Summertime Record von Puppenspieler ================================================================================ I.V Search & Rescue ------------------- Sonnenstrahlen weckten Kai, noch bevor der Wecker klingelte. Sonnenstrahlen, und dunkelgrüne Haarsträhnen, die sein Gesicht kitzelten. Es war viel zu warm, trotz Klimatisierung; in der Nacht hatte einer von ihnen die Decke vom Bett bugsiert. Es half zumindest ansatzweise gegen die Hitze. Was nicht half, war die Tatsache, dass Rui so nah war, dass er dessen Körperhitze spüren konnte. Umständlicher als nötig reckte er sich nach seinem Handy, um den Wecker auszuschalten und einen Blick auf die Uhr zu werfen. Er hätte noch mehr als eine Stunde schlafen können, theoretisch. Praktisch… Er grinste selig, als er in Ruis schlafendes Gesicht blickte, das gleichermaßen viel zu nahe und nicht nah genug war. Da waren wieder wirre Haarsträhnen, die sich ausgebreitet hatten, wo sie nicht hingehörten, und Kais Grinsen wurde nur noch breiter, schmerzhaft fast, als er daran dachte, dass er jede Berechtigung hatte, sie wegzustreichen. Sich vorzulehnen und einen Kuss auf Ruis Stirn zu hauchen.   Sie hatten nichts ausgesprochen. Es gab Dinge, die waren so eindeutig, dass zumindest Kai fand, dass sie auch nicht ausgesprochen werden mussten. Und wenn er rein nach Ruis Verhalten ging, schien der Junge das grundlegend genauso zu sehen – er hatte völlig selbstverständlich begonnen, mehr Nähe zu suchen. Hatte Kais Arm als Kopfkissen missbraucht, als er eingeschlafen war, statt wie in vorherigen Nächten auf „seiner“ Seite des Bettes zu bleiben. In der Nacht hatten sie sich offenbar beide bewegt, denn inzwischen war sein Arm wieder frei, dafür waren ihre Beine unten an den Knöcheln verknotet und Ruis Hand lag an seiner Brust. Kai wusste nicht, was sich auf ab jetzt lange Sicht verändern würde. Ihm war bewusst, dass Beziehung – und das war es, was sie hatten, nicht wahr? Eine Beziehung – mehr bedeutete als Nähe zueinander und sanfte Küsse. Er wusste nicht genau, was all dieses Mehr war, aber er war aufgeregt, es herauszufinden. Das hier war vollkommen neu für ihn, und er zweifelte daran, dass es Rui anders ging. Ein neuer Lebensabschnitt, den sie gemeinsam erkunden konnten, miteinander. Und solange sie, miteinander, glücklich wurden dabei, war es doch nicht einmal wichtig, dass ihr Weg irgendeiner allgemeingültigen Vorstellung entsprach.   Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben. Es wurde nicht langweilig, Rui zu betrachten. Nicht, dass er nicht trotzdem in etwa einer Stunde aufstehen musste. Da war ein Hund, der sich darauf verließ, von ihm gefunden zu werden! Er seufzte leise, alles in allem trotz herannahendem Aufstehen aber zufrieden. Wie könnte er es nicht sein? Langsam richtete er sich ein Stück auf, auf einen Ellenbogen gestützt, und begann, mit der anderen Hand Ruis hübsches Gesicht zu liebkosen. Nur wegen Kai war er  gestern viel später als sonst ins Bett gekommen. Es wäre gemein, ihn jetzt zu wecken, wo es noch lange nicht nötig war. Ohne ihn aufzustehen klang aber ähnlich unattraktiv. Und es war nicht, als würde es Kai stören, einfach hier zu bleiben und ihn zu betrachten. Wie gern er ein Foto hätte! Rui sah so unglaublich friedlich und entspannt aus, das grelle Sonnenlicht von draußen ließ seine helle Haut beinahe leuchten. Unwirklich. Wie ein Geschöpf aus einem alten Märchen oder Volksglauben. Und zerbrechlich. Als könnte eine einzige falsche Berührung dafür sorgen, dass er klirrend zersplitterte wie eine Porzellanpuppe, die man fallen ließ. Er wollte ihn davor beschützen. Vor jedem Schaden.   Als Yamato an der Tür zu maunzen begann, beschloss er, dass es langsam doch Zeit wurde, aufzustehen. Ein Blick aufs Handy verriet, dass der Wecker auch in wenigen Minuten geklingelt hätte, hätte Kai ihn nicht ausgestellt. Er grinste viel zu zufrieden, legte das Gerät wieder zur Seite. Aufstehen. Rui wecken. Wie jedes Mal mit liebevollen Berührungen. Es funktionierte, auch wenn es entsprechend lange dauerte, bis der Junge aufwachte. Jedes Streicheln und Liebkosen half, ihn ein bisschen weiter aus seinen Träumen herauszulocken, und Kai liebte es, dieses langsame Aufwachen zu betrachten. Es dauerte gar nicht so lange, bis erste Regung in Rui kam. Ein kurzes Nasekrausziehen, ein Zucken in seinen Mundwinkeln. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Wimpern flatterten. Zuerst waren es winzige Bewegungen, kaum merklich, schnell vorbei, und dann doch eine deutliche Zeitspanne wieder Stille. Inzwischen wusste Kai genau, ab welchem Punkt es wirklich mit dem Schlafen vorbei war. Er wusste, dass die kleine Falte zwischen Ruis Augenbrauen bedeutete, dass er wach war, sobald sie sich nicht schnell genug wieder glättete. Auch wenn das nicht hieß, dass er dann freiwillig die Augen öffnete und aufstand. Lächelnd stupste er gegen die kleine missmutige Falte, lehnte sich dann weit genug vor, bis er Rui einen flüchtigen Kuss auf die Lippen hauchen konnte. Sein Magen machte einen seligen Purzelbaum und sein Herz schlug allein von der kurzen Berührung so heftig, dass es schon fast peinlich war. „Guten Morgen“, raunte er sanft. Rui gab einen leisen Laut von sich, und langsam öffneten sich seine Augen. Er blinzelte, einmal. Zweimal. Dreimal. Dann lagen plötzlich zierliche Finger auf Kais Wange. Behutsam fing er die schmale Hand ein, presste kleine Küsse auf jeden Fingerknöchel. Ruis Wangen waren gerötet, als er wieder zu ihm hinuntersah.   Kai wollte sich wirklich zusammenreißen, aber dann küsste er Rui doch lieber wieder, statt aufzustehen.     ***     „Was machst du heute?“ Rui reichte ihm einen Teller, den er gerade abgetrocknet hatte. Er war noch leicht klamm, aber es war nichts, das Kai irgendwie störte, also packte er das Geschirrteil kommentarlos in den Schrank zurück. Er hatte noch nicht die Gelegenheit gefunden, Rui-freundlich umzuräumen, nahm es sich aber wieder fest vor. (Ahnte, es doch wieder zu vergessen, weil es einfach so unglaublich selten war, dass Rui wirklich an das Geschirr musste.) „Einen Hund suchen“, erklärte er, „Ich weiß auch noch keine Details. Meine Auftraggeberin meinte, dass es sehr, sehr dringend sei und sie sei beinahe krank vor Sorge. Eigentlich hätte ich frei gehabt.“ „Kann ich helfen?“ Kai blinzelte verdutzt. Helfen. Beim Arbeiten? Er kratzte sich am Nacken, irgendwie verlegen. Es war sein Job! Da brauchte er keine Hilfe. Und er hätte auch nicht erwartet, ein Hilfsangebot zu bekommen. Irgendwie überforderte ihn das. Aber es war so lieb! Kai lächelte, wenn auch ein bisschen schief. „Wenn du wirklich möchtest, gerne. Das ist so ein Job, wo ich gar nicht abschätzen kann, wie lange ich brauchen werde.“ Und wenn er Rui dabei bei sich haben konnte, sagte er bestimmt nicht nein. Inzwischen strahlte er glücklich, während er das nächste Geschirrteil entgegennahm. Der Gedanke, Rui vielleicht ab und zu mal mitzunehmen, wenn es gut möglich war, war irgendwie wirklich nett. Ein paar kleinere Jobs konnte er sicher begleiten, Sachen, die nicht wirklich schwierig waren. Klar, bei einem Umzug wäre er fehl am Platz, keine Frage. Aber es gab genug anderes! Kai hatte schon die verrücktesten Sachen gemacht, und es war nicht wenig dabei gewesen, zu dem er sich Rui recht gut vorstellen konnte. „Ich komme mit“, verkündete der kleine Kerl leise, entschieden. Kai hätte ihm niemals widersprochen. „Danke! Vier Augen sehen mehr als zwei, zusammen können wir den Hund ja gar nicht nicht finden!“   Hoffte Kai zumindest. Er hatte eigentlich überhaupt keine Erfahrung im Hundesuchen. (Katzen aus Bäumen retten konnte er hingegen richtig gut!)   Ihr kleiner Ausreißer war, wie die Besitzerin zu berichten wusste, ein einjähriger Shiba-Inu mit rotem Halsband. Seit fünf Tagen verschwunden, weil er aus dem Auto ausgebüxt und in eine Nebenstraße abgedüst war. Sie hatten gehofft, er würde wiederkommen, doch so langsam nahmen die Sorgen überhand und aufgrund familiärer Umstände musste die Familie, der das Tier gehörte, bei nächster Gelegenheit für ein Weilchen raus aufs Land fahren. Da konnten sie den Hund natürlich nicht einfach irgendwo lassen. Das einzige, das Kai an der ganzen Sache störte, war der Name des Hundes – Kai. Schon die Vorstellung, durch die Straßen zu laufen und seinen eigenen Namen zu rufen, erschien ihm ein bisschen dämlich. Die tatsächliche Handlung dürfte sich noch bedeutend dämlicher anfühlen. Sie ließen sich von der Besitzerin bis zu der Ecke führen, an der Shiba-Kai verschwunden war. Obwohl sie insgesamt keine zwanzig Minuten draußen waren, klebte Kais Shirt ihm jetzt schon schweißnass am Körper. Es war typisch japanisch sommerlich viel zu heiß und drückend – wie schon die letzten Tage. Rui neben ihm wischte sich schon zum wiederholten Male das klebrige Haar vom Gesicht und sah allgemein eher unglücklich aus. Kai sollte Mitleid haben, aber der Anblick ließ sein Herz Freudensprünge machen.   