Fuchsmädchen von Dorkas ================================================================================ Kapitel 7: Aufbruch ------------------- Mit einer roten Fleecedecke um die Schultern hatte sie es sich im mit Efeu überwucherten Gartenpavillon bequem gemacht. Sofort als sie während des Lernens den Schnee vor ihrem Fenster gesehen hatte, hatte es sie wie von Geisterhand nach draußen gezogen. Auch wenn ihr Frühling und Herbst eindeutig lieber waren, konnte sie auch dem Winter etwas abgewinnen. Es war eine Jahreszeit voller schöner Erinnerungen mit Clara. Dort im Garten hatten sie oft Schneemänner und Schneeengel gebaut und sich wie wild mit Schneebällen beworfen. Es kam Liv vor, als wäre es gestern gewesen, Clara mit ihrer blauen Pudelmütze und dem weiß-blauen Winteroverall. In ihrer Erinnerung tollten sie immer noch gemeinsam durch den Garten und lachten wie am ersten Tag. Ein verzweifeltes Seufzen ihrerseits ließ die schönen Gedanken enden. Es war nicht leicht, nicht ständig an sie denken zu müssen. Zu lange hatte sie gemeinsam mit ihr einen großen Teil ihres Lebens bestritten. Wie sollte man so jemanden einfach vergessen? Ihr trüber Blick lichtete sich erst, als sie in dem ganzen Weiß einen rötlich braunen Klecks entdeckte. Kaspar? Vorsichtig hob sie den Kopf und entdeckte den jungen Rotfuchs, der zwischen den verschneiten Büschen hockte und sie beobachtete. Seine Ohren bewegten sich dauerhaft, als würde er ständig neue Geräusche wahrnehmen. Aufmerksam waren seine stechenden Augen nur auf Liv gerichtet. Diese beäugte ihn ebenfalls kurz und setzte dann an, sich zu erheben. Kaspar schien sich nun immer mehr in der Nähe des Hauses aufzuhalten. Vermutlich würde er nun vor dem Winter Schutz suchen. Liv hatte bei einem ihrer Spaziergänge einen alten Dachsbau direkt in der Nähe ihres Gartens entdeckt. Wahrscheinlich würde er dort überwintern. Soweit Liv wusste, hielten Füchse keinerlei Winterschlaf oder Winterruhe. Also hätte sie sogar die Chance, ihn in dieser Jahreszeit häufiger zu sehen. Sein Fell stach förmlich aus dem kühlen Weiß hervor, was ihn allerdings auch für Feinde auffälliger machte. „Pass gut auf dich auf!“ war alles, was Liv ihm noch zurufen konnte, bevor der junge Fuchs ein Nicken andeutete, dann neuerlich seine Ohren bewegte und augenblicklich wieder im Dickicht verschwand. Enttäuscht ließ Liv sich wieder auf die hölzerne Bank fallen und sah ihm nach. Erst dann vernahm sie die Autogeräusche vor ihrem Haus, die Kaspar vermutlich schon früher gehört hatte. Ihre Eltern konnten es noch nicht sein. Sie waren bereits jetzt völlig ausgelastet in der Konditorei. Man merkte deutlich, dass Weihnachten bald vor der Tür stand. Weihnachten... eigentlich ein Fest der Freude und der Familie. Doch wie sollte Liv sich darauf freuen? Der Gedanke an die besinnliche Zeit ließ es ihr sauer aufstoßen. Den Gedanken schließlich verdrängt, erhob sie sich doch um vor dem Haus nach dem Rechten zu sehen. In einer weißen Jogginghose mit pinken Blumen darauf und einer dunkelblauen Sweatjacke über dem grauen T-Shirt stand sie schließlich am Gartentor, um auf den Hof blicken zu können. Der schwarze, große Wagen war ihr gänzlich unbekannt. Wer, mit Geld für so ein Auto, sollte sie bitte besuchen kommen? Völlig perplex musterte sie die getönte Rückscheibe und atmete angespannt ein. Erst als sich die Beifahrertür auftat und eine Frau mit oranger Lockenpracht ausstieg, hielt Liv plötzlich die Luft an und weitete ihre Augen. Die rote Decke um ihre Schultern krampfhaft festhaltend, traute sie ihren Augen nicht. Konnte es wirklich... Das grüne Kleidchen vorsichtig glatt gestrichen, zitterten ihre Beine jetzt doch. Viktor hatte wie so oft Recht behalten. Als Melissa jedoch das junge Mädchen am Gartenzaun entdeckte, wurde ihr Gesichtsausdruck deutlich wärmer und freundlicher. „Du musst Liv sein.