History Maker - The beginning von Wei_Ying (Viktor Nikiforovs BG-Story) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Seine Haare strichen ihm auch an diesem Morgen auf den Rücken. Quälend erhob er sich. Diese Uhrzeit war gar nicht seins, und die Frau, die sich seine Mutter schimpfte, juckte das in Etwa so sehr wie ein umgefallener Sack Reis. Ihr Sohn hatte zu funktionieren, zu gehorchen, das zu tun, was sie sagt. Er war nicht hungrig. Seine Mutter brachte ihm Brot, mehr brauchte der Junge ja nicht, wenn er nur zur Schule ginge. Er nahm es, biss nur halbherzig rein. Dafür erntete er direkt wieder eine Ohrfeige. „VIKTOR!“ schrie die Frau, nahm ihm das Essen weg und drängte den grade mal zehn Jährigen Jungen ins Bad. Es war eine übliche Prozedur, die in dieser russischen Familie tagtäglich vor sich ging. Viktor war der jüngste, das einzige Kind in Familie Nikiforov. Er hatte keine Brüder, von denen er wusste. Er stand vor dem Spiegel, betrachtete sich, und schämte sich für die unreine Haut voller Wunden, Schürfwunden, die er in letzter Zeit erlitten hatte. Er hatte lange, silberne Haare, die bis halb über den Rücken gingen. Dieses silberne Haar von ihm war eine Seltenheit für einen Jungen wie ihn und mit das einzige, was er wirklich schön fand. Geschmeidig strich er mit der Bürste durch diese Haare. Das andere, was er an sich mochte, waren seine Augen, sie waren mintblau und leuchteten wie der Ozean im Mondlicht. An seinen Füßen hatten sich mehr als nur Blasen und Schrammen, es waren offene Wunden, die schon viel geblutet haben. Auch seine Knie sind offen. Es sind Bildnisse eines Hobbies, eines inneren Wunsches, welches Viktor seid Kleinkindertagen hegt. Seitdem er als Kind einmal Eiskunstlauf in einer Halle gesehen hatte, war er von der Ästhetik und Schönheit so dermaßen gefesselt, dass er genau wusste… er möchte das auch erlernen. Dieser brillierende, faszinierende Sport, er bildete von Anfang an einen Kontrast zu dem tristen Alltag mit seiner strengen Familie. Sein Vater war ein Konzernchef, er hatte viel Geld und ein hohes Ansehen in dieser Stadt, und dementsprechend nicht besonders oft zuhause. Er war rational, ein Mann, der in Materiellen Dingen den größten Wert sah, der immer seinen eigenen Erfolg wollte. Sein einziges Ziel, und davon wusste Viktor, war, dass der Junge selbst als einziger Nachkomme seinen Platz übernehmen soll. Er wurde auf eine Eliteschule geschickt, gegen den Willen des Jungen mit dem silbernen Haar. Seine Mutter war im Haushalt tätig, zumindest hieß es offiziell so, doch manches Mal war Viktor auch schon alleine im Haus, vor allem nachts. Er wusste, dass seine Mutter gerne Alkohol konsumierte, vor allem Vodka liebte sie. Sie roch sehr oft nach dem strengen, brennenden Zeug. Er verstand nicht, wieso sie das tat, er verstand generell so vieles nicht, was sein näheres Umfeld an Menschen anging. Die anderen Kinder hänselten ihn oft wegen seiner Haare. Dass ein zehnjähriger Junge so lange, bereits ausgeblichene Naturhaare trug, war für viele abnorm. Abnormes wird ausgegrenzt und grade in dieser Gegend sind Abnormitäten ungern gesehen. Viktor musste schon vieles ertragen. Er war nicht traurig darüber, nicht direkt. Er hatte nur einfach keinen Draht zu diesen Menschen in seinem Alter, er verstand ihre Gedankengänge nicht. Er war einsam, und doch war diese Einsamkeit für Viktor der bessere