Fuchsmädchen von Dorkas ================================================================================ Kapitel 8: Zwei halbe Leben --------------------------- Warum eigentlich immer er? Den Blick provokant aus dem großen Fenster gerichtet, stützte Victor sein Kinn gelangweilt auf seine Handflächen. Der Holztisch, in den schon mehrere Beleidigungen und Flüche eingeritzt wurden, barg nichts mehr neues für ihn. Nichts, was er nicht jede Woche mindestens einmal sehen würde. Dabei war er dieses Mal wirklich nicht schuld. Zu oft hatte er schon die Ausrede „Der Andere hat angefangen“ genutzt, als dass die Lehrer ihm noch Glauben schenken würden. Elende Bastarde. Einmal der Böse, immer der Böse. Dieses Mal war er das Opfer. Sebastian aus der Parallelklasse hatte doch tatsächlich versucht ihn zu erpressen. Aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund schien er von seinen Schulden gewusst zu haben und wollte Geld für sein Schweigen herausschlagen. Zu blöd nur, dass Victor nicht viel Geld und einen guten rechten Haken besaß. Es war klar, dass dieser Hosenscheißer sich als das Opfer darstellen würde und ihm hatte niemand geglaubt. Nun musste er wieder einen trostlosen Nachmittag mit Nachsitzen verbringen. Wer hatte sich diese Art von Bestrafung ausgedacht? Victor hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, daraus zu lernen. Er saß einfach nur seine Zeit ab und tat, selbst wenn er Hausaufgaben auf hatte, nichts. Lediglich der Blick aus dem Fenster war ihm zur Unterhaltung geblieben. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte er von dort aus Clara und Liv beobachten können, wie sie ausgelassen ihre gemeinsame Zeit genossen. Doch das war nun Geschichte. Der Brief des kleinen Geeks hatte ihm verdeutlicht, wie schwer dieser Verlust sie getroffen hatte. Victor hatte es die ganze Zeit nicht sehen wollen. Ein Teil ihres Lebens fehlte ihr. Sie war nicht mehr vollständig, sondern nur noch halb. Im Nachhinein war es ihm unangenehm, den Brief, der eigentlich für seine Cousine bestimmt war, gelesen zu haben. Die persönlichen Gefühle des Geeks waren ihm nie so bewusst gewesen. In diesem Punkt ähnelten sie sich nicht. Liv zeigte deutlich mehr Gefühle als Victor. An der Beerdigung seines Cousins hatte er keine einzige Träne vergossen. Er konnte es einfach nicht. Einige Gäste hatten böse Gerüchte über ihn gestreut. Er sei herzlos, hätte kein Einfühlungsvermögen. Was erlaubten die sich eigentlich? Keiner von ihnen kannte ihn richtig. Ungeheuerliche Behauptungen, die ihn nur weiter von seiner Familie entfernten. Auch er war vollkommen auf sich gestellt. Mr. Moreau, der Französischlehrer und seit neustem auch Vertrauenslehrer, beäugte Victor nur argwöhnisch und schnippte dann mit den Fingern. „Hier wird nicht nur rumgesessen, sondern gearbeitet!“ verdeutlichte er Victor die Form seiner Bestrafung, doch dieser konnte nur verächtlich schnauben, während die Augen des jungen Lehrers sich schmälerten. Die Augen der restlichen drei Insassen im Raum richteten sich ausschließlich auf Victor, der immer noch nur aus dem Fenster sah. Polly, eine ziemlich beliebte schwarzhaarige Hexe mit einem Drogenproblem, viel zu wenig Geld für Kondome und einem ausgeprägten Aggressionsproblem starrte ihn bloß ungläubig und wütend an. Sie war fast noch öfter hier als Victor und er sah sie dadurch leider viel zu oft, denn die beiden konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Malcolm, ein weiterer Leidensgenosse, war ein eher unscheinbarer blonder Junge mit Brille, wurde aber regelmäßig dabei erwischt, wie er in den Umkleidekabinen der Mädchen herumschnüffelte und war daher auch ein