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Unter den Schwingen des Horusfalken

von

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Iunu


 

N

ach allem, was er gehört hatte, beschloss Meruka die Heimat Sennefers aufzusuchen, die er sich von der Schule hatte geben lassen. Dieser war gelobt worden, wenngleich mit einem anderen Unterton als Menmire.

„Du denkst zu viel“, meinte Ptahnacht, als sie auf dem Schiff nach Norden, ins Delta, in der Kajüte saßen, etwas spöttisch. „Was soll es? Sie waren beide gute Schüler, beide wurden gefördert, aber sie waren auch beide befreundet. Womöglich haben sie sich in was reinziehen lassen, das ihnen einfach nicht bekommen ist. Auch Iunu ist eine Stadt.“

„Sei kein Narr.“ Meruka war zu angespannt, um den Spott als wohlmeinende Ablenkung schätzen zu können. „Erstens: wieso genau die Beiden? Bedenke, zwischen dem Delta und Nechen liegen einige Tagesreisen, sie waren nicht einmal gemeinsam in Ibenu-hedj, vier Monate auseinander. Ja, sie waren befreundet, aber …? Zweitens: Chnummose meldete, dass sein Vermögensverwalter verschwand, direkt an den tjati, unter Umgehung des Amtsweges. Aber wieso meldete niemand direkt nach ganz oben, dass ein Schützling des tjati verstorben war?“

„Soll ich ehrlich sein? Weil es keiner wusste.“ Ptahnacht bemerkte, dass ihn sein doch recht hochgeborener Vorgesetzter ansah, dessen Unerfahrenheit zum Thema einfache Leute manchmal durchschlug. Zum Glück schätzte dieser durchaus eigene Meinungen bei seinen Untergebenen, sonst wäre es für ihn selbst schon oft übel ausgegangen. Einer der Gründe, warum sie als Gruppe so erfolgreich agierten, war, dass sich Meruka auch stets Andere anhörte. „Chnummose wird gemeldet, dass sein Vermögensverwalter verschwunden ist. Er ist einer der Großen Zehn und will natürlich möglichst sofort Bescheid wissen, deswegen der direkte Brief an den Obersten aller Beamten. Aber in Bezug auf Sennefer … bitte. Er war der Domänenverwalter einer neuen Anlage, wohlgemerkt, königlichen, Anlage. Also lebte er nicht mehr auf einem Landgut des tjati. Wer von den einfachen Schreibern dieser neuen Anlage, wenn sie diese Nachricht in die Hand bekommen, würde direkt zur Nummer Eins gehen? Er schickt das an das Büro des tjati, der Vorsteher der Eingaben dort beauftragt routinemäßig einen Ermittler mit richterlicher Gewalt, einen sab, der nachgeguckt, fertig.“

„Da hast du Recht.“ Meruka atmete durch. Natürlich. Kaum einer von den einfachen Schreibern würde von der Beziehung wissen. Und im Büro des Palastes war nur das Verschwinden eines jungen Domänenverwalters gemeldet worden. Ohne den Besuch in Iunu hätte er selbst nie erfahren, dass es sich um einen Schützling Sobeknachts handelte. Und dieser wiederum hatte zu viel zu tun um sich alle paar Monate mit einem seiner ehemaligen Leute zu schreiben, falls ihn das überhaupt interessierte. Womöglich hatte er auch geglaubt, mit der Möglichkeit zur Ernennung eines Leiters eines, wenngleich kleinen, Weinguts, das Seinige zur Förderung Sennefers beigetragen zu haben. „Nun gut. Eventuell erfahren wir etwas bei den früheren Vorgesetzten oder den Eltern. Diese dürften noch gar nicht wissen, dass ihr Sohn verstorben ist. Immerhin hat bislang niemand die Verbindung mit dem Gut hergestellt.“

„Was ist das für ein Gut, eigentlich? Gehört es Sobeknacht selbst oder ist das Amtsgut?“