Die Suche war, das wurde schnell absehbar, unglaublich erschöpfend. Es war heiß. Zu heiß, so heiß, dass es auch Kai nach der dritten Straße, die sie fruchtlos abklapperten, langsam wirklich viel wurde. Sein Hals war trocken und das dauerhafte nach-dem-Hund-Rufen machte es kaum besser. Die Wasserflasche, die er wohlweislich eingepackt hatte, hatte nicht einmal halb so lange überlebt, wie er gehofft hatte. Das Viertel war, unglücklicherweise, relativ groß. Laut der Besitzerin kannte Shiba-Kai sich theoretisch in der näheren Gegend aus, und allein deshalb wunderte sie sich sehr über sein Verlaufen. Das bedeutete für Kai, dass sie in den näheren Straßen gar nicht suchen mussten – und ihr weiterer Suchradius dafür umso größer wurde. Shiba-Kai hatte Angst vor Autos – weiser Junge! –, also vermied er die sehr verkehrslastigen Straßen. Es gab davon aber nicht einmal so viele im Viertel, also blieb immer noch mehr als genug übrig. Und mitten am Tag anzufangen zu suchen war natürlich auch nicht hilfreich, zumindest dem eigenen Wohlbefinden gegenüber nicht. Nach nicht einmal zwei Stunden, die sie durch die Hitze marschiert waren, legten sie eine Pause ein. Die Sonne brannte vom Himmel, Vögel zwitscherten, und die Zikaden waren ein dauerhafter, ohrenbetäubend lauter Lärm, der einfach niemals aufhörte oder leiser wurde. Er war einfach da. Sie hockten auf einer Bank am Rande einer winzigen Grünfläche. Das Gras leuchtete geradezu ungesund im grellen Tageslicht. Ruis Kopf kollidierte mit seiner Schulter. Es war zu heiß für jede Form von Berührung. Kai grinste müde. „Wir sollten unsere Taktik überdenken“, murmelte er seufzend. Sein ganzer Körper klebte, sein Shirt war ein einziger nasser Lumpen – es war echt fies. Rui sah kaum besser aus, aber irgendwie schaffte er es, trotz schweißverklebtem Haar und gerötetem Gesicht immer noch hübsch auszusehen. Er hatte die Augen geschlossen und sah aus, als würde er auf Kais Schulter einschlafen, wenn sie nicht bald wieder hochkamen. „Hmmmm?“ Rui klang auch, als würde er gleich einschlafen. Kai strich ihm flüchtig über die Wange. Er lachte leise, als Rui die Nase krauszog und mit einem vagen Murren – „zu warm…!“ – den Kopf wegdrehte. Und sich dabei nur noch mehr gegen seine Schulter drückte. „Es ist so heiß! Vielleicht sollten wir anfangen, gezielt nur noch im Schatten zu suchen… Kein kluger Hund würde sich bei dieser Hitze in der Sonne aufhalten, huh?“   In der Theorie war es ein guter Plan. In der Praxis war er unrealisierbar, denn es existierte gar nicht genug Schatten, um sich effektiv darin zu verstecken. Und durchs Gebüsch kriechen, wo es immerhin wirklich schattig war, konnten sie auch nicht. Es war eine pure Tortur. Was sie auch taten – es half nicht. Shiba-Kai war unauffindbar. Kein Schlupfwinkel förderte den Hund zutage. Kai fragte jeden vorbeikommenden Passanten. Es waren, entsprechend der Hitze, nicht viele, und keiner von ihnen hatte den gesuchten Hund mit dem roten Halsband gesehen. Kein Hundebesitzer, der gerade dabei war, Gassi zu gehen, konnte helfen. Scheinbar gab es nicht einmal Ecken in der Gegend, die bekannt dafür waren, dass Hunde sich dort gern tummelten. Bis zur nächsten Pause hatten sie noch gar nichts erreicht. Inzwischen wurde sichtbar, dass der Tag sich langsam dem Ende entgegenneigte. Die Schatten wurden länger, das Licht, das ursprünglich eher grellweiß gewesen war, begann einen goldenen Schimmer mit sich zu bringen. Die letzten zehn Minuten waren sie durch schmale, dankenswert schattige Hintergassen gelaufen, doch der Hitze hatte es kaum Abbruch getan. Kai fühlte sich unglaublich erschöpft. Müde ließ er sich auf eine niedrige Gartenmauer plumpsen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es Rui dann erst ging. Schon die letzte Weile war deutlich geworden, dass der kleine Kerl eigentlich seine Grenzen erreicht hatte. Er wurde langsamer, träger, und mehr als einmal hatte Kai stehen bleiben und sich nach ihm umsehen müssen, weil er einfach nicht mehr hatte Schritt halten können. Er versuchte wirklich, sein Tempo an Rui anzupassen, aber es war schwieriger, als es aussah. Nach Hause wollte Rui aber auch nicht. Das Angebot hatte er mehrfach abgelehnt. Es machte Kai im gleichen Maße glücklich wie besorgt. Er seufzte noch einmal, stemmte sich entschlossen wieder von der Mauer hoch. Er grinste, einfach nur, um sich selbst wieder zu motivieren. „Bringen wir’s hinter uns.