Stammgast beim Nachsitzen. Der letzte Rüpel in der Runde war Bug, ein ziemlich großgewachsener, massiger Kerl mit seinem Hirn in der Faust. Gerüchte behaupten, er habe seinen Spitznamen erhalten, weil er die Köpfe einiger Mitschüler wie Käfer zerquetscht hätte, doch natürlich hatte sich diese Behauptung nie bewahrheitet, sonst säße er heute vermutlich nicht mehr nur beim Nachsitzen. Die drei Idioten gekonnt ignoriert, schlug Mr. Moreau energisch mit der flachen Hand auf sein Pult, wodurch er für einige Sekunden die Aufmerksamkeit Victors sicher hatte. „Hol' jetzt deine Sachen raus oder-...“ Seine Standpauke wurde von seinem klingelnden Handy unterbrochen. Nicht einmal Lehrer konnten sich an die Schulordnung halten. Er hätte zumindest den Ton ausmachen können. Wer hatte diesen Vollidioten zum Vertrauenslehrer gewählt? Ach ja, alle Mädchen natürlich. Es war doch wirklich zum Kotzen. Victor drehte seinen Kopf während des Telefonats wieder in Richtung Fenster und beobachtete die vorbeieilenden Schüler, die sich schon auf ihren freien Nachmittag freuten. Erst dann meldete sich der Vertrauenslehrer wieder zu Wort. „Ich muss ganz kurz etwas erledigen. Ist 'ne dringende Angelegenheit. Keiner verlässt den Raum!“ drückte er sich mehr als deutlich aus und erhob sich von seinem Pult. Ein unfassbar schmieriges, arrogantes Arschloch, dieser Typ. In Eile verließ er schließlich den Raum, während man nur noch ein einfaches Klacken hörte und Schritte, die rasch von der Tür wegführten. „Der hat uns ernsthaft eingeschlossen!! Das kann der nicht machen!“ giftete Polly los und erhob sich empört von ihrem Platz, während Malcolm nur beschwichtigend die Arme hob und leicht verängstigt wirkte. „P-Polly. Wir können es doch später einem anderen Lehrer erzählen. Das darf er gar nicht mit uns machen.“ äußerte sich der Spanner dazu, während Victor nur leicht auflachte und weiter aus dem Fenster sah. „Du weißt schon, dass uns keiner glauben wird?“ Plötzlich waren wieder alle Blicke auf Victor gerichtet. „Der Arsch hat recht. Wir können nur abwarten. Polly? Halt die Fresse und setz' dich auf deinen Hintern.“ erbarmte sich Bug mit seiner tiefen Stimme auch einige Worte zu verlieren und stopfte sich schließlich Kopfhörer in die Ohren. Polly warf dem Dicken den Todesblick zu und setzte sich genervt wieder hin. Absolut nicht die beste Gesellschaft hier. Als der Strom der Schüler vor dem Fenster langsam abebbte, entdeckte er in der Entfernung schließlich ein bekanntes Gesicht. Sie schon wieder. Aber wer sollte es auch sonst gewesen sein? Der Geek hatte es sich an dem großen Stein, bei dem sie früher immer mit Clara stand, gemütlich gemacht und wirkte nicht so, als hätte sie große Lust nach Hause zu gehen. Hatte sie Probleme? Wahrscheinlich nicht, aber ihr Blick verriet ihm, dass sie sich nicht gut fühlte. Waren es die Erinnerungen? Warum ging sie auch an die Orte, an denen sie gemeinsam mit Clara war? Die Augen leicht schmälernd, schien er die Unterhaltung der drei anderen völlig auszublenden. Ob Melissa ihn verraten hatte? Er traute es ihr wirklich zu, aber wahrscheinlich hätte der Geek ihn dann schon längst aufgesucht. Vermutlich um ihm eine ordentliche Standpauke zu halten. Er beobachtete das Mädchen weiter, während es sich mit den dünnen Fingern über die Augenlider wischte. Weinte sie etwa? Ob das Gespräch mit seiner Cousine geholfen hatte? Plötzlich fiel ihm auf, dass er sich gerade viel zu viele Gedanken über eine völlig unwichtige Person in seinem Leben machte und zwang sich dazu, den Blick vom Fenster abzuwenden. Er verweilte mit den Augen kurz auf Malcolms Hinterkopf. Die schmierigen, aschblonden Haare