„Wohl Sobeknacht selbst.“ Hohe Beamten bezogen ihre Lebensmittel und andere Güter aus den Ländereien, die entweder privat waren oder ihnen mit ihrem Amt verliehen wurden. Erstere konnten vererbt werden, letztere fielen an den Herrn der beiden Länder zurück, wenn das Amt aus welchem Grund auch immer nicht mehr ausgeführt wurde. Ein Königssohn, wie der tjati, oder auch sein eigener Stiefvater als Leiter des Schatzhauses verfügten über große Gebiete, deren Bauern und Handwerker, sowohl aus ihrer angeborenen als auch und vor allem ihrer amtlichen Position. „Nun gut. Danach kehren wir nach Ibenu Hedj zurück. Ich bin neugierig, was Rahotep und Merit herausgefunden haben.“

„Hm. Du weißt, dass ich dich für ein Genie halte, ich bin bestimmt keines, also, warum gehst du so sicher davon aus, dass beide tot sind?“

„Nun, im Kampf würde ich dich so einordnen.“ Meruka lächelte flüchtig. „Schön, gehen wir davon aus, dass beide noch leben. Aber, wieso sollten gleich zwei junge Männer mit der Aussicht auf Reichtum und einflussreiche Posten diese verlassen? Sie haben die sieben Jahre Ausbildung als Schreiber hinter sich gebracht, kleinere Aufgaben im Tempel des Re und der Schule erledigt – nur, um dann zu den Libyern zu gehen, die sie sicher kaum warm empfangen werden, oder gar zu den Sandleuten, um Schafe zu hüten? Das machen Leute, die anders keine Chance mehr sehen, sei es, weil sie Verbrechen begangen haben, sei es, weil sie Lepra haben, oder anders außerhalb der maat stehen. Oh, Verbrechen, glaubst du? Eher unwahrscheinlich. Keiner von Beiden war bislang auch nur in der Lage eine sinnvolle Unterschlagung zu begehen – so sinnvoll, dass er nicht nur sein jetziges sondern auch sein ewiges Leben ruinieren wollte. Bedenke, du selbst warst außerhalb von kemet: keine ordnungsgemäße Bestattung, keine Beigaben, keine Opfer für dich – du bist wirklich und wahrlich in alle Ewigkeit tot. Menmire hatte die besten Aussichten Hausvorsteher bei Chnummose zu werden, der Vermögensverwalter, Sennefer, sich von einer kleinen Domäne zu größeren Gütern des Königs hochzuarbeiten, ja, einer der höchsten Beamten zu werden, jeweils mit einem Grab für sie, das ihrem Stand zum Zeitpunkt des Todes entspricht. Das würden sie doch kaum einfach so wegwerfen. Die zweite Möglichkeit, die ich sehe, wenn sie noch leben würden, wäre, dass sie gefangen gehalten werden. Aber, wozu? Es ging keine Lösegeldforderung ein, keine sonstige Erpressung. Sennefer zumindest ist seit einem halben Jahr verschwunden. Wer sollte ihn so lange durchfüttern können oder auch nur wollen, ohne etwas davon zu haben? Es gibt, bedauerlicherweise, eine recht einfache Methode unnütze Ausgaben zu vermeiden. Der Fluss ist breit und tief und in seinem Papyrusdschungel an den Ufern kann manches verschwinden.“

„Was natürlich auch bedeutet, dass wir nie einen Nachweis erlangen werden, dass sie wirklich tot sind. Oder auch ihre Eltern und Familien.“

 

Rahotep hatte sich nach einer vergeblichen Umfrage ob jemand in der Stadt vermisst wurde, schnurstracks an den „Ältesten des Lebenshauses“, wie einer der vielen Titel des Obersten der Ärzte lautete, gewandt, und um eine medizinische Belehrung gebeten. „Ich hörte von einigen Fällen, die mir persönlich noch nie untergekommen sind, aber dir vermutlich mit deiner Erfahrung. Was sagt ein Arzt, wenn jemand unglücklich stürzt, die Verletzungen jedoch nicht schwerwiegend sind. Wenn derjenige jedoch aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, hat er keine Ahnung, wer oder wo er ist.“

