Freundschaft auf Russisch von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Zwei Kinder ---------------------- POV Tala, 4 Jahre alt Er ballte seine Hände zu Fäusten und versuchte, seine Zehen zu bewegen. Es fühlte sich alles wie betäubt an, und doch tat es weh. Er zog seine Mütze tiefer, damit sie seine Ohren richtig bedeckte. Die eiskalte Luft begann, in seinen Lungen zu schmerzen. Ohne Orientierung lief er diese Straße entlang. Dieser Stadtteil war ihm unbekannt, aber in seiner gewohnten Gegend konnte er nicht mehr Essen stehlen gehen. Dort kannten sie ihn mittlerweile zu gut. Wie oft hatten die Erwachsenen ihn schon geschlagen, als sie ihn erwischt hatten. Sie waren so viel größer als er. Wie oft hatten sie ihn danach einfach im Dreck liegen lassen. Sollten sie ihn in seiner Gegend noch ein Mal beim Betrügen erwischen, würden sie vielleicht noch weniger gnädig sein. Plötzlich nahm er aus der Ferne Musik wahr. Fröhliche, langsame Musik. Sie wurde immer deutlicher, er musste also auf sie zulaufen. Und tatsächlich: am Ende der Straße stieß er auf einen großen Platz. Helle, bunte Lichter überall. Viele kleine Holzbüdchen. Eine Blaskapelle spielte auf einer Bühne die Melodie, die er von Weitem gehört hatte. Ein Weihnachtsmarkt! Ohne nachzudenken schob er sich in die Menschenmenge. Es roch nach Zimt, Glühwein, gebrannten Mandeln und Tannen. Langsam kämpfte er sich durch die Menschenmenge und warf einen Blick auf die schönen Sachen, die in den Holzbüdchen verkauft werden. Schmuck, Bienenwachskerzen, Papierlampen, Teemischungen, Konditorenware, Handwerkskunst aus Holz und Glas und Kleidungsstücke aus Pelz und Wolle waren da. An manchen Ständen musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um zu sehen, was in ihnen ausgestellt wurde. Fasziniert betrachtete er die Menschen um sich herum, die ausgelassen plauderten und lachten, und nahm die festliche Atmosphäre in sich auf. Im letzten Jahr war er nicht ein Mal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen. Zu dieser Zeit war seine Familie ja auch schon länger kaputt. Er konnte sich noch daran erinnern, dass er einst an so einem fröhlichen Ort auf den Schultern seines Vaters saß. In der Hand hat er eine Tüte mit gebrannten Mandeln balanciert. Sein Vater und seine Mutter sind ruhig nebeneinander gelaufen, Händchen haltend. Manchmal hat seine Mutter zu ihm hochgeschaut und gelächelt. Sie sah so glücklich aus und er war es auch. Sein Blick verschwamm. Als er dies realisierte, wischte er sich mit dem Schal die Tränen aus dem Gesicht. Das war eine Vergangenheit, die schon ewig weit entfernt lag. Ein offener Korb, der von einer Frau vor ihm getragen wurde, erregte seine Aufmerksamkeit. Was wohl der Inhalt war? Zuerst atmete er tief durch und sammelte seine Konzentration. Dann drängelte er sich in der Menschenmenge geschickt an den zwei Personen vorbei, die zwischen ihnen waren. Dabei bemühte er sich, möglichst unauffällig auszusehen. Es war ihm eine verhasste Aktion, Menschen zu beklauen, aber was hatte er denn für eine Wahl? In dem Korb lagen ein großes Brot, Kuchen und eine Thermoskanne. Konnte es denn noch besser sein?!? Er entfernte sich wieder, aber darauf bedacht, noch so nah an der Frau zu bleiben, dass er sie beobachten konnte. Nach kurzer Zeit kam der günstige Moment. Sie hatte sich auf eine Bank gesetzt und ihren Korb