Weg gegenüber der Fügung in diese Gesellschaft. Gegenüber dessen, einfach nett zu sein und einen auf Freunde zu machen, in der Hoffnung, diese Menschen werden seine Freunde. So etwas wollte der Silberhaarige nicht. Lieber seinen Weg allein gehen, alles zu geben, um Eiskunstläufer zu werden. Das war ihm viel wichtiger, als Pseudofreunde, die ihn als Stück Dreck behandelten. Dementsprechend war seine Lust, raus an die Zivilisation zu gehen, kaum vorhanden. Er würde lieber auf die kleine Eisfläche hinten im Wald hinter ihrem Haus gehen und ein bisschen darauf entlang gleiten. Seine Mutter war in der Küche, vielleicht schüttete sie sich den nächsten Vodka ein. Im Bad lief dem Jungen sein Pudel um die Füße. Der Hund war ihm im Wald zugelaufen. Er erkannte, dass dieses Tier zutraulicher war als die meisten Menschen. Er spendete Viktor soviel Wärme wie es zu dieser Zeit kein Mensch vermochte. Diese treudoofen Augen, dieses weiche, flauschige Fell. Es war ein Geschenk und nicht selten wärmte der Junge sich daran. Er streichelte den Hund und gab ihm ein kleines Leckerli aus einer Dose. Nach einem Knuddeln zog er sich doch an und verließ das Haus. Wenn er gewollt hätte, wäre er von zuhause weggelaufen. Nein, er hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, aber wohin? In dieser Gegend war es fast immer kalt. Selbst im Sommer wurden die 10 Grad nur knapp erreicht und ein schlanker Junge wie er würde schnell erfrieren. Er würde gerne und viel lieber in der Natur neben seiner Eisfläche leben… Heute würde er wieder dort laufen gehen, nachts, wenn die Fläche von einer einzigen Laterne beleuchtet wird und niemand bei ihm zuhause ist. Dann, wenn er sich davonstehlen kann. Der Schultag war wieder der blühende Alltag, den er kannte. In dieser Schule herrschten strenge Regeln und manch einer der Lehrer ging noch mit Schlagstöcken durch den Unterricht. Einer von mehreren Gründen, weshalb Viktors Körper und Haut schon mehrere Schrammen abbekommen haben. Nicht selten wurde ihm an den Haaren gezogen, die Mitschüler machten sich da einen Spaß draus. Kein schöner Aufenthalt und absolut nicht das, was Viktor sich wünschte, was ihn erfüllte. Nach einigen anstrengenden Mathematikstunden trabte er nach Hause. Sein Kopf tat ihm weh, seine Füße schmerzten, da sich die Blutwunden wieder öffneten. Und doch wird er nachher wieder laufen. Heute brauchte er dies wieder mehr denn je, um den Kopf und überhaupt sich selbst frei zu bekommen. Der restliche Abend verlief wieder wie üblich: Seine Mutter hing im Wohnraum ab, schaute Fernsehen und war wieder mal Sturzbetrunken. Und Viktor wurde wie üblich einfach außen vor gelassen mit seinem Unwohlsein und seinen Schmerzen. Der Junge tat dementsprechend so, als würde er trotzdem lernen. Er wusste einfach aus Erfahrung, dass er sich trotz des Desinteresses seitens seiner Mutter noch nicht jetzt aus dem Haus stehlen könnte. Der einzige, der ihm wieder einmal zwischendurch Aufmerksamkeit schenkte, war sein Hund. Das gespielte Lernen machte Viktor aber nur müde. Er hasste es so sehr, es war so ein theoretischer, trockener Stoff, den sie hatten und er tat sich verdammt schwer, auf so etwas dröhiges zu konzentrieren. Seine Mutter tigerte immer wieder durch die Wohnung, leicht verwirrt und trotz allem mit diesem Kontrollzwang gegenüber Viktor. Es nervte den Silberhaarigen so sehr. „VIK!!! Was machst du da?!