegenheit zu haben. Nächstes Jahr vielleicht. Vielleicht würden ihn die Käfer aber auch davon ablenken, dass er sich eigentlich nur mulmig fühlte bei der Aussicht auf womögliche Geistersichtungen.   „Ihr solltet wirklich vorsichtig sein“, singsangte Shun vergnügt, „Immerhin sind Hitodama dafür bekannt, gern Schabernack zu treiben. Verlauft euch nicht im Wald. Man weiß nie, was da sonst noch so zu finden ist, wenn man lang genug sucht… Oder versehentlich hineinstolpert.“ Er hatte wirklich zu viel Spaß. Und er spielte seine Rolle gut. Kai fühlte sich selbst schon unwohl nur von Shuns beunruhigender Tonlage; er hatte ein verblüffendes Talent darin, selbst dem heitersten Plaudertonfall einen kaum spürbaren, drohenden Unterton zu verleihen, der einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Er zweifelte nicht daran, dass Shuns Worte auch auf den Rest der Gruppe einen spürbaren Effekt hatten, auch wenn nicht jedes Gesicht leicht zu lesen war. (In Ruis Augen sah er vor allem am Ehesten Vorfreude. Manchmal war er schon ein verrücktes Kerlchen.) „Wir werden gar nichts finden!“, erwiderte Koi fast schon krampfhaft entschlossen – es klang für Kai sehr stark danach, dass er sich selbst beruhigen wollte. Er sah ungewohnt blass um die Nase aus, hatte aber ein sehr mutiges Gesicht aufgesetzt. Shun lachte melodisch auf. Seine Augen blitzten gefährlich, als er den rosa Wuschelkopf fixierte; der Junge wich instinktiv ein Stück zurück, nicht, dass er allzu weit kommen konnte; er stieß schnell genug gegen den Schuhschrank. Er tauschte einen besorgten Blick mit Kakeru. „Oh, Koi. Sorge dich lieber darum, was euch finden wird…“ „Gar nichts wird uns finden, Shun-San!“ So inbrünstig sein Widerspruch war, so wenig glaubhaft war er. Kai musste grinsen. Es war unübersehbar, dass ausgerechnet die beiden Drahtzieher hinter der Aktion, Koi und Kakeru, sich jetzt schon viel zu sehr in Shuns Gruselstimmung hineinsteigerten; wenn das so weiterging, würden sie gar nicht mehr rauskommen, weil sie kniffen. Erinnerte an die Mutproben, die er, seine Geschwister, Nachbarskinder und Freunde als Kinder immer durchgezogen hatten – oder eben auch oft genug nicht.   „Shun, lass es.“ Hajimes Mahnung brachte Shun tatsächlich dazu, sich von den Kindern abzuwenden. Er grinste breit zu ihm hinüber, warf ihm einen typisch theatralischen Luftkuss zu. Hajimes Reaktion war nicht mehr als ein absolut unberührtes Augenrollen. Wie immer. „Armer Shun-San“, murmelte Kakeru, aber erklang viel mehr belustigt als mitleidig dabei. Koi nickte grinsend, während Shun sich dramatisch leidend an die Brust fasste. Das Theater brachte die halbe Gruppe zum Lachen – Kai eingeschlossen. Es war einfach immer das Gleiche, sobald Shun und Hajime in einem Raum waren. Nach so langer Zeit zusammen lernte man einfach, es mit Humor zu nehmen, sonst wurde man doch auch nur wahnsinnig. Nur Hajime fand es nicht lustig. Er schüttelte den Kopf, fixierte Shun dann mit einem Blick, der nicht nur unterschwellig drohend war. „Mach keinen Ärger.“ Jeder, der nicht Shun war, hätte sich ohne Diskussion daran gehalten. Bei Shun hingegen sah es aus, als wäre es eine Herausforderung, die er nur zu gerne annehmen würde. Seine Augen glühten unheilverkündend, während er verspielt den Kopf vor Hajime senkte. Kai war sich sicher, es war Spott. „Natürlich doch, mein König. Dir würde ich niemals Ärger machen.“ Hajimes Blick sagte ganz klar, was auch Kai sich schon dachte – da waren noch sechs andere Leute, denen Shun Ärger machen konnte. Und er würde es tun, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Na, es würde nicht langweilig werden? Kai grinste schief, schüttelte amüsiert den Kopf. Er klopfte Kakeru, der ihm abgesehen von Rui am nächsten stand, kameradschaftlich auf die Schulter.   „Na los, hauen wir ab, ehe der Dämon uns verflucht.“     ***     Der Wald lag still und dunkel vor ihnen, eine große Masse an schwarzen Schemen, die sich vom sternenklaren Nachthimmel abhoben und bedrohlich in die Finsternis hinaufragten. Das Zirpen der Zikaden war hier draußen mitten im Grün so ohrenbetäubend laut, dass es beinahe kopfschmerzerregend war. Straßenbeleuchtung gab es hier keine mehr; bis auf die Lichtkegel ihrer Taschenlampen war es finster. „Wir sollten darauf achten, dass wir zusammenbleiben“, mahnte Hajime mit einem kaum sichtbaren Stirnrunzeln. