Discours tragique sur le bonheur von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Da war es wieder. Das kalte Wasser, das Eissplitter in meine Brust zu treiben schien. Die Dunkelheit und die Stille, die mich umgaben. Der Sog, der mich unerbittlich nach unten zog. Und irgendwo in meinem Kopf dieses kalte, höhnische Gelächter. Die Muskeln in meinen Armen und Beinen brannten von dem Versuch, mich wieder an die Oberfläche zu strampeln und die Kälte lähmte meine Bewegungen. Ich versuchte zu schreien und spürte, wie das Wasser meinen Mund füllte. Kein Sauerstoff. Mein Inneres verkrampfte sich schmerzhaft. Dann konnte ich den Reflex nicht mehr unterdrücken und atmete ein. Wasser strömte in meine Lungen und ich musste husten. Ein seltsam watteartiges Gefühl breitete sich in meinem Kopf aus, meine Bemühungen wurden unkoordinierter, langsamer und hörten schließlich ganz auf. Der Teil von mir, der noch klar denken konnte, dachte: das ist es also. Ich werde sterben. Und ich sah ein Licht, ein wunderbares Licht - Und fuhr schweißgebadet hoch. Zitternd kauerte ich mich auf meinem Kopfkissen zusammen und atmete tief durch, bis die Bilder allmählich vor meinem inneren Auge verblassten. Bisher hatte es selten eine Woche gegeben, in der mich mein Albtraum nicht wieder eingeholt hatte. Die Zeit in der Klinik hatte ihm nichts von seiner Intensität genommen, sondern sie eher noch verstärkt. Und wenn ich jemals zugeben würde, dass sich nichts an meinem Zustand verändert hatte, ich wäre schneller wieder dort, als ich ‘Es gibt sechs Sinne‘ sagen konnte. Damals, vor fast sieben Jahren, erwarb ich mir eine der menschlichen Grundkompetenzen: Ich lernte zu lügen. Es gibt eine Grenze dessen, was man ertragen kann. Es gibt auch eine Grenze dessen, was man den Leuten zumuten kann, die man liebt. Schließlich durfte ich mit meinen Eltern nach Hause und in ein normales Leben zurück. Sie durften vergessen. Noch ziemlich wackelig auf den Beinen stand ich auf und tappte fröstelnd zum Fenster hinüber. Dort lehnte ich die Stirn an die kühle Scheibe und starrte auf die Straßenlaterne draußen direkt vor dem Haus, die orangefarbenes Licht in mein Zimmer warf. Da waren sie. Die gewöhnlichen Vorstadtstraßengrundstücke in der gewöhnlichen Vorstadtstraße in der gewöhnlichen Vorstadt, bewohnt von noch viel gewöhnlicheren Leuten, die morgens aufstanden, Bentos machten und ihre zwei Kinder in die Schule schickten; Auto, Job, einmal Urlaub um Jahr. Man lebte ruhig hier und träumte bescheiden. Ich wusste, würde ich das Fenster öffnen, würde ich den salzigen Geruch des Meeres riechen, und, wenn ich ganz genau hinhörte, sogar das Wasser gegen die Klippen donnern hören. Mein kleiner Bruder hatte Asthma, nur deshalb waren wir hergezogen, der Arzt meinte, Seeluft sei gut für ihn. Mein Vater hatte einen besseren Job gefunden und meine Mutter drei neue Initiativen, für die sie sich engagieren konnte. Und ich? Ich hatte ein größeres Zimmer und endlich einen eigenen Fernseher. Sogar eine neue Stereoanlage und auch eine Erhöhung meines Taschengelds. Alles nur, damit ich kein Gesicht zog. Ich tat mein Bestes, doch dummerweise war mein Bauchgefühl eines dieser Dinge, die mit Geld allein nicht zu beruhigen sind. Ich musste nur einen Blick nach draußen und in meine nahe Zukunft werfen um zu wissen, dass mich diese Stadt und alle ihre Bewohner abgrundtief hassen würden. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es bereits kurz vor sechs war. In etwas mehr als einer halben Stunde würde ich aufstehen müssen, keine Chance also auf nochmaligen Tiefschlaf. Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf die Spiegelung meines Zimmers und meiner selbst in der Scheibe. Mein Fenster-Ich schaute unglücklich zurück, den Pony immer noch schweißnass in die Stirn geklatscht und seine Augenringe sprachen ganze Bände über das Ausmaß seines Schlafmangels. Vielleicht log das unvorteilhafte Licht von draußen und Fenster waren nun wirklich nicht die vertrauenswürdigsten Spiegel, dachte ich noch und dann sofort: Wem machen wir hier was vor. Gott, ich würde im Badezimmer immer noch genauso beschissen aussehen. Ich stöhnte. Da konnte ich ja gleich an meinem ersten Schultag einen richtig guten Eindruck hinterlassen. Aus dem Zimmer meiner Eltern auf der anderen Seite des Flurs konnte ich das Piepsen des Weckers hören. Sechs Uhr. Mit einem leisen Seufzer löste ich meinen Kopf von seiner sehr angenehmen Position am Fenster. Es gab ein leises Geräusch, ähnlich dem, wenn man Scheiblettenkäse öffnet. Dann würde ich eben duschen gehen und dann den Versuch unternehmen, diese Augenringe zu überschminken. Darin hatte ich Übung. Ein kalter Schauer lief mir über den Nacken, als hätte mir jemand ins Genick gepustet, und als ich mich umdrehte, hatte ich für einen kurzen Moment den Eindruck, die Tür stünde offen. Doch als ich mit dem Fenster im Rücken ins Halbdunkel lugte, war das Zimmer leer und die Tür geschlossen. Ich seufzte noch einmal, ging zu dem Umzugskarton hinüber, der am nächsten an meinem Schrank stand und begab mich darin auf die Suche nach der hier angesagten Schuluniform, entschlossen, nicht weiter über den Vorfall nachzudenken. Irgendetwas (oder aber, und das hätte jeden anderen vermutlich gegruselt, irgendjemand) befand sich mit meiner Familie in diesem Haus. Das hatte ich schon beim Einzug gemerkt. Aber wem sollte ich davon erzählen? - Dreiviertel acht, gewöhnliche Straße, gewöhnliche Stadt. Kamui Gakuto ist unterwegs. Ja, da war ich, der ultimative Oberchecker auf dem Weg zu meinen neuen Untertanen. Ich würde es ihnen allen zeigen; sie würden vor mir knien, denn ich war ein Sexgott. Ich sah geil aus und ich hatte es voll drauf. Oh yeah, Baby. Bring it. Mein Psychiater hatte immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Dinge positiv zu betrachten. Ein wenig gesunde Selbstüberschätzung, so die Maxime, könne nie schaden und so hatte ich vor dem Spiegel im Flur noch ein paar Superheldenposen durchgezogen (frei nach dem Motto: Fake it, ‘til you make it) und war jetzt bemüht, nur das beste aller Lichter auf meine Wenigkeit herableuchten zu lassen. Intelligent. Individuell. Imposant. Andere positiv konnotierte Wörter mit I. Mit jeder verstreichenden Minute wurde es allerdings schwieriger, die Realität zu ignorieren, die mit meinen I-Wörtern so gar nichts zu tun haben wollte. Anzunehmen, dass sie darüber schmunzelte, war noch eine wohlwollende Annahme: Nein, die Realität musste lauthals lachend auf dem Boden liegen und mit ihren Fäustchen trommeln über meine verzerrte Wahrnehmung… oder den kläglichen Versuch einer solchen. Ich hatte den Tipp übrigens schon immer scheiße gefunden. Ich war eher der neurotische Typ und der festen Überzeugung, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein musste. Der erste Schultag war voller Risiken. Und wie sollte ich mich darauf einstellen, wenn ich schon mit vollkommen falschen Annahmen an die Sache ranging? Zum Beispiel die, ich wäre begabt, betörend und besonders? Nun ja. Zumindest letzteres mochte zutreffen. Bisher hatte es allerdings nie den Anschein gehabt, als wäre diese Eigenschaft ein Grund zum Feiern. Als ich der Schule langsam näher kam, änderte sich die Umgebung. Erst waren es kleine Dinge – ein Faltenrock hier, eine Krawatte in den Schulfarben dort – dann das zunehmende Gemurmel, mehr Umhängetaschen, eine Buchhandlung spezialisiert auf Schulbücher, und schließlich bog ich auf den Schulhof ein und blieb erst einmal stehen. Das waren ziemlich viele Menschen. Ok. Gut. Du kannst das. Haare glätten. Krawatte richten. Und wieder einen Schritt zurück und um die Ecke machen. Eine Gruppe von Mädchen trippelte an mir vorbei und erst, als sie verschwunden waren, atmete ich einen zittrigen Schwall