Discours tragique sur le bonheur von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 3: ----------- „Mama, ich bin fühl mich echt nicht gut. Kann ich nicht doch daheim bleiben?“ „Nein.“ „Aber schau doch mal, ich bin ganz blass, und hier, die grünlichen Flecken, und da, guck mal, Belag auf der Zunge, siehst du hier: Bääääääääh-“ „Kamui, hör auf dich aufzuführen wie ein Kindergartenkind!“ „Aber Mama-“ „Nichts da aber Mama! Schau mal, wir sind doch schon da.“ Wir fuhren am Pausenhof rechts ran. Ich seufzte. „Ok Mutter, Karten auf den Tisch. Du suchst jemanden, der jeden Tag des nächsten Jahres abspült und ich will wirklich nicht auf diese Klassenfahrt. Ich hätte da ein interessantes Angebot.“ Meine Mutter lächelte und ich wusste, dass ich verloren hatte. Sie drückte mir die Schulter. „Kamui, ich weiß, das alles hier ist schwer für dich. Aber versuch, einfach ein bisschen Spaß zu haben. Vielleicht lernst du neue Leute kennen und das werden gute Freundschaften. Ich hab dich lieb. Ruf an, wenn ihr angekommen seid.“ Ich sah sie leidend an, seufzte und stieg aus dem Wagen. Gut ein dreiviertel meiner Jahrgangsstufe war scheinbar schon da. Sie standen herum, lachten, gaben den Busfahrern ihre Sachen und schlägerten sich darum, wer wo sitzen durfte. Falls ihr die Highschool verpennt habt: die coolen Kids sitzen hinten. Ich drückte meiner Mutter noch einen halbherzigen Kuss auf die Wange und schleppte meine Reisetasche Richtung Bus. „Hallooooo Gaaaackt!“, rief eine mir altbekannte Stimme, als ich gerade meine Tasche dem Busfahrer reichte. „Oh Neiiiin…“, murmelte ich halblaut. Der Busfahrer grinste wissend. „So sind sie, die Mädels.“ „Gackt, huhuuuu!“ Na gut, ich konnte dem wohl nicht mehr entgehen. Ich fabrizierte ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass es nicht zu gequält wirkte und drehte mich um. „Na, schönes Wochenende gehabt?“ fragte Aiko. „Ging so, und deins?“ „Bestens. Hast du Lust bei uns zu sitzen? Wir sitzen fast ganz hinten.“ Sie deutete auf den zweiten Bus. Hinten. Bedeutete, sie musste nah an der Quelle der Coolness sein. Aber das war es mir dann auch wieder nicht wert. „Ähm, ich, also, ich würde ja wirklich sehr gerne, aber ich bin noch ziemlich müde und das würd ich gern noch nachholen, also wenn du nichts dagegen hast, bleib ich lieber da. Ich vermiese sonst noch die Stimmung… Weißt ja, musste das Wohnzimmer streichen und einräumen und so.“ Meine eigene Lüge vom Vortag war mir wieder eingefallen. „Oh. Ok.“ Aiko zog einen Flunsch und dann enttäuscht von dannen. Ich war frei. Ich stieg in den von mir auserkorenen Bus und sah mich nach einem freien Platz um. Im vorderen Drittel wurde ich fündig. Ich lies mich auf den Sitz fallen und beobachtete, wie sich auch der Rest zum Einsteigen bequemte. Die Lehrer zählten durch und dann ruckelten wir los. Also denn, auf ins Unbekannte! So unbekannt war das Unbekannte dann aber anfangs doch nicht, denn wir fuhren erst mal eine Stadtbesichtigung machen, bis unser Busfahrer die Karte richtig herum auffaltete und uns zur Autobahn manövrierte. ‘Ein Hoch auf unseren Busfahrer, Busfahrer, Busfahrer‘ sang ich im Kopf vor mich hin. Einmal auf der Autobahn gab es nichts mehr, was den Blick aus dem Fenster noch gelohnt hätte, von einer Fabrik hier und ein paar Schafe dort mal abgesehen, also wandte ich mein Augenmerk ins Innere des Busses. Ich lehnte mich in den Gang und sah mich nach meinen Mitmenschen um. Weiter vorne konnte ich den Hinterkopf meiner Biolehrerin und den Bürstenhaarschnitt von Tori sehen. Hinter mir entdeckte ich ein paar sportbegeisterte Jungs aus meiner Klasse, die Beauty Queen der Jahrgangsstufe und die Clique von Koji, die auf der anderen Seite des Gangs nicht weit von mir saß. Heinz, oder Yuuki, wenn ich mich nicht täuschte, hatte die Knie gegen den Sitz vor sich gestemmt und las, das Mädchen sah nach draußen, Kami hatte die Augen geschlossen und hörte Musik und Koji hatte sich auf einer eigenen Sitzreihe eingekringelt und schien zu schlafen. Überhaupt, dämmerte es mir, schlief Koji sehr oft. In der wenigen Zeit, die ich ihn kannte, war er bereits zweimal im Unterricht eingepennt. Da bekam jemand sein Leben ja sowas von nicht auf die Reihe, dachte ich innerlich den Kopf schüttelnd und begab mich wieder in eine aufrechte Sitzposition. Nach ungefähr einer Stunde wurde es im Bus allgemein ruhiger. Das leise Motorengeräusch und das fahle Dämmerlicht des grauen Himmels draußen zeigten ihre einschläfernde Wirkung und binnen kürzester Zeit war ein Großteil meiner Mitschüler eingenickt. Ich fühlte mich selbst ein bisschen dösig, kämpfte aber wacker gegen den Schlaf an. Schlafen am Tage führte grundsätzlich zu Zerknautschtheit (war das ein Wort? Egal.), sowohl äußerlich als auch geistig. Die gepflegten Felder draußen wurden von zerklüfteten, waldbewachsenen Bergen abgelöst. Wir machten Rast an einem Parkplatz, genau als die Sonne durch die Wolken zu spitzen begann. Yuuki stupste Mana an, die an seiner Schulter eingeschlafen war, Kami trat Koji, der sich murrend aufrichtete und ein bisschen tranig in die Gegend starrte. Diese Szenen wiederholten sich mit unterschiedlichen Protagonisten im ganzen Bus. „Boah, hab ich einen Hunger!“ „Ey, ich erst!“ „Ich muss aus Klo, kommt einer mit?“ „Holst du was zu trinken? Ja, Cola wär toll!“ Ich sah kurz ein Feuerzeug den Besitzer wechseln und Koji verschwand vom Erdboden. Da ich weder Hunger noch Durst hatte, nutzte ich einfach die Zeit, um ein bisschen den Parkplatz auf und ab zu gehen und meine Beine daran zu erinnern, dass sie noch nicht abgestorben waren. Es wurde langsam wärmer und mit dem Sonnenlicht besserte sich auch meine allgemeine Laune. Was konnte schon schief gehen, wenn die Sonne schien? Eine ganze Menge, das stimmte. Ich war keiner von den positiv eingestellten Hippies, die ihre innere Batterie mit Blümchenenergie aufladen konnten. Aber ja: Mit einer Dosis Vitamin D fühlte auch ich mich schon etwas besser. Eine Dreiviertelstunde später passierten wir ein kleines Dorf und fuhren dann eine schmale Straße bergan. Schließlich hielt der Bus vor einer mittelgroßen Herberge. Der zweite Bus hatte sich in der Pampa verfahren und würde wohl noch eine ganze Weile brauchen und ich beglückwünschte mich zu meiner Wahl des fahrbaren Untersatzes. Diese halbe Stunde meines Lebens konnte ich nun hoffentlich besser als neben Aiko und ihren Freundinnen verbringen. Drinnen begrüßte uns eine rundliche Frau mit roten Wangen und Pockennarben, die mich an eine meiner Tanten erinnerte. Sowohl im Positiven als auch im Negativen. Tori klapperte nacheinander alle Grüppchen ab und verkündete Zimmernummern. Ich schob mich so lange nach hinten, bis ich als Einziger übrig war. „Nun denn, Gakuto, Sie haben sich nirgendwo eingeschrieben wie ich sehe.“ „Ich ähm… ich weiß nicht“, stammelte ich. „Irgendwie –“ Mein Stolz sträubte sich dagegen ‘hat mich niemand gefragt’ zu sagen, also schloss ich etwas lahm mit „keine Ahnung.“ Er sah mich kurz abschätzend über seine Liste hinweg an. „Mmh…„Dann nehm ich ihnen die Arbeit ab. Sie gehen rauf in die 13.“ Ich schleppte meinen Koffer die Treppe rauf. Rechter Fuß, Tasche raufwuchten, linker Fuß. Meine Arme dehnten sich um zehn Zentimeter, dessen war ich mir sicher. Tasche meets Fuß. Aua. Wand meets Ellenbogen. Aua aua. Tür meets Stirn. Argh! Idioten! Endlich dort angekommen, wo ich hinwollte, stellte ich meine Tasche ab, wischte mir die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn und atmete erst mal tief durch. Vielleicht sollte ich mir auch mal welche von diesen Muskeln zulegen, die zurzeit so in Mode waren. Nochmal atmen. So! Wer sich wohl hinter dieser Tür verbarg? Vielleicht welche aus der Nahbarklasse, mit denen ich noch nichts zu tun gehabt hatte. Das konnte ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Zumindest würde ich Aiko nicht treffen. Erstens war sie noch nicht hier, zweitens gab es keine gemischten Zimmer. Also gut Gackt, klopfen und lächeln. Ich klopfte also und lächelte. Niemand öffnete. Ich klopfte nochmal und lächelte weiter. Nichts. Gut, dann würde ich die Tür eben einfach aufmachen. Vielleicht war noch niemand da. Ich öffnete die Tür enthusiastisch und das Lächeln fiel mir vom Gesicht und zerbrach auf dem Boden in viele kleine Stücke. Da wankte gerade eine Gestalt mit einem Bettbezug über dem Kopf durchs Zimmer, seine Decke hinter sich herschleifend wie eine gruselige Version von Linus aus den Peanuts. „Jetzt Kami, hilf mir, verdammt noch mal!“ Schallendes Gelächter. „Mana! Yuuki!“ Das Gelächter wurde lauter. „Die sind nicht mehr da, du hast nur mich!“ „Kameradenschweine! Ihr seid doch alle bescheuert! Und du am meisten!“ Kami sprang von seinem Stockbett und half Koji, sich aus dem Bettbezug zu befreien. „Oh Gott, danke!“, hustete Koji und schnappte nach Luft. „Du kannst auch einfach Kami zu mir sagen.“ „Ahahahaha. Wie witzig. Weißt du eigentlich, da-“ Koji wandte sich zu seiner Decke um und erstarrte in der Bewegung, als er mich in der Tür stehen sah. Kami drehte sich ebenfalls um. „Was los?“ „DAS IS JA WOHL ‘N WITZ!!