naiv so unter die Bank geschoben, dass er ihn sicher unbemerkt hervorziehen konnte. Er ging hinter ihr an der Bank vorbei, brauchte nur eine minimale Bückbewegung machen, und da hatte er seine Beute. Auch der Mann, der der Frau gegenüber saß, hat es nicht gesehen. Er blieb nicht stehen, sondern verließ den Weihnachtsmarkt auf schnellstem Wege wieder. Jetzt galt es, sich zu orientieren und nach Hause zu finden. Nachdem er um drei Ecken gebogen ist, traute er sich, das Tempo zu verlangsamen. "Lauf!", schrie plötzlich jemand hinter ihm. Instinktiv begann er loszurennen ohne nach hinten zu schauen, aber schon nach einigen Metern wurde sein linkes Handgelenk von einer anderen Hand gepackt. Blind vor Panik und immer noch in vollem Lauf versuchte er, die Hand abzuschütteln. Bis er sah, dass es ein Junge seiner Größe war, der ihn da festhielt. Plötzlich zerrte er ihn in einer scharfen Kurve durch die Tür einer Kirche. Im Inneren des Gebäudes ließ der Junge sein Handgelenk los und drückte sich gegen die Wand. Dabei bedeutete er ihm mit erhobenem Zeigefinger, still zu sein. So blieben sie einen Moment stehen, schwer atmend von dem Sprint. "Wirst du verfolgt?", fragt er den Jungen schließlich. Jetzt, wo etwas Ruhe war, konnte er ihn im Schein der Kerzen genauer anschauen. Er hatte lila Augen und Haar, das fast weiß schimmerte. "Ja. Ich habe auf dem Weihnachtsmarkt Schmalzgebäck mitgehen lassen, wurde aber erwischt. Als ich weggerannt bin und dich gesehen habe, dachte ich, dass ich dir besser auch helfe." "Wobei denn helfen?!?" "Dich zu verstecken. Der Verkäufer hat mich nicht genau gesehen. Am Ende hält er noch dich für den Dieb. Außerdem", der Junge deutet auf den Korb, "habe ich beobachtet, wie du den gestohlen hast." "Du hast das gesehen?" "Ja. Aber keine Angst, ich sage es niemandem. Wenn du auch den Mund hälst." "Ich sage nichts." "Gut!" Der Junge lässt sich neben ihm an der Kirchenmauer runtergleiten und landet mit dem Po auf dem Boden. Dann grinste er. "Jetzt habe ich aber Hunger." Auf den Fliesen breitete er das Papier aus, in das das Schmalzgebäck gepackt war. "Du nicht?" Er horchte in sich hinein. Als der Duft des Gebäcks seine Nase traf, krampfte sich sein Magen zusammen. "Doch!" Damit setzte er sich ebenfalls auf den Boden und zog seinen neuen Korb zu sich ran. "Ich habe auch was. Wir wollen es teilen. Aber die Kanne hat nur einen Becher. Wir müssen aus einem trinken." "Hier sind sogar noch ganz viele Kekse!", verkündete der neben ihm begeistert, als er entdeckt, was noch in dem Papier eingepackt war. "Wetten, ich kann mir zehn auf ein Mal in den Mund stecken?" "Kannst du nicht!", lachte er, wohl wissend, dass das sein Gegenüber damit noch mehr anstachelt. Es wurde die netteste Mahlzeit seit langer Zeit für ihn. Sie erkannten beide, ohne darüber zu sprechen, dass sie in einer ähnlichen Familiensituation waren. In der Kanne war Kaffee drin. Sie fanden ihn beide eklig, aber er war heiß und damit eine echte Wohltat in diesem bitterkalten Kirchenraum. Immerhin war es windgeschützt, und immerhin schmeckte das Essen sehr gut. Als sie satt waren und das übrig gebliebene Essen aufgeteilt und eingepackt haben, lehnten sie sich zufrieden an die Wand. "Wie heißt du eigentlich?" Die Augen des Jungen funkelten ihn neugierig an. "Tala. Und du?" "Bryan." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)