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe wandte sich von den äußeren Ausläufern des Waldes ab und zu ihrer kleinen Abenteuergruppe hin. „Habt ihr das verstanden? Keine Erkundungstrips. Kein kreischendes Wegrennen. Ich garantiere für gar nichts mehr, wenn ihr allein da drin seid.“ „Verstanden, Leader!“, flötete Kakeru vergnügt zurück. Er wedelte enthusiastisch mit seiner Taschenlampe. Kai sah sie schon fliegen – seiner Grimasse nach sah Aoi ähnliche Horrorszenarien in seiner Vorstellung. „Wir gehen nicht verloren! Mach dir keine Sorgen. Können wir nun los?“ Kaum, dass sie rausgekommen waren, weg von Shun und seiner unheilvollen Aura, war Kakeru wieder Feuer und Flamme für die Aktion gewesen. Jetzt wippte er ungeduldig auf den Fußballen vor und zurück, offensichtlich kaum abwarten könnend, sich in sein Geisterjägerabenteuer zu stürzen. „Können wir.“ Hajime wandte sich ab, setzte sich in Bewegung. Es dauerte nur wenige Schritte, bis die Dunkelheit des Waldes den Lichtkegel seiner Taschenlampe verschluckte. Koi und Kakeru folgten ihm fast augenblicklich, dann Aoi und Arata. Kai war ganz froh, das Schlusslicht der seltsamen Prozession sein zu können. Sanft stupste er gegen Ruis Oberarm, bot ihm seine Hand an. „Besser, wir werden nicht getrennt, nicht wahr?“ Ihm begegnete ein vertrautes, unwilliges Stirnrunzeln. Kai kannte den Protest, der da kommen wollte, und unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. „Ich weiß.“   Es war nicht einmal nur die übliche Besorgnis. Natürlich wollte Kai sichergehen, dass Rui nichts passierte, und ein bisschen fürchtete er tatsächlich, dass der Junge sich ein bisschen zu sehr von einem Rascheln im Gebüsch oder einem seltsamen Leuchten in der Ferne ablenken lassen könnte, als dass er noch darüber nachdachte, wo er gerade hinlief. In erster Linie aber war das Problem, dass Kai sich selbst nicht vertraute. Dass er fürchtete, am Ende derjenige zu sein, der auf den falschen Weg abbog, weil er glaubte, etwas zu sehen, das da nicht sein konnte. Er wusste nur nicht, wie er es in Worte fassen sollte.   Er musste es auch nicht, scheinbar. Nach einem Moment, in dem Rui schweigend in seinem Gesicht nach Antworten gesucht hatte, ergriff er genauso schweigend seine Hand, drückte sie flüchtig. „Gehen wir.“   Einmal vom Dickicht verschluckt war die Welt wie ein anderer Ort. Die dichtbelaubten Bäume standen nah genug beieinander, dass dazwischen kaum noch Fetzen des Himmels sichtbar blieben. Silbrige Sprenkel Mondlicht sickerten durchs Geäst und malten fremdartige, im Wind immer wieder wechselnde Bilder auf den weichen Waldboden. Es roch nach Holz und Moos und Feuchtigkeit, und über allem lag der ohrenbetäubende Lärm der Zikaden. Es dauerte nicht lange, bis sie keinen Hinweis mehr auf einen Ausgang aus dem Pflanzenlabyrinth fanden, wenn sie sich umdrehten. Es war friedlich, wenn man nicht vor dem gelegentlichen Rascheln im Gebüsch erschrak. Es war friedlich, wenn man sich nicht an knackenden Ästen unter den eigenen Füßen störte. Es war friedlich, wenn man sich nicht gegenseitig aufpeitschte, weil man etwas gehört hatte. Schritte, behauptete Koi ziemlich bald erschrocken. Ein paar Minuten später war sich Aoi sicher, dass er Gelächter gehört habe. Hajime hatte ein gutes Händchen dafür, alles zu entkräften – die Schritte waren entweder ihre eigenen gewesen, oder nur ein Echo, und Aois Gelächter war nur der Wind in den Bäumen. Es klang logisch, wenn man daran glauben wollte, und Hajime hatte genug Überzeugungskraft, dass niemand seine Ideen infrage stellte. Kai war froh darum. Er war kein allzu abergläubischer Mensch, und er war mit Sicherheit niemand, der Angst vor Geistern hatte, aber heute war ihm wirklich, wirklich nicht wohl mit der ganzen Sache.   Je weniger sie sich aufpeitschen ließen, desto besser. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn am Ende jemand verkündete, er habe Glöckchenbimmeln gehört.   Die zikadenschwere Stelle, die sich irgendwann festsetzte, hatte etwas seltsam Drückendes. Kai horchte schon halb darauf, dass irgendetwas anderes passierte als ein paar knackender Ästchen und raschelnder Büsche. Immerhin war er nicht der einzige, den es störte: „Die Zikaden werden ganz schön nervig, wenn man nichts anderes hört, huh?