“ Eine Antwort bekam er nicht, aber das wunderte ihn nicht mehr; ein erschöpfter Rui war noch schweigsamer als sonst. Kai konnte es verstehen; die Hitze zehrte auch an seiner Konzentrationsfähigkeit, die bisherige Fruchtlosigkeit der Suche an seiner Energie.   Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Rui nicht mehr da war.   Mit einem Schlag wich jede gute Laune von seinem Gesicht und sein Magen verkrampfte sich zu einem beunruhigten, übelkeiterregenden Knoten aus Sorge und Angst. Er sah sich hektisch um, doch die ganze, schmale Straße entlang sah er keine Spur von seinem Freund. „Rui? Hey, Rui!“ Keine Reaktion. Kai lief zwei Straßen zurück, die sie vorhin noch abgesucht hatten, in der Hoffnung, dass Rui einfach nur irgendwo stehen geblieben war, um selbst kurz auszuruhen. Nichts. Die Straßen lagen im Licht der späten Nachmittagssonne friedlich und verlassen da, während eine lauwarme Brise ordentliche Hecken zerzauste und Vögel die zikadenschwere Stille mit ihrem Gesang füllten. Kein Rui. Kein Hinweis darauf, dass hier vor kurzem überhaupt ein Mensch gewesen war. Einen langen, entsetzlichen Moment lang konnte Kai nichts anderes tun als da zu stehen und fassungslos in die Nebenstraßenidylle zu blicken. Sein Hals schmerzte, als er schluckte, zugeschnürt von Panik.   Rui war weg.   Er hatte nicht nur nicht einmal den Hund gefunden, er hatte es vor allem irgendwie geschafft, Rui zu verlieren.     ***     Shiba-Kai hatte es geschafft, sich in einer Hecke zu verheddern, so dass er nicht mehr zwischen den Zweigen hinausgekommen war. Es war sein eigener Verdienst, dass Kai ihn fand; ohne das freudige Bellen des Hundes, als er seinen Namen hörte, hätte Kai ihn wohl nicht entdeckt. Er war munter, wie er Kai aus seinem Gefängnis an Zweigen und Blättern heraus hechelnd ansah. Es erleichterte, zumindest den Hund gefunden zu haben. Gleichzeitig konnte Kai sich nicht so recht freuen, weil er nicht aufhören konnte, sich zu fragen, was mit Rui passiert war. Im besten Fall war er einfach nach Hause zurückgekehrt und hatte sich dort in der kühlen Wohnung verschanzt. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass Rui den Weg noch fand, quer durch dieses ewige Nebenstraßenlabyrinth? Letztlich. Hier waren überall Menschen. Zur Not konnte Rui nach dem Weg fragen. Kai klammerte sich an diese Hoffnung, so gut er konnte, während er sich daran machte, Shiba-Kai aus seinem Buschgefängnis zu befreien. Der Hund dankte es ihm mit noch mehr freudigem Gebell und eifrigem Schwanzwedeln. Er fragte sich, wie er sich überhaupt so weit hatte verlaufen können. Vermutlich hatte er einem kleinen Tier nachgejagt? Einer Katze vielleicht, davon gab es hier in der Gegend schließlich genug. Der Gedanke verlor sich schnell, als der Hund ihn wieder fröhlich ankläffte. „Ist ja gut, mein Junge! Na komm, wir bringen dich jetzt heim, hm? Lass mal sehen… du hast wohl keine Leine dabei?“ Hatte er natürlich nicht. Kai hatte auch keine, denn so weit hatte er bisher nicht gedacht. Er seufzte. Er konnte darauf verzichten, dass Shiba-Kai ihm noch einmal verloren ging, und der Hund war eindeutig zu klein, als dass Kai ihn am Halsband halten könnte, während sie liefen – oder er war zu groß. Oder beides. In jedem Fall blieb ihm keine andere Wahl, als das Tier auf den Arm zu nehmen und den ganzen Weg zurück bis zu seinem Zuhause zu tragen. Bei der Hitze. Mit seinem Schützling auf den Armen trottete er durch die dunkler werdenden Straßen zurück. Die Abendsonne flutete die Welt mit goldenem Licht, das immer rötlicher wurde. Bald würden die Straßenlaternen anspringen und die Sonne sich ganz hinter dem Horizont verbergen.   Auch auf dem Rückweg fand er von Rui keine Spur.   