Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ II.III Reconciliation --------------------- Die Familienähnlichkeit hielt sich in Grenzen. Dunkles Haar, der Farbton gerade einmal ähnlich wie Rui. Dunklere Augen; schmaler, wobei das auch daran liegen mochte, dass sie zusammengekniffen waren. Eine Brille mit einem schmalen, geraden Gestell. Die Frisur war ordentlicher. Kürzer. Er sah unglaublich korrekt aus; ein bisschen verkrampft. Ungefähr genau das, was man sich unter einem Vorzeigeschwiegersohn vorstellte. Ihre Ausstrahlung war so grundverschieden, dass es schwer war, zu glauben, dass sie gemeinsam aufgewachsen waren. Sie saßen im Wohnzimmer, er und Rui. Einander auf dem Sofa gegenüber, und letztlich sprach doch keiner von beiden. Kai stellte den Tee, den er gerade gekocht hatte, auf dem Tisch ab. Er erntete ein relativ nichtssagendes „Danke“ von Rei und nur einen kurzen Blick von Rui. Es war eine absolut unangenehme Stimmung im Raum – total verkrampft, abweisend, distanziert. Kai hatte so etwas noch nie erlebt bei Menschen, die sich eigentlich schon ihr ganzes Leben lang kennen sollten. Seine eigene Familie tickte einfach wirklich viel zu anders – und er war wirklich froh darum. In so einem Umfeld hätte er nicht aufwachsen wollen! (Was das für einen Menschen aus ihm gemacht hätte?) Er räusperte sich leise, sah die beiden Männer am Tisch kurz an. „Also, wenn ihr noch was braucht–“ – „Kai.“ Rui packte ihn an Ärmel, hielt ihn fest. Die Botschaft war klar genug. Er nickte kaum merklich, ließ sich neben ihm nieder. Eigentlich hatte er gehofft, dass Rui und Rei sich in Ruhe miteinander auseinandersetzen konnten. Es war einfacher, oder? Aber andererseits würde er sich niemals beklagen, bleiben zu dürfen. Sein Beschützerinstinkt fühlte sich seltsam befriedigt davon, dass Rui ihn gerade nicht gehen ließ. Sofort als Kai saß verschwand die kleine Hand, die ihn gehalten hatte, wieder, legte sich zu ihrem Kameraden in Ruis Schoß, und das Schweigen kehrte zurück. Kai sah zu, wie Rei nach seinem Teebecher griff und einen Schluck trank. An seinem Ringfinger war ein schmaler, silberner Ring. Verlobung? „Rei hat einen Ring.“ Rui hatte es auch gemerkt. Sein Bruder sah ihn kurz an, ein unübersehbares Stirnrunzeln auf dem Gesicht. Unzufrieden, unwillig. Er verzog die Mundwinkel, stellte den Teebecher wieder auf den Tisch und schüttelte den Kopf.   „Ich glaube nicht, dass das der Grund ist, weshalb du mich herbestellt hast, Rui.“   Kunststück. Es ist nicht, als hätte er es vorher gewusst. Kai biss die Zähne zusammen, um jeden Kommentar herunterzuschlucken. Er bemühte sich um einen neutralen Blick, als er zu Rei sah, dessen Mund zu einem schmalen, ausgesprochen ablehnenden Strich verzogen war. Die Stille kehrte zurück, legte sich schwer und bedrückend auf die kleine Gesellschaft.   