“ Kakeru lief rückwärts, leuchtete  mit seiner Taschenlampe in Richtung seiner Freunde, um ihre Gesichter sehen zu können. Obwohl er noch grinste, sah er ein bisschen beunruhigt aus. „Findet ihr nicht?“ – „Es ist echt anstrengend“, gab Aoi mit einem leisen Seufzen zurück. Im Gegensatz zu Kakeru versuchte er gar nicht mehr, fröhlich auszusehen. Seine Stirn war zu einem besorgten Runzeln verzogen und sein Blick huschte besorgt durch die Dunkelheit. „Vielleicht können wir es übertönen“, fügte er noch nachdenklich hinzu, nachdem ein besonders lauter Windstoß ihn zusammenzucken ließ. „Großartige Idee!“, stimmte Kakeru eifrig zu. Er gestikulierte wild, stolperte über irgendeinen losen Ast. Riss die Augen panisch auf. Koi streckte die Hand nach ihm aus, um ihn noch zu packen, doch es half nichts – Kakeru fiel auf den Hintern. „Uwaaaaaaaaaah!!!“ Und seine Taschenlampe flog in hohem Bogen durch die Luft, bis sie mit einem dumpfen Rascheln irgendwo im Gebüsch landete und flackernd ausging. Sie blieben stehen, und einen langen Augenblick herrschte vollkommene Stille, in der Kakeru aus riesigen, erschrockenen Augen hinaus ins Dickicht blickte. Dann wandte er sich wieder zu seinen Freunden hin, Schreck wich Hilflosigkeit. Wie er da auf dem Waldboden saß, furchtbar mitgenommen von seiner verlorenen Taschenlampe, erinnerte er Kai eher an ein Kind als an einen jungen Mann. Seine Unterlippe bebte verdächtig. „Meine Taschenlampe…“   Kai hatte gewusst, dass es eine gute Idee war, einen Ersatz mitzunehmen.   Mit neuer Taschenlampe ging es schließlich weiter, Kakerus Laune schnell wieder gehoben. Immerhin war er für den Moment aber vernünftig genug, sich nicht wieder herumdrehen zu wollen – dafür tat das nun Koi, der sich auf den ersten Blick aber um einiges geschickter dabei anstellte. „Wir können ein Spiel spielen, um die Zikaden zu übertönen!“ „Nette Idee, Pinkie. Und was spielen wir?“ – „Schlag du doch was vor, Arata-Kun.“ Arata hatte aber genauso wenig einen Vorschlag wie Koi selbst. Es war auch nicht gerade einfach, in einem dunklen Wald ein Spiel zu finden, das man spielen konnte – und das dabei auch laut genug war, um gegen den steten Tumult der Zikaden anzukommen. Und sicher genug, dass man nicht verloren ging. Die üblichen Outdoor-Spiele wie Fangen und Verstecken kamen also sowieso erst einmal gar nicht infrage. Es wurde eine Überlegung, die Kai auf amüsierende Art an die Diskussion an Ruis Geburtstag erinnerte – viel hin und her zwischen Koi und Kakeru, ohne zu einer handfesten Lösung zu kommen, und kaum Raum dazwischen, dass jemand anderes sich einmischen konnte. Zusätzlich dann solche verrückten Ideen wie Flaschendrehen mit einer Taschenlampe zu spielen. „Lampendrehen!“, wie Koi es stolz taufte. Außer ihm fand die Idee allerdings niemand gut. „Ihr wollt nicht hier übernachten, also sucht euch ein Spiel, das man auch nicht-stationär spielen kann“, mahnte Hajime mit einem Seufzen. Koi grinste ihn sonnig an und verkündete, dass sich das bestimmt auch irgendwie im Laufen spielen ließ. Aoi lachte leise. Arata verdrehte die Augen – „Wir brauchen eine ordentliche Idee, bevor dem Kerl noch eine Umsetzung für seine idiotische Spinnerei einfällt.“ Kai war ganz seiner Meinung.   „Wie wäre es mit einem simplen Frage-Antwort-Spiel?“, schlug er schließlich vor, bevor es noch weiter ausarten konnte. „Es ist etwas, das wir als Kinder oft im Auto gespielt haben, wenn es uns langweilig wurde. Einer stellt eine Frage, alle beantworten sie, dann ist der nächste dran. Wir haben damals Strichliste geführt, wer wie oft gekniffen hat und keine Antwort gab, und der musste dann am Ende irgendeine Strafe ausführen – Süßigkeiten für alle kaufen oder so.“ Es war lustiger, als es im ersten Moment klang, solange man die richtigen Fragen stellte. Es brachte interessante Antworten zutage, und zumindest für eine Gruppe von gelangweilten Kindern hatte es immer großartige Dienste geleistet, um langwierige Autofahrten erträglich zu machen. Und obendrein war es eine charmante Art, sich noch ein bisschen besser kennenzulernen, nicht wahr? „Dann brauchen wir aber erst eine passende Strafe!“ „Wer zu oft kneift, wird im Wald ausgesetzt.“ „H-Hajime-San!!! Das ist überhaupt nicht witzig!