Luft aus, von dem ich nicht gemerkt hatte, dass ich ihn angehalten hatte. Das wäre jetzt doch ein guter Zeitpunkt für ein paar Fakten. Fakt Eins: Ich sollte mich jetzt wirklich beeilen, sonst kam ich zu spät. Meine Füße waren allerdings wie festzementiert und bewegten sich keinen Millimeter. Fakt Zwei: Mein Augenmakeup hatte vor der heutigen Aufgabe kapituliert. Man sah, dass ich mich geschminkt hatte und gleichzeitig immer noch deutlich, dass ich absolut übernächtigt war. Ja, ist denn das nicht entzückend. Fakt Drei: Schuluniformen betonen nicht gerade meine Schokoladenseite. Wobei ich zu dieser Behauptung jetzt erstmal irgendwas an mir finden müsste, das man als solche bezeichnen könnte. Aber wenn ich eine hatte, dann kam sie hierin nicht zur Geltung. Fakt Vier, und er bringt uns zurück zu Fakt Eins: Es hatte soeben geläutet. Oh ja. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes der Oberchecker. Ich liebte mein Leben. Oberchecker Gackt brauchte geschlagene zwei Minuten um sich dazu durchzuringen, einen der wichtig aussehenden älteren Schüler nach dem Weg zu fragen. 30 Sekunden bis zum Gong. Der ultimative King bewegt sich graziös zum Sekretariat. Drei Minuten nach Unterrichtsbeginn. Der King kennt den Weg zu seinem Klassenzimmer. Sieben Minuten nach dem Gong. Der King hat sich verlaufen. Neun Minuten nach dem Gong. Der King rennt den Gang auf und ab auf der Suche nach dem Raum. Zwölf Minuten nach dem Gong. King Gackt steht endlich vor der Tür, glättet die Haare, kaut noch einmal nervös an den Fingernägeln und klopft an. Meine Coolness war fast ungeheuerlich. Eine Frauenstimme forderte mich zum Eintreten auf. Schon seltsam, dass einen so ein einfaches Wort wie ‘Herein’ wünschen lassen konnte, auf die dunkle Seite des Mondes zu flüchten. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür. Da saßen sie, alle, deren Namen ich noch nicht kannte und starrten die willkommene Ablenkung vom Unterricht an. Ein paar flüsterten sich etwas zu. Andere wirkten von uninteressiert bis zu Tode gelangweilt. Und ein paar kicherten. Das Objekt des Witzes war unschwer zu erraten. Ich konnte spüren, wie sich meine Wangen rosa färbten. Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich mein Leben liebe? „Ich, äh…“ „Gakuto Kamui?“ „Ähm ja. Entschuldigung. Ich hab den Raum nicht gefunden…“ „Macht nichts. Aber sorgen Sie bitte dafür, dass Sie in Zukunft pünktlich sind. Setzen Sie sich neben Hagino.“ Sie deutete auf einen Tisch in der dritten Reihe, an dem ein Junge mit Sidecut saß, dessen linke Haarhälfte bräunlich rot-orange gefärbt war und ihm tief ins Gesicht hing. Er schaute mich mit dem Arsch nicht an. Ich ging hinter, bemüht, nur auf meine Füße zu sehen, spürte die Blicke meiner neuen Klassenkameraden in meinem Nacken und setzte mich neben den Punk, nur um möglichst zu verschwinden. Mein neuer Banknachbar räumte wortlos seine Sachen ein Stück zur Seite. Na klasse. Es hatte den Anschein, er mochte mich schon jetzt nicht. Ich zog Heft, Stifte und schließlich den Stundenplan aus meiner Tasche, den man mir im Sekretariat nachgeworfen hatte. Mathe. Und bald schon lag das Interesse nicht mehr auf mir, worüber ich wirklich sehr glücklich war. Ich schrieb mit. Alle schrieben mit. Der Typ neben mir schrieb nicht mit. Um genau zu sein zeichnete er. Und das ziemlich gut. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, legte er seinen Arm davor. Die Message kam an. Ich schaute nicht mehr. Um die Zeit gut zu nutzen, beschloss ich, mir den Rest meiner Klasse anzusehen, solange sie noch so schön versammelt und anderweitig beschäftigt waren. Alle wirkten sie recht normal, zumindest das, was ich sehen konnte. Mich umzudrehen wagte ich nicht. Solange ich keine Aufmerksamkeit auf mich zog, pustete mir zumindest niemand Spucke-Papier-Kugeln in den Nacken. Oder rief mich an die Tafel. „Kamui?