Er konnte die Sorge nicht abschütteln, so sehr er sich auch wieder und wieder daran erinnerte, dass Rui den Heimweg schon gefunden haben würde. Und das Schuldgefühl wurde auch nicht leiser. Er hätte besser auf Rui achten sollen. Er hätte längst daran denken müssen, ihm ein Handy zu besorgen, damit sie in Kontakt bleiben konnten, wenn mal etwas passierte und sie gerade nicht nebeneinanderstanden. Kai war viel zu selbstverständlich davon ausgegangen, dass Rui nie allzu weit entfernt von ihm sein würde, und das war eindeutig ein sehr, sehr dummer Gedanke gewesen. Obendrauf hatte er keine Ahnung, wo er suchen sollte. Ruis Denken war ihm so fremd, dass er nicht im Geringsten abschätzen konnte, wo er den Jungen finden würde, verliefe er sich einmal. Kai wusste, wo er seine Geschwister fände. Er kannte ihre Denkweisen und Ideen. Rui kannte er nicht ansatzweise gut genug, um ähnliche Einschätzungen zu treffen, und entsprechend fühlte er sich zu allem Überfluss unangenehm hilflos in der Situation. Es half alles nichts. Wie es war, hatte er keine Ahnung, wo Rui sein könnte. Er konnte sich nur weiter an die Hoffnung klammern, dass sein kleiner Freund den Weg nach Hause gefunden hatte und einfach in der kühlen Wohnung saß und sich ausruhte. Kai wusste nicht, was er tun sollte, wenn er gleich nach Hause kam und Rui immer noch nicht da war. Er würde ihn suchen, keine Frage. Die ganze Nacht, wenn es sein müsste. Und den nächsten Tag lang. Solange, bis er Rui wiederfand. Wenn Rui dann wütend auf ihn war, dann mit jedem Recht. Nichts könnte jemals entschuldigen, dass er Rui aus den Augen verloren hatte. Er hatte auf ihn aufpassen wollen, und bei erster Gelegenheit scheiterte er genau daran! Es war peinlich. Es war erbärmlich, und Kai hasste sich ein bisschen selbst dafür. Bei allem Beschützerinstinkt, er war eindeutig noch weit davon entfernt, tatsächlich irgendjemanden vor irgendetwas beschützen zu können.   Shiba-Kais Frauchen war überglücklich, als Kai ihr ihren Liebling aushändigte. Sie überschüttete ihn mit überschwänglichem Dank, dem er kaum folgen konnte, weil er in Gedanken schon wieder bei Rui war, und am Ende war er einfach nur froh, dass die Frau ihn relativ bald wieder aus ihren Fängen entließ. Inzwischen war er wirklich erledigt, durchgeschwitzt bis auf die Knochen und er konnte es kaum erwarten, die völlig verklebte Kleidung loszuwerden und kalt zu duschen, um irgendwie die gröbste Hitze aus seinem Körper zu verbannen. Trotzdem war ihm mulmig, als er vor der Haustür stand. Er hatte Angst, die Wohnung zu betreten und festzustellen, dass Ruis kleine Schuhe fehlten. Was sollte er dann tun? Würde er Rui wiederfinden können? Es konnte nicht so schwer sein, aber trotzdem verschwanden so oft Menschen spurlos! Er schluckte, ballte die Hände zu Fäusten. Es kostete ihn viel zu viel Überwindung, die Wohnungstür zu öffnen und in den Flur zu treten, so sehr, dass ihm jede gewohnte Begrüßungsfloskel im Hals stecken blieb.   Sein erster Blick ging hinunter zu der Ecke Flur, wo sie ihre Schuhe gelagert hatten.   Das Paar Schuhe, das Rui vorhin getragen hatte, stand fein säuberlich dort aufgereiht. Kai fiel ein Stein vom Herzen. Noch ohne sich selbst darum zu kümmern, seine Schuhe auszuziehen, polterte er in die Wohnung hinein.   „Rui!“ Der Junge saß im Wohnzimmer, trug kurze Shorts und ein übergroßes Muskelshirt, das er von Kai gemopst hatte. Er sah todmüde aus, mehr schlafend als wach, und sein Haar war feucht von der Dusche, die er sich zweifelsohne gegönnt hatte. Die Erleichterung, die gerade noch nur ein Stein vom Herzen gewesen war, traf Kai jetzt mit der vollen Wucht einer Dampfwalze und er musste sich ernsthaft am Türrahmen festhalten, um nicht einzuknicken. „Gottseidank bist du hier…“ Für Rui schien nichts Besonderes dabei zu sein. Er blinzelte träge. Kai wollte ihn umarmen und küssen und nie wieder loslassen, aber er kam keinen Schritt weit, bevor Yamato zwischen seinen Beinen hing, maunzend und quengelnd – hungrig, höchstwahrscheinlich. Es half auf eine seltsame Art, Kai zu beruhigen. Er lachte, erleichtert, überfordert, noch erleichterter, und ein bisschen fühlte er sich eigentlich nach Heulen, aber natürlich ließ er es bleiben. Es war ohnehin besser, wenn er Rui gerade nicht umarmte, huh? So verdreckt wie er inzwischen war, nachdem er den schmutzigen Hund herumgeschleppt hatte… „Ich komme ja, Yamato. …Oi, Vorsicht! Du willst nicht, dass ich über dich falle.