„Ah, ich verstehe. Nun, dann behandelt man als Arzt nur die äußere Verletzung. Bereits wenige Stunden, höchstens Tage, später wird die Erinnerung zurückkehren. Suche doch im Archiv, da gibt es auch etwas zu diesem Thema.“

„Dass sich jemand also nie wieder erinnert, ist unwahrscheinlich?“

„Ich hörte noch nie davon. Und soweit ich weiß, auch keiner der Ärzte, die vor uns lebten. Überdies sucht eine Familie doch nach einem Vermissten, und, wenn sie ihn hier oder bei einem anderen, freien Arzt, findet, wird er sie wiedererkennen.“

„Ja, danke für die Lehrstunde.“ Rahotep neigte höflich den Kopf, machte sich jedoch auf den Weg in das Archiv. Also war damit die Wahrscheinlichkeit gleich Null, dass Sennefer und rein zufällig auch Menmire nur ihr Gedächnis verloren hatten. Nicht, dass das nicht eigentlich bereits klar gewesen wäre, aber er wusste, Meruka wollte sichergehen. Immerhin, das wäre die gute Nachricht für seinen eigentlichen Vorgesetzten, wurde zur Zeit niemand sonst vermisst. Auch der Leiter des Büros, in dem die Petitionen einging, hatte nichts weiter gewusst.

 

Merit war ein wenig aufgeregt gewesen. Wie sollte sie harmlos nach Türkisen fragen? So hatte sie, da sie annahm es dauere mindestens zwei Wochen, ehe Meruka und Ptahnacht zurückkehrten, ihre Tätigkeit als dritte Schreiberin der maat-hor wieder aufgenommen. Dem scharfen Auge der Königsgemahlin war allerdings ihre Aufregung nicht entgangen und so nutzte diese eine Gelegenheit, als sie zu zweit in deren Schlafzimmer waren, in dem Gespräche, getrennt durch eine hölzerne Tür,nicht gerade einfach abzuhören waren

„Du stehst im Auftrag des Horus,“ meinte sie, wohlweislich leise. „Und wenn es etwas gibt, womit ich dich unterstützen kann, sage es.“

„Ich danke dir.“ Ja, nicht ohne Grund konnte diese Frau den Gott sehen. „Ja, ich habe einen Auftrag weiß jedoch nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Ich soll mit einem Juwelier über Türkisschmuck reden, wer ihn trägt, erhält ...“

„Wird welcher vermisst? Oh, entschuldige, Merit. Ich weiß, dass du schweigen musst. Nun, nichts einfacher als das. Ich lasse mir von den Juwelieren welchen vorlegen. - Ich bin sicher, der mächtige Horus wird mir den Wunsch nach einem neuen Schmuckstück verzeihen.“

Merit senkte den Kopf. Das war sehr nett – und tatsächlich eine der harmlosesten Methoden einen Goldschmied zu sehen. Wenn die maat-hor Schmuck wünschte, brachten die Juwelieren eine große Auswahl. Aber auch die anderen Damen im ipet guckten, und so manche bekam anschließend auch von ihrem Ehemann einen solchen – wenn sie sich ihn nicht selbst organisieren konnte. Die Königstöchter und – -schwestern verfügten über eigene Domänen und Totenstiftungen, aber auch manch andere Frau hier.

 