“ … ich hatte es ja heraufbeschwören müssen. Aber wenn es darum ging, anderen Leuten telekinetisch in die Fresse zu schlagen, dann versagte die Macht meiner Gedanken natürlich! Scheiße, dachte ich, während ich nach vorne tappte – dabei war ich gerade so froh gewesen, in der Masse unterzugehen! – und nahm das mir angebotene Kreidestück. Ich hatte doch nicht mal die Frage gehört. Ok Gackt. Zahlen. Viele davon. Come on, du bist gut, du bist schlau, du bist in Mathe absolut „- nicht auf unserem Niveau.“ Und da sage noch einer, positive Einstellung sei alles. Kinder, glaubt mir: Esoterik ist Bullshit. „Wir hatten das noch nicht…“ erklärte ich kleinlaut. So viel zu meinen vermeintlichen Mathekenntnissen. Es wurde wieder gekichert. „Oh, das ist aber nicht gut. Sie werden das nacharbeiten müssen.“ Nacharbeiten? Ich war in Mathe mies, seit es für gute Lösungen keine lachenden Sonnen mehr in mein Heft gegeben hatte. Sollte ich diese langen Jahre nacharbeiten? „Lady, wie stellen Sie sich das vor?“ – sagte ich natürlich nicht. Ich drehte mich wortlos um, um auf meinen Platz zurückzugehen und hatte zumindest einmal Gelegenheit, auch die hinteren Reihen zu begutachten. „Ukyou, kommen Sie mal an die Tafel, bitte.“ Ein sportlicher Junge mit überhüftlangen, etwas verfilzten Haaren, die eine Mischung aus rot, braun und schwarz waren und sich sicher nicht kämmen ließen, schlenderte nach vorne. Dort löste er die Riesengleichung – allerdings mit einiger Hilfestellung - und schlenderte wieder zurück. Mein Banknachbar schob einen Zettel an den Tischrand und der Langhaarige ließ ihn unauffällig mitgehen. Freunde also. Mich ignorierte Hagino noch immer. Mathe wurde abgelöst von Japanisch. In Japanisch war ich immer gut gewesen und ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Die Klasse behandelte gerade Gedichte, und wir sollten als Hausaufgabe eines interpretieren und irgendwann in diesem Jahr eines schreiben und es der Klasse vortragen (auf dass meine Worte von Unwürdigen zerfetzt werden, dachte ich ein wenig bitter). Aber auch das machte mir letztlich keine nennenswerten Sorgen. Dann läutete es zu Pause. Und DAS machte mir WIRKLICH Sorgen. Ich hatte die Loserkarte gezogen. Ich war der Neue in der Ecke des Pausenhofes, der sich von allen angaffen lassen durfte. Mein Banknachbar und sein Kumpel waren beim Läuten hochgesprungen und hatten das Klassenzimmer fast fluchtartig verlassen, und ich schickte mich an, es ihnen gleich zu tun. Genau wie ich vorhergesehen hatte, starrten mir alle hinterher und das auf eine so aufdringliche Weise, dass ich mich schon fragte, ob ich etwas im Gesicht kleben hatte. Ich fand das äußerst störend, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war herauszufinden, aus welcher Richtung ich gekommen war. Meine neue Schule war ein älterer Bau aus den siebziger Jahren. Gefühlte 342 Türen, 183 Gänge und mindestens 583 Treppen, die mich niemals dahin brachten, wo ich gerade hinwollte, schienen ihr Hauptbestandteil zu sein. Als ich nach fünf Minuten endlich wieder an die frische Luft gelangte, beschloss ich, mir einen sichtgeschützten Platz im Pausenhof zu suchen um den Blicken zu entgehen. Für eine so große Schule war der Neue eine ziemliche Attraktion. Und deswegen waren Kleinstädte so gefährlich. Es tat sich einfach nichts anderes. Und Manieren lernte man scheinbar auch keine. Wer war ich denn, der Gorilla im Zoo etwa? Ich umrundete das Schulhaus einmal, kam zu einer ruhigen Ecke, schaute um einen Säule und zog den Kopf genauso schnell wieder ein, wie ich ihn ausgestreckt hatte. Da hinten standen zwei Personen, denen ich nun weniger hatte begegnen wollen. Strategischer Rückzug war angesagt! Doch in diesem Moment hörte ich Schritte hinter mir. In seiner Betrachtung aufgeschreckt, schaltete mein Gehirn auf Fluchtmodus: ich warf einige panische Blicke um mich und schlug mich dann in die Büsche, die