“ Yamato plärrte noch einmal empört auf, dann stob er davon in Richtung Küche. Kai war froh, dass der Kater aufhörte, zwischen seinen Beinen herumzuscharwenzeln. Es war eine schlechte Angewohnheit, die das Tier dringend ablegen sollte! Irgendwann würde man ihn sonst versehentlich treten, und das wollte wohl niemand – am allerwenigsten Yamato selbst. Er sah zu Rui zurück, der immer noch träge auf dem Sofa saß. Allein der Anblick des Jungen – gesund, wohlbehalten – ließ ihn wieder breit und glücklich grinsen, alle Anstrengung des Tages vergessen über die Erleichterung. „Kommst du mit? Wir sollten auch langsam ein Abendessen kriegen, hm?“   Wobei Kai erst einmal seine Schuhe in den Flur kickte, bevor er in die Küche ging. Trotz Umweg war er schneller als Rui, der sehr, sehr langsam schlurfend ankam. Er sah wirklich fertig aus. Da würde wohl einer gleich nach dem Abendessen ins Bett fallen, huh? Wenn Kai ehrlich war, er war kurz davor, sich anzuschließen. Nach einer Dusche. Erst einmal bekam Yamato sein Futter, damit er das Quengeln aufhörte. Kai grinste zufrieden, als der Kater sich auf seinen Napf stürzte und Ruhe gab – wenn man von seinem lauten Schmatzen absah zumindest. Es hatte etwas unheimlich zufriedenstellendes, so ein kleines Tier glücklich zu machen.   „Hast du den Hund gefunden?“ Rui hatte sich an den Küchentisch gesetzt, bemerkte Kai, als er nach dem Händewaschen zu ihm hinüberblickte. „Ja! Er hatte sich in einer Hecke verheddert. Ganz schön dumm, was? Sah aber ganz gesund und munter aus. Bisschen dreckig, aber das war zu erwarten. Und du hast gut nach Hause gefunden?“ Rui brummte. Kai warf noch einen Blick zu ihm hinüber und begegnete einem unwilligen, fast beleidigten Trotzen. „Ich bin kein Kleinkind, Kai. Natürlich hab ich den Weg gefunden.“ „Hey, das hab ich nicht gesagt! Ich mein doch nur, du kennst die Gegend nicht besonders.“ Noch ein unzufriedener Laut. Kai schüttelte gutmütig den Kopf, trat zu Rui hinüber, um ihm über das wirre Haar zu streicheln. Einen Kuss auf die Stirn später hatte sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen wieder geglättet, aber die beleidigte Schnute war geblieben. „Ich sehe dich nicht als kleines Kind, Rui.“ „Du behandelst mich so.“ Kai seufzte. Wie könnte er Rui jemals wie ein Kleinkind behandeln? Es war etwas völlig anderes, dass er ihn gern umsorgte. Er sah ihn versöhnlich an, hauchte einen Kuss auf seinen unzufrieden verzogenen Mundwinkel. „Nicht. Vertrau mir?“   „…ich versuch’s.“     ***     Inzwischen war Rui schon mehr als einen Monat bei ihm. Es war ein bisschen seltsam, dass seine Familie ihn scheinbar immer noch nicht suchte, aber nachdem ein neuerlicher Kommentar dazu wieder nur damit beantwortet wurde, dass sie sicher davon ausgingen, Rui sei im Ausland auf seiner Schule, ließ auch Kai das Thema fallen. Es war nicht seine Verantwortung, was Ruis Familie tat, und es sprach wenig für sie, dass sie – ja. Scheinbar doch recht wenig Interesse an ihrem Sohn aufbrachte. Es war etwas so Erschütterliches, dass Kai insgeheim ganz froh war, dass Rui das Thema mied. Er wollte wirklich nicht schlecht über Menschen reden, die er nicht kannte, aber er war sich nicht sicher, wie gut er sich noch selbst unter Kontrolle haben würde. Er konnte Ruis Familie nichts Positives abgewinnen, je öfter er darüber nachdachte. Jedes Mal, dass er mit seiner eigenen Familie zu tun hatte, mit Mutter, Vater oder Geschwistern telefonierte, verglich er sie unabsichtlich mit Ruis Familie. Versuchte, sich vorzustellen, wie seine Familie reagiert hätte, wäre eines der Kinder weggelaufen. Anders, in jedem Fall. Nicht so desinteressiert. Kai war froh, dass er Rui gefunden hatte. Dieser wunderbare kleine Junge hatte es nicht verdient, in einem Umfeld zu leben, dem er so sehr egal war.   Mehr als ein Monat. Auch wenn der Gedanke immer noch mit der Bitterkeit Ruis Familie gegenüber verbunden war, Kai konnte trotzdem nicht anders, als sich zu freuen, dass Rui bereits schon so lange ein fester Teil seines Lebens war. Auch wenn es objektiv sogar eher eine kurze Zeitspanne war – für Kai war es viel, und es war viel passiert. Es fühlte sich nach einer ganz seltsamen Ewigkeit an und eigentlich doch viel zu kurz. Er freute sich darauf, zu sehen, wie aus einem Monat zwei wurden. Aus zwei drei. Aus drei vier.   Und irgendwann aus Monaten ein Jahr.   „Kai, du träumst.