So saß die Königsgemahlin nur zwei Stunden später auf dem erhöht stehenden Sessel in der Haupthalle. Hier war ihr Platz, um die Frauen zu beaufsichtigen, aber auch der Platz des Horus, wenn er Abends Entspannung mit Musik und Tanz wünschte. Die meisten hochrangigen Frauen hatten sich neugierig in Reihen vor ihr niedergelassen. Achti-hotep, der „Vorsteher des ipet“, wie der Titel des Verbindungsbeamten zwischen ipet und eigentlichem Palast lautete, betrat mit seinem Amtsstab die Halle, wie stets jetzt begleitet von seinem halbwüchsigen, gleichnamigen Sohn, der eins Tages sein Amt übernehmen sollte. Hinter ihm folgten der „Anleger des Breitkragens“, der Hofjuwelier, gefolgt von diversen Mitarbeitern, die verheißungsvolle Schatullen mit sich trugen. So manche davon waren zwergwüchsige Menschen. Goldschmied und Juwelier, zumal bei Hofe zu sein, war eine Karriere, die ihnen offen stand, wie auch eine Schneiderlehre. Dicht bei der maat-hor saß auch Merit, neben einer Frau namens Ka-Merit. Diese besaß den seltenen Titel eines „Königsschmucks“, den einige Frauen trugen, deren Männer hochrangige Beamte waren oder die Amme eines Königs gewesen waren. Ka-Merit allerdings verdankte ihn der Tatsache, dass sie vor acht Jahren dem Herrn der beiden Länder einen weiteren Sohn geboren hatte, nachdem so viele seiner Kinder der Seuche zu Opfer gefallen waren. Auch, wenn der überlebende Sohn der maat-hor als potentieller neuer König, als Falke im Nest, gehandelt wurde, so war bei Weitem nichts sicher und Ka-Merit womöglich die nächste Königinmutter. Entsprechend höflich behandelte sie selbst die maat-hor.

Der Hofjuwelier ließ sich auf die Knie nieder, gefolgt von seinen Männern und Frauen, ehe er ein großes, flaches Kissen unter seinem Arm hervorzog und ausbreitete.

„Du hast einiges mitgebracht, wie ich sehe,“ äußerte die maat-hor huldvoll.

Natürlich, dachte der Juwelier. Was immer sie sich aussuchte, ähnliches trugen bald auch die anderen Damen der Königsfamilie und daran nachfolgend die der hohen Beamten. Aber dazu schwieg er besser. „Ich habe einige Auswahl mitgebracht, die selbstverständlich jederzeit auch mit anderen Steinen nachgebaut werden kann.“ Er nahm einige Schmuckstücke und präsentierte sie auf dem Kissen. Natürlich wurde je nach Auftrag gearbeitet, aber er hatte schon lange gelernt, dass sich die Damen – und Herren – eher entschieden, wenn sie Muster nur noch umdeuten mussten.

 

Die Damen des ipet reckten neugierig die Köpfe und es herrschte eifriges Getuschel, als die maat-hor meinte: „Merit, wolltst du nicht etwas zu Türkis wissen?“

Die so unerwartet Angesprochene wurde rot. Es war sehr nett von der Königsgemahlin ihr helfen zu wollen, aber was sollte sie jetzt sagen? Sie suchte Zuflucht in der Halbwahrheit. „Oh, ich habe mich neulich nur gewundert. Ich dachte immer, Türkise seien dem mächtigen Horus vorbehalten. Und doch sah ich eine Frau des einfachen Volkes mit einem Schmuck aus Türkis. Aber das war bestimmt Fayence.“

„Bestimmt.“ Dem höfisch erfahrenen Juwelier war nicht entgangen, dass es dem so jungen Mädchen peinlich war so in aller Öffentlichkeit angesprochen zu werden. „Nur der mächtige Horus trägt den Stein der Hathor. Und natürlich die, denen er ihn schenkte.“

„Ja, das weiß ich. Überdies waren die Steine auch flach. Es war sicher Fayence.“

„Dann ganz sicher.“ Der Hofjuwelier wusste, dass dieses Mädchen hohe Positionen im ipet einnahm - und nicht so jung war, wie sie wirkte. Jedenfalls war sie niemand, dem man eine neugierige Frage nicht beantworten sollte. Sie war mit den Königskindern erzogen worden und hatte sicher gute Kontakte, gerade auch zu dem künftigen König. So ergänzte er hilfsbereit: „Ich verarbeite Türkis stets im Ganzen – nun ja, kleine Kugeln und anderes auch für andere. Aber große Türkise sind stets Königsschmuck. Ich entsinne mich nur an einen einzigen Türkis, den ich zerschnitt.“ Er lächelte flüchtig. „Das war eine schwere Arbeit, da ich fürchtete, er würde zerbrechen, aber so war der Befehl des Horus. Es ging natürlich auch alles gut, der gute Gott weiß, was er tut. Das war aber spezieller Schmuck.“

„Ein Ehrengeschenk“, deutete Merit eilig an, um zu zeigen, dass sie mitdachte.