Rui hatte noch am Tag nach ihrem Gespräch seine Familie kontaktiert. Seinem Bruder ausrichten lassen, er wolle mit ihm reden. Erst nach fast einer Woche hatte er Rückmeldung bekommen, einen Termin, zu dem Rei vorbeikommen könnte – der sich zum Glück tatsächlich mit Ruis eigenem Terminplan deckte. Er hatte nicht mehr mit Kai darüber gesprochen. Alles, was er wusste, war, dass Rui sich Versöhnung mit seinem Bruder wünschte, aber nicht, ob der kleine Kerl sich bereits Gedanken darum gemacht hatte, wie entsprechende Versöhnung zu erreichen war. Er konnte nicht viel tun, außer hier zu sein und stumm Beistand zu spenden, denn er bezweifelte stark, dass Rui es schätzen würde, würde er das Gespräch für ihn beginnen. Und, zugegeben – Kai fand auch, dass das etwas war, wo Rui in gewissem Maße allein durchmusste. Sie standen alle hinter ihm, das war keine Lüge, aber das bedeutete eben nicht, dass sie es ihm aus der Hand nehmen konnten, so gern er es auch getan hätte. Seine Erfahrung mit Familie war allerdings, dass es am Heilsamsten war, wenn man tatsächlich selbst die Konfrontation suchte und sich nicht hinter einem Boten versteckte. Er glaubte daran, dass Rui das konnte. Er war stark. Er hatte nur ein eigenes Tempo darin, diese Stärke zu mobilisieren. Und sollte Rei das nicht eigentlich wissen? Kai suchte in dem Blick des Mannes nach irgendetwas, das zumindest im Entferntesten an Verständnis erinnerte, doch alles, was er fand, war zugeknöpfte Unwilligkeit.   Zeit verging. Rei sprach nicht. Rui sprach nicht. Kai auch nicht. Ruis Tee wurde kalt, Reis wurde leergetrunken. Der fremde Mann sah aus, als würde er am Liebsten wieder abhauen, doch noch blieb er, und zumindest ein bisschen musste Kai ihm das positiv anrechnen. Vielleicht war es doch nicht so weit hergeholt, auf eine Versöhnung zu hoffen. Vielleicht hatte er Rei von Ruis Geschichten her doch ein bisschen falsch eingeschätzt – vielleicht hatte ein Jahr aber auch wirklich einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Einen, der Rui-kompatibler war. „Spielt Rei noch Klavier?“ Ruis leisen Worten begegnete zuerst nur eiskalte Stille. Rei rückte bedächtig seine Brille zurecht, eine langsame Geste, die für Kai danach aussah, dass er Zeit schinden wollte. In seinen Augen blitzte kurz etwas auf, das unverhohlen Ärger war, doch es verschwand schnell wieder. „Nein“, erwiderte er. Sein angespannter Kiefer ließ seine Worte gepresst klingen, seine Stimme war eisig, „Ich habe aufgehört. Mutter und Vater waren so enttäuscht von mir.“ Jetzt klang er beinahe hohl. Bitter. Bemüht tonlos, um nicht durchklingen zu lassen, wie sehr ihn die Tatsache belastete, dass er vor seinen Eltern einfach nicht die Rolle erfüllen konnte, die sie ihm angedacht hatten. Kai warf einen kurzen Blick zu Rui hinüber, begegnete dort blankem Entsetzen, das er so noch nie auf Ruis Zügen gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf, ungläubig, unwillig. Kai wollte ihn festhalten und trösten, aber– jetzt nicht. „Ich mag Reis Klavierspiel.“ Rei schnaubte. Kai presste die Lippen zusammen und sah ihn mit einem mahnend harten Blick an. Für einen kurzen Moment erwiderte Rei seinen Blick mindestens genauso hart, angriffslustig, dann schüttelte er den Kopf und kehrte zu etwas zurück, das mehr Resignation und Taubheit war.   „Du bist auch ein Idiot. Du hast es doch alles nie begriffen. Und wenn ich Klavier spielen kann – es macht keinen Unterschied. Im Vergleich zu dir und Mutter werde ich ewig schlecht bleiben. Ich hab kein Talent. Und Übung bringt mich irgendwann nicht mehr weiter. Wozu soll ich mein Leben mit solchen Dingen verschwenden, wenn’s eh keinen Sinn hat? Mich lobt niemand, Rui.