“ ging die Ältere stark davon aus und lächelte sanft. Liv war im Moment wie steif gefroren und wusste gar nicht was sie sagen sollte, also nickte sie bloß zaghaft. „Ich würde gerne mit dir reden, wenn es okay ist? Ich hab deinen Brief gelesen.“ setzte Melissa noch einen drauf, bis Liv vorsichtig das Gartentor öffnete und zögerlich auf Melissa zuging. War das alles nur ein Traum? Würde sie gleich aufwachen und nichts von alledem wäre geschehen? Sie musste sich irgendwie von ihrer Echtheit überzeugen. Völlig ungläubig ging sie auf die junge Musikerin zu und als wäre sie nicht mehr ganz sie selbst, umarmte sie diese vielleicht etwas stürmisch. Überrascht zuckte Melissa zusammen, deutete George allerdings sofort an, dass er nicht aussteigen brauchte. Liv suchte eigentlich nie von selbst Kontakt zu anderen Menschen und doch war sie von der Absicht dieser Person mehr als überwältigt. Sie war wirklich hier um ihr zu helfen. Es war doch einfach unfassbar. Melinda war hier, in ihrer kaputten Realität. Vorsichtig strich der Rotschopf einmalig über den Rücken der Jüngeren, bevor diese sie wieder freigab. „Tut mir leid. Ich war nur...“ versuchte Liv sich zu entschuldigen, wurde aber von Melissa unterbrochen. „Schon gut, darf ich reinkommen?“ Sofort bot Liv ihr den Weg ins Innere des Hauses an und folgte ihr schließlich. Das große Wohnzimmer mit den vielen Fenstern betreten, nahmen die beiden jungen Damen auf dem Sofa Platz. Während Melissa sich ordentlich hinsetzte, saß Liv ihr im Schneidersitz gegenüber. Wie sollte man sich in Gegenwart einer Berühmtheit eigentlich verhalten? Liv wusste es nicht und war daher einfach sie selbst. Melissa schien sich daran überhaupt nicht zu stören. „Vielen Dank, dass du gekommen bist. Ich hätte nicht gedacht, dass du das wirklich machen würdest.“ zeigte Liv sich gesprächiger als sonst. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein, sich dieser Person anzuvertrauen und die Art des Rotschopfes erleichterte es ihr ungemein. Ihre blauen Augen schienen direkt in ihre Seele blicken zu können. Zumindest interpretierte Liv es so. „Das schaffe ich leider auch nicht bei allen. Aber in diesem Fall hier erschien es mir dringend.“ ließ Melissa die Jüngere wissen, die sofort den Kopf leicht fragend zur Seite legte. „Wieso das?“ zeigte Liv ihre Unwissenheit. „Du erinnerst mich sehr stark an jemanden... und ein Stück weit auch an mich selbst. Tut mir leid, wenn das jetzt etwas komisch klingt.“ versuchte Melissa zu lächeln, doch Livs ernstes Gesicht veranlasste sie dazu, es nicht zu tun. Während der Jüngeren die Worte fehlten, schien Melissa das Ganze auffangen zu wollen. „Erzähl mir doch etwas von Clara, wenn du möchtest.“ Vorsichtige Worte, die in Liv etwas auslösten und ihre Augen zum Glänzen brachten. Und plötzlich schienen die Worte nur so aus ihr herauszusprudeln. „Clara war der wunderbarste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sie hat mich in jeder Weise gerettet, wie es nur möglich war. Es war schon ein kleines Wunder, dass sie überhaupt mit mir gesprochen hat. Sie hätte in der Schule einen ganz anderen Ruf haben können, aber sie hat sich entschieden, bei mir zu sein...“ Liv schien danach etwas verwirrt, woraufhin Melissa dem ganzen eine Form verleihen wollte. „Fang doch einfach von vorne an und erzähl mir das, was du mir erzählen möchtest. Ich höre zu.