“   Kai fand es witzig. Außer Koi fand es jeder witzig, wenn man nach ihrem Gelächter gehen konnte.   Eine wirklich gute Idee zum Thema Strafe hatte insgesamt auch niemand. Es kam einiges auf: Toilettenputzen, Nachtischverbot, Tierkümmerpflicht für die nächsten Wochen, und noch viele andere Dinge, die von irgendeiner Seite aus aber so vehement abgelehnt wurden, dass sie doch verworfen wurden. Im Endeffekt endete es darin, dass sie aufgaben, eine Strafe zu finden – sie würden sich bei Gelegenheit in Ruhe eine ausdenken, im Zweifelsfall auch erst nach Spielende. Mit den Zikaden im Ohr dachte es sich ohnehin ziemlich schwer. Gerade, als sie das Spiel beginnen wollten, fiel Arata noch ein anderes Problem auf: „Haben wir überhaupt eine Möglichkeit, die Kneifer zu notieren?“ „Handys!“, verkündete Koi grinsend und hielt sein Mobiltelefon demonstrativ hoch, „Damit können wir das locker notieren!“ – „Solange du es nicht tust, Pinkie, denn du schummelst garantiert.“ – „Arata-Kun, das tu ich nicht!“ „Hey, hey, beruhigt euch.“ Aoi hob beschwichtigend die Hände. Er lächelte sanft in die Runde. „Lassen wir es doch von Hajime-San notieren, er wird nicht schummeln.“ „Na schön. Es ist eigentlich nur fair, wenn der Leader es macht“, willigte Koi unzufrieden ein. Er zog eine Schnute, reichte sein Handy aber an Hajime weiter, nachdem er ein Notizprogramm geöffnet hatte; er war der Einzige, der sein Mobiltelefon mitgeschleppt hatte. Als er sich wieder umdrehte – rückwärtslaufen schien ein neues Hobby zu werden –, war die Schnute längst verschwunden und er grinste wieder.   „Also los! Mögen die Spiele beginnen!“     ***     Es fing harmlos an – Lieblingsfarben, Kindheitsträume. Kindheitsängste. Lieblingsessen. Hassessen. Geheime Hobbies, die so peinlich waren, dass man sie gar nicht erst sagen wollte. Zwischen Stolz und Staunen stellte Kai fest, dass Rui unerwartet offen bei dem ganzen Spiel war und Antworten gab, statt sich auszuschweigen. Und es waren interessante Antworten! Es war nicht, als hätte Kai alles gewusst. Jede neue Information speicherte er sich penibel ab.   Es blieb aber nicht harmlos. Kai hatte geahnt, dass es früher oder später dazu kommen würde, dass das ganze Spiel in privatere Themen abrutschte; so war es immer. So war es auch bei ihren Autofahrten gewesen, in den letzten Jahren vor seinem Auszug. Letztlich war es Arata, der die Grenze zwischen losem Geplänkel und Privat ganz lässig überschritt: „Wie alt wart ihr bei eurem ersten Kuss? Ich war zwölf.“ Kai hörte sein Grinsen aus der Frage heraus, und er musste selbst grinsen, weil sie Koi ins Stolpern brachte und Kakeru dazu, seine Taschenlampe fast wieder fallenzulassen. „Definiere erster Kuss“, forderte Hajime gelassen. Er leuchtete kurz zu Arata zurück, wandte sich aber schnell wieder um. „Erster ernsthafter Kuss aus romantischen Gründen, oder zählen auch alle Mutproben und Schultheaterküsse dazu?“ „Ernsthaft“, erwiderte Arata. Kai musste grinsen, weil Koi und Kakeru immer lustigere Gesichter zogen. „Ändert meine Antwort übrigens nicht. Zwölf.“ „Vierzehn“, war Hajimes Antwort. Aoi verkündete ebenfalls zwölf. „Sechzehn“, sagte Rui. Ein bisschen leise, und Kai war sich nicht sicher, ob er wirklich gehört worden war, doch eigentlich sprach Kois empört-entgeisterter Blick Bände. „Was?! Sogar Rui-Kun–?!“ – „Sag nicht, du hast noch nie jemanden geküsst?“ Arata feixte unverhohlen. Koi gab einen langgezogenen, leidenden Laut von sich und schüttelte dann vehement den Kopf. „Ich verweigere die Aussage!“ „Wir wissen deine Antwort doch eh alle. Sag’s doch einfach, dann sparst du dir den Strich.“ – „Kein Kommentar!!!“   Selbst Kakeru hatte etwas vorzuweisen – er war elf gewesen, erzählte er vor Verlegenheit stammelnd – und Kai stolperte fast einen Moment über sein eigenes Alter, weil er beinahe vergaß, dass er gerade neunzehn Jahre alt geworden war.   