klebten ihm förmlich im Nacken. Kein schöner Anblick. Sofort als er seinen Blick wieder zaghaft aus dem Fenster warf, erstarrte sein Gesicht und jegliche Emotion wich von seinen Zügen. Sebastian? Tatsächlich hatte sich der rothaarige Kerl aus der Klasse des Geeks vor ihr aufgebaut und sie dazu gezwungen, sich zu erheben. Mit ihrer Tasche in der einen Hand blickte sie den Rotschopf nur abwertend an, während er offensichtlich auf sie einredete. Worum ging es bloß in diesem Gespräch? Ein Geständnis? Wohl kaum. Dann hätte er nicht einen seiner Lakaien dabei. Moment... Russ? Ihn nahm er doch meistens nur mit, wenn... Victors Augen weiteten sich, als seine schlimme Vermutung auch sofort darauf eintrat. Sebastians Handrücken landete kraftvoll in Livs Gesicht, welche sich augenblicklich zur Seite drehte und ihre eigene Hand auf ihre gerötete Wange legte. Sie sah ihren Peiniger nur unwirklich an, rührte sich zuerst nicht und holte schließlich ebenfalls schwungvoll mit der freien Hand aus. Ein Faustschlag, der kaum stärker hätte sein können, traf Sebastian mitten in die Fresse. Victor ertappte sich dabei, sich innerlich kurz gefreut zu haben, erhob sich aber schließlich von seinem Platz, was ihm die Aufmerksamkeit seiner drei Leidensgenossen sicherte. Diese hatten keine Ahnung, was vor sich ging und sahen dem Dunkelhaarigen nur nach, als er sich langsam auf das Fenster zu bewegte. Sebastian hatte sich unterdessen von dem Schlag erholt und sah bloß wütender aus. Ein Mädchen hatte ihn geschlagen? Skandal. Er hatte ein Mädchen geschlagen? Ein viel größerer Skandal. Victor haderte mit sich, bis Liv schließlich die Flucht ergreifen wollte, aber von Sebastians Lakai am Arm gepackt und zurückgehalten wurde. Er holte auf Sebastians Befehl hin aus und schlug Liv einmalig in den Bauch, was sie sofort zu Boden gehen ließ. Krampfhaft nach Luft schnappend, wand sie sich auf dem Boden und gab kaum einen Mucks von sich. Gerade als er auch tatsächlich noch auf sie eintreten sollte, traf eine Faust wie aus dem Nichts das Gesicht des Typen und warf ihn zu Boden. Sebastians wütender Blick verfinsterte sich noch mehr, als er Victor zu Gesicht bekam, der durch das Fenster gestiegen war und nun vor Liv Stellung bezogen hatte. Diese Chance ergriffen auch die anderen drei Raudis und entflohen ebenfalls durch das Fenster, ohne der Szene noch mehr Beachtung zu schenken. Es war ja schließlich nicht ihr Problem. „Egal, was sie gemacht hat, man schlägt keine Mädchen.“ vertrat Victor plötzlich einen Standpunkt, der ihm sonst auch nicht so wichtig war. Aber warum sollte man gerade dieses Mädchen mit Füßen treten? Konnten sie nicht auch sehen, was sie gerade durchmachte? „Sag das mal Polly. Die hast du vor über einem Jahr auch verdroschen.“ offenbarte Sebastian eine grausame Wahrheit über ihn. „Sie hatte es verdient und außerdem ist das schon ewig her.“ versuchte Victor sich zu verteidigen, sah seinen Fehler allerdings ein, was Sebastian ausnutzte um zu sprechen. „Diese kleine Ratte hat es auch verdient. Wegen ihr wäre ich beinah von der Schule geflogen!“ regte der Rotschopf sich tierisch über den Geek auf, deren Atmung sich langsam wieder zu normalisieren schien. „Es ist mir scheißegal, was sie gemacht hat, aber du lässt sie jetzt in Ruhe...“ knurrte Victor bloß bedrohlich, während Sebastian sein Gemüt versuchte herunterzukochen. Doch bereits als Victor nur einen Schritt auf ihn zu setzte, ergriff Sebastian die Flucht und ließ Russ zurück. Ihm war klar, dass er nun aufs Neue verpetzt werden würde, aber dafür müssten sie ihn erst einmal finden. In der Zwischenzeit hatte sich Liv mühselig aufgerappelt und sich sitzend an dem großen Stein angelehnt. Das Atmen fiel ihr immer noch schwer, während sie leicht blinzelnd zu Victor aufsah, der sie zuerst keines Blickes würdigte. „Nicht schlecht, Geek.