“ Das offene Ohr der Älteren ließ Liv erleichtert aufatmen. Mit so viel Verständnis für den verwirrten Geist eines Schulmädchens hätte sie nicht gerechnet. „Ich hab Clara im Kindergarten kennen gelernt. Sie war ursprünglich nicht von hier und hatte es zuerst auch schwer, Fuß zu fassen. Also taten sich die zwei Außenseiter zusammen. Was für ein Klischee. Aber dass sich daraus mal so eine Freundschaft entwickeln würde, hätte glaube ich keiner von uns erwartet. Wir trafen uns eigentlich fast jeden Tag nach dem Kindergarten und auch nach der Schule. Als wir auf die Schule kamen, hatten wir zuerst oft mit merkwürdigen Vorurteilen und Gerüchten zu kämpfen. Viele dachten wir wären ein Paar, dabei haben wir uns einfach nur wie eineiige Zwillinge verstanden. Niemand konnte diese Verbindung verstehen. Und sie verstanden vorallem nicht, warum Clara mit so einer wie mir rumhing. Sie sahen immer nur das Äußere und nicht das, was sich im Inneren verbarg. Während es mich unglaublich wütend machte, schien Clara es einfach nur ausblenden zu wollen. Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass sie damals bereits die Diagnose erhalten hatte. Damals war es noch nicht so schlimm und auch nicht auffällig. Und warum sollte man auch ein Kind damit belasten? Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte es früher gewusst. Vielleicht hätte ich mich eher darauf einstellen können. Vielleicht hätten wir noch Orte besuchen können, an die sie unbedingt noch wollte. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich ihr nicht helfen konnte. Ich war fast ihr ganzes Leben an ihrer Seite. Warum geht meines weiter, während ihres einfach so aufgehört hat? Nachdem ich vor einem Jahr von ihrer Diagnose erfahren hatte, war ich ein anderer Mensch. Ich hatte mich verändert. Gut, ich war noch nie normal, aber ich konnte nicht mehr so ausgelassen sein wie ich es einmal war. Es war einfach nicht mehr möglich. Clara zwang mich dazu, Spaß zu haben und ich sah ein, dass es nichts brachte, in ein bodenloses Loch zu fallen. Und jetzt zu diesem Zeitpunkt weiß ich ganz genau, dass ich in diesem Loch bin und verzweifelt versuche, wieder herauszukommen. Aber ob es möglich ist, weiß ich nicht. Es hat mich zu sehr getroffen. Der Abschied von ihr...“ Schließlich hielt Liv inne und erinnerte sich noch, sie einmal in einem Krankenbett gesehen zu haben. Als sie starb, konnte Liv nicht bei ihr sein. Ihre Beerdigung hatte sie wie in Trance durchlebt. Sie erinnerte sich an gar nichts mehr. Melissa hörte der Jüngeren aufmerksam zu und als diese endete, atmete sie erschwert auf und schloss die Augen. Ein heikles Thema, zu dem auch ihr nicht immer die richtigen Worte einfielen. „Eines darfst du ganz sicher nicht tun: dir Vorwürfe machen. Clara wäre sicher die Letzte, die das möchte. Du warst für sie da und das ist was zählt. Was hätte ihr ein Trip nach Paris oder irgendwohin bedeutet, wenn du nicht dabei gewesen wärst? Was ich damit sagen möchte, ist, du hättest nicht mehr tun können, als du schon für sie getan hast und das weiß sie auch. Ich schätze Clara durch deine Erzählungen als einen herzensguten Menschen ein, der viel mehr an andere als an sich selbst gedacht hat. Sie wollte einfach nur bei dir sein, solange sie konnte und mehr hat sie gar nicht verlangt. Und genau das hast du ihr erfüllt. Ich kann mich zwar nur bedingt in deine Situation hineinversetzen, aber ich kann dir genau sagen, wie sich Clara gefühlt hat, da ich ähnlich dachte wie sie. Als es mir damals so schlecht ging, war mein Bruder ohne Unterlass für mich da. Ich verdanke ihm mein Leben. Er gab mir den Halt, der mir fehlte und die Kraft, die ich nicht hatte. Und genau das hast du auch für Clara getan. Dass sie gehen musste, ist nicht deine Schuld.