„Ja, natürlich. - Nun, wie wäre es mit diesem Armreifen?“ Der „Anleger des Breitkragens“ wandte sich wieder an die Königsgemahlin. „Man könnte auch Karneol oder Lapislazuli einbauen. Schildplatt oder Muscheln, wenn es alltäglicher Schmuck sein sollte.“

Ein Ehrengeschenk dieser Güte, dachte Merit, würde bestimmt nur ein sehr hoher Beamter, damit fast sicher ein Mitglied der königlichen Familie erhalten. Und dadurch wurde der Kreis der Personen, von denen Baketbes das Schmuckstück bekommen haben könnte, immer kleiner.

 

Das Boot mit vierundzwanzig Ruderern und einem Steuermann erreichte das Dorf am westlichsten Arm des Nildeltas am frühen Nachmittag. Meruka, gefolgt von Ptahnacht, ließ sich unverzüglich zu dem Ortsvorsteher bringen.

Ni-anch-Neith, ein Mann Mitte Dreißig, der seine Position der Tatsache verdankte, dass er als Sohn eines Schreibers einiges von seinem Vater gelernt hatte, war alarmiert. Ein sab-Beamter, noch dazu in Begleitung eines Bewaffneten, im Haus konnte nur Ärger bedeuten. Aber er bemühte sich um Ruhe. Es war ja nicht gesagt, dass es gegen ihn gehen würde. Womöglich reiste der unangenehme Besuch auch weiter und wollte hier nur übernachten. So empfing er „Ptahmose“, wie der Name auf den Papieren lautete, die Meruka vom Büro des tjati ausgestellt bekommen hatte, mit einem Lächeln und einem Krug frischem Bier. „Willkommen in meinem bescheidenen Ort, edler Schreiber. Oder, wie sagt man?“

„Sage nur Ptahmose.“

Ni-anch-Neith atmete etwas auf. Das klang nicht so, als ob er überprüft werden sollte. „Nun, lass es dir schmecken. Es ist doch eine heiße Fahrt, trotz des Windes.“

Meruka groß sich ein. „Danke. - Ich komme soeben aus Iunu und hörte dort, dass ein junger Mann namens Sennefer, der dort lernte, aus diesem Dorf stammt.“

Der Ortsvorsteher musste kaum nachdenken. Es lebten nur zwanzig Familien hier und so viele Bauernkinder wurden nicht Schreiber. „Äh, ja. Er ist der Sohn einer Hirtenfamilie. Er hatte Glück und fiel schon mit fünf meinem Vorgänger, meinem Vater, auf, der Sobeknacht, den Königssohn, um Fürsprache bat. Damals war der Herr noch nicht tjati,“ erklärte er eilig. „Mein Vater schickte ihn dann auf Befehl nach Iunu. Was ist mit ihm?“

„Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Man sollte seine Eltern informieren.“

„Wo wurde er denn begraben?“

„Er verschwand. Vor einem halben Jahr. Es gibt kein Grab.“

„Oh, wie schrecklich! Wie soll er denn dann im Westen leben!“ Ni-anch -Neith schüttelte sich. Was für ein grässliches Schicksal in alle Ewigkeit gestorben zu sein. Dann meinte er: „Ich kann seinen Vater herkommen lassen, wenn du es wünscht. Er ist Hirte und die Herden sind momentan außerhalb des Überschwemmungsgebietes. Ah, warte.“ Er dachte nach. „Das wird sie hart treffen, soweit ich mich entsinne war er ihr einziger Sohn und sie hofften natürlich auf seine Karriere und damit auch die ihre. Jetzt ist nur noch eine Schwester übrig, die die Totenversorgung für die Eltern übernehmen kann.“