“ Ich stand neben Kami im Speisesaal und sah Koji dabei zu, wie er seinem Ärger Luft machte. „Hagino, hören Sie sofort auf, mich anzubrüllen. Ich bin untröstlich, Ihre kleine Privatparty zu stören, aber da Sie das einzige Zimmer mit freien Betten sind … “, Toris Blick sagte deutlich ‘warum nur?‘ und ich konnte Kojis knirschenden Zähnen entnehmen, dass er den Seitenhieb verstand, „gehört Gakuto zu ihnen. Sie werden sich schon nicht die Köpfe einschlagen.“ Ich schnitt Tori eine unfreiwillige Grimasse, die aussehen musste, als hätte ich Bauchschmerzen. Bitte? Hatte der Kerl denn nicht kapiert, dass Koji versucht hatte, mir das Genick zu brechen? Ich kam mir irgendwie benutzt vor. Koji klappte den Mund auf, vermutlich um nochmal kräftig nachzulegen, doch Kami trat ihm unauffällig von hinten in die Kniekehle. Kochend drehte er sich auf den Fersen um und stampfte von dannen, nicht ohne mich dabei anzurempeln. So ein Arschgesicht! Das würden die schrecklichsten drei Tage meines Lebens werden. Mein Gesicht musste meine Gedanken deutlich zeigen, denn ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. „Los, komm. Der beruhigt sich schon wieder.“ Ich folgte Kami schweigend. Ich bezweifelte, dass Koji sich beruhigen würde; eher würde er ein Breitschwert bei ebay ersteigern und meine Hinrichtung nachholen. Wieder im Zimmer wuchtete ich meine Tasche auf das Stockbett neben dem Schrank, dessen Fuß- an Kamis Kopfende lag. Da ich zögerte, Dinge auszupacken, die mir womöglich weggenommen und versteckt werden konnten - oder mit einem Breitschwert gespalten - packte ich einfach mein ganzes Zeug auf den Schrank und machte mich daran, mein Bett zu beziehen. Ich war gerade beim Kopfkissen, als die Tür wieder aufging und mir das laute Plärren vom Gang sagte, dass der zweite Bus angekommen war. „-wird es nicht besser“, hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Der Typ mit Brille, Yuuki, kam, seinen Koffer hinter sich herschleifend, ins Zimmer und warf ihn achtlos auf sein Bett. „Wo ist Közi?“ Kami, der sich mit einer Zeitschrift auf seinem Bett ausgestreckt hatte, murmelte: „Was weiß denn ich.“ Die Stirn in Falten drehte Yuuki sich um – vermutlich um Kami zu fragen, warum die Laune im Keller mit ‘frag nicht weiter‘ Samba tanzte - und sah mich. Sein Blick ging von mir zu Kami, wieder zu mir und wieder zu Kami. „Was ist denn das?“ „Ich bin Gakuto Kamui, erfreut…“ Es wunderte mich selber, dass meine Zunge nicht erstarrt war wie sonst in solchen Situationen. Aber man konnte einfach keine Angst vor Brillenträgern haben. „Da hast du’s, es ist ein Gackt“, murmelte Kami unterstreichend und blätterte die Seite um. In diesem Moment betrat Miss Ich-rede-nicht-mit-schäbigen-Knechten die Bildfläche. Ich hatte es irgendwie schon kommen sehen. Jetzt war mir zumindest klar, was mir an ‘ihr’ so merkwürdig vorgekommen war. Sie, er, es kam auf jeden Fall rein, warf mir einen geschockten Blick zu, erinnerte sich aber fast sofort daran, dass geschockt zu sein nicht schick war und wechselte übergangslos in den bin-nur-gelinde-überrascht-Modus. Yuuki hingegen schaute mich immer noch an. Anscheinend hatte er noch Fragen. Vielleicht war das also nicht die beste Gelegenheit um ihn zu fragen, ob er mir Nachhilfe gab. „Ahja, ein Gackt. Und was macht Gackt hier?“ „Er atmet, er schläft, er läuft rum, was man halt so tut in einem Zimmer.“ „Ich hab nicht dich gefragt.“ „Dann red nicht in der dritten Person von ihm.“ „Ok ok, was machst DU hier?“ „Tori hat mich zu euch gesteckt, weil ihr freie Betten hattet…“ Ich schluckte die Entschuldigung, die mir auf der Zunge lag, runter. War ja schließlich nicht meine Schuld! „Ahja.“ Damit schien das Gespräch für Yuuki abgeschlossen, denn er machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Mana war damit offenbar schon fertig. Anscheinend dachte er(?) ähnliche wie ich – warum auch immer, immerhin war er im Gegensatz zu mir hier unter Freunden – denn er schob seinen Koffer einfach wie er war unters Bett. Ich stellte meinen Wecker auf die Ablage am Kopfende, wühlte einen Manga unter meinen Socken hervor und begann, ein bisschen zu lesen. Eine knappe halbe Stunde später brüllte irgendjemand „ESSEN!“ den Gang hoch. Wir fanden Koji an dem uns zugewiesenen Tisch im Speisesaal. Man konnte die Gewitterwolken hinter ihm praktisch anfassen, so allgegenwärtig waren sie. Nachdem uns eine mürrische Mensafrau typischen Mensafraß auf halbsaubere Teller geklatscht hatte, setzte ich mich neben Kami ganz an den Rand des Tisches und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Aiko, die zwei Tische weiter saß, machte eine meine Tischnachbarn zusammenfassende Geste, schnitt mir eine Grimasse und vollführte eine Bewegung, als würde sie sich selbst erhängen. Ihre Zunge hing theatralisch aus dem Mund. Das munterte mich ein bisschen auf. Sie und ihre Freundinnen waren höllisch nervig und ein bisschen hohl, aber sogar ein Tisch giggelnder Mädchen wäre mir lieber gewesen als das hier. Ich schenkte ihr ein halbes Lächeln und hob die andere Hälfte für schlechte Zeiten auf. Die würden sicher bald kommen. Lustlos stocherte ich in meinem Essen herum, bis Yuuki die Frage aussprach, die sich wohl jeder hier stellte. „Kann mir mal einer sagen, was das sein soll?“ Koji griff die Vorlage auf. Er schob sich eine große Ladung voll Pampf in den Mund und schmatzte ein paar Mal wie ein Sommelier auf Weinverkostung. „Ja Yuuki, das ist… mmh, delikate Mehlpampe mit Gammelhackfleisch und… aaaahja, hier, Tomatensoße aus der Büchse, abgeschmeckt mit geriebenem Fußkäse.“ „Danke Közi“, murmelte Yuuki und beäugte sein Essen noch misstrauischer. Mana schob seinen Teller von sich weg. Ich probierte todesmutig. Es schmeckte nach gar nichts, aber es war essbar. Der Hunger treibt’s rein, dachte ich. Koji sah mir interessiert zu. „Ist was?“ „Nein, ich warte nur, ob du eingehst. Salmonellen, BSE, Tuberkulose …“ Er klang, als wären das seine größten Wünsche auf dieser Welt, gleich nach einem Pony. Ich nahm trotzig einen weiteren Bissen. Als so gut wie alle fertig waren, stand meine Biolehrerin auf und verschaffte sich Gehör, indem sie an ihr Glas klopfte. „Also meine Lieben, ich werde euch jetzt die Hausordnung vorlesen und ich erwarte das JEDER und JEDE, und damit MEINE ich auch JEDER und JEDE, sich daran hält!“ Es folgte eine Liste von wegen nach elf Uhr ist Ruhe, keine Übernachtungen in anderen Zimmern, kein Vandalismus und bloß nicht die Betten mit einem brennenden Iltis anzünden, denn Iltisse standen unter Naturschutz. (Wie sie auf diesen Punkt kam ist mir bis heute unklar.) „In einer halben Stunde, also um halb drei, treffen wir uns unten vor dem Haus! Jacken und Wasser nicht vergessen und ich will keine Ausreden hören!“ Es erhob sich allgemeines Gemurre, als alle aus dem Speisesaal zurück zu ihren Zimmern strömten. Da ich nicht wusste, was ich dort groß sollte, beschloss ich nach draußen zu gehen und mir die nähere Umgebung anzusehen. Hinter dem Haus begann gleich der Wald. Ein steiniger Pfad führte hinein und verlor sich zwischen den Bäumen und Büschen. Ein Stück den Hang hinunter lag ein kleiner See und ein Sportplatz und, gleich daneben, eine überdachte Feuerstelle umgeben von einigen rustikalen Holzbänken. Ich ging zum See hinunter, weil es wichtig ist, sich seinen Ängsten zu stellen und stand einige Minuten am Schilf, bis ich es nicht mehr aushielt. Dann ging ich mein Zeug holen. Wir trotteten mit unseren Lehrern bergab in Richtung Dorf, doch bogen lang vor den ersten Häusern auf einen breiten Waldweg ab. Nach einer guten halben Stunde erreichten wir ein Freilichtmuseum und verbrachten den Nachmittag damit, uns in Begleitung einer jungen, zu sehr von der Thematik begeisterten Studentin und eines älteren Mannes mit nur vier Zähnen alte Brunnen und Landwirtschaftsgeräte anzusehen, doppelte Böden und Geheimtüren zu finden und die traditionellen Gewerbe von anno dazumal kennenzulernen. Die meisten zogen dabei ziemliche Gesichter, aber ich musste gestehen, dass es mir eigentlich gefiel. Ich mochte den Charme des ländlichen und ich stellte mir gerne vor, wie … nun, ich stellte mir eigentlich alle möglichen Dinge gerne vor. Wie es wohl gewesen war, vor dreihundert Jahren hier zu leben, war nur eine von vielen Fantasiewelten. Wäre ich ein Samurai gewesen oder doch nur ein armer Bauer? Oder hätte man mich in einer abgelegenen Bergregion zum Shinobi ausgebildet, nur weil ich zufällig in die Familie meines Vaters und nicht in die nächstbeste geboren worden war? Wäre ich ein wandernder Mönch gewesen oder vielleicht sogar eine Frau? Ich wanderte durch die Räume und verlor mich ein wenig. Vielleicht würde mir das hier endlich wieder den kreativen Schub geben, den ich brauchte. Glücklicherweise war ich mit meinem Wohlwollen diesem Nachmittag gegenüber zumindest nicht ganz allein, denn einige Mädchen aus der Nachbarklasse hatten Spaß dabei, die nachgefertigten Kleider der damaligen Epoche anzuprobieren und Kami verwickelte unseren ältlichen Führer in ein stellenweise hitziges Gespräch über das Shogunat und die fragwürdigeren Taktiken Tokugawa Ieyasus. Es wurde mir nicht ganz