“ röhrte sie plötzlich mit einem leichten Lallen und dem üblichen, strengen Geruch, als der angesprochene Junge hochzuckte, fast gegen die Arme der Frau, die ihn von hinten leicht auf den Kopf klappsten. Wieder einmal war er über dem Mathebuch eingeschlafen und brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, was los war. Es war spät, und seine Mutter zeigte ihm auf, wie enttäuscht sie von ihm war, sie warf ihm wieder vor, er sei zu faul, er sei ungehorsam und solle gefälligst gescheiht sein in der Schule. Von irgendeiner Zuneigung konnte nicht die Rede sein. Zuneigung, das war etwas, was Viktor nicht kannte. Nicht von Menschen. Er hatte mal nachgelesen, dass Zuneigung das Geben einer Nähe bedeutete, dass Zuneigung eine Art von Liebe ist, ein Gefühl der Wärme, welches sich wunderschön anfühlen soll und Zutrauen erzeuge. Von Menschen hat Viktor dies bisher nie wirklich erfahren. Sein Herz fühlte sich leer an. Und einzig auf dem Eis fühlt er dieses Herz in sich, spürt er, wie Gefühle seinen Körper durchfluten. Er wartete darauf, dass seine Mutter wieder einmal verschwand, damit er rausgehen konnte. Ihm ging es etwas besser, seine Kopfschmerzen waren etwas verschwunden. Aufgeregt machte er sich fertig, verband sich mit Toilettenpapier seine anfälligen Stellen sowie die Knie. Dann kramte er seine Schlittschuhe hervor, die er gut versteckte und zog sie sich über. Mittlerweile waren seine Füße zu groß für die Schuhe geworden. Und ihm schmerzten die Füße, als er auf den Schuhen lief. Er vergewisserte sich, dass seine Mutter wirklich raus war, knuddelte seinen Hund und verließ dann, um ca 23 Uhr und in stockfinsterer Umgebung, das Haus. Ein paar Straßenlaternen leuchteten ihm den Weg. Der Wald um diese Uhrzeit war ruhig, aber auch umso gruseliger. Viktor vernahm quasi jeden Windstoß, das Pfeifen des Windes sowie das Knacken auf den gefrorenen Blättern. Aber der Junge hatte trotz seines jungen Alters keine Angst. Der dauerhaft zugefrorene See wartete auf ihn. Auch hier gab es die ein oder andere Straßenlaterne. Genug Licht für ihn war da. Er liebte die Atmosphäre hier so fernab von dem Lärm in der Innenstadt und seiner Schule. Hier durfte er ganz er selbst sein, ohne irgendwelche Vorwürfe, Hänseleien und Kontrollen. Er stellte sich innig eine passende Melodie vor, für das, was er üben möchte. Ohne weiteres fuhr er sich langsam ein und merkte sofort, wie viele Lasten temporär von ihm abfielen. Dieses Gefühl war einfach Gold wert! Einige Minuten lief er sich ein. Er hob sein Bein ein, wackelte dabei kurz, fing sich aber. Durch das schöne Gefühl, welches ihn begleitete, konzentrierte er sich nicht auf seine Beine und nicht darauf, dass er eventuell wegrutschen könnte. Der Tunnelblick, die komplette Vorstellung einer inneren anderen Gefühlswelt, die eins wird mit der imaginären Musik. Eine Methode, die er sich selbst beibrachte, und sie half beim Gleiten auf der glatten Oberfläche. Der Junge drehte seine Kreise, sein Körper wippte elegant mit und ein paar Mal baute er eine Drehung in seine Runden ein. Sprünge, Pirouetten und ähnliches traute er sich noch nicht zu. Dazu benötigte er eigentlich erstmal eine Art Baletttraining, aber wo sollte er das üben? In seinem Zimmer war kein Platz, im Wald war es auch ungeeignet, auf der Straße…? ‚Nein‘ murmelte er in sich hinein und stolperte fast prompt. Einmal aus seinem Tunnel