“ Er lachte ertappt auf, als Rui ihn aus seinen Gedanken riss. Sehr zu seiner Erleichterung hatte er vor lauter Träumen lediglich vergessen, das Fleisch auf seinem Brett weiter kleinzuschneiden; noch war kein Herd eingeschaltet, noch konnte nichts anbrennen. Er grinste selig, versuchte zu ignorieren, dass seine Ohren heiß zu kribbeln begannen. Nur von dir. Er antwortete letztlich nicht. Schenkte Rui nur ein kurzes glückliches Lächeln, ehe er an seine Arbeit zurückkehrte, damit an diesem Abend tatsächlich noch ein Essen auf den Tisch kam. Er war hungrig! Und Rui sollte es auch sein, immerhin war die letzte Mahlzeit – und der letzte Pudding – schon eine ganze Weile her. „Wovon träumst du?“ „Eigentlich hab ich nachgedacht.“ Er hielt noch einmal inne, sah über die Schulter zum Küchentisch hinüber, um erneut Ruis Blick zu suchen. Yamato saß auf seinem Schoß und blinzelte neugierig über die Kante des Tisches hinweg zu Kai auf. Seine Öhrchen zuckten aufmerksam, vermutlich dem lauten Vogelzwitschern folgend, das durchs offene Fenster hereinkam. Rui sah nicht halb so aufmerksam aus, aber Kai wusste, dass der Junge ihm zuhörte und ehrlich auf eine Erklärung wartete. Sein Magen machte einen glücklichen Purzelbaum. „Du bist schon über nen Monat hier! Die Zeit vergeht ganz schön schnell, nicht wahr?“ „Mhm.“ Ein kleines Lächeln lag auf Ruis Gesicht. Kaum ein Heben seiner Mundwinkel, so wie fast alles an Mimik auf seinem Gesicht eher unauffällig und unscheinbar war. Es reichte für einen zweiten Purzelbaum. „Es hat sich gar nicht so lang angefühlt.“ „Hah, ja! Ob das so bleiben wird?“ – „Vielleicht. Bei Kai ist doch alles immer hektisch.“   Sie waren totale Gegensätze. Rui war leise, wo er laut war, war langsam, wo er durchs Leben hetzte… Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fiel ihm auf, dass ihm kaum etwas Besseres hätte passieren können. War bestimmt nicht verkehrt, ab und zu alles ein bisschen ruhiger angehen zu lassen.   Er hatte nicht das Gefühl, in diesem letzten Monat-und-ein-paar-Tage etwas verpasst zu haben.   (Eher im Gegenteil.)   Inzwischen kochte das Abendessen – ein ziemlich unkonventionelles Curry, das aus den Resten bestand, die Kai überall gefunden hatte und so langsam verwenden musste – friedlich vor sich hin. Kai hockte rittlings auf einem der Küchenstühle, Rui gegenüber. Yamato war es irgendwann zu langweilig geworden und er hatte sich von Ruis Schoß verzogen, um lieber im Wohnzimmer mit seinem Kratzbaum zu spielen, der ein bisschen klein zu werden schien für den längst nicht mehr so winzigen Kater, der er bei seinem Kauf gewesen war. Kai konnte durch die Küchentür sehen, wie der Kater herumturnte, hinter ihm die offene Verandatür. „Ach übrigens.“ „Mh?“ „Hab die Wäsche vorhin rausgehängt. Meinst du, du schaffst das, die morgen abzuhängen?“ „Kai, ich bin kein Kleinkind.“ „Das sage ich auch nicht.“ „Du behandelst mich so.“ Rui sah ihn missmutig an. Kai grinste hilflos, hob beschwichtigend die Hände. Es war immer dasselbe. So sehr Kai auch beteuerte, dass dem nicht so war, Rui verlor seinen Eindruck nicht, und umgekehrt schaffte Kai es aber auch nicht, sich zu verändern. Zum Glück ließ es sich in der Regel relativ gut besänftigen. (Mit lieben Worten und zarten Küssen.) „Entschuldige, ja? Ich meine nur – ich hab Wäschefalten auch erst kurz vorm Auszug gelernt!“ Es hatte sich vorher einfach nie ergeben. Klar hatte er im Haushalt geholfen! Aber eben mit anderen Dingen. Und irgendwie war ihm auch nie bewusst gewesen, was für eine Wissenschaft das eigentlich war. Er schaffte es immer noch nicht, sein Zeug so ordentlich zusammenzufassen, dass es genauso platzsparend aufzuräumen war wie die Wäschestapel, die seine Mutter ihm immer auf den Schreibtisch gelegt hatte.   Rui antwortete nicht mehr, aber sein Blick hatte sich verändert. Er sah hinab, hatte die Mundwinkel kaum merklich heruntergezogen. Unzufrieden. Unwillig. Kai lächelte mitleidig, streckte sich über den Tisch hinweg, bis er Rui sanft über den Kopf streicheln konnte. „Andererseits, wer weiß, ob das Zeug dann überhaupt schon trocken ist, huh?“ Er bekam nur ein Brummen als Antwort, eine Form von unzufriedener Zustimmung. Es war okay. Kai würde sich merken, dass Rui eben keine Wäsche falten konnte, und damit war das Thema doch erledigt! Es war doch nicht schlimm. In seinem Tempo. Irgendwann würde das kommen, wenn es kommen wollte. Und wenn nicht, dann würde es auch nicht stören.   