das Schulgebäude umgaben. Dann klinkte sich mein rationaler Hirnteil wieder ein und fragte mich (nicht ohne leisen Tadel), wieso ich jetzt hier in den Büschen hockte und mich von Ästen in den Hintern pieken lies. Ich hatte zweifellos das Recht, dort draußen herumzustehen. Ich schob ein paar Zweige zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um ein stark geschminktes Mädchen mit hochgesteckten blauschwarzen Haaren vorbeilaufen zu sehen. Ach ja, stimmte. Ich wollte nicht von der Schulhofelite angemacht werden. Ich streckte den Kopf etwas weiter aus dem Geäst und glotzte ihr nach. Sie war schön, zweifellos, aber irgendwas an ihr kam mir seltsam vor. Ums Verrecken hätte ich aber nicht sagen können, was es war. Dann sah ich zu, dass ich den Kopf wieder zurück in die Blätter bekam, denn ein dritter Junge ging nur knapp an mir vorbei. Er trug eine Brille und wurde von der Aura eines gruseligen Puppenmachers umwabert. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Als ich mich wieder traute, meinen Hals auszufahren, hatten sich die vier bereits zusammengerottet und sich mit einem Handschlag begrüßt. Die Jungs zumindest. Na super, anscheinend kannte ich damit die Clique meines Banknachbarn. Und jetzt konnte ich auch noch ihre Privatgespräche mithören. Dabei wollte ich doch einfach nur mein Reisbällchen essen. (Mmh. Umeboshi.) „Na Közi, schon wieder nachsitzen?“ „Woher weißt du das jetzt schon wieder?“ „Ich weiß viele Dinge… und die meisten sind nicht schön.“ „Pff. Lehrers Liebling.“ Das Mädchen murmelte etwas halblaut. Koji (oder wie auch immer der hieß) und Filzhaar brachen in albernes Gekicher aus. Der Typ mit der Brille stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte mir seinen wenig begeisterten Gesichtsausdruck gut vorstellen. „Haha Mana, lustig. Sagst ausgerechnet du. Meine Berechnungen haben übrigens ergeben, Noten verhalten sich indirekt proportional zur Länge des Rocks. Ist doch sicher interessant für dich.“ Ich hörte ein dumpfes Geräusch und ein „Au!“ und konnte sehen, wie sich der untote Streber das Schienbein hielt. Das Mädchen hatte die Arme verschränkt und murmelte wieder etwas. „Ach, Lappalie. Fünfmal ohne Hausaufgabe oder so was war es, oder Kami?“ Ich wagte einen Blick. Der Langhaarige schien nachzudenken. „Nein, ich glaube diesmal war es, weil du die Kreide nach Ayou geworfen hast.“ „War das nicht schon vorletzte Woche? Ich verlier so schnell den Überblick.“ Koji grinste. „Du planst jetzt wirklich den Rekord der meisten blauen Briefe, was?“, fragte der Zombie, der sich scheinbar von seinem schmerzenden Bein erholt hatte. „Nein, ich plane einen Rekord an den meisten Disziplinarausschüssen. Schon vier Tagungen auf mein Konto. Noch zwei und ich hab den Rekord des großen Takahashi gebrochen.“ „Wir könnten dich tatkräftig unterstützen.“ „Ach ja?“ „Na ja, wenn jemand durchsickern lassen würde, wer die Bühne am Schulfest sabotiert hat…“, meinte Kami, das Langhaar, und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. „…oder die Stinkbombe im Direktorat versteckt ...“, sagte der vampirartige Goth. „…“, sagte das Mädchen. Koji lachte gluckernd auf. „Ich hab noch nie den Mensafraß in die Luft gesprengt. Aber hervorragende Idee, danke Mana. Werd ich auf meine Liste setzen.“ Oh Nein Nein Nein. Ich hörte hier gerade Dinge, die ich nicht wissen sollte. Das würde mir noch wahnsinnige Schwierigkeiten machen, sollten die jemals rausfinden, dass ich hier im Gebüsch gehockt hatte. „Wieso häng ich noch mal mit euch rum?“ seufzte der Typ mit der Brille, den ich Heinz taufte, weil mir die blumigen Umschreibungen meines Hirns auf die Nerven zu gehen begannen. „Weil du uns seit Jahren kennst. Außerdem sind wir cool.“ "Semiüberzeugend." „Diss mich nicht auf Latein.