“ murrte er schließlich und sah zum ersten Mal auf sie hinab. „Er hat ihren Namen in den Mund genommen...“ murmelte sie bloß leise und drehte den Kopf zur Seite. Der Grund für den Wutausbruch des Geeks, aber nicht für Sebastians Aktion. Vorsichtig reichte er ihr eine Hand, damit sie wieder auf die Beine kommen sollte. Zuerst zögerte sie, doch als er sie ihr immer noch nicht entzog, ergriff sie diese und ließ sich vom ihm auf die Füße ziehen. „Danke für die Hilfe...“ entgegnete Liv nur kleinlaut, die überhaupt nicht damit gerechnet hatte. Warum hätte Victor ihr auch helfen sollen? Eigentlich unvorstellbar. Vielleicht stimmte irgendwas nicht mit ihm. Ihre Worte ließen es Victor unangenehm kalt den Rücken hinunterlaufen. Fühlte es sich so an, wenn man etwas Gutes tat? Eigentlich ein furchtbares Gefühl. Warum sollte das erstrebenswert sein? „Ja ja, schon gut...“ tat er ihren Dank gleich ab und drehte sich zur Seite, bevor sein Blick ernster wurde. „Wir müssen hier weg.“ entgegnete er nur schnell, schnappte sich das zierliche Mädchen vor sich und warf es sich über die Schulter. Mit dem Arm ihre Taille umschlossen, machte er sich mit ihr zügig auf den Weg zu einem der anderen Schulgebäude. „Was zum Teufel?!“ war alles, was Liv noch herausbrachte, als sie sich plötzlich wie ein geschulterter Rucksack vorkam. Kurz nur versuchte sie zu zappeln, bevor Victor ihr tadelnd gegen den Hintern schnippste. „Hey!“ beschwerte Liv sich ein letztes Mal, bis sie schließlich einen der Clubräume innerhalb des kleinen Schulgebäudes auf der Südseite der Anlage betraten. Offensichtlich der Musikraum. Liv war nicht oft hier, eigentlich nur während des Unterrichts, da sie nicht sonderlich musikalisch war. Bei Victor hatte sie da eine ganz andere Ahnung. Im Inneren des Raumes ließ er den Geek schließlich wieder auf die Füße kommen und wendete sich sofort von ihr ab. „Was ist dein Problem? Erst bist du nett und dann vermasselst du alles wieder.“ entgegnete Liv ihm schließlich direkt, woraufhin Victor sich zu ihr umdrehte und sie nur ernst fixierte. „Ich bin nicht nett. Aber wie scheiße wäre es wohl gelaufen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre? Einen weiteren Krankenhausaufenthalt will doch keiner von uns.“ zischte Victor ihr bloß entgegen und sah sich im vertrauten Raum um. Man merkte ihm sofort an, dass er öfter dort war. Ein Instrument schien es ihm ganz besonders angetan zu haben. Eine schwarze E-Gitarre mit einem kleinen Verstärker. Der Traum schlechthin für den Pleitegeier. Das gute Stück aus dem Ständer genommen, hängte er es sich um und ließ die Fingerkuppen über die Saiten streichen. „Das hier ist sozusagen mein 'großer Stein'.“ deutete er an zu wissen, weshalb es Liv immer wieder dorthin zog. Dort fühlte sie sich frei und ihrer besten Freundin nahe. Genauso ähnlich war es bei Victor. Er fand in der Musik größere Freiheit. Liv war zuerst überrascht über den Sinneswandel des Älteren, ließ sich aber ruhig darauf ein. Es war viel angenehmer, als wenn er die ganze Zeit nur übellaunig in der Gegend herumlungerte. „Du hast doch letztes Jahr noch in einer Band gespielt. Was ist passiert?“ demonstrierte Liv ihr Wissen. Nicht nur er wusste Dinge über sie. Sofort schien seine Laune in den Keller zu rauschen. „Hab mir bei einer Schlägerei die Hand gebrochen, kurz vor einem wichtigen Gig. Tja, das war's. Die brauchten mich nicht mehr. Und ich sie genauso wenig.