“ Rui öffnete den Mund. Er gab nur einen erstickten Laut von sich, dann schüttelte er noch einmal den Kopf. Seine Augen waren feucht – der Anblick versetzte Kai einen Stich ins Herz und sein irrationales Bedürfnis, Rei einfach einen ordentlichen Schlag zu verpassen, wuchs mit jeder Sekunde mehr. Der Brillenträger schüttelte erschöpft den Kopf und winkte ab, ehe Rui seine Stimme wiederfinden konnte. Kai ballte die Hände zu Fäusten. „Vergiss es. Vorbei ist vorbei. Stell dir vor – ich bin glücklich ohne die Musik. Das ist einfach nicht meine Welt. Ich bin es leid, mein ganzes Leben für etwas zu opfern, das mir am Ende überhaupt nichts bringt, außer der Erkenntnis, dass ich nicht einmal gegen meinen kleinen Bruder ankommen kann.“ „Rei…“ „Ich dachte, es würde besser werden, wenn du erst einmal gar nicht mehr da bist“, fuhr er fort. Langsam verschwand der bemüht dumpfe Tonfall aus seiner Stimme und machte Platz für ehrliche Emotion. Kais Hände entkrampften wieder und seine Mundwinkel zuckten zu einem kurzen, sehr vorsichtigen Lächeln. Er begann, tatsächlich etwas in dem Verhalten der beiden wiederzuerkennen, das ihn an Familie erinnerte. Rei fuhr sich mit einer Hand durch das ordentliche Haar, ruinierte seine Frisur damit spürbar, ehe er weitersprach: „Es wurde nicht besser. Weißt du, ich dachte, wenn da niemand mehr ist, der besser ist, würde Mutter schon sehen, wie sehr ich mich anstrenge. Wie viel Zeit ich in das Klavierspiel investiere, um sie stolz zu machen. Sie hat mich nicht gelobt. Sie hat mich nicht bemerkt – wie immer. Im Grunde warst du völlig egal.“   Im Grunde warst du nie Schuld an meiner Misere.   Mit einem letzten, erschöpften Seufzen verstummte Rei. Er sah auf seinen Teebecher hinunter, dann zu Kai. „Könnte ich noch einen Tee bekommen?“ – „Ah. Natürlich.“ Trotzdem warf er zuerst einen Blick zu Rui. Er sah entsetzlich bedrückt aus. Konnte er ihn denn wirklich alleine lassen? Und sei es nur für die paar Minuten des Teeholens? Sein kleiner Freund bemerkte seinen Blick mit leichter Verspätung, sah ihn verwirrt an, nickte dann aber doch zögerlich. Kai erhob sich, drückte flüchtig seine Schulter. „Bin gleich zurück.“ Im Hinausgehen folgte ihm nichts weiter als noch mehr Schweigen, eine Tatsache, die ihn erleichterte. Er hoffte ehrlich, dass er nichts wichtiges verpasste, während er sich um den Tee kümmerte. Er wollte da sein, um Rui in irgendeiner Form Beistand zu leisten, wenn seine kleine Welt noch mehr erschüttert wurde.     ***     „–ist der Kerl eigentlich?“   Kai bekam gerade noch die gestellte Frage mit, als er zurück ins Wohnzimmer trat. Rei sah kurz zu ihm, Ruis Blick folgte, blieb aber hängen. Er grinste schief, unangenehm berührt, während er den neuen Tee vor Rei hinstellte. Erneut bekam er einen einsilbigen Dank. „Mein Freund“, erklärte Rui. Nüchtern, nichtssagend. Rei nickte langsam, nippte an seinem Tee. Rui hatte in der Zwischenzeit immer noch nicht ausgetrunken. So kalt, wie sein Getränk inzwischen war, dürfte es auch gar nicht mehr schmecken. Kai würde ihm später einen neuen Tee kochen. „Er hat mich gefunden, als ich weggelaufen bin.“ – „Gefunden?“ Rui nickte. „Draußen im Regen. Zusammen mit Yamato.