Das Thema blieb, zumindest jedes Mal, wenn Arata die Fragen stellte, erhalten. Er schien sich einen ganz besonders großen Spaß daraus zu machen, Koi zu piesacken, denn es wurde schnell absehbar, dass der Kerl jede Frage in die Richtung einfach nicht beantworten wollte. Ganz egal, ob es um Dates, Valentinsschokolade oder Schwärmereien ging, er machte konsequent dicht. (Und provozierte damit einen immensen Vorsprung vor den Anderen, was sein Verliererpotential anbelangte.) Kais Herz machte einen riesigen, aufgeregten Sprung, als Rui die Frage danach, ob er verliebt sei, mit einem simplen „Ja“ beantwortete. Natürlich wusste er es. Genauso, wie Rui seine Antwort auf die Frage kannte, und trotzdem war es ein ganz aufregendes Gefühl, das zu hören, denn bisher hatten sie eigentlich… nie darüber gesprochen. Es nie ausgesprochen. Es fehlte Kai nicht. Ein bisschen war er sogar froh darum, dass sie schweigend miteinander funktionierten, denn es konnte verblüffend schwer sein, drei kleine Worte über die Lippen zu bringen. Irgendwann. Aber es war gut, dass irgendwann nicht zwingend bald sein musste. Und dass sie es nun trotzdem irgendwie gesagt hatten. Er sah zu Rui hinunter, begegnete zu seiner Überraschung seinem Blick. Er sah zufrieden aus, brachte Kai damit zu einem strahlenden Lächeln. Inzwischen war er wirklich froh, dass er mit hinausgegangen war. Keine Geister. Keine unheimliche Einbildung, die ihn zu Dummheiten verleitete. Nur ein paar dumme Spiele, ein paar Freunde, viel Gelächter, eine weitere Gelegenheit, Zeit mit Rui zu verbringen.   Und das leise Klingeln von ein paar Glöckchen, das vom Wind davongetragen wurde.   Ruis Hand packte mit einem Mal viel fester zu. Kais Herz blieb stehen, seine Beine quittierten ebenso den Dienst und er verharrte einfach, wo er stand. Es musste Einbildung gewesen sein, ein Streich, den sein eigenes Bewusstsein ihm gespielt hatte, weil er sich gerade erst wieder an seine ursprünglichen Sorgen erinnert hatte. Es musste Einbildung gewesen sein, und trotzdem sah Rui ihn mit großen, durchdringenden Augen an, in denen ein leiser Anflug von Beunruhigung lag. Und seine Hand. Kai spürte den unvertrauten Druck immer noch, der ihn festhielt, als hätte Rui Angst, er würde einfach verschwinden, wenn er es nicht tat. „Hast du–?“ Er traute sich gar nicht, die Frage zu stellen. Schluckte sie auf halbem Wege wieder hinunter. Rui schüttelte ganz langsam den Kopf. Da war es wieder. Nur ein leiser, heller Ton, der irgendwo aus der Ferne kam und wieder verschwand, ehe Kai ganz wusste, in welche Richtung er sich wenden musste, um ihm zu folgen. „Kai.“ Der scharfe Tonfall in Ruis Stimme ließ ihn innehalten. Er schüttelte den Kopf, drückte Ruis Hand in seiner. Sein Nacken kribbelte, als würde er beobachtet werden, aber er fühlte sich gerade doch wieder ruhiger, aufgerüttelt durch Ruis Ansprache. Was auch immer es war, er sollte sich nicht näher damit auseinandersetzen. Sie sollten einfach weitergehen, nicht wahr? Zu den Anderen aufschließen, ihr olles Spiel weiterspielen und die ganze Sache mit dem Glöckchenklingeln einfach vergessen.   Erst jetzt fiel Kai auf, dass es seltsam ruhig geworden war. Als er sich umsah, entdeckte er nichts außer Bäume, Gebüsch, dunkler Schatten und kleiner Sprenkel Mondlicht auf dem Boden – und in der Luft. Instinktiv wich er einen Schritt zurück. Ein Zweig knackte unter seinem Schritt, ließ ihn zusammenfahren. Da waren kleine, bläulich schimmernde Flammenkugeln um sie herum, mit langen, fadendünnen Schweifen. Sie schwebten gerade weit genug über dem Boden, dass sie die Erde nicht berührten. Laut einer Legende würden sie in tausend kleine, schwarze Bröckchen zerstieben, wenn sie den Boden berührten. Das Glöckchen war zurück, und das Bimmeln klang beinahe quengelnd. Es war unnatürlich still. Selbst die Zikaden klangen, als wären sie weit, weit entfernt. War da Gelächter? Es klang wie ein kleines Mädchen… „Kai.“ Er schüttelte entschieden den Kopf, holte tief, bebend Luft. „Entschuldige. Gehen wir. Die anderen machen sich sicher schon Sorgen!“ Rui sah ihn an, als wäre er überhaupt nicht glücklich, zutiefst besorgt und beunruhigt, doch er nickte. Kai wollte ihn aufmunternd, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge, als das Glöckchen wieder bimmelte. „Kai?“   Eine Stimme rief nach ihm, aber es war nicht Rui. Er sah sich verwirrt um, völlig vergessen, wo er gerade war und warum er hier war. Zwischen seltsamen blauen Lichtkugeln erblickte er in der Ferne eine kleine, menschenförmige Gestalt in dumpfen, hellen Kleidern. Sein Herz setzte einen Moment aus und er öffnete den Mund, rief einen Namen, von dem ihm gar nicht mehr bewusst gewesen war, dass er ihn überhaupt noch kannte. Die kleine Gestalt reagierte, indem sie sich umwandte und loslief. „…Kai!