„Sie ist im Dorf?“

„Ja. Paadineith. Sie ist die Ehefrau des Töpfers. Dieses Dorf gehört ja Sobeknacht persönlich, und so hat er uns auch Handwerker geschickt.“

„Dann genügt es wohl, wenn ich sie in Kenntnis über das Schicksal ihres Bruders setze.“

„Du hast den langen Weg von Ibenu-hedj auf dich genommen ….Nun ja, ich verstehe. Keine Totenopfer für Sennefer und kein sozialer Aufstieg für seine Eltern.“

„Nicht nur deswegen.“ Meruka war ein wenig verwundert. Ni-anch-neith musste Sennefer bei einem Dorf dieser Größe doch gekannt haben, auch, wenn der jünger war. Andererseits war der mit fünf bereits weggebracht worden – und der Sohn des Ortsvorstehers war mit dem eines Hirten kaum gut Freund. Hirten waren unten auf der sozialen Leiter und für Paadibast war sicher schon die Ehe mit einem Handwerker ein gesellschaftlicher Aufstieg gewesen. Umso mehr mussten sich Sennefers Eltern über seinen Weg zum Schreiber gefreut haben. Was also war mit ihm passiert? Allerdings erklärte das auch seinen Lerneifer, seinen Ehrgeiz, der ja an der Schule auch aufgefallen war. „Lass sie rufen, ja. - Und, während wir warten – du hast Sennefer nicht direkt gekannt?“

 

Während der Ortsvorsteher einen seiner Söhne losschickte, dachte er nach, wie man das formulieren sollte. So sagte er, als er sich wieder neben seinen unwillkommenen Gast setzte: „Nun ja, ich kannte ihn, aber er war deutlich jünger als ich, zehn Jahre sind als Kind eine Menge. Aus Iunu kam er nur einmal im Jahr her und besuchte seine Eltern, da habe ich ihn so gut wie nicht gesehen. Wenn du wissen willst, warum er verschwand – das kann dir seine Schwester oder die Eltern bestimmt eher sagen. Ich sah ihn das letzte Mal, als der Herr, der tjati, hier war. Da war er bei ihm, er besuchte seine Eltern und mir wurde gesagt, dass er zu einem Beamten ernannt werden sollte. Das war im ersten Monat der Peret, gerade ehe wir aussäten. Der Herr machte sich natürlich ein Bild von unserer Arbeit, auf allen seinen Landgütern tut er dies. Sennefer wurde ernannt?“

„Ja, er wurde Vorsteher eines neuen Weingutes des Herrn der beiden Länder.“ Hm. Meruka dachte nach. Erster Monat der Aussaat, dann wurde Sennefer ernannt. Es konnte noch gar keine Ernte geben, also, was zahlte er an Steuern oder war das nur eine bürokratische Angelegenheit gewesen, um die Bücher des Schatzhauses soweit zu bereinigen, dass eben die neu angepflanzten Reben noch keine Trauben trugen? „Machte er da einen zufriedenen Eindruck auf dich? Oder wollte er lieber hier sein?“

„Nein, er wirkte sehr zufrieden. Mit sich und ganz kemet. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er verschwand. Vorsteher eines königlichen Gutes zu sein, gleich am Beginn der Karriere ...“ Ni-anch-Neith verriet mit diesem Satz, dass er doch etwas frustriert war, nie über einen Ortsvorsteher hinaus gelangen zu können. Er hatte Lesen und Schreiben eben bei seinem Vater gelernt und nicht in der Schule – das genügte für einen Posten in einem Dorf, aber nicht für die vielseitigen Aufgaben, die der wachsende Staat benötigte. Aber sein Vater hatte seinen einzigen Sohn bei sich behalten wollen, da er langsam erblindet war, ein Schicksal, das nur zu verbreitet war, und gegen das die medizinischen Augenschminken nur bedingt halfen.
 



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