“ war er dennoch offen mit dem jungen Mädchen. Vorsichtig schmälerte Liv sanft die Augen. Da war er wieder. Dieser mitleidige Blick, den Victor auf den Tod nicht ausstehen konnte. „Lass gut sein. Zeig mir lieber, was du kannst.“ versuchte er schließlich sie und vor allem sich selbst abzulenken. Sie beide hatten etwas in ihrem Leben verloren. Der eine mehr, der andere weniger und doch waren sie schon lange nicht mehr ganz. Sie hatten eine Hälfte ihres Lebens eingebüßt, aber war diese unwiederbringlich verloren? Zielstrebig stellte er die Gitarre wieder zurück und ging auf das Klavier in der Ecke zu. Ein dunkelbraunes, älteres Modell, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, aber das perfekte Instrument für einen Anfänger. Verwirrt folgte Livs Blick ihm und als ihr das Klavier ins Auge fiel, weitete sie bloß die Augen. „I-Ich kann nicht spielen. Ich hatte vielleicht ein bis zwei Stunden, wenn's hochkommt.“ offenbarte sie ihm schnell, dass er ihr „Talent“ lieber nicht zu hören bekommen sollte. „Versuch es einfach mal.“ wurde Victor schon deutlicher, als er sich auf dem kleinen Bänkchen niederließ und neben sich tippte. Zögerlich setzte sich Liv schließlich doch noch zu ihm und kam sich vor wie ein Kleinkind, dem man versuchte irgendetwas beizubringen. Bereits als Victor die erste Taste hinabdrückte, begann Liv gebannt zu lauschen. Die Melodie erfüllte den Raum und wollte so gar nicht zu Victors düsterem Erscheinungsbild passen. Immer wieder schlichen sich ihr bekannte Elemente in das offensichtlich improvisierte Stück ein. Die Augen zeitweise sogar geschlossen, öffnete Liv diese wieder, als der letzte Ton verklang. Wer hätte gedacht, dass er auch Klavier spielen könnte? „Jetzt du.“ wies er sie an, es nun selbst einmal zu probieren. Unsicher starrte sie auf die schwarzen und weißen Tasten und fühlte sich sichtlich überfordert. „Pass auf, ich zeig dir was.“ Victors Worte wollten nicht so wirklich zu seinem grimmigen Gesichtsausdruck passen. Konzentriert blickte er zuerst auf die Tasten, dann nahm er Livs Hand und zeigte ihr eine Fingerstellung über den Tasten, die sie immer wieder in einem bestimmten Rhythmus spielen sollte. Als ihre Hände sich berührten, zuckte Liv bloß kurz und musterte Victors Kopf im Profil. Ihn schien es völlig kalt zu lassen oder war er wirklich so konzentriert? Es war ein seltsames Gefühl so nah bei ihm zu sitzen. Doch als er ihre Hände wieder losließ, schien das mulmige Gefühl wieder verschwunden zu sein. Sobald sie trotz ihres fragenden Gesichtsausdrucks den Dreh raus hatte, setzte Victor schließlich mit einer Melodie ein, die mit Livs gespielten Tönen ein Ganzes ergab. Ein Stück, das ohne die Melodien des anderen nicht funktionieren würde. Als Victor schließlich den letzten Ton spielte, verebbte die wundervolle Musik im Raum und auch Liv nahm ihre Finger vom Piano. Kurz trafen sich die Blicke der beiden, bevor sie sich rasch wieder voneinander entfernten. Augenblicklich erhob sich Liv von der kleinen Bank und sah sich um. „Ich danke dir für alles, aber ich muss jetzt wirklich gehen.“ brachte sie ihm schnell entgegen und schien aufbrechen zu wollen. Also war er nicht der einzige, den das ganze hier verunsicherte. Er hatte keinen Nerv mehr um auf sie böse zu sein. Sie war einfach nur ein armer, kleiner Geek, dem die Flügel gestutzt wurden. Warum sollte man auf ihrem Elend noch weiter herumreiten? Genau genommen hatte sie ihm ja nichts getan. Es war schon ein Wunder, dass sie überhaupt noch mit ihm sprach, nachdem was bisher geschehen war. Ruhig, aber immer noch mit einem grimmigen Gesicht nickte Victor bloß und ließ seine Finger neuerlich über die Tasten des Klaviers streichen. Es wirkte fast