“ „Seinem Kater“, fügte Kai hinzu, weil Rei ehrlich verwirrt aussah von Ruis fragmenthafter Erzählung. Der Mann nickte, auch wenn er nicht so aussah, als könne er wirklich gut folgen. Vermutlich fragte er sich, wo Rui das Tier herhatte, nachdem er ohne Begleitung abgehauen war. Ob es Rei leidtat, so viel verpasst zu haben, was bei seinem kleinen Bruder passiert war? Ob es ihn überhaupt interessierte? Kai konnte auf seinem Gesicht nur schwerlich lesen – etwas, das er faszinierend mit Rui gemeinsam hatte. Erziehung brachte eben auch Familienähnlichkeit zustande, auch wenn sie nicht äußerlich war. Der Ältere seufzte schwer, behielt den Blick auf seinen Becher gerichtet, während er wieder zu sprechen begann:   „Ich bin ganz schön erschrocken, als du abgehauen bist. Keiner hat’s mitbekommen. Vater war ja noch arbeiten und Mutter gerade drüben bei ner Nachbarin. Als sie wiedergekommen ist, hab ich Panik bekommen – ich wollte einfach nicht schuld sein. Hab deinen Koffer versteckt und behauptet, ich hätte dich schon zum Flughafen gebracht, weil du es nicht erwarten konntest. Sie hat’s geglaubt.“ Das in sich war irgendwie ein Armutszeugnis, fand Kai; er konnte seinen entgeisterten Blick gar nicht zurückhalten. Als Rei es sah, grinste er dünn, verstehend – vermutlich war es für ihn selbst als Schock gekommen, dass sie die fadenscheinige Lüge überhaupt geglaubt hatte. „Danach ging’s einfach weiter wie bisher. Und dann haben sie irgendwann die Werbeplakate von eurer Band entdeckt.“ Es klang, als wäre zumindest das ein relatives Spektakel gewesen, auf seine Art. Rei hatte schlussendlich die Wahrheit sagen müssen, ein Geständnis, das mit der aufgebrachten Erklärung einherging, wieso er überhaupt zu solchen drastischen Mitteln gegriffen hatte – zu wenig Aufmerksamkeit, zu großer Druck, der Wunsch, beachtet zu werden. Er hatte Ärger und eine Strafe bekommen, aber schlussendlich hatte sich nichts verändert; nach einigen Tagen war alles wieder wie vorher gewesen, mit dem Unterschied, dass seine Eltern nun wieder Kontakt zu Rui hatten. „Sie waren völlig erschüttert darüber, dass du dich lieber mit billiger, unwürdiger Popmusik abgibst als mit ordentlicher Klassik, und als ich aufgehört habe? – Es war ihnen ein müdes Schulterzucken wert. Es war absehbar. Ich hätte es eh nicht weit bringen können. Vielleicht ist es sogar besser so. Natürlich waren sie schrecklich enttäuscht, aber glaubst du, sie haben das Thema je weiter verfolgt? Nein. Über deine Entscheidung weinen sie immer noch.“ Rei schnaubte hasserfüllt. Rui verzog das Gesicht, sah hinunter auf seinen Schoß.   Während Kai so langsam begann, Rei zu verstehen und sein Handeln beinahe tolerieren zu können, rückten Ruis Eltern in ein immer schlechteres Licht. Sie meinten es sicherlich nicht böse. Würde er mit seinen eigenen Eltern darüber reden, sie könnten ihm vermutlich von einem Eltern-Standpunkt aus wunderbar erklären, was eigentlich das Problem war, und dass da hinter allen dummen Handlungen sehr viel verquere elterliche Sorge steckte, aber gerade konnte Kai sich das überhaupt nicht vorstellen. Gerade wollte er es sich auch nicht vorstellen.   In die aufkommende Stille hinein richtete Rui sich plötzlich aufrecht auf, sein Blick ungewohnt fest, als er seinen Bruder fixierte. „Musik ist wie Regen, Rei.