“ Koji schlang seine Arme um das Mädchen und legte seinen Kopf auf ihrer Schult aber, in der eindeutigen Absicht, das Thema eindeutig zu wechseln. Oder so etwas in der Richtung. Er erinnerte an einen Straßenkater, der sich zum Hauskätzchen schleicht. „Und Mana, wie war dein Tag?“ Sie drehte den Kopf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ouh, armes Mana-Schnucki. Kann man deine Laune aufhellen?“ Falls dem so war, hörte ich die Antwort nicht. Was war denn los mit ihr? Vielleicht hatte sie es mit den Stimmbändern. Koji zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Kami hielt ihm ein Feuerzeug hin. „Der Herr.“ „Zu aufmerksam.“ „Kenn dich lang genug um zu wissen, dass du keins hast.“ „Weil ich dich lang genug kenne um zu wissen, dass du mich lang genug kennst um zu wissen, dass ich kein habe weil du weißt das ich weiß, dass du weißt, dass ich keins habe weil ich weiß, dass-“ „Klappe“, stöhnte Kami und packte sein Feuerzeug wieder weg, während Koji genüsslich an seiner Kippe zog. Der Rauch veranlasste das Mädchen, lieber wieder die Nähe zu Heinz zu suchen, der sich etwas entfernt auf der Blumenbeeteinfassung niedergelassen hatte. Langsam aber sicher wurde mir kalt. Außerdem kam ich mir echt dämlich vor, wie ich da im Gebüsch hockte und mich nicht raus traute. Also schlich ich kurzerhand ein paar Schritte weiter durch die Büsche (ich fand drei Bälle - einen Tennisball, einen Tischtennisball und einen platten Fußball), schaute noch mal über die Schulter, ob sie auch ja nicht guckten (taten sie nicht) und huschte von dannen. Ich kann sehr schnell huschen. Auf der anderen Seite des Schulhofes hielt ich schließlich an und fühlte mich in etwa so, wie ich es mir nach einem Triathlon vorstellte. Nur dass die Leute bei einem Triathlon eine bessere Kondition hatten als ich. Seufzend packte ich mein Onigiri aus seiner Alufolie und setzte mich auf eine Treppe, mich im Inneren damit abfindend, doch der Angestarrte zu sein. Aber zumindest piekten mich keine Zweige mehr. Es läutete zur nächsten Stunde und King Gackt, dessen Selbstwertgefühl den Tag über schon sehr gelitten hatte, beschlich das leise Gefühl des Zweifels, ob er Koji und seinen Gesellen nicht vielleicht doch aufgefallen war. Sollte dem so gewesen sein, so zeigten sie es nicht, als ich wenige Meter hinter ihm und Langhaar zurück in mein Stockwerk trödelte. Es stellte sich heraus, dass wir eine Doppelstunde Englisch hatten. Ich war nicht unbedingt schlecht in Englisch. Womit ich aber gar nicht klar kam, war auf Kommando fremde Sprachen brabbeln zu müssen. Mein Hirn schaltete dann auf Alarm und mir fiel überhaupt nichts mehr ein. Also hing ich diese eineinhalb Stunden möglichst klein auf meinem Stuhl rum und versuchte, nur nicht aufzufallen. Und trotzdem kam ich natürlich dran. Nachdem ich fünfmal beim gleichen Wort gestolpert war, ließ die Lehrerin endlich jemand anderen lesen, dieser jemand war da mein Banknachbar. Zu meiner großen Erleichterung las er nicht nennenswert besser als ich. Dann ging auch diese schreckliche Stunde vorbei, in der mich die Lehrerin nach meinem ein-Wort-Debakel vollkommen ignoriert hatte. Sollte mir recht sein. Zum Pausenläuten sprangen wieder alle auf. Ich zockelte langsam hinterher. Als ich gerade am Treppenabsatz ein Stockwerk tiefer stand und mir überlegte, wo ich diese Pause verbringen konnte, schwebte eine Stimme aus einem offenen Klassenzimmer zu mir herüber. Sofort schossen mir sämtliche Szenen aus allen Typ-geht-in-die-Schule-und-hört-eine Frauenstimme-aus-einem-leeren-Klassenzimmer-Filmen, die ich je gesehen hatte durch den Kopf. Es waren nicht viele, aber mehr, als man vielleicht erwartet hätte. Was? Ich mochte ein wenig seltsam sein, aber ich war immer noch sechzehn und Single. Doch es war meine ach so geliebte Mathelehrerin. Und Frauen in der Menopause mochten ihre Vorzüge haben – ich fand das mit über 50 nicht mehr wirklich erotisch. Oder vielleicht eher ‘noch nicht‘. Fragt in zwanzig Jahren nochmal. „Kommen Sie doch bitte mal kurz zu mir.