klar, auf welcher Seite er hierbei stand. Am späten Nachmittag schließlich kehrten wir zur Herberge zurück, um zu Abend zu essen. Es war zum Glück essbarer als das, was es zum Mittagessen gegeben hatte und ich beschloss, meine fehlenden Kalorien nachzuholen, auch als der Rest meines Zimmers sich verkrümelte. Danach ging ich noch mal nach draußen und sah der Sonne beim Untergehen zu; die halbherzige Einladung einiger Jungs aus meiner Klasse, mit ihnen Basketball zu spielen, lehnte ich ab. Als auch das letzte Stück Feuerball hinter den Hügeln versunken war, ging ich wieder drinnen. Es wurde kühl und mich fröstelte in meinem kurzen Shirt. Ich klopfte an und wartete nicht auf ein Herein. War ja schließlich auch mein Zimmer, ob es uns gefiel oder nicht. Meine Zimmergenossen blickten mit Ausnahme Kojis kurz auf und wandten sich dann wieder dem zu, was sie gerade taten. Ich hangelte mich nach oben auf mein Bett und zog einen Pullover über, dann wandte ich mich wieder meinem Manga zu. Kami saß im Schneidersitz neben mir auf seinem Bett und hatte seine liebe Mühe damit, eine Bürste durch seine Haare zu bekommen. Immer, wenn er gerade durch war, hing es wieder am Anfang. Schließlich erbarmte sich Mana und kletterte zu uns nach oben. Kämmen, ein Knäuel finden, das Knäuel aufdröseln, weiterkämmen. Leider schienen die Haare davon nicht weniger zu werden. „Weißt du Kami, da gibt’s ein ganz tolles Mittel gegen. Nennt sich Haarschnitt“, spöttelte Koji, der alles über seinen Block hinweg verfolgte, auf dem er herumkritzelte. „Das ist mein Style“, stellte Kami fest. „Und du musst reden. Du siehst aus wie ein halbrasierter Waschbär.“ Ich drehte mich zur Wand, um meine zuckenden Mundwinkel zu verstecken. Der Vergleich war treffend. „Außerdem wecke ich so Manas Mutterinstinkt, deswegen kriege ich hier gerade die Aufmerksamkeit und du nicht.“ Er grinste. Mana hielt im Kämmen inne, schien abzuwägen und zog Kami dann kurzerhand die Bürste über den Schädel. „Au!“ Kami rieb sich den Hinterkopf. Ich allerdings konnte damit den Schlussstrich unter meine Beobachtungen des Tages ziehen: von allen Todesblicken, die Mana so austeilte, traf keiner Kami. Dieser schien vollkommen immun gegen jegliche Form von Negativität. Eine Viertelstunde später schenkte Yuuki Tee aus. Ich bekam auch eine Tasse, was ich sehr nett fand. Koji sagte nichts. Ich kuschelte mich in meine Decke, nippte an meinem Tee und sah zum Fenster hinaus, das ich gut im Blick hatte, wenn ich mich an den Schrank lehnte. Koji hatte es geöffnet, lehnte auf dem Fensterbrett und rauchte eine. Und dann noch eine. Das letzte Licht ließ das Wasser im See lila leuchten. Das sah schön aus. Ich verschwand zum Duschen ins Bad und wurde tatsächlich nicht gestört. (Meine „wie leg ich mein Zeug so hin, dass ich mich damit möglichst schnell verteidigen kann“-Taktik hätte ich mir also sparen können.) Um kurz nach elf steckte Tori seinen Kopf ins Zimmer (Mana warf ihm einen äußerst eisigen Blick zu) und erinnerte uns, dass ab jetzt das Licht aus zu sein hatte und wehe wenn nicht. Natürlich hielt sich niemand daran. Im Nebenzimmer ging es laut her und so dauerte es bis kurz nach eins, bis es auch bei uns allmählich ruhiger wurde. Die Gespräche im Raum, denen ich nur gelauscht hatte, wurden weniger und erstarben schließlich ganz. Ich hatte ohnehin das etwas unangenehme Gefühl, dass meine Zimmergenossen wegen meiner Anwesenheit nicht so offen miteinander waren, wie sie es normalerweise gewesen wären. Danach lag ich mit offenen Augen da, starrte durch das Halbdunkel im Zimmer an die Decke und lauschte dem Atem der anderen. Nach einiger Zeit waren meine Ohren so konzentriert, dass ich sie sogar auseinanderhalten konnte. Mana schlief, daran bestand kein Zweifel, genau wie Yuuki. Koji schien irgendwo im Halbschlaf herumzudämmern, denn er wälzte sich durchs Bett, ohne dass sich sein Atem beschleunigte. Ich drehte mich auf den Bauch und legte den Kopf auf die Unterarme. Kami war ebenfalls wach, ich konnte seine Augen leicht im Dunkeln glitzern sehen, denn er blickte genau wie ich zuvor an die Decke. Ich hatte mein Bettzeug so hingelegt, dass wir Kopf an Kopf lagen und konnte einen Blick auf seinen Wecker werfen. 02:14 . „Kami…?“ murmelte ich so leise ich konnte. „Mmh?“ „Kannst du auch nicht schlafen?“ „Nein, du siehst doch wie ich schlafe.“ Danach war erst mal Ruhe. War ja auch ehrlich gesagt nicht die intelligenteste Frage ever gewesen. „Ey Gackt.“ „Mmh?“ „Lass uns rausgehen.“ „Jetzt?“ „Ja, vom Rumliegen werden wir auch nicht müder.“ „Aber die Ausgangs-“ „Scheiß doch drauf, wir-“ Yuuki drehte sich geräuschvoll um und unser gemurmeltes Gespräch erstarb kurz. „Ok…“, flüsterte ich und setzte mich im Bett auf. Die Sachen, die ich getragen hatte, lagen noch auf meinem Koffer. Ich nahm sie und stieg die Leiter runter. Unten latschte ich fast Yuuki auf die Hand, fluchte in Gedanken und tippelte dann leise hinaus, wobei ich über Manas Schuhe fiel, was meinem Leise etwas mehr ‘laut’ gab. Kami folgte mir geräuschlos. Auch das musste so eine genetische Sache sein. Wir zogen uns schnell draußen im Gang an und gingen dann Richtung Speisesaal, wo unsere Lehrer sich anscheinend dem Genuss des Bieres zugewandt hatten. Vorsichtig schlichen wir am Eingang vorbei und weiter zur Eingangstür. Ein kurzes Zerren offenbarte, dass sie abgeschlossen war. Kami nickte mir zu, ihm zu folgen und wir huschten zurück und kletterten zu einem Fenster im Gemeinschaftsraum nach draußen, vor das Kami den Vorhang zog. Ungefähr zehn Meter vom Haus entfernt überkam mich das große Kichern. Das, das Leute immer kriegen, wenn der Körper Anspannung verarbeiten muss. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, sah ich ihn an. Im Mondlicht hatte ich eine relativ gute Sicht. „Und jetzt?“ „Keine Ahnung.“ Er grinste. „Ich dachte, du wüsstest was.“ „Wieso bin ich immer der Kerl mit der Ahnung, hä?“ „Siehst halt so intelligent aus.“ „War das jetzt ironisch?“ „Aber nie im Leben.“ „Ahahahahahaha. Der Lacher des Tages. Danke, dass du mein überflüssiges Leben damit bereichert hast.“ Er piekte mich. Ich piekte zurück. Wir schlenderten langsam Richtung Waldrand. Sobald wir die ersten Bäume hinter uns gelassen hatten, umfing uns eine fast gespenstische Stille. Hin und wieder schuhute eine Eule, ein Bächlein plätscherte und Tiere raschelten im Unterholz. Wir hielten uns an den Weg. Keiner von uns schien irgendetwas loswerden zu wollen. Es war wie die Stille in der Kirche, einfach zu tief, als dass man sie mit Worten, die so oberflächlich schienen, stören wollte. Nach einer knappen Viertelstunde, zumindest schätzte ich das so, erreichten wir eine Lichtung und jetzt konnte ich auch den Bach sehen, der die ganze Zeit in der Dunkelheit neben uns hergeflossen war. Der Mond stand in voller Größe genau über der Lichtung und lies das Wasser silbern leuchten, als würde sich ein Band aus Licht durch den Nebel ziehen. Kami pfiff leise. „Keine Beleidigung, Gackt, aber ich wünschte grade, du wärst ein Mädchen. Weil hierfür würde ich ganz schön Bonuspunkte kriegen.“ „Ich geb dir vier“, sagte ich. Kami lachte leise. „Und damit mach ich dann was genau?“ Wir stiegen zum Ufer runter, setzten uns daneben ins feuchte Gras und sahen in den Himmel. „Orion“, sagte ich und deutete auf das einzige Objekt am Himmel, das ich außer dem Mond identifizieren konnte. „Großer Bär“, murmelte Kami und zeigte ein Stück weiter links. Ich suchte danach. Ah. „Kennst du noch welche?“ „Polarstern. Kassiopeia.“ „Wo?“ Er zeigte es mir. „Cool. Woher weißt du das alles?“ Sternengucken wirkte auf mich eher wie ein Hobby, das Yuuki gefallen könnte. „Hat mir mein Vater beigebracht. Survival und so… Folge dem Fluss, verlier nie dein Messer und iss keine gelben Käfer, der ganze Scheiß.“ „Das ist ziemlich abgefahren“, sagte ich. „Das ist deine Sicht der Dinge.“ Der Bach gluckerte leise in der darauf folgenden Stille. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Ich konnte das Wasser riechen und das Gras. Um uns herum zirpten Grillen. Etwas krabbelte an meiner Hand, ich wischte es weg. „Kami?“ „Mhh.“ „Wieso hast du Koji nicht davon abgehalten mich umlegen zu wollen?“ „…“ Kami seufzte leise und ich spürte mit geschlossenen Augen, wie er sich zur Seite drehte, so dass er mich ansehen konnte. „Weißt du… das mag jetzt klingen wie eine Ausrede aber… es ist Közi. Man kann ihm nichts ausreden.“ Er schwieg kurz und schien auszuformulieren was er sagen wollte, bevor er leise weitersprach. „Wenn du mit ihm befreundet bist, du… du kannst versuchen, die Folgen seines Handelns abzuschwächen, du kannst versuchen, ihn aus dem Ärger, in den er sich reinmanövriert rauszuholen … vielleicht kannst du ihn sogar über die Jahre ein wenig ändern. Aber du wirst es niemals schaffen ihn von etwas abzuhalten, das er tun will.“ Ich dachte über das nach, was er gesagt hatte. „Nimm das nicht falsch aber… ist er ein bisschen ein egoistischer Arsch?“ „So würd ich das nicht ausdrücken. Wenn er einen genug mag, dann… dann nimmt er auch Rücksicht. Aber er würde nie Rücksicht nehmen, weil man ihm sagt, dass er es tun soll, verstehst du?