“ Wenn Rui es sagte, klang es, als wäre es eine Erklärung für alles, wo es doch im Grunde fast gar nichts erklärte. Kais Herz machte einen überglücklichen Hüpfer, nicht nur, weil er die seltsame Erklärung verstand, sondern weil er sich noch sehr genau daran erinnerte, woher sie kam. Rei sah einen Moment entgeistert aus. Dann lachte er. Anders als Rui, bei dem alles leise und bedächtig klang – wie die Welt hinter einem Regenschleier –, war Reis Lachen laut und herzlich und warm. Ansteckend. „Ich weiß, Rui.“   Kai hatte den Eindruck, dass das Worte waren, die Rui dringend schon vor langer, langer Zeit hätte hören müssen.     ***     „Spielst du noch Klavier, Rui?“   Die Frage kam unerwartet – nicht nur für Kai, auch Rui sah verdutzt drein. Vorhin noch hatten sie darüber gesprochen, was Rui im Laufe des letzten Jahres erlebt hatte, und als er nichts mehr zu erzählen hatte, waren sie in eine behagliche Stille verfallen. Kai hatte gar nicht erwartet, dass es allzu bald zu einem neuen Gespräch kommen würde. „…mh“, war Ruis unbestimmte Antwort. Er zuckte mit den Schultern, griff nach seinem Teebecher und nippte an der kalten Brühe. Kai musste sich ein Grinsen verkneifen bei der Erinnerung daran, wie unglaublich entsetzt Shun gewesen war, als er Rui das erste Mal erkaltenden Tee hatte trinken sehen. Er hatte ein Theater veranstaltet, als wäre das eine neue Todsünde. „Manchmal. Aber anders als zuhause.“ Rei nickte langsam. Er fixierte Rui über den Rand seiner Brillengläser hinweg nachdenklich. „Es wäre schade, wenn du ganz aufhörst. Du hast das nötige Talent, um es weit damit zu bringen. Und du hast es immer geliebt, zu spielen, nicht wahr? Anders als ich.“ Er schüttelte den Kopf. Seufzte. Leerte seinen dritten Becher Tee. In der letzten Stunde hatte seine Mimik sich deutlich entspannt; er sah völlig anders aus als der verkniffene Mann, dem Kai die Tür geöffnet hatte. Bedeutend sympathischer. Erleichterter. Es machte Kai glücklich, dass am Ende nicht nur Rui seinem Bruder nachgehangen hatte. Er war noch lange nicht ganz warm geworden mit dem fremden Mann, aber inzwischen hatte sich jedes Bedürfnis danach, Streit mit ihm zu suchen, weitgehend gelegt. Er traute dem Frieden noch nicht so ganz, aber es wurde besser. Und Rui war glücklich. Für Kai war es unübersehbar, und allein dass Rui glücklich war, war ihm Grund genug, Rei zu akzeptieren, wie er war.   Rui antwortete nicht mehr. Er fand etwas anderes, das ihn interessierte: „Rei… der Ring.“ Einen Moment lang sah Rei auf das Schmuckstück hinab. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, das zweifelsohne das Lächeln eines Mannes war, der sehr, sehr verliebt war. „Ich werde demnächst heiraten. Meine Verlobte habe ich vor etwa einem halben Jahr kennengelernt. Die Hochzeit wird im Herbst sein; sie mag das bunte Laub so sehr.“ „Das klingt schön.