“ Das ‘kurze’ Gespräch dauerte fast die ganze Pause, was mich gehörig ärgerte, mich aber andererseits auch davor bewahrte, durch diese endlosen Flure zu wanken. Ergebnis der kleinen Unterhaltung war, dass ich mich nach ihrer Einschätzung in Mathematik auf dem Niveau der 8. Klasse bewegte. Danke. Das wusste ich schon. Neu war, dass ich mir am besten jemanden suchen sollte, der mir Nachhilfe gab. Sie empfahl mir einen gewissen Yuuki Yoshida aus der Parallelklasse. Ich verließ das Zimmer in Weltuntergangsstimmung. Mein erster Schultag und schon stand ich unter Zeitdruck, denn natürlich erwartete meine liebste Lehrerin vermutlich, dass ich baldmöglichst Erfolge vorzuweisen hatte. Hallo? Das entsprach nicht meiner Art, mit Menschen umzugehen. Kurze Einführung: Menschen. Zuallererst muss man von dieser überaus aggressiven Rasse wissen, dass es grundsätzlich solche und solche gibt. Es gibt Menschen, die beliebt sind und dann gibt es noch solche wie mich. Ich hab da eine genetische Theorie: irgendwo in der DNA gibt es einen itsy-bitsy Strang – vermutlich ist er golden und glitzert – den manche Menschen haben und andere nicht. Dieser ist verantwortlich für Beliebtheit: er sorgt dafür, dass man gut in Sport ist, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, nie zum falschen Outfit greift und was es nicht sonst noch alles für Qualitäten gibt, die einen cool machen. Aber wie gesagt, das ist nur meine Theorie, erzählt niemandem davon. Bei Menschen, die beliebt sind, empfiehlt es sich für einen Angehörigen der anderen Gruppe (Gackt) den bestmöglichen Abstand einzuhalten, der im Idealfall die Strecke Tokio-Moskau beträgt. Sollte ein Angehöriger der unbeliebten Rasse (Gackt) jedoch Bekanntschaft mit einem Wesen seiner Art machen, so empfiehlt sich langsame Annäherung. 1. Woche: gegenseitiges Beobachten. 2. Woche: leichtes Anlächeln. 3.-4. Woche: vorsichtiges Austauschen von Floskeln wie Guten Morgen, Tschüss, bis dann, wie geht’s. Und DANACH konnte man vielleicht darüber reden, ob man den anderen Angehörigen der unbeliebten Rasse mal nach Hause einladen wollte und DANACH konnte man über Gefallen wie Nachhilfe, Hausaufgaben abschreiben und nebenbei über Dinge wie…. Freundschaft reden. So viel zu meiner geistigen Verfassung. Und jetzt verlangte diese Frau doch tatsächlich von mir, meine heiligen Prinzipien über den Haufen zu werfen und bei diesem Yuuki, von dem ich nicht mal wusste, in welche Gruppierung er gehörte (ok, er war gut in Mathe, das ließ nicht viele Optionen offen), die ersten drei Wochen einfach so zu überspringen. Während ich so vor mich hin grübelte, wie ich aus meinem selbstfabriziertem Schlammassel wieder rauskam, bemerkte ich nur aus weiter Ferne das Läuten. Ein Getrappel von hunderten von Füßen brach los. Ich seufzte und machte mich auf den Rückweg zu meinem Klassenzimmer. Und da passierte es. Eine Gruppe von Fünftklässlern alberte vor mir auf der Treppe herum. Einer schubste den, der genau vor mir stand. Dieser fiel gegen mich. Ich wiederum machte einen Satz nach hinten, hielt mich gerade noch am Geländer fest, spürte etwas Hartes an meiner Schulter und realisierte eine Zehntelsekunde später, dass ich bei meinem nicht ganz freiwilligen Manöver total in jemanden reingerasselt war, der jetzt einige Stufen unter mir lag, seine Sachen bis zum nächsten Treppenabsatz verstreut. Und als ich weitere zwei Sekunden später bemerkte, um wen es sich da handelte, wäre ich am liebsten gestorben. Da unten, sich mit einer Hand das Knie haltend und mit der anderen ihr Zeug wieder aufsammelnd, saß das Mädchen, das ich bei Koji gesehen hatte. „Scheiße“, murmelte ich und sprang die Stufen runter, die Gaffer am Rande der Treppe, von denen sich natürlich niemand die Mühe, machte ihr zu helfen, geflissentlich ignorierend. „Hey, tut mir leid! War keine Absicht, bist du ok?