“   Als er sich von der Hand löste, die ihn festhielt, fühlte Kai sich wieder, als wäre er zehn Jahre alt.     ***     Er war zehn Jahre alt.   Es war Sommer, er hatte Ferien, und sie waren auf dem Land, weil sie seine Großmutter besuchten, die im Krankenhaus lag. Seine Geschwister waren laut und anstrengend, und er liebte sie so, aber trotzdem brauchte er manchmal Ruhe vor ihnen. Deshalb hatte er sich hier draußen mit seiner Freundin getroffen, wo sie alleine sein konnten. Er hörte ihr Lachen, hörte das schrille Bimmeln der Glöckchen an ihrem Haarschmuck, und er folgte ihr lachend zwischen den Bäumen hindurch. Sie spielten fangen. Obwohl er immer ein schneller Läufer gewesen war, war sie schneller als er. Manchmal verlor er sie ganz aus den Augen in dem dichten Geäst, doch egal, ob er sie gerade sah oder nicht – er hörte sie, hörte ihr Lachen und ihre Glöckchen, und nie hatte er Mühe, sie wiederzufinden.   Als sie ihr Spiel beendeten, war er erschöpft, doch er lachte bei aller Atemlosigkeit noch immer. Sie stand lachend inmitten einer kleinen Lichtung, die hell von Mondlicht erleuchtet war. Ihr Krankenhaushemdchen wehte in einer lauen Brise. Sie sah aus, als würde sie auf etwas warten. Kai sah sie verwirrt an, doch sie antwortete nicht, legte nur den Kopf schief. Abwartend. Um sie herum schwirrten kleine, bläuliche Feuerbälle mit langen, fadendünnen Schweifen, die beinahe auf den Boden aufkamen. Einer von ihnen schien das Gleichgewicht zu verlieren, er sackte ab, berührte die Erde – und zerstob in tausende kleine, schwarze Gestalten, die hektisch über den Waldboden krochen. Kai folgte ihrem Treiben fasziniert, und als er wieder aufsah, waren alle übrigen Feuerkugeln ein Stück weiter hin die Höhe geschwebt, als fürchteten sie das gleiche Schicksal. Eine schwebte ganz in seiner Nähe vorbei, brachte den Klang von Glöckchenklingeln mit sich. Eine andere roch nach der klebrigen, süßen Luft von Sommerfestbuden, die Süßigkeiten verkauften. Es erinnerte ihn an die Äpfel mit Zuckerglasur, die er so gern mochte, und die Nagi so sehr hasste, weil sie die Zuckerkruste einfach nicht durchgebissen bekam. Sie sah ihn immer noch abwartend an, und so langsam dämmerte Kai, was sie wollte. Er lachte verlegen auf. „Stimmt ja! Ich hab dir so viel zu erzählen!“ Sie klatschte vergnügt in die Hände, nickte eifrig. Kai strahlte sie an. Er erinnerte sich. Er hatte ganz viele Erinnerungen gesammelt, nur, um sie ihr erzählen zu können!   Also erzählte er.   Er erzählte von seiner Großmutter, mit der sie einen langen Ausflug in die Berge gemacht hatten, als sie endlich wieder gesund aus dem Krankenhaus gekommen war. Er erzählte von dem Fußballturnier, das sein Team im gleichen Jahr nur knapp verloren hatte. Er erzählte davon, wie es gewesen war, auf die Mittelschule zu wechseln, weg von alten Schulkameraden und alten Schulgebäuden, weg von seinen Geschwistern, die teilweise einfach zeitgleich mit ihm die Grundschule besucht hatten. Es war so eine Umgewöhnung gewesen, alleine aus dem Haus zu gehen und einen anderen Weg einzuschlagen! Einsam. Kai hatte es anfangs wirklich gar nicht gemocht. Als sie dann nach und nach ebenfalls auf die Mittelschule gewechselt hatten, war es besser geworden – abgesehen davon, dass Kai schon längst auf der High School war, ehe sie alle nachgezogen hatten. Da waren noch Jahre voller Fußballturniere, bei denen seine Mannschaft in der Regel immer gut abschnitt – sie schafften sogar den Landesmeister im zweiten Jahr der High School. Die Siegesfeier war bunt und laut gewesen und die Senpais hatten sie zum Essen eingeladen, in einem kleinen Familienrestaurant, das den Eltern ihres Torwarts gehörte.   Er fing an, neben der Schule zu jobben; es waren nur Kleinigkeiten. Gassi gehen, Einkäufe erledigen. Rasenmähen. Aber er lernte viele neue Menschen dabei kennen, hörte viele spannende Geschichten, und jede einzelne, an die er sich erinnerte, erzählte er jetzt weiter. Alldieweil hörte sie zu, vergnügt und fröhlich. Sie lachte, als er erzählte, dass er wegen einem riesigen Hund, den er hatte Gassi führen sollen, in einem Tümpel gelandet war. Am Ende waren er und der Hund unfassbar schmutzig und schlammig gewesen, aber zumindest das Tier hatte Spaß gehabt, und sein Frauchen hatte herzlich gelacht, als die beiden tropfnassen, schmuddeligen Gestalten vor ihrer Tür gestanden hatten. Kai hatte den Hund im Garten mit dem Gartenschlauch säubern dürfen, und er selbst bekam eine Dusche angeboten und ein paar Kleidungsstücke ihres Mannes. Es war das erste und einzige Mal, dass er freiwillig Anzughose und Hemd trug – es fühlte sich viel zu einengend an!   „Es ist viel passiert, nicht wahr?“ Irgendwo im Hinterkopf hatte Kai den Eindruck, er sei zu klein für diese riesige Fülle an Erinnerungen, doch er schob den Gedanken sofort wieder von sich, abgelenkt von ihrem Strahlen und ihrer Fröhlichkeit, abgelenkt von den seltsamen Feuerkugeln, die immer neue aufregende Eindrücke mit sich brachten, wenn sie ihm zu nahe kamen. Manchmal bildete er sich ein, sie würden die Farbe wechseln, und dann erinnerten sie ihn an die Papierlaternen, die sich auf Straßenfesten so oft fanden. Er liebte den warmen, orangefarbenen Lichtschein. Ein Glöckchenbimmeln lenkte ihn von dem Anblick ab und er riss seinen Blick von den schwebenden Flammenkugeln los. Sie sah ihn abwartend an und er lachte, fast ein bisschen schuldbewusst. Er hatte sich ablenken lassen. „Ich weiß. Ich war noch nicht fertig. Entschuldige bitte! Wo war ich denn dran…? Ah, genau!“ Er grinste sie breit an, beinahe stolz. „Und nach der High School bin ich ausgezogen!“ Es war ein sehr turbulenter Auszug gewesen. Er hatte vorher mit seinen Eltern darüber gesprochen, und nach einigem Hin und Her hatten sie ihm auch geholfen, alles vorzubereiten. Sein Zimmer hatte so leer und unpersönlich ausgesehen, nachdem seine Sachen in Kartons verstaut gewesen waren! Die letzten Tage zuhause hatte er den Auszug nicht mehr erwarten können, nur um aus dem Kistensammelsurium herauszukommen. Er hatte nicht viel an Möbeln mitgenommen; die Wohnung, in die er einziehen würde, hatte vorher einem Familienfreund gehört, der jetzt auszog, um mit seiner Verlobten zusammenzuziehen. Beinahe alles an Mobiliar würde dort bleiben. Am Tag von Kais Umzug herrschte Stau. Sie kamen erst Stunden später als geplant an der Wohnung an, und irgendwie waren sie dann die halbe Nacht damit beschäftigt, Kartons in die Wohnung zu schleppen und das nötigste Zeug auszuräumen – Geschirr, Kleidung, Bettzeug.   Am Ende schliefen sie alle in Kais Wohnzimmer auf ein paar Futons, die sein Vater noch von zuhause holte, als schon absehbar wurde, wie verdammt spät es sein würde, bis sie fertig mit der Arbeit wurden. Es war unglaublich lustig! Nagi machte am Morgen Frühstück, und weil es ihr zu lange dauerte, bis ihre Geschwister aufwachten, bewarf sie sie irgendwann allesamt mit nassen Waschlappen. Es funktionierte immerhin! Es endete in einer Kissenschlacht, die Nagi verlor. Eine ganz gerechtfertigte Rache für ihre rüden Weckmethoden. „Meine Wohnung war super“, erzählte er eifrig, „richtig schön und groß! Besonders dafür, dass sie noch ganz gut in Tokyo lag. Aber in einem hübschen Viertel, das mehr nach Vorstadt aussah.“ Er hatte sie sehr gemocht. Genauso, wie er seinen wirren Job gemocht hatte – quasi jeden Tag etwas anderes, immer fordernd, immer aufregend. Umzüge, Renovieren, handwerkliche Arbeiten. Er hatte ganz schön viel gelernt in der Zeit! Dabei war es nicht einmal lang gewesen, wenn er so drüber nachdachte. Nicht einmal ein halbes Jahr.   „Kai!“   Er hielt mitten im Erzählen inne, verwirrt. Sah sich um. Hatte ihn da jemand gerufen? Er sah verwirrt zu ihr hinüber, doch sie lächelte immer noch, abwartend, dass er weitersprach. Als hätte sie gar nichts gehört. Musste Einbildung gewesen sein, huh? Er schüttelte irritiert den Kopf, sah sich noch einmal um. Da waren nur wirre Flammenbälle und Glöckchenbimmeln. Wie dumm von ihm. Mit einem leisen Lachen wandte er sich wieder zu ihr um, doch das Gefühl von Desorientiertheit blieb. Irgendwie wirkte die Welt um ihn herum auf einmal bedeutend fremder.  „Nanu? Bist du geschrumpft?“ Sie sah irgendwie kleiner aus! Ihr Lachen verblasste auf einen Schlag. Zurück blieb nur ein Gesicht, das beinahe traurig wirkte. Verloren. Kai hob sofort beschwichtigend die Hände. „H-hey, sorry! War nicht so gemeint! Haha, wahrscheinlich bin ich einfach auf nen kleinen Hügel getreten oder so!