“ versuchte Melissa sich ganz behutsam dem Thema zu widmen, während Liv schon leichte Tränchen in den Augen standen. „Es ist gar nicht so einfach, sich nicht für alles die Schuld zu geben. Wenn ich es früher gewusst hätte, hätte ich sie vielleicht zu einigen Sachen nicht gedrängt.“ erwiderte Liv nur darauf und behielt die Sache mit Melissas Bruder im Hinterkopf. Im Moment war sie in Gedanken ganz bei Clara. „Aber dann wären ihr auch wertvolle Erinnerungen abhanden gekommen. Du hast nichts falsch gemacht.“ Melissa schien sie von ihrer Unschuld überzeugen zu wollen, doch auch ihr war es klar, dass Liv es erst mit der Zeit einsehen könnte. Die Wunden waren noch zu frisch, als das man nun eine dermaßen große Einsicht erwarten könnte. Doch das war auch nicht Melissas Plan. Sie war keine Therapeutin. Sie wollte lediglich, dass dieses Mädchen über ihre Trauer sprechen konnte und danach würde sie sich mit oder ohne Erfolg besser fühlen. Da war sich der Rotschopf sicher. Ihre Bedenken konnte ihr niemand abnehmen, doch man konnte die Last leichter machen. „Clara liebte deine Musik. Die Harfe und der Gesang haben uns fast überall hin begleitet. Wir waren viel draußen im Wald oder auch gemeinsam in der Stadt und diese Musik war allgegenwärtig. Irgendwann hat Clara begonnen, die Lieder auf ihrer Geige zu spielen und es war einfach wunderschön. Sie so zu sehen, voller Freude und ausgelassen, und mit solch einem Talent. Zugegeben: Ich habe nicht viel Ahnung von Musik, aber ich bin mir sicher, dass sie ihren Traum hätte wahr machen können. Sie wäre eine wundervolle Violinistin gewesen.“ begann Liv zu schwärmen und lächelte kurz, bevor es wieder langsam zu verschwinden drohte. „Ich hätte sie zu gerne einmal spielen gehört.“ erwiderte Melissa darauf und sah sich zum ersten Mal kurz in dem großen Wohnzimmer um. Auf der Kommode hinter Liv am Fenster stand eine Reihe von Bildern und Fotos, die eine glückliche Familie mit ihrer einzigen Tochter zeigten. Liebende Eltern, die sich um ihr Kind kümmerten. Doch ein Bild sprang ihr förmlich ins Auge. In der Mitte der Kommode stand ein blauer Bilderrahmen mit einer traumhaften Winteraufnahme. Darauf war Liv zu sehen, wie sie ein blondes Mädchen fest im Arm hielt. Die beiden lachten ausgelassen, vielleicht ein gemeinsamer Skiurlaub? Für Melissa gab es keinen Zweifel. Das war Clara. Wäre sie in Livs Zimmer gewesen, wäre ihr aufgefallen, dass das gleiche Foto auch an ihrer Zimmerdecke hing, allerdings nur mit Clara darauf. „Wir haben ewig nach dem neusten Album gesucht. Leider hab ich es erst vor einigen Wochen entdeckt, als es schon zu spät war. Ich hatte mich eine ganze Weile davor gedrückt, es anzuhören, doch durch die Hilfe eines Freundes konnte ich mich dazu überwinden. Und ich bin so froh, es getan zu haben. Ich kann kaum beschreiben, was diese Melodien in mir ausgelöst haben. Sowas hat sonst nur Clara mit ihrer Geige geschafft, aber dabei habe ich mich ihr seltsam verbunden gefühlt.“ beschrieb Liv ihr die Gefühle, die sie bei Melissas Musik empfand. Eine tiefe Verbundenheit, sowohl zur Sängerin als auch zu ihrer besten Freundin. Eine Leidensgenossin und eine Seelenverwandte, die sich Musik nannte. Sie ließ Liv in eine andere Welt abtauchen, in der sie sie selbst sein konnte. Eine Welt, in der sie bei Clara sein konnte. „Für diese Art von Kritik liebe ich meinen Beruf. Er ist zwar gewiss nicht immer einfach, aber wenn man anderen Menschen damit Freude bereitet und ihnen helfen kann, nimmt man die ganze Zeit und den Aufwand, den man hinein investiert, gerne in Kauf. Ich danke dir, Liv.