“ „Mmh… ist schwierig oder?“ Kami lachte leise. „Was ist schon schwierig? Es ist Közi. Das ist alles. Ich bin auch nicht einfach.“ „Du versucht nicht, mich umzulegen.“ „Ich habe keinen Grund.“ „Hat er ihn?“ „Keine Ahnung.“ „Ist abgrundtiefer Hass nicht was, was man mit seinem besten Freund teilt?“ „Wir sind doch keine besten Freunde, wie kommst du denn auf den schmalen Holzweg.“ „Ich dachte, weil ihr immer…“ „Naaah. Ich glaub, der einzige, der wirklich schnallt, was hinter Közis Stirn vorgeht, ist Mana. Und andersrum…“ „Ähm…“, sagte ich. Das Koji-Thema war für mich zwar noch lange nicht abgeschlossen – wusste Kami wirklich so wenig, wie er tat? – aber wo sich die Gelegenheit schon ergab, musste ich sie ergreifen: „Wegen Mana …“ „Ja?“ Ich konnte das Grinsen in Kamis Stimme hören, bevor ich die Augen aufgeschlagen hatte. „Was… äh… ist da genau ähm… also… solange ich mir ein paar Quadratmeter mit ihm teilen muss, irgendwelche … Warnhinweise?“ Kami lachte wiehernd auf. Anscheinend hatte ich da einen Nagel auf den Kopf getroffen. Damals war mir aber noch nicht klar, wie sehr das Wort Warnhinweis bei Mana angebracht war. Ich verzog also das Gesicht und wartete, bis er sich wieder eingekriegt hatte. „Also, es ist eigentlich einfach. Wenn du mit ihm reden musst, benutz Ja-Nein-Fragen. Er spricht nicht so gern mit Leuten. Also wenn du’s umgehen kannst, und das ist meistens so, lass es einfach ganz. Ansonsten… sei ganz normal.“ „Ok... Aber eins noch: Sag ich er oder sie zu ihm?“ „Mana ist ganz passend.“ „Ähm… ja. Gut. Also… wirst du mir nicht sagen, was da…?“ „Ich will’s selbst gar nicht so ganz genau wissen“, sagte Kami. Es schien kein Witz zu sein. „Aha“, sagte ich. Wir lauschten den Grillen. „Woher kennt ihr euch eigentlich alle?“, fragte ich dann. „Weil, also, ihr seid so… verschieden.“ „Wir beide sind verschieden“, sagte Kami. Darauf fiel mir dann nichts mehr ein. „Mir ist kalt“, sagte er schließlich. Ich erhob mich fröstelnd. „Lass uns zurückgehen.“ Wir stiefelten genauso schweigsam durch den Wald, wie wir gekommen waren. Da es bergab ging, rutschte ich ein paar Mal im Dunklen auf losen Steinen ab, aber Kami zog mich jedes Mal wieder hoch, bevor ich einen peinlichen Abgang machen konnte. Anscheinend hatte er viele Karotten gefuttert oder sein Vater hatte ihm auch Überleben bei Nacht beigebracht. Ich war ein bisschen neidisch: Alles was mein Vater mir je beigebracht hatte, waren ein paar Klauseln aus dem Strafgesetzbuch. Schließlich standen wir wieder hinter dem Haus. Kami drückte gegen das Fenster und machte ein pikiertes Gesicht. „Was ist?“, flüsterte ich halblaut. Vorne im Speisesaal brannte kein Licht mehr und die Zimmer unserer Lehrer lagen einen Stock höher. Wer wusste schon, ob und wie tief sie inzwischen schliefen. „Zu“, flüsterte er zurück. „Vielleicht ist es das falsche?“ „Nein, das dritte von links…“ Er lehnte sich noch mal gegen das Glas. „Fuck!“ Über uns wurde ein Fenster geöffnet. Ich packte Kami mit einer mir unbekannten Geistesgegenwart und zerrte ihn in den Schutz eines Busches. Mit klopfendem Herzen sah ich unsere Biolehrerin genau zu uns herunterlugen. Einen schrecklichen Moment lang hatte ich das Gefühl, sie würde mir in die Augen sehen, doch dann schloss sich das Fenster wieder und der Spuk war vorbei. Wir zählten wohl beide innerlich bis zwanzig, denn wir atmeten gleichzeitig aus. „Und wie kommen wir jetzt rein?“, flüsterte ich dann. Kami zog mich auf die Beine. Wir umrundeten das Haus und machten schnell unser Zimmerfenster ausfindig. Kami warf einen Kiesel. Dann noch einen. Es klirrte leise. Da ich eine Koordination wie ein Faultier hatte, schaute ich nur interessiert zu. Beim vierten Mal erschien Yuuki am Fenster. Er öffnete und lehnte sich hinaus. „Was zur Hölle macht ihr da?“ „Später. Mach das Fenster im Gemeinschaftsraum auf und lass uns rein“, zischte Kami. Yuuki schüttelte den Kopf und schloss mit etwas, das entfernt nach „Idioten“ klang das Fenster wieder. Ich und Kami sahen uns an und zuckten mit den Schultern. Das hieß wohl ja. Wir liefen wieder zurück zur anderen Seite. Und tatsächlich erschien kurz darauf eine Gestalt am Fenster. Es wurde gekippt. „Uhlala, da haben aber zwei Leute ein kleines Problemchen, nicht wahr?“ Es war Koji, der durch den Spalt zu uns hinausflötete. „Lass den Scheiß und mach das Fenster auf“, knurrte Kami und warf ihm einen angepissten Blick zu. „Mmh… was krieg ich von dir, wenn ich euch beide reinlasse?“ „Keine Spielchen morgens um vier.“ „Nanana, es ist drei Uhr siebenundvierzig. Mhh, was passiert wohl wenn ich jetzt hier das Schreien anfange?“, meinte Koji und legte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf, der nur durch sein süffisantes Grinsen gestört wurde. Kami atmete tief durch, mit der Kontenance eines Mannes, der wusste, wann der Krieg aufhörte und die Diplomatie anfing. „Sag schon was du willst.“ Koji winkte ihn näher an die Scheibe und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Vergiss es!“ „Na gut, dann: Nachti!“ „…. Ok, ok, du hast gewonnen.“ Koji kicherte leise und öffnete das Fenster. Kami sprang mit einem Satz aufs Fensterbrett, ich brauchte ein bisschen länger. Koji schien ziemlich zufrieden mit dem zu sein, was er Kami aufgeschwatzt hatte, denn er hatte einen Gesichtsausdruck wie ein glücklicher fetter Kater und vergaß sogar, mich zu ärgern. Oben ließen Kami und ich uns ins Bett fallen, ohne uns vorher noch umzuziehen. Etwa eine halbe Stunde verging, in der ich trotz jetziger Müdigkeit nicht schlafen konnte, weil mir meine Gedanken gegen den Schädel trommelten. „Kami?“, murmelte ich kaum hörbar. „Mmh?“ „Denkst du… kann es vielleicht sein, dass Koji das Fenster zugemacht hat?“ Kami hob den Kopf und sah mich im Halbdunkeln mit einem verständnislosen Blick an, bevor er antwortete. „Natürlich hat er das.“ * Als am nächsten Morgen der Weckruf durch den Gang hallte, fühlte ich mich wie gerädert. Außerdem musste ich andauernd niesen. Anscheinend war unser Ausflug meiner Gesundheit nicht unbedingt zugutegekommen. Ich setzte mich auf, registrierte meine Rückenschmerzen, die daraus resultierten, dass ich auf meinem Manga gepennt hatte - und nieste. Koji seufzte genervt, drehte sich zur Wand und zog sich die Decke über den Kopf. „Jetzt mach schon Közi, raus da“, meinte Yuuki, der gerade mit nassen Haaren aus dem Bad kam. Frühaufsteher wie es schien. Ekelhaft. „Nur wenn Mana mir einen Gutemorgenkuss gibt“, kam die dumpfe Antwort aus dem Deckenberg. Mana nahm wortlos (wie immer) seine Sachen und verschwand Richtung Bad. „Friendzoned“, lachte Yuuki und wühlte in seinem Koffer herum. „Nur ein Scheißtag kann morgens anfangen!“ „Du bist ja wieder besonders gut gelaunt heute…“ Ich zog mir ein frisches Shirt über den Kopf, nieste noch einmal und sprang von meinem Bett. Koji setzte sich auf und guckte langsam durch die Gegend. Dann lies er sich wieder in die Kissen zurückfallen und zog Kopfhörer und Handy irgendwo aus seiner Decke. „Közi!“ „Ja, Mama! Nur noch fünf Minuten! Unsere Drag Queen blockiert eh das Bad erfahrungsgemäß jetzt eh erst mal für ‘ne halbe Stunde!“, knurrte dieser und schloss die Augen. Irgendwie schafften wir es trotzdem, rechtzeitig zum Frühstück zu erscheinen. Mana murmelte zwar irgendetwas, was Yuuki als: >Ich war noch nicht fertig, ihr Affen< übersetzte, ich hatte nur kurz mal in den Spiegel geguckt und Koji zog sich auf dem Weg nach unten noch fertig an, aber im Großen und Ganzen waren wir recht erfolgreich. Nachdem wir das Frühstück, bei dem Ameisen über die Butter liefen (Anmerkung: Verarbeitung traumatischer Schullandheimausflüge der Autorin) überlebt hatten, oder eher ich es überlebt hatte, ohne mit dem Gesicht voran in meine Kaffeetasse zu fallen und einen grausamen Erstickungstod zu sterben, watschelte meine Klasse unserer Biolehrerin und Tori nach, die uns in den Gemeinschaftsraum pferchten, wo wir einen Sitzkreis machen durften. Ich hockte mich zwischen Aiko und eine ihrer Freundinnen, was mir am sichersten schien. Unsere kleine, pummelige Lehrerin watschelte in die Mitte des Kreises. „Heute Vormittag machen wir eine kleine Vorstellungsrunde, damit ihr etwas mehr über eure Mitschüler erfahrt, ist das nicht toll? Deswegen sagt jetzt jeder von euch seinen Namen, seine Lieblingsfarbe, was er gerne hat, seine Hobbys und was er einmal werden will.“ Sie strahlte in die Runde. Die Runde strahlte nicht eben zurück. Sie watschelte auf ihren Platz und das Mädchen neben ihr begann zögernd. Ich versuchte, mir diejenigen einzuprägen, die mir sympathisch schienen. Das war einfach, denn viele waren es nicht. Schließlich stand Koji äußerst widerwillig auf. „Hagino Koji, meine Freunde nennen mich Közi. Also ihr alle nicht. Meine Lieblingsfarbe ist Rot. Ich mag Clowns, hänge gerne rum und rauche zu viel. Ich werde Musiker.“ Ein paar Jungs kicherten. Koji brachte sie mit einem Mörderblick zum Verstummen. Anders als Manas eisiger Blick des nahenden Todes, aber genauso zielführend. „Das ist Mana“, fuhr er dann fort und machte eine Handbewegung zu seiner Linken. „Mitternachtsblau, alte Horrorfilme, Spielekonsolen und Mode, und Zeit für Hobbys hat er nicht. Ich hoffe stark, dass er auch Musiker wird, weil ohne ihn bin ich voll gefickt. Dankeschön.