“ Rui lächelte flüchtig. Er sah wirklich aus, als würde er sich für seinen Bruder freuen – und eine Spur traurig. Ein Jahr war eine lange Zeit. Man verpasste viel, wenn man nicht miteinander sprach. Aber solange das jetzt vorbei war, war es doch in Ordnung, oder? Das konnte man aufarbeiten, da war Kai sich sehr sicher. „Es wird hektisch werden“, gab Rei mit einem schiefen Schmunzeln zurück, „Wir müssen noch alles organisieren. Die Feier, die Verpflegung… meine Verlobte sucht aktuell nach ihrem Hochzeitskleid. Sie will mir nicht einmal verraten, ob sie etwas findet, weil sie Sorge hat, dass ich sonst spitze. Es soll eben perfekt werden, so wie man sich wünscht, wenn man heiratet. Mutter und Vater sind übrigens nicht ganz zufrieden – finden, ich bin zu jung. Ich denke, das kann ich selbst entscheiden.“ „Ich finde, du hast recht“, bestätigte Rui leise. Der Blick des Jungen traf kurz auf Kai, fast so, als wolle er nach seiner Meinung fragen – er nickte lächelnd. Grundlegend, ja, war Kai ganz dafür, dass junge Menschen ihre eigenen Entscheidungen trafen. Er hatte sich auch über den ersten Willen seiner Eltern hinweggesetzt, und er würde es definitiv niemals bereuen. Er hatte es vor einem Jahr nicht bereut, und heute bereute er es noch viel weniger.   Rei lächelte kurz, nickte. Er sah ehrlich erleichtert aus, als wäre eine Last von ihm abgefallen, der er sich vorher vielleicht selbst nicht einmal ganz bewusst gewesen war. „Danke.“ Kai vergaß manchmal, wie wichtig es war, ab und zu Zuspruch zu bekommen. Er selbst nahm es einfach als selbstverständlich, irgendwie, denn er hatte immer Rückhalt von seiner Familie gehabt, selbst wenn sie mal  nicht einer Meinung waren. Dass es so anders sein konnte… war immer noch einfach nur unfassbar für ihn. Wahrscheinlich würden seine Eltern ihn auslachen für seine Gedanken. Vermutlich würden sie das. Er freute sich darauf, seine Erfahrungen mit ihnen zu teilen, nur um dann am Ende wieder festzustellen, dass er eigentlich noch gar nichts wusste und viel zu viel zu lernen hatte. Es war okay. Er war noch jung genug, um das alles zu lernen. Und irgendwann…   Sein Gedanke wurde unterbrochen, als Rei verkündete, dass er langsam wieder gehen müsste. Sie brachten den jungen Mann hinunter zur Eingangstür des Wohnheims, wo sie noch einmal zum Abschied stehen blieben. „Vielen Dank für die Einladung, Rui.“ „Mhm.“ „Und vielen Dank für den Tee.“ Reis Blick wanderte zu Kai hinüber, fragend. Er hatte sich gar nicht vorgestellt, fiel ihm mit einem verlegenen Lachen auf. „Fuzuki Kai. Sehr erfreut.“ „Fuzuki-San. Danke.“ Er hielt kurz inne, schüttelte dann den Kopf. „Und auch danke dafür, dass du auf Rui aufgepasst hast.“ Es war das Letzte, wofür Kai einen Dank brauchte – und trotzdem war es unglaublich wertvoll. Er mochte von Ruis Familie halten, was er wollte, aber es tat gut, zumindest den Zuspruch seines Bruders zu haben. (Auf den seiner Eltern hoffte Kai gar nicht erst. Aber er glaubte auch nicht, dass er ein Mensch sein wollte, der Zuspruch von ihnen bekommen konnte.)   „Kommst du wieder, Rei?“ Ruis Blick war groß, hoffend. Rei sah ihn verblüfft an. „Wenn die Zeit es zulässt, gern. Sag mir Bescheid, wenn du einen Auftritt hast und ich sehe zu, dass ich da bin. Aber nur unter einer Bedingung!“ Er lächelte, unerwartet sanft, legte Rui eine Hand auf die Schulter. „Hör nicht mit dem Klavierspielen auf, kleiner Bruder. Nicht ganz zumindest.“ „Rei–“ „Kein Widerspruch“, mahnte er sanft. Grinste.   „Wer soll denn sonst auf meiner Hochzeit spielen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)