“ entgegnete die Ältere ihr nur sanft lächelnd und beobachtete die Jüngere, die sich scheinbar endlich etwas mehr entspannen konnte. Die Musik schien also doch ein Thema zu sein, über das sie sich gut austauschen konnten. Doch ein anderes Thema schien Liv nun unter den Nägeln zu brennen. „Du hast vorhin von deinem Bruder gesprochen und mir ist auch die Widmung auf der CD aufgefallen. Wie hat er es geschafft, dir Halt zu geben und sich keine Vorwürfe zu machen?“ Sofort im Anschluss schien es Liv sichtlich unangenehm zu sein, Melissa so eine private Frage gestellt zu haben, doch diese atmete nur kurz durch und sah sie an. Die Hände im Schoß gefaltet, setzte sie an, der Jüngeren einiges zu erklären. „Zuerst musst du wissen, meine Familie kommt ursprünglich hier aus der Stadt und mein älterer Bruder hat ganz lange hier im Krankenhaus als Pfleger gearbeitet. Er war viel für kranke Kinder und Erwachsene da, hat sie unterstützt und sie aufgemuntert. Er wusste genau, wie man mit solchen Sachen umging, auch wenn es immer noch etwas anderes war, wenn ein Familienangehöriger davon betroffen war. Ich glaube, ich habe ihn nicht einmal vor mir weinen sehen. Lediglich ein Schluchzen, als er damals in Mum's Arme gesunken war, als er ihr sagte, dass der Krebs ausgebrochen sei. Und ich denke, genau deswegen wollte ich unbedingt wieder gesund werden. Er sollte niemals einen Grund haben zu weinen. Ich wollte immer nur sein Lächeln sehen. Als die Chancen nach einem Spender hier schlecht standen, zogen wir in die Nähe von größeren Städten, weiter weg von hier, und er gab seine Arbeit hier für mich auf. Nachdem ich allerdings wieder gesund war, hatte er seine Stelle als Pfleger hier wieder aufgenommen bis vor ein, zwei Monaten.“ erzählte auch Melissa etwas von sich, während Liv gespannt lauschte und es kaum fassen konnte, dass eine solche Berühmtheit tatsächlich aus diesem kleinen, bescheidenen Örtchen stammte. Die letzten Worte ließen die Jüngere allerdings zusammenzucken. Sie traute sich nicht nachzufragen, doch ihr Blick verriet Melissa alles. Nun schienen sie an dem Punkt angelangt zu sein, an dem keine von beiden mehr leugnen konnte, dass sie sich ähnelten. Sie hatten ähnlich verstrickte Leidensgeschichten, die sich doch von Grund auf unterschieden. Und dann ließ Melissa schließlich die Bombe platzen: „Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Mehr brachte sie nicht hervor und mehr war auch nicht nötig. Liv wusste bereits, bevor Melissa die Lippen geöffnet hatte, was geschehen war. Augenblicklich war sie zur Stelle und hatte sich neben Melissa niedergelassen. Die anfängliche Distanz zwischen den beiden Frauen war fast gänzlich verschwunden. Vorsichtig reichte Liv der Frau mit den einmaligen Locken die Hand, welche diese ohne zu zögern ergriff. Liv konnte sehen, dass sie die Tränen unterdrückte, doch sie bekam kein Wort heraus. Zu schwer schluckte sie an dem Kloß in ihrem Hals. Sie erkannte, dass sie nicht die Einzige mit derartigen Problemen war. Sie war nicht allein. Das erste Mal seit Wochen, dass sie diese Erkenntnis für sich selbst hatte. Sie war wirklich nicht mehr alleine mit ihren Problemen. Es ging nicht mehr nur um sie. Als Melissa durch die stille Anteilnahme von Liv langsam wieder zur Besinnung kam, konnte auch sie eine unglaubliche Verbundenheit zu der Jüngeren spüren. Ob Victor das auch gespürt hatte? Wirklich ein außergewöhnliches Mädchen, diese Liv. Nachdem sie vollends zur Ruhe gekommen war, löste sie vorsichtig die Hände von denen der Jüngeren und blickte ihr in die aufmerksamen Augen. „Liv, du bist ein unglaubliches Mädchen. Lass dir auf keinen Fall von irgendjemandem sagen, dass du weniger Wert bist als die anderen. Du bist stark, sei mutig und habe mehr Vertrauen in dich, so wie es Clara in dich hatte. Es wird ein langer und beschwerlicher Weg. Niemand sagt, dass es einfach wird, aber ich bin mir sicher, dass du es aus diesem Loch wieder herausschaffst. Die erste Hürde hast du hiermit bereits genommen. Es geht bergauf, ganz bestimmt. Und solltest du aus irgendwelchen Gründen wieder an dir zweifeln, kannst du mir schreiben.