so, als wollte Liv ihn noch etwas fragen, als sie so im Türrahmen stehen blieb. Doch scheinbar fehlte ihr der Mut dazu und sie zog von dannen. Victor blieb zurück in seiner kleinen, kaputten Welt, die nur von der Musik etwas erhellt wurde. Sich schließlich erhoben, wollte er sich doch der E-Gitarre widmen und als er sie sich wieder umschnallte, vernahm er das vertraute Vibrieren eines Handys aus seiner Hosentasche. Angestrengt seufzend, zog er das Gerät aus der Hosentasche und öffnete die so eben eingegangene Nachricht. „Zwei halbe Leben können ein ganzes ergeben. Gib nicht auf!“ Natürlich eine Nachricht von Unknown, mit der er erst einmal den Klugscheißer raushängen ließ. Was wusste er denn schon? Irgendwelche rätselhaften bis unwirklichen Nachrichten, die keinem weiterhalfen. Als ob es so einfach wäre, wieder ein normales Leben zu haben. Er hatte doch keine Ahnung. Selbst wenn er sich tatsächlich mit dem Geek anfreunden sollte, was würde das ändern? Vermutlich hätten sie beide nur noch mehr Ärger in der Schule. Der Schläger und der Geek. Ganz prickelnd. Warum sollte er das dem Mädchen überhaupt antun? Vielleicht war es wirklich besser, einfach wieder zum Ignorieren zurück zu kehren. Aber wollte Victor das wirklich? Warum hatte er sie heute gerettet? Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Es waren Impulsreaktionen seiner Meinung nach. Vielleicht würde er es irgendwann verstehen können. Die Gitarre schließlich in Händen haltend, zog er ein Plektrum aus der Halterung an der unteren Seite der Gitarre und begann zu spielen. Seine Musik. Sie war aufgrund des Verstärkers kaum zu überhören, sodass sogar Liv, die bereits am unteren Ausgang stand, noch einmal inne hielt. Es war eine gänzlich andere Musikrichtung als die von Clara, aber Liv konnte auch ihr etwas abgewinnen. Insgeheim freute sie sich für Victor, der scheinbar versucht hatte, sich zumindest ein Stück weit zu öffnen. Was ihn wohl dazu veranlasst hatte? Er wirkte heute generell verändert. Als Victor dann auch noch zu singen begann, konnte Liv es draußen durch das gekippte Fenster hören. Völlig überrascht sah sie zu dem gläsernen Fenster im zweiten Stockwerk auf und konnte ihren Ohren nicht trauen. So eine Stimme hatte sie ihm wirklich nicht zugetraut. Stark und doch sehr emotional. Ein wirkliches Talent. Den Blick nachdenklich wieder senkend, wickelte Liv ihren Schal noch etwas enger um ihren Hals und vergrub ihr halbes Gesicht dahinter. Dann machte sie sich endgültig auf den verschneiten Heimweg. Nachdem Victor einige Stunden im Musikzimmer verbracht hatte und keine Regung mehr von Sebastian oder einem Lehrer gekommen war, machte auch Victor sich auf den Heimweg. Unterdessen war es bereits schon dunkel. Auf ihn wartete Zuhause nichts und niemand. Nur die Erkenntnis, dass er mal wieder allein war. Als er an seinen Spind trat um seinen Mantel anzuziehen, fiel ihm ein kleiner Zettel vor die Füße, sobald er den Schrank geöffnet hatte. Fragend hob er ihn auf und entdeckte eine ihm nicht unbekannte Handschrift. „Falls du mal wieder vernünftig reden möchtest...“ Mit einem Bleistift wurden die Worte wohl ziemlich schnell auf das Stückchen Papier gebracht. Unterhalb des Satzes befand sich doch tatsächlich eine Handynummer. Offenbar hatte er einen anderen Eindruck hinterlassen, als er dachte. Den Zettel trotzdem kurz in der Hand zerknüllt, stopfte er ihn dann allerdings widererwartend in seine Hosentasche. Seufzend schlüpfte er in die Ärmel seines Mantels, schnappte sich seine Tasche und machte sich auf den Rückweg in seine kaputte Welt, in der sie keinen Platz hatte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)