“ Ich bückte mich und hob ihre Bücher auf. Sie nahm sie mir ab, lies ihre Augen einmal abschätzend über mein Gesicht wandern, schenkte mir einen äußerst merkwürdigen Blick und ging dann genauso stumm, wie sie gekommen war weiter. Na super. Jetzt war sie eingeschnappt. Als ob ich nicht schon genug Probleme hatte! „Hey, wart mal! Ich hab mich doch entschuldigt!“ rief ich ihr nach und setzte dazu an, ihr zu folgen. Gakuto Kamui war vieles, aber ein gemeiner Frauenschubser war er nicht! Da packte mich eine Hand an der Schulter. Ich schlug sie weg. „Sekunde, ich bin grad-“ „Lass es bleiben.“ Mein ganzes Inneres wurde auf einmal schwer wie Blei. Ach du Schande. Ich drehte den Kopf. Da stand doch wirklich mein Banknachbar und sah mich mit einem Blick an, der sogar als mörderisch gegolten hätte, wenn wir uns gemocht hätten. Was mir aber mehr Sorgen machte, war das überhaupt nicht dazu passende Lächeln. Freundlich. Zu freundlich. So wie ein Hund freundlich aussah, kurz bevor er auch anspringt und euch ins Gesicht beißt. Jetzt schien ich überhaupt kein Inneres mehr zu haben. „Ich, äh, ich wollte nur-“ „Ja, lass es einfach gut sein. Gehen wir, mmh?“ „Gute Idee“, murmelte ich und machte den Versuch, zurück zum Klassenzimmer zu gehen. Ich wartete auf die Hand an meinem Nacken, doch nichts passierte: Ich erreicht das Zimmer unbeschadet. So unbeschadet, wie man sich fühlen kann, wenn einem sein imaginäres Ego mitsamt der Wirbelsäule rausgerissen worden war. Die nächsten zwei Stunden benahm ich mich so unauffällig wie möglich und ich war sicher, wenn man mich unter eine Messlatte gestellt hätte, so wäre ich irgendwo bei der drei-Zentimeter-Marke gelandet. Ich war verdammt froh, als es ENDLICH läutete und sah zu, dass ich Land gewann. Als ob der Tag nicht schon mies genug gewesen wäre, stand Miss Schweigsam vor der Tür und ich hätte sie fast zum zweiten Mal an diesem Tag über den Haufen gerannt. Zuhause angekommen war ich der festen Überzeugung, der Triathlon würde für mich bald in erreichbare Nähe rücken. Den Rest des Tages war ich der liebe Kamui. Ich räumte weitere Sachen aus meinen Umzugskisten in mein Zimmer, in dem bisher nur mein Spiegel (wichtig), mein Bett, mein Schrank und mein Schreibtisch (alle ohne Inhalt) gestanden hatten und kämpfte fast eine halbe Stunde lang mit dem Poster über meinem Bett, das meinen halb-gefluchten Argumenten, warum es da hängen sollte, partout nicht nachgeben wollte. Warum es da hing, wusste ich auch nicht, denn schlau war anders. Ein Poster, das im Schlaf auf euch fällt? Experience Fear. Ich ging mit dem Hund am Strand spazieren, machte einen halbherzigen Versuch meine Mathehausaufgaben zu lösen, fühlte mich zu unkreativ, um das Gedicht für Japanisch zu schreiben und ging schließlich, ganz der perfekte Sohn, meiner Mutter in der Küche zur Hand. Ich aß mit meiner Familie zu Abend, erzählte brav, dass ich mich in der Schule schon toll eingewöhnt hatte, lächelte freundlich und hörte meinem Bruder zu, der fröhlich von seinem ersten Schultag herumquäkte. Dann erzählte mein Vater von seiner Arbeit. Er war Anwalt, und jetzt schon der Überzeugung, seinen ersten Fall in dieser Stadt zu gewinnen. Und meine Mutter erzählte, dass sie heute beim Einkaufen die Nachbarsfrau getroffen hatte, und die uns zum Abendessen eingeladen hatte, morgen, zur Begrüßung. „Sie haben einen Sohn in deinem Alter, ihr werdet euch sicher mögen. Und eine kleine Tochter.“ Meine Mutter strahlte bei dem Gedanken, so perfekte Nachbarn zu haben, mit denen sich ihr seltsamer Sohn sicher wunderbar verstehen würde. Mein Vater ging und holte Wein für uns, sogar einen Schluck für meinen Bruder, meine Mutter zündete Kerzen an. Das taten sie nur, wenn sie froh waren und ich hatte sie zu lange nicht mehr so gesehen, um es übers Herz zu bringen, die Stimmung zu vermiesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)