“ Koji machte eine linkische Verbeugung und setzte sich. Tori hatte die Arme verschränkt und schaute Koji und Mana nicht sehr freundlich an. „Kann Satou nicht selbst reden?“ „Doch. Aber er tut es nicht. Das ist psychologisch sogar interessanter als die Lieblingsfarbe“, sagte Koji unbeeindruckt. „Analysieren Sie das mal. Nächster!“, herrschte er Yuuki an. „Yoshida Yuuki, erfreut. Gelb, Lesen und Programmieren, und ich denke, ich werd auch irgendwas damit machen. Ja.“ „Ich bin Ukyou Kamimura, meine Lieblingsfarbe ist Lila und ich mag Duran Duran und Schmetterlinge und mach gern Sport. Was mit viel Bewegung wär gut, so berufsmäßig.“ Ein paar Statisten. Aiko stand auf. „Ukoniro Aiko, ich mag hellblau, Karaoke und shoppen. Vielleicht Stylistin.“ Und dann war ich dran. Ich erhob mich zögernd. „Ähm, ich bin Gakuto Kamui, meine Lieblingsfarben sind schwarz und weiß. Ich weiß, das sind keine Farben, aber… ja. Ähem. Ich mag….“ Tja, was genau mochte ich eigentlich? Ich mochte vieles. Den Himmel. Das Meer an einem stürmischen Tag. Den Wind, der durch einen Wald im Herbst strich und wie die Blätter langsam zu Boden segelten. Aber das war alles nicht geeignet, um es hier zu erzählen. „Ich mag… Erdbeerkuchen“, so ein Unsinn, „und… singe gern.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, registrierte ich, dass es ein Fehler gewesen war, denn ich wurde schon wieder ausgekichert. Ob das am Erdbeerkuchen oder an der Vorstellung lag, wie ich sang, wollte ich gar nicht wissen. „Und was möchtest du einmal werden?“, ermunterte mich meine Biolehrerin strahlend. Vermutlich wäre es mir einfacher gefallen, wenn sie nicht so begeistert geschaut hätte. Warum tun Pädagogen das? „Ich, äh…“, die Antwort wäre ebenfalls Musiker gewesen, aber das konnte ich jetzt irgendwie nicht mehr sagen. „…irgendwas mit Medien?“ Es folgt ein Zeitsprung und wir übergehen das Mittagessen, wo Koji mich in der Misosuppe ertränken wollte… Ich bin mir ganz sicher. Ich konnte es in seinen Augen sehen! Aber gut, gut… wenden wir uns dem Nachmittag zu. Um es kurz zu machen: Wir machten bescheuerte Wettkämpfe, um unsere Klassengemeinschaft zu stärken und ich war froh, dass ich mich öfter als nicht hinter Leuten verstecken konnte, die besser in so etwas sind als ich. Ähm… was ich sagen wollte, ist … mmh. Ich wollte das sagen, aber ich wollte es so tun, dass ich besser damit wegkomme. Ok, nächste Szene! Als der Horror inklusive Abendessen endlich vorbei war, war es bereits kurz nach acht und draußen ging die Sonne unter. Ich drehte mich gerade im Kreis und überlegte, was ich jetzt tun konnte, wenn ich nicht schlafen wollte (wollte ich nicht), als mir jemand gegen den Oberarm piekte. „Aua.“ Es war Yuuki. „Wir gehen Lagerfeuer machen, kommst du mit runter?“ Ich war verwundert über das Angebot, nickte aber. Mit einem Zwischenstopp bei unserem Zimmer, um wärmere Pullis auszugraben, machten wir uns auf den Weg aus dem Haus und den Hügel ein Stück runter. Hinter dem Sportplatz, von der anderen Seite des kleinen Sees, flackerte schon ein warmes Licht zu uns hinüber. Die Luft roch nach Rauch, Wald, Wasser und den letzten warmen Sommertagen und ich atmete tief durch, während wir durch das hohe Gras hinübergingen. Um das Feuer herum saßen Aiko mit ihren Freundinnen, Kami, ein paar Jungs aus der Fußballgruppe und Mana, der als einziger so gar nicht ins Bild passen wollte. Yuuki und ich ließen uns neben ihn auf einen der Baumstämme fallen und sahen Aiko dabei zu, wie sie mehr Holz auflegte. Das Feuer wurde kleiner. „Boah Aiko“, sagte Kami. „Wo hast du Feuer machen gelernt, beim Wandelnden Schloss?“ „Mach’s halt besser, Fettarsch!“ Kami versuchte sein Glück, aber es sah nicht eben besser aus. „Ha-ha!“, machte Aiko glücklich. Ich fragte mich, ob wir jämmerlich erfrieren würden. Doch die Natur hatte ihre Mittel und Wege, und allmählich wurden die Flammen höher und angenehme Wärme erreichte meine Knie und mein Gesicht. Koji kam den Hang runter auf uns zugestapft, eine Gitarre in der Hand, die er wohl irgendwo im Gemeinschaftsraum entdeckt und entwendet hatte. Er stockte kurz, als er sich der Menschenansammlung bewusst zu werden schien und, bevor er gewohnt selbstsicher zu uns schlenderte. „Kami, auf?“, fragte er, während er Mana die Gitarre hinstreckte. Dieser ergriff sie, als brauche er dringend etwas, um sich daran festzuhalten. „Wohin geht ihr?“, fragte Aiko. „Runter ins Dorf, einfach so…“, erklärte Kami äußerst vage. Aiko vollzog den Gedankengang und schaute nicht amüsiert. „Ihr wollt ernsthaft Bier kaufen?“ „Wer redet denn von Bier.“ „Genau, wir reden vom harten Stoff: Wodka, Gin, Hello Kitty Sekt…“ Koji zählte an den Fingern ab, während er sprach. „Ich komm mit!“, meinte einer der Fußballer. Sein Kumpel nickte zustimmend. Koji sah nicht begeistert aus. „Aber nicht mehr, sonst fällt das auf. Wir sind in zwanzig Minuten wieder da.“ Kami sah ihn ungläubig an. „Wie schnell genau willst du rennen?“ „Sehr schnell, in 13 Minuten macht der letzte Laden zu.“ Die vier sprinteten los und waren bald in der Dämmerung verschwunden. Aiko sah ihnen entrüstet nach. „Was ist nur los mit denen?“ Die nächste halbe Stunde verging größtenteils damit, dass alle ins Feuer starrten und sich gegenseitig erzählten, wie bescheuert dieser ganze Tag gewesen war und wer sich peinlicher benommen hatte als irgendwer anders und ob man als Lehrer wohl auch ein Leben hatte? Eher nicht. Dann ertönte hinter uns ein Klirren und Klappern aus der Dunkelheit, gemischt mit atemlosen Gelächter, und dann sprintete Kami in sehr ausgebeulten Hosen ins Licht des Lagerfeuers. Immer noch lachend begann er damit, seine Taschen auszuräumen, als ihm drei andere, ebenso lachende wie ausgebeulte Gestalten folgten. „Wenn euch einer erwischt, ihr seid alle fällig!“, murrte Aiko und betrachtete missmutig Flaschen und Knabbereien. Letztere vielleicht nicht ganz so missmutig. „Wir wurden bereits erwischt!“, verkündete Kami kichernd, während er sich neben Aiko fallen ließ und ein Bier öffnete. „Was?“ „Ja, auf halbem Weg rauf kam uns der Tori entgegen. Wir den ganzen Alk halt in der Hose versteckt, sind ja nicht doof, meinten, der sieht das nicht im Dunkeln. Aber hat uns beäugt mit seinen Geieraugen, hat gemeint er sieht nichts, so lange wir dann später auch verstecken, dass wir betrunken sind – “ „Und wir ihm ‘ne Flasche abtreten“, hängte einer der Fußballjungs an. „Ihr seid so scheiße“, verkündete Aiko und verschränkte die Arme, während der Rest der kleinen Gesellschaft die Flaschen und Tüten öffnete. „Ach Aiko, schau mal, lecker Bier… Schau, es sieht dich an…. Es will dich….“, lamentierte Kami, die Flasche vor Aikos Gesicht schwenkend. Koji sah den beiden etwas angewidert zu, nahm einen großen Schluck eines eklig aussehenden grünen Cocktails und griff nach der Gitarre, welche Mana vermutlich nur hergab, weil er jetzt wieder da war, um sozialen Rückhalt zu bieten. Die Fußballer johlten grölten, als er anfing, ein bisschen Teen Spirit aus dem Stück Holz zu dudeln. Abwechselnd grölten alle mal mit, aber niemand konnte den Text ganz. Danach folgten verschiedene andere Songs, die das Radio bereits totgespielt hatte. Zum Ende des zehnten Songs war dann ein Großteil schon so weit, dass albernes Gelächter ausbrach, wenn jemand den Text vergaß und schließlich begannen wir, einfach das zu singen, was uns gerade einfiel (Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh war ein absoluter Hit). Nicht, dass es eine wirkliche Rolle gespielt hätte – kaum einer bekam noch einen geraden Satz raus. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, dass sich alle vertrugen. Niemand sah Kojis Clique dumm von der Seite an, niemand motzte, denn auch Aiko war inzwischen einigermaßen abgefüllt und alle kamen einander näher. Yuuki war bis auf zehn Zentimeter an ein schüchternes Mädchen mit Brille herangerutscht und mit noch einer Flasche Sangria würde sich sicher auch dieses Problem lösen lassen. Sogar Koji sah glücklich aus. Gegen ein Uhr oder auch später, ich konnte meine Uhr nicht mehr richtig lesen, wurde es dann langsam ruhiger. Die letzten Chips waren vernichtet, das letzte Getränk geöffnet und die Unternehmungen des Tages noch deutlich in den Knochen spürbar. Koji leerte seine letzte Flasche auf Ex und fing noch mal an zu spielen. Es war Simon & Garfunkels Sound of Silence. Und irgendwie hatte ich jetzt Lust, dieses Lied zu singen. Vielleicht war es die Menge an Alkohol, die dafür sorgte, dass es mir egal war, was weiter passierte. Oder die Tatsache, dass ich den Text konnte. Oder vielleicht auch, dass ich überzeugt davon war, noch mehr als fünf Worte am Stück rauszubringen, ohne zu lallen. Hello darkness, my old friend, sang ich. I've come to talk with you again, Because a vision softly creeping, Left its seeds while I was sleeping, And the vision that was planted in my brain Still remains Within the sound of silence. An dieser Stelle bemerkte ich, dass Koji auch sang. Ich begegnete seinem Blick über die züngelnden Flammen hinweg. Es lag keine Begeisterung darin, aber er hörte nicht auf. Musik musste ihm wirklich enorm viel bedeuten, wenn er dafür sogar bereit war zu vergessen, dass er mich hasste. "Fools," said I, "You do not know. Silence like a cancer grows. Hear my words that I might teach you. Take my arms that I might reach you." But my words like silent raindrops fell And echoed in the wells of silence. Es klang gut. Es war seltsam. Als wir zu Ende gesungen hatten, war es einige Minuten still. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich war mir noch vage bewusst, dass Mana mich seltsam anschaute. Also, noch seltsamer als sonst. Und irgendwann, irgendwie – und ich hätte wirklich nicht mehr sagen können, wie genau - gingen wir wohl zurück zum Haus und dann zu Bett. Vielleicht hätte ich den Wein nicht trinken sollen, dachte ich noch träge. Der Geschmack hing immer noch auf meiner Zunge. Der Geschmack nach Wein… Ich nahm einen vorsichtigen Schluck aus meinem filigranen Glas. „- glaube ich, dass das unvermeidlich sein wird“, sagte mein Gesprächspartner gerade. „Nun“, sagte ich, wunderte mich nicht darüber, dass ich wusste, worum es hier ging, und antwortete: „Monsieur Laval hat das nötige Kapital. Es ist also nicht alles verloren.“ „Aber was wenn ihm das Stück nicht gefällt?“, fragte mein Gegenüber. Sein Name war Jules, und er war ein kleiner, rundlicher Mann, der immer schwitzte, wenn er sich aufregte und den es nur weiter aufregte, wenn er schwitzte. Keine gute Kombination bei einem Chefintendanten. „Dann hat er keinen Geschmack“, sagte ich. Ich hatte einen langen Tag voller Generalprobe hinter mir und wollte eigentlich nur noch ins Bett. „Jetzt hör auf, dir Gedanken zu machen. Er wird es mögen und alles wird gut.“ Das Theater brauchte dringend einen neuen Sponsor. Ein gutsituierter Manufakturbesitzer hatte potentielles Interesse bekundet, aber alles hing an der morgigen Vorführung. Vierundzwanzig Stunden später lugten wir durch den Spalt im Vorhang. „Ist er da?“, fragte Arlette hinter mir. „Ja“, sagte Claude. „In der linken Loge.“ „Darf ich mal?“, fragte ich und Claude reichte mir sein Opernglas. Ich suchte die Ränge an. „Der mit dem Bart?“, fragte ich. „Eins weiter.“ „Blond mit Geheimratsecken?“ „Genau der.“ Ich begutachtete den Mann, der heute Abend darüber entscheiden würde, ob wir alle in der Gosse landeten oder in Geld schwammen. Er war überaus durchschnittlich. Und neben ihm, ins Gespräch vertieft, saß ein Engel. Ich starrte. Blonde Locken umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit blauen Augen und roten Lippen. Ihr hellblaues Kleid unterstrich eine schlanke Figur, nicht mehr Mädchen aber noch nicht ganz Frau. Ich spürte ein unbändiges Verlangen in mir aufwallen, diese Porzellanhaut zu berühren, die Worte zu hören, die über diese wundervollen Lippen kamen, ihr Parfüm zu riechen. Da drehte sie plötzlich den Kopf und sah genau in meine Richtung. Ich zuckte zurück, verbarg mich hinter dem Vorhang. Sie konnte mich nicht bemerkt haben, dachte ich. Trotzdem hämmerte mein Herz wie verrückt. Mir war heiß und kalt gleichzeitig, meine Hände waren verschwitzt. Es war nicht nur der Schreck. Oh, der Himmel wusste, es war beileibe nicht nur der Schreck! „Alles in Ordnung?“, fragte Arlette. „Du bist auf einmal so blass.“ „Ich…“, sagte ich, „ich…“ „Noch zwei Minuten!“, rief Francois von hinten. „Position!“ „Gackt!“, sagte eine Stimme. Jemand zog an meinen Haaren. „Au!“, sagte ich und schlug auf gut Glück in die Richtung, aus der die Störung kam. Meine Hand traf einen durchtrainierten Oberkörper. Das tat weh. „Was?“, stöhnte ich und hob den Kopf, um Kami aus kleinen Äugelein anzustarren. Der Winkel war seltsam. Lag… ich auf dem Boden? Im Flur? Ich schaute langsam weiter. Lag… Koji ebenfalls auf dem Boden? Im Flur? „Es gibt gleich Mittag.“ „Was?“, fragte ich noch einmal schwammig. Die Frage wurde durch Wiederholung nicht intelligenter. „Kurz vor zehn. Steh auf jetzt.“ Kami zwickte mich in die Wade. „Aua!“, machte ich, setzte mich auf und spürte meine Migräne. „Oh…“ Im Speisesaal saßen Yuuki und Mana bereits am Tisch und tranken Kaffee. Koji warf ihnen einen düsteren Blick zu, als er sich an die gegenüberliegende Tischseite setzte und nach dem Orangensaft griff. „Wie kommt es, dass wir auf dem Boden geschlafen haben und ihr zwei nicht?“ „Mmh, eine gute Frage“, sagte Yuuki und schmierte sich einen Toast, „ich nehme an das kommt daher, dass ich kein Idiot bin, also bin ich irgendwann aufgestanden und zu Bett gegangen.“ „Und hätte es dich umgebracht, uns zu wecken, als du in dein warmes Bettchen gekrochen bist?“ „Das habe ich versucht, aber außer Mana habe ich niemanden überzeugen können, den langen beschwerlichen Weg vom Fußboden ins Bettchen anzutreten. Wenn du dich erinnerst. Also vermutlich nicht.“ Ich seufzte und schenkte mir ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Trotz der harten Nacht sahen sowohl Yuuki als auch Kami beide besser aus als ich, was mich nicht wunderte, denn sie waren weniger gut dabei gewesen. Mana sah ebenfalls besser aus, was aber vermutlich daran lag, dass er dem Anlass entsprechend einfach mehr Makeup aufgelegt hatte. Aber auch Koji ging es anscheinend nach dem ersten Stückchen Toast wieder blendend, und das fand ich wirklich unfair. Scheinbar vertrug er mehr als ich. Ich stocherte in meinem Müsli herum und sah dabei anscheinend so mitleiderregend aus, dass Yuuki sich ein Herz fasste und mir einen Streifen Aspirin über den Tisch schob. Danach fiel ich in die Dusche und dann mit dem Gesicht voran ins Bett. Nur noch ein paar Stunden… Nach dem Mittagessen standen wir alle wieder unten vor dem Haus. Tori erläuterte das Programm als wäre es ein Nachmittagsappell. „Wie einige von euch vielleicht wissen, macht ihr heute eine Schatzsuche. Wir teilen euch nach Reihenfolge in der Klassenliste in Zweierteams. Getauscht wird nicht.“ Und Scheinwerfer an: Meine Biolehrerin begann, Namen vorzulesen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. „Gakuto Kamui und Hagino Koji.“ Ich stöhnte verzweifelt. Das durfte doch nicht wahr sein! Irgendjemand da oben musste mich hassen. Aber mein weitaus größerer Sorgenfaktor war: Jemand hier unten tat es tatsächlich. Ich warf einen Blick zu Koji. Oh ja, jemand tat es. „Ukoniro Aiko und Ukyou Kamimura.“ Aiko machte ein Gesicht, als würde sie den Himmel um Stärke anflehen. Kami schien auch nicht eben begeistert. Was auch immer da gestern Abend passiert war, es hielt nicht sonderlich lange vor. Nachdem wir alle schön aufgeteilt waren, händigte unsere Biolehrerin jeder Gruppe eine Landkarte aus. „Also. Irgendwo dort drin“, Tori machte eine ungefähre Handbewegung über den Wald, „haben wir einen Schatz versteckt. Er liegt an einem kleinen Bergschrein. Ihr habt alle die gleiche Karte, aber auf jeder ist ein anderer Weg. Sie sind alle gleich schwer und alle gleich lang, ihr müsst also gar nicht tauschen“, meinte er scharf und zwei Mädchen zuckten zusammen und ließen es bleiben. „Jeder hat ein Handy dabei? Gut. Falls ein Notfall eintritt, ruft ihr an. Viel Erfolg. Die Gewinner dürfen den Schatz behalten. Und los.“ Die Aussicht auf eine Belohnung ließ die meisten schon wieder etwas vergnügter schauen. Bei mir reichte sie allerdings nicht, um die bedrohliche Aussicht zu verbergen, die gerade auf mich zustapfte. Aiko und Kami gingen an mir vorbei. „Gib mir die Karte“, sagte Kami. „Hol sie dir, wenn du kannst.“ „Du kannst das Ding doch nicht mal lesen!“ „Sagt wer?“ „Sag ich!“ „Das werden wir ja sehen. Und keine Sorge, ich formulier es so, dass auch du es verstehst“, fauchte Aiko. Sie richtete ihren Rucksack und die beiden zogen von dannen. Das konnte ja was werden. Aber gut. Mein Problem war wahrscheinlich das Größere. Es überragte Aiko um ungefähr fünfzehn Zentimeter. „Wo lang?“, fragte er missmutig und sah mich mit einem ‘Geh sterben’-Blick an. „Ich äh…“, ich hantierte mit der Karte. „Da“, und deutete auf einen kleinen Pfad, der sich weiter unten in den Wald schlängelte. „Und nu?“, fragte er, kaum dass sich das Blätterdach über uns schloss. „Geradeaus. Ewig geradeaus“, murmelte ich nach einem kurzen Blick und das Papier in meiner Hand. Und so war es dann auch. Ich und Koji führten eine Zeit lang einen schweigsamen Kampf darüber, wer vorangehen und damit die ständige Unsicherheit des anderen im Nacken ertragen musste. Am Ende ließen wir uns beide andauernd so weit zurückfallen, dass wir schließlich nebeneinander zum Stehen kamen, uns ansahen, beide aggressiv „Was?“ zischten und dann einfach nebeneinander weitergingen. Der Weg war dazu nicht gemacht und ständig schrammten kleine, dornige Äste über meine Arme und Hände. Das tat weh, aber da Koji keinen Laut von sich gab, tat ich es auch nicht. Nach einer guten Dreiviertelstunde kamen wir an eine Weggabelung. Koji drehte sich wortlos zu mir um. Ich schlug die Karte auf. „Das ist hier nicht.“ Mein Teampartner schnaubte genervt und riss mir die Karte aus den Händen. „Oh, bist du unfähig, gib das her!