“ Aus ihrer Handtasche zückte Melissa schließlich eine kleine Karte, auf der lediglich ihr Name und eine E-Mail-Adresse notiert war. Offensichtlich eine Visitenkarte, allerdings ohne eine Telefonnummer. Es war dennoch ungewöhnlich, dass sie diese so einfach herausgab. Dieses Mädchen musste wirklich etwas in ihr ausgelöst haben. Ob Victor das gewusst hatte? Ob er sie deshalb hergeschickt hatte? Melissa hatte damit nicht nur Liv geholfen, sondern auch in gewisser Weise sich selbst. Als Liv die Karte entgegennahm, fehlten ihr die Worte. Mit großen Augen und immer noch völlig überwältigt von ihren Worten, blieb ihr nichts anderes übrig, als der Älteren um den Hals zu fallen. Ohne überschwängliche Freudenausbrüche, drückte sie den Rotschopf bloß fest an sich und unterdrückte die Tränen. „Vielen Dank.“ murmelte die Jüngere nur, was Melissa leise erwidern konnte. Denn auch Liv hatte ihr die Augen einen Spalt weit geöffnet. Beide durften nicht länger in der Vergangenheit leben, auch wenn ihnen die schönen und auch die schlimmen Erinnerungen an Vergangenes im Gedächtnis blieben. Nachdem Liv Melissa versichert hatte, dass ihr dieses Gespräch viele neue Eindrücke gebracht hatte und ihr einen neuen Pfad geebnet hatte, trat die Ältere schließlich den Heimweg an. Kaum aus der Tür getreten, sah sie sich noch einmal nach Liv um und nickte ihr nur wissend zu. Danach verschwand sie im Inneren des schwarzen Mercedes, der offensichtlich auf sie gewartet hatte. Der Motor heulte kurz auf, als der Wagen schließlich auf den Kiesweg fuhr und hinter den Bäumen verschwand. Nur kurz blickte sie der Spur im Schnee nach, die die Reifen im frischen Weiß hinterlassen hatten, dann schloss sie die Tür hinter sich wieder und setzte an, in den Garten zurückzukehren. Ein nervenaufreibender Tag näherte sich dem Ende. Hatten sie wirklich so lange gesprochen? Noch immer von den Eindrücken erschlagen und der Tatsache, dass gerade eine Berühmtheit in ihrem Wohnzimmer gesessen hatte, ließ sie sich wie in Trance auf der Holzbank im Gartenpavillon nieder. Zwei wundervolle Menschen, die den Tod nicht verdient hatten, waren nicht mehr da. Einfach so aus den Leben der anderen gestrichen, die ihnen nur noch nachblickten. Auch Melissas Bruder war viel zu früh Teil des Sternenhimmels geworden. Vielleicht traf er dort oben eines Tages auf Clara. Liv dachte, sie würden sich wunderbar verstehen. Den Blick gen Himmel gerichtet, schien die Nacht bereits hereinbrechen zu wollen. Die Zeit war ihr wie Sand durch die schmalen Fingerchen geglitten. Und doch fühlte es sich nicht nach einem Ende an. Nein, es war erst der Anfang. Eine Art Aufbruch, den Liv nun endlich erkannte und ihn willkommen hieß. Irgendwann würde sie die wahre Bedeutung dieser Veränderung erkennen. Irgendwann. Denn sie war nicht mehr allein. Mit wachsamem Blick beäugte Kaspar den Wagen aus sicherer Distanz, bis dieser hinter den Büschen nicht mehr zu sehen war. Eine Weile verblieb er noch in dieser Position, bevor er sich langsam in Bewegung setzte und mit einem tiefsinnigen Ausdruck in den stechenden Augen im hohen Gras verschwand. Für ihn war der Aufbruch noch nicht in Sicht... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)