Yamato kam wieder, laut und quengelnd. Er stieß Kai mit bedenklicher Kraft gegen das Schienbein, maunzte dann noch einmal quengelnd auf. Lief zu seinem Futternapf hinüber und maunzte noch einmal. Schau, der ist leer! Gib mir Futter! Kai lachte herzlich. „Rui, würdest du?“ Da war ein Topf auf dem Herd, nach dem er eigentlich sehen musste… Und da wollte er nicht erst noch versuchen, Yamato Futter in den Napf zu füllen, während der Kater hektisch um ihn herumscharwenzelte und er am Ende dann überall Katzenhaare an den Fingern kleben hatte. Nein. Bis er dann die Hände wieder gewaschen hatte, war sein Curry längst angebrannt! Und aus Erfahrung wusste er, das schmeckte scheußlich. (Gegessen hatte er es trotzdem. Kai hasste es, Essen wegzuwerfen.)   Nachdem Rui sich um den Kater kümmerte, der bald wieder fröhlich schmatzend über seinem Futter hing, konnte Kai sich in aller Seelenruhe um das Curry kümmern – das auch entsprechend nicht verbrannte und durchaus essbar aussah, als es schließlich auf dem Tisch stand, zusammen mit einer großen Schüssel Reis. „Davon kann man eine ganze Familie ernähren“, kommentierte Rui, während er sich eine winzige Portion Reis und Curry in sein Schälchen schöpfte. Kai lachte nur. „Du übertreibst!“ „Du isst zu viel.“ – „Und du zu wenig. Wir gleichen uns aus! Denk dir einfach, ich ess deine Portion eben auch noch mit.“ Rui sah überhaupt nicht überzeugt aus. Du hast schon so viel gegessen, bevor ich da war, sagte sein Blick. Er schüttelte den Kopf, griff nach seinem Löffel, während Kai weiterhin fröhlich vor sich hin grinste. Er aß nur so viel, wie sein Körper brauchte! Offensichtlich, immerhin wurde er nicht fett. Auf der anderen Seite aß Rui damit scheinbar auch genug, immerhin wurde er nicht besorgniserregend dünn. „Also. Guten Appetit!“ – „Guten Appetit.“   Gemeinsames Essen war immer eine relativ schweigsame Angelegenheit. Nicht nur jetzt mit Rui, sondern auch schon zu Kindheitszeiten war es immer halbwegs still am Essenstisch gewesen – maßgeblich wohl deshalb, weil jeder mit Essen beschäftigt gewesen war. Erst nachdem schon halbe Portionen vertilgt waren, begann man, sich auf netten Smalltalk zu konzentrieren. Inzwischen blieb es auch weitgehend still, wenn die Teller sich langsam leerten. Kai fand es angenehm friedlich. Entsprechend hatte er auch heute mit Stille gerechnet.   Womit er nicht gerechnet hatte war der undefinierbare, aber eindeutig nicht positive kleine Laut, den Rui ausstieß, ehe er sich in einer Mischung aus Erschrockenheit und Überraschung die Hand vor den Mund hob und zu husten begann. Mit einem Satz war Kai wieder auf den Beinen, stolperte stuhlpolternd um den Tisch herum zu ihm hin. „H-hey! Ist alles okay? Was ist passiert?!“ Er legte eine Hand auf Ruis Schulter. Die Reaktion darauf war prompt: Eine kleine Hand schlug nach ihm, als wolle Rui ihn wieder wegschubsen. Kai blinzelte irritiert. Nahm die Hand weg. Blieb stehen, nah genug, jederzeit wieder zupacken zu können, wenn es nötig wurde, sah besorgt zu seinem Freund hinunter. Nach einem Moment nahm der zumindest die Hand vom Mund, so geschickt vor Kais Blick verborgen, dass er vermutete, er hätte auch gar nicht näher hinsehen wollen. Er griff nach einem Taschentuch, wischte sich die Handfläche ab und dann Tränen aus den Augenwinkeln. „Rui?“ Könnten Blicke töten… Nein, ganz so schlimm war es nicht, aber Rui sah wirklich alles andere als zufrieden aus, als er wieder zu Kai aufsah. Ein sehr halbherziger Schlag traf seine Schulter, und er blinzelte hilflos. Also… nein. Er verstand das gerade nicht. Gar nicht. Immerhin irgendeine Form von Erklärung kam noch: „Zu heiß.“ Das Essen war zu heiß. Kai lachte erleichtert auf – schlechte Idee, sagte Ruis missgelaunter Blick – und atmete beruhigt aus. Das war gut. Nichts Schlimmes. Das passierte, dass man sich den Mund verbrannte. Hatte Kai auch oft genug. Im Winter, wenn der heiße Tee ein bisschen zu verlockend aussah. „Zieh kein Gesicht, ja? Nächstes Mal pass ich besser auf.“   Im Ernst, wenn man hungrig war, konnte Kai total verstehen, dass man dafür keine Zeit mehr hatte! Und er war froh, wenn Rui aß, also kümmerte er sich eben darum, dass er es ohne Sorge tun konnte.   Und er mochte sie, jede kleine Banalität, die er für Rui tun konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)