“ Sie lächelte wieder, doch es wirkte… ruhiger. Kai fühlte sich auch ruhiger, jetzt plötzlich, nicht mehr so viel kindlicher Enthusiasmus übrig, wie man den mit zehn Jahren eben so hatte. Sie sah ihn an, drängte ihn, weiterzuerzählen.   „Ich habe jemanden kennengelernt. Zuerst hat er mich an dich erinnert.“   „Kai!“   Aber Rui war anders. Da war Wärme, die sich in seinem Inneren ausbreitete, als er begann, von seinem geliebten Freund zu erzählen. Von ihrem ersten Treffen im Regen, von den ersten Tagen, die er fast nur geschwiegen hatte. Von Yamato, der am Anfang ein wunderbarer Eisbrecher gewesen war. Von Abenden auf der Veranda, von blauen Sitzkissen und leeren Puddingbechern. Von der Selbstverständlichkeit, mit der Rui sich in sein Herz geschlichen hatte, ohne es überhaupt zu versuchen. Selbst an ihre Meinungsverschiedenheiten dachte er mit einem Lächeln zurück, denn letztlich waren sie ein wichtiger Teil des Weges, der sie an den Punkt gebracht hatte, an dem sie jetzt standen. An den Punkt, an dem sie sich nachts zwischen Hortensien in einem kleinen Park zum ersten Mal geküsst hatten. Den Punkt, dass sie gemeinsam durch die unglaublichste Verkettung von Umständen dazu gekommen waren, Teil einer Idol-Gruppe zu werden, die Kai nie wieder aus seinem Leben missen wollte. Er lachte, sein Herz schwer und warm und berstend voll mit Gefühlen. Sie stand ihm gegenüber, wirkte inzwischen geradezu winzig klein im Vergleich zu ihm. In ihrem Lächeln lag etwas, das Kai nicht entziffern konnte. Etwas endgültiges, melancholisches, und trotzdem – schien sie glücklich zu sein. Ich freu mich für dich, schien sie sagen zu wollen. Er grinste schief. „Weißt du, ich–“   „Kai!!!“   Plötzlich stand Rui vor ihm. Seine Augen waren riesig groß, geweitet, angsterfüllt und feucht. Erleichtert, jetzt, wo sie ihn sahen. Kai verstand nicht – gar nichts. Es half nicht, dass Ruis kleine Fäuste plötzlich auf seine Brust einschlugen und der Junge ihn dann genauso plötzlich und unerklärlich umarmte. „Kai, ich dachte–! Lauf gefälligst nie wieder einfach so weg!“ „Ich bin nicht–“ Aber er war fortgelaufen, oder? Behutsam legte er eine Hand auf Ruis Hinterkopf, strich ihm sanft durch das wirre Haar. Er fühlte sich desorientiert, wie aus einem wirren Traum erwacht. Er sah über die Schulter zurück. Die kleine Lichtung, mondbeschienen, zauberhaft… leer. Da war niemand. Die seltsamen Feuerkugeln schwirrten noch herum, doch es waren weniger geworden, und der Platz auf dem weichen Gras, an dem sie gestanden hatte, war nur eine leere Fläche unter dem klaren Himmel. „Sieh nicht hin.“ Es war ein Befehl. Kai kam ihm nach, ohne darüber nachzudenken, sah wieder zu Rui hinunter, dessen Blick immer noch vor Sorge überlief wie die Tränen, die seine Wangen befleckten. So sanft er konnte wischte Kai die Feuchtigkeit von seinem Gesicht, hauchte einen flüchtigen Kuss auf die vor Aufregung ganz heiße Haut. „Verzeih mir. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“   Er verstand nicht, was passiert war. Aber er verstand, dass er eine Gelegenheit bekommen hatte, sie noch einmal wiederzusehen und sein Versprechen einzulösen. Er hatte ihr von seinem Leben erzählen können, ganz, wie er es gewollt hatte, hatte sie noch einmal lachen hören können. Sie war glücklich gewesen, zuletzt, da war Kai sich sicher. Glücklich, dass er ein neues Lebensziel gefunden hatte. Wo auch immer sie war, sie war gut aufgehoben dort. Er hatte keinen Grund mehr, für sie zu leben – nur noch für sich selbst. Für sich selbst und für die Menschen, die heute an seiner Seite waren und ihn vor den Geistern der Vergangenheit beschützten. Das Glöckchenklingeln war verhallt. Das ewige Zirpen der Zikaden wieder zu ohrenbetäubendem Lärm angeschwollen. Wenn Kai die Augen schloss, konnte er sich fast vorstellen, es sei Regen, der auf die Erde prasselte. „Kai?“ Rui sah ihn immer noch an. Langsam verschwanden die Sorge und Angst aus seinem Blick. Sein mondbeschienenes Gesicht war wunderschön. Kai strahlte, als er sich zu ihm hinunterbeugte, um einen kurzen Kuss auf warme Lippen zu hauchen, die nach einer Mischung aus salzigen Tränen und süßen Minzbonbons schmeckten. Neun Jahre waren genug Zeit, um sie in der Vergangenheit zu verbringen. Die nächsten neunzig würden seiner Zukunft gehören.   „Ich liebe dich, Rui.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)