“ Nachdem Meister Koji fünf Minuten lang gesucht hatte, gestand er ein, dass die Weggabelung wirklich nicht da war. „Gut, Kopf oder Zahl?“ „Was?“ „Zahl, hervorragend!“ Koji warf eine Münze, fing sie auf und grinste. „Kopf, wir gehen links.“ „Nicht dein Ernst!“ „Doch, klar.“ Und dann lief er einfach los und ließ mich mitten in unserem Streit stehen. Das war mir auch noch nicht passiert, so viel Ignoranz auf einem Haufen. Seufzend lief ich dem Affen nach. Der Wald um uns herum wurde dichter und die Geräusche erstarben. Sogar die Vögel hörten auf zu singen. Nach ungefähr einer weiteren Stunde, in der wir einige kleine Bäche überquert, über ein paar Lichtungen gelatscht und endlos über Wurzeln gestolpert waren, (die natürlich alle nicht auf der Karte waren) hörte der Weg auf. Und ich meine das, wie ich es sage. Wir liefen um einen Busch und standen im Nichts. Ende der Fahnenstange. „Und jetzt?“, fragte ich nicht eben intelligent. „Wir gehen weiter. Irgendwann werden wir schon ankommen.“, meinte er und machte ein paar Schritte ins Unterholz. „Koji, wir haben uns verirrt, ok? Daran gibt’s nichts mehr zu ändern. Dieser ganze Weg hier ist nirgendwo auf der Karte. Und wir müssten den Schrein inzwischen sehen.“ „Ah-buhu“, machte Koji und tat, als würde er sich die Augen reiben. „Hat das kleine Gackt-Baby Angst? Will es seinen Schnuller? A-guchi, guchi, gu.“ Ich starrte ihn drei Sekunden ob so viel Blödheit an. „Was ist dein Problem?“, fragte ich schließlich bissig, aber gezwungen ruhig. „Was mein Problem ist? Ich sag dir ganz genau, was mein Problem ist, mein Problem bist du!“ Er tippte mir gegen den Oberkörper und ein knochiger Finger bohrte sich zwischen meine Rippen. Ich gab ihm nicht die Genugtuung eines Quietschens. Ich war mit einem kleinen Bruder und einer älteren Schwester aufgewachsen, ich konnte diese Dinge ab. „Du kennst mich doch nicht mal! Was hab ich denn gemacht?“ „… Fick dich“, sagte Koji, drehte sich um und stiefelte querfeldein. Ich starrte ihm nach, bis sein Rücken zwischen den Bäumen verschwunden war. „So ein Arschloch“, sagte ich zu niemand bestimmten und zog mein Handy aus der Tasche. Ich würde in der Herberge anrufen und ihnen sagen, dass man mich retten kommen musste. Vielleicht fand sich jemand, der wusste, wo ich war und der mir einen Tipp geben konnte. Sollte Koji doch sehen, wo er blieb. Ein paar Sekunden lang schaute ich aufs Display und biss mir auf die Unterlippe. Ich fuchtelte ein paar Mal wie ein Idiot mit meinem Telefon in der Luft herum, bis ich mir die grausame Wahrheit eingestand: es gab kein Netz und vermutlich würde ich auch durch Wedeln so schnell keines kriegen. „Verfluchtes Hinterwäldler-Scheiß-Kaff!“, fluchte ich. Das war eigentlich nicht mein Stil, aber gerade war mir danach. Ich trat nach einem Pilz, dessen Kappe durch die Luft davonsegelte und mit einem ‘Flopp‘ ein paar Meter entfernt landete. „AAAARGH!“, machte ich meinem Ärger nochmal Luft. Dann steckte ich mein Handy wieder ein und stiefelte in die gleiche Richtung wie Koji los, tiefer in den Wald hinein. Ich holte ihn einige Minuten später ein. Der Weg führte jetzt wieder bergab, doch der Waldbogen war mit unterschiedlich großen Steinbrocken bedeckt, welche sich unter dem modrigen Laub von Jahrzehnten versteckten. Wir kämpften uns voran. Es war anstrengend und ich verdrehte mir den Fuß innerhalb einer Viertelstunde vier Mal. Das hier war definitiv keine gute Gegend für Turnschuhe. Schließlich gelangten wir an einen kleinen Tümpel und entschlossen uns für einen radikalen Schwenk nach rechts, der uns wieder näher an unseren eigentlichen Weg zurückführen sollte. Vielleicht. Dass wir überhaupt wieder ein paar Worte wechselten, zeigte wohl, wie verloren wir uns fühlten. Weitere zwanzig Minuten später und wieder oben auf einem Hügel biss ich in einen Schokoriegel. Vielleicht nicht die beste Idee, wenn man bedachte, wie lange ich vielleicht damit überleben musste, doch die einzig andere Option war, Koji zu erwürgen. Gerade überlegte ich, ob ich damit wohl davonkommen würde, als es hinter mir im Gebüsch raschelte und ein mittelgroßer brauner Hund auf uns zusprang. Ich schrie leise auf und machte einen unwillkürlichen Satz in Richtung des einzig anderen menschlichen Wesens im mir bekannten Umkreis. Der Hund blieb stehen und schaute mich an. „Was?“, fragte Koji. Er folgte meinem Blick zu dem zerzausten Hund, schaute aber schnell unbeeindruckt wieder zu mir. Er sah ihn nicht. Ich schaute genauer hin. Ein leichter, gräulicher Schein umgab den Hund. Dieser wedelte zweimal schwach mit dem Schwanz und verschwand dann wieder im Gestrüpp. „… warte hier“, sagte ich und ließ Koji stehen. „Wo willst du hin?“, rief er mir genervt nach. „Pissen“, fauchte ich zurück. „Ist erlaubt, oder?“ Ich entfernte mich aus Kojis Sichtweite und ging dann in die Hocke. „Psst. Hund? Hundi-Hundi-Hund?“, flötete ich halblaut in den Wald hinein. Es raschelte hinter mir und ich drehte watschelnd in der Hocke um. Das Tier war nur ein paar Meter von mir entfernt. Jetzt konnte ich sehen, dass das Fell an seinem Hals von halb eingetrocknetem Blut verfilzt war. Seine Augen glänzten seltsam und Schaum tropfte von seinen Lefzen. Ich mochte Hunde, aber das hier kostete mich Überwindung: ich streckte die Hand aus und sagte leise: „Guter Junge. So ein lieber Junge. Na komm her.“ Zögernd beobachtete der Hund meine Hand und kam dann langsam auf mich zugetrottet. In respektvoller Entfernung hielt er inne, schnüffelte an meiner Hand. Ich ließ ihn. Nach ein paar Sekunden streckte ich mich ein bisschen weiter und kraulte ihn hinter den Ohren. Sein Fell fühlte sich seltsam an, wie der Pelz eines uralten Teddybären, den man hinter in einem Karton im Keller wiederentdeckt. Kälte stieg meinen Unterarm empor, meine Fingerspitzen wurden taub. Der Hund schloss die Augen und schien meine Massage zu genießen und ich hielt durch, bis das taube Gefühl meine Schulter erreichte. Dann hörte ich auf. „He Junge“, sagte ich dann. „Mein … Freund und ich haben uns verlaufen. Kennst du den Weg ins Dorf? Kennst du ihn?“ Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Der Hund schaute zurück, dann wedelte er mit dem Schwanz, bellte einmal und preschte davon. „Koji!“, brüllte ich über die Schulter. „Ich hab den Rückweg gefunden!“ Dann rannte ich dem Hund hinterher. Ich folgte dem Hund im Dauerlauf. Es ist verwunderlich, dass einen Unebenheiten im Boden immer weniger irritierten, umso schneller man wurde. Die Kraft des Momentums, dachte ich, während ich versuchte, gleichzeitig zu gucken, zu rennen und zu atmen. Ich rannte, bis meine Beine weh taten und dann rannte ich weiter. Wir erreichten eine Hügelkuppe und es ging wieder bergab. Dann war der Hund weg. Ich wurde langsamer und hielt schließlich an. Links von mir Bäume. Rechts von mir Bäume. Hinter mir irgendwo das näherkommende Knacken und Rascheln und Fluchen, das mir sagte, dass Koji aufholte. Vor mir ging es auf einmal ziemlich steil bergab. Ich näherte mich vorsichtig und guckte. War das Tier dort hinuntergegangen und wenn ja, wie? Konnte ich das auch, ohne mich umzubringen? In diesem Moment prallte Koji gegen mich. Ich verlor das Gleichgewicht und gemeinsam purzelten wir die Böschung hinunter. Purzeln ist ein sehr putziges Wort und es wird der Schmerzhaftigkeit dieser Angelegenheit nicht im Geringsten gerecht. Ich landete auf meinen Ellenbogen und auf meinem Kinn. „Aaaaaah“, machte ich schmerzerfüllt und sortierte meine Knochen. Alles schien in etwa zu sein, wo es hingehörte. Das allein fand ich schon faszinierend. „Hast du keine Augen im Kopf, du Idiot?“ „Was rennst du auch so, du blöder Penner!“, herrschte Koji mich an. Er blutete aus einem Kratzer an der Wange. „Vermutlich sitzen wir jetzt noch viel tiefer in der Scheiße als –“ An dieser Stelle brach er ab und schaute sich um. Wir lagen auf einer Forststraße. Links von uns und ein ganzes Stück weiter vorne stand mein neuster Freund wartete mit dem Schwanz wedelnd auf uns. „Da lang“, sagte ich und deutete, noch liegend, in seine Richtung. Koji widersprach nicht. Wir erreichten das Dorf kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Von dort aus war es noch eine knappe Viertelstunde hangaufwärts bis zur Jugendherberge. Mir tat alles weh und als die hell erleuchteten Fenster dieses bettwanzenverseuchten Höllenlochs vor uns auftauchten, hätte ich heulen können. Ich hatte noch nie etwas so wundervolles gesehen! „Also das war echt ein Scheißtag“, sagte Koji und ließ mich stehen. Keine kitschige Versöhnung am Ende des Films. Ich zählte bis zehn. Dann warf ich über die Schulter hinweg ein „Danke“ in die Dunkelheit und folgte Koji nach drinnen. Wir meldeten uns bei unseren sehr besorgten Lehrern. Dann nahm ich eine heiße Dusche – mir doch egal, ob Koji auch wollte oder nicht, wer zuerst kommt, mahlt zuerst - und ging dann ich in den Speisesaal, um zu sehen, ob ich noch was zu Essen abgreifen konnte. Ich war müde und abgeschlagen und wollte eigentlich nur ins Bett, aber mein Magen knurrte so laut, dass meine Armgelenke vibrierten. Ich bekam noch etwas zu Essen. Reis und irgendeine Gemüsepampe und einen Fisch, der schon lange Zeit kein Meer mehr gesehen hatte. Essenszeit war lange vorbei und ich hatte damit gerechnet, allein zu sein, doch überraschenderweise fand ich Kami und Aiko an einem Tisch in der Ecke. Zwischen ihnen stand eine Truhe von der Größe eines Schuhkartons. „Gewonnen?“, fragte ich und setzte mich neben Aiko. „Jap“, sagte sie und rutschte rüber. „Aber das Ding ist verschlossen und wir bekommen es nicht auf. Gut, dass du zurück bist, nebenbei. Ich hab mir Sorgen gemacht.“ „Naja, es ist nur ein Wald“, sagte ich und biss in mein Gemüse. Das Beißen hätte ich mir sparen können. „Das glaubst du“, sagte Aiko. „Hier ging vor Jahren ein Psychopath um. Hat vier Frauen vergewaltigt und umgebracht und im Wald verscharrt. Sie haben ihn erwischt, aber er hat nicht geredet und man hat die letzte Leiche nie gefunden.“ „Gruselig“, sagte Kami. „Woher weißt du das alles?“ „Mein Vater ist Cop.“ „Das erklärt einiges.“ „Was soll das denn heißen?“ Kami stockte. „Nichts. Du hast… gut durchgehalten heute. Für ein Mädchen.“ „Danke? Und dafür, dass du mal was Nettes gesagt hast, weise ich jetzt nicht darauf hin, dass ich weniger am Arsch war als du.“ Sie drehte sich zu mir und flüsterte: „Ich war am Ende weniger am Arsch als er.“ „Ein Scheiß“, sagte Kami. „Du bist ein Scheiß.“ Er seufzte und klopfte auf den Deckel. „Zurück zum Problem. Ich sag immer noch, wir werfen es einfach aus dem Fenster.“ „Und wenn der Inhalt zerbrechlich ist?“ „Dann hätten sie ihn nicht reinpacken sollen.“ „Veto.“ „Yuuuuuki“, sagte Kami und versuchte sich an einem koketten Augenaufschlag. Ein Seufzen erklang hinter mir und Yuuki zog den Stuhl am Kopfende zurück, um sich darauf niederlassen zu können. „Du weißt du immer alles. Wie kriegen wir das Ding auf.“ „Ich geb dir ‘nen Tipp. Das-“ „Ey halt, du weißt das tatsächlich?“, unterbrach ihn Aiko überrascht. „Der weiß allen möglichen Scheiß“, erklärte Kami und wandte sich wieder an seinen Freund. „Ja bitte?“ Yuuki seufzte noch einmal. „Was war denn das große pädagogische Ziel des heutigen Tages?“ „Uhm… Auch faule Schüler mal zum Laufen zu bekommen?“, fragte Kami zurück. „Mit Leuten zusammenzuarbeiten, die man vielleicht nicht mag“, sagte Aiko. Yuuki schaute Kami an. „Es tut mir leid, mein Freund, aber das Mädel ist schlauer als du.“ Kami schnaubte. „Und was hat das jetzt damit zu tun?“ Er klopfte auf die Kiste. „Nun“, sagte Yuuki, „das heute war eine Übung im Teamwork. Team. Zwei Leute.“ „Hä?“, machte Kami. „Oh!“, machte Aiko. „Was, oh?“, fragte Kami. „Alter, wir haben zwar versucht, das Ding aufzukriegen, aber immer nur einzeln! Das ist eine Trickschachtel, für die man vier Hände braucht! Zwei Leute!“ „Oh“, sagte Kami. Aiko nahm die Kiste vom Tisch und begutachtete sie noch einmal gründlich von beiden Seiten. „Ok, siehst du das hier? Halt mal da fest, und nur da. Ok, und jetzt zieh ich hier und-“ Mit einem leisen, fast fröhlichen Knacken schob sich die Kiste auseinander. Die beiden stellten sie ab. „Abgefahren“, sagte Kami. „Die haben sich echt was gedacht dabei“, stimmte Aiko zu. „Dürfen Lehrer das überhaupt?“, fragte Kami. Aiko zuckte mit den Schultern. „Ich hab gehört, dass es so was gibt, aber ich dachte immer, das wären Stadt-Legenden.“ „Hallo?“, sagte ich an meinem Reis vorbei, „bevor ihr euch in der Geilheit der Kiste verliert, wollt ihr jetzt vielleicht mal reinschauen?“ „Guter Punkt, Gackt.“ Aiko öffnete den Deckel. „Ok, was haben wir hier… Wir haben: Schokolade!“ „Iih“, sagte Kami. „Du Unwürdiger“, sagte Aiko. „Yuuki, willst du eine davon? Ohne dich würde wir immer noch dasitzen wie die Schweine vor dem leeren Trog.“ „Wenn du so fragst… Ich sage nie Nein zu Schokolade.“ Aiko reichte ihm eine Tafel und legte die andere neben sich ab. Dann zog sie ein grünes und ein rotes Knäuel Fäden hervor. „Wir haben weiterhin: Glückssträhnen und Geduldsfäden.“ „Das ist bescheuert“, sagte Kami. „Das ist total lustig!“, widersprach Aiko und warf ihm die Geduldsfäden zu. Dieser schwieg ein paar Sekunden, dann zuckten seine Mundwinkel. „Ok. Du hast Recht. Das ist echt ziemlich lustig.“ „Zwei kleine Daruma… Uuuund… Kinogutscheine.“ Sie reichte Kami jeweils einen. Dieser zog eine Schnute und blies Luft zwischen den Lippen hervor. Er sah aus wie ein Kugelfisch. „Was ist?“, fragte Aiko. „Nichts. Ich hatte mich nur heute Morgen darauf eingestellt, dass ich heute Abend sagen könnte, dass das echt eine Scheißaktion war und wie bescheuert ich das alles fand und dass Tori ein riesen Arschgesicht ist. Und jetzt kann ich nichts davon sagen.“ „Das muss diese Tragik der Welt sein, von der immer alle reden.“ Aiko blickte auf und fing den Blick zweier ihrer Freundinnen ein, die in der Tür des Speisesaals aufgetaucht waren und fragend schauten. „Ich sollte dann wohl mal, jetzt, wo das Problem geöffnet ist. Willst du die Kiste?“ „Ne“, sagte Kami. „Kannste behalten.“ Sie packte ihre Sachen zurück in die Truhe und klappte sie zu, darauf achtend, die Verriegelung nicht wieder einrasten zu lassen. Dann stand sie auf, machte aber keine Anstalten, zu gehen. Sie wirkte ein bisschen unschlüssig. „Das war gar nicht so scheiße heute“, sagte sie schließlich. „Eigentlich… war’s sogar ganz witzig.“ Kami nickte langsam. „Ja. War echt ok.“ „Aiko?“ „Komme! Ja, also dann. Tschüssi!“ „Was war denn das?“, fragte Yuuki. „Ach“, sagte Kami und betrachtete die Geduldsfäden, „sie ist gar nicht so übel. Also sie ist eine Riesenzicke, aber daran gemessen ist sie erträglich.“ Er wandte sich zu mir. „Alles klar bei dir?“ „Der Schlaf“, sagte ich und schob meinen leeren Teller von mir, „ist die beste Erfindung aller Zeiten.“ Kurz darauf lag ich im Bett. Koji schlief, die anderen unterhielten sich. Mir war es gleich. Irgendwo draußen bellte ein Hund. Ich schlief ein. Ich rannte mit Koji einen Trampelpfad hinunter, weil wir unbedingt Kassiopeia finden mussten, aber wir fanden Aiko, die hielt mir eine Moralpredigt, dass Bier schlecht sei und wenn ich wieder durchs Fenster rein wolle, dann müsse ich erst Geduldsfäden aufwickeln. Dann wurde Aiko zu Mana, der mir an den Kragen wollte, weil ich seine Gitarre verschrottet hatte. Ich klärte ihn aber darüber auf, dass mir egal war, wie viel die Erdbeeren kosteten, ich mit Yuuki da war und ich außerdem noch meinen Gartenzaun streichen musste. Außerdem konnte ich mir doch gar keinen Erdbeerkuchen leisten. Dann war Koji auf einmal zurück. Wir waren wieder im Wald. „Du kennst mich doch nicht mal! Was hab ich denn gemacht?“, herrschte ich ihn an. Koji sah mich im fahlen Dämmerlicht an. Seine honigfarbenen Augen brannten sich in meine. Eine Flut von Bildern brach plötzlich über mich herein. Ich sah ein edles Herrenhaus, einen Kristalllüster, hörte das Getrappel von Hufen und das Poltern von Kutschenrädern auf Kopfsteinpflaster, roch den Rauch eines Kaminfeuers, Kerzenwachs, altes Papier und ein edles Parfüm, das in mir den Wunsch weckte, die Frau die es trug an mein Herz zu ziehen und nie wieder los zu lassen. „Du hast mir alles genommen“, sagte eine Stimme kalt. Es war Kojis Stimme und auch nicht. Sie kam auf einmal von jemandem hinter mir. Ich drehte mich um und - war wieder am See. Und durchlebte meinen Tod. * Ich wachte auf. Ich atmete durch. Ein Hund bellte draußen. Ich lag in meinem Bett und sah dem Leuchtzeiger auf meiner Armbanduhr beim Vorrücken zu. Es war kurz vor fünf, als ich meine Sachen nahm, leise vom Bett kletterte und aus dem Zimmer huschte. Wie schon in der vorletzten Nacht zog ich mich auf dem Gang vollständig an und stieg durch ein Fenster im Gemeinschaftsraum nach draußen. Ungesehen. Der Himmel im Osten färbte sich bereits blassrosa. Ich atmete tief die frische Morgenluft ein und fühlte mich gleich ein bisschen wacher, als ich über den Parkplatz und in die Richtung lief, aus der ich gestern mit Koji gekommen war. Um kurz nach Sechs bog ich auf die Forststraße ab, kam an der Böschung vorbei, die wir hinuntergekugelt waren und ging noch eine Viertelstunde weiter. Schließlich blieb ich stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Ok. „Hund?“, rief ich. „Huuund? Hundi-Hund?“ Mir kam, dass ich Aiko nach dem Namen des Tiers hätte fragen sollen. Andererseits, dachte ich, hätte sie den vermutlich eh nicht gewusst. Wozu auch. Langsam ging ich weiter. Gräuliches Dämmerlicht fiel durch die Baumwipfel und leises Vogelgezwitscher hob an. „Huuund?“, rief ich noch einmal. Da hechelte etwas rechts vor mir aus dem Gebüsch. Ich machte einen erschrockenen Satz rückwärts. „Oh Gott!“, sagte ich und ging in die Hocke. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken!“ Er bellte und wedelte freudig mit dem Schwanz. Offenbar war es ihm nach so langer Zeit des Ignoriert-Werdens egal, ob er positive oder negative Ansprache hatte, solange man sich nur mit ihm beschäftigte. Noch einmal überwand ich den leichten Ekel, den diese Handlung auslöste, und kraulte ihm den Nacken. Dann seufzte ich. Also los. Unsicher, ob ich die folgenden Worte für den Rest meines Lebens bereuen würde, schaute ich ihn fest an und sagte: „Such das Frauchen. Such!“ And no one dared Disturb the sound of silence Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)