raus, schon traten die ersten Unsicherheiten in Viktors Tänzchen auf. Er pausierte kurz, atmete tief durch. Er schüttelte sich kurz, um sich sinnbildlich irgendwelche störenden Gedanken abzustreifen. Die Sprünge, die würde er einfach so mal versuchen, nach dem Schema, welches er damals in der Arena gesehen hatte. Vielleicht würde er sich auch wieder in eine der Arenen heimlich stehlen und anderen beim Training zu sehen. Das Training der werdenden Eiskunstläufer ist nicht öffentlich und Unbefugte werden schamlos rausgeschmissen. Träten diese Aktionen häufiger auf, drohte sogar Hausverbot oder Geldstrafen. Die Trainer waren streng und ehrgeizig gegenüber ihren Schülern. Aber Viktor konnte schon nachvollziehen, warum die Regeln so aufgelegt waren. Als er wieder ansetzen wollte und sein Bein anhob beim Schwung holen, hörte er in der Ferne ein Hundebellen. Es war nicht seiner, das erkannte er schnell. Ohne weiter auf seinen möglichen Zuschauer zu achten, versuchte der Silberhaarige, mit seiner rechten Hand das rechte nach oben gebogene Bein zu halten. Er zitterte etwas bei der Aktion, fuhr aber weiter, und breitete nahezu automatisch seinen anderen Arm nach außen. Durch die Körperliche Schieflage machte er eine Kurve zur rechten Zeit und nahm weiter Tempo auf. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und seine Haare wehten majestätisch. Ein wundervolles Gefühl. Das Hundegebell würde lauter. Viktor setzte zum nächsten Dreher an, dieses Mal auf der anderen Seite. Er fühlte sich sicherer, straffte seinen Körper noch ein bisschen und bekam auch die ganze Pose besser hin. Wieder der geschmeidige Wind auf der Haut und dieses befreiende Gefühl in der Brust. So, ja, genauso könnte es laut dem Jungen ruhig die ganze Zeit gehen. Er fühlte sich einfach nur wohl auf diesem Medium. Ein besonders lautes Hundebellen in seiner Nähe brachte ihn aber dermaßen aus dem Takt, dass er schließlich doch fast wegrutschte. Jetzt, nach bestimmt über fünf Minuten, bemerkte er der Hund am Rand. Ein leises Klatschen folgte. Viktor sah sich um. Der Hund war nicht etwa ausgebrochen oder einfach frei rumlaufend. Sein Herrchen stand am Rand am See und sofern er das erkennen konnte, erkannte der Junge ihn als älteren Mann. Aus irgendeinem Grund sorgte die Anwesenheit eines Menschen für ein bisschen Gänsehaut bei ihm. „WOW“ röhrte der Mann, nicht erkennbar ob sarkastisch, gefühlvoll oder einfach nur ernst gemeint. Viktor wusste nicht wie er reagieren sollte. Ein kleiner Fluchtinstinkt machte sich breit in ihm. Er möchte sich wieder davonstehlen. Menschen – das war einfach nicht seins. Der große Hund mit dem etwas buschigerem Fell kam aufs Eis gerannt und schlidderte herüber zu dem Jungen, der dem Tier direkt die Arme ausbreitete. Wenigstens ihm wird er ein bisschen Aufmerksamkeit schenken, dachte sich der Silberhaarige und kuschelte im Sitzen mit ihm. Er hoffte, dass der Mann wieder gehen würde, doch der Hund gehörte anscheinend zu ihm. Also ergab sich Viktor und glitt mit dem Tier im Schlepptau in Richtung Ufer. Er erkannte einen recht stämmigen, alten Mann mit Hut, dessen Blick an Strenge nicht zu überbieten war. Er hatte seine Augen auf Viktor fixiert. Und ließ nicht von ihm ab. „Das war beeindruckend“ meinte der Mann kratzig. „Du scheinst Talent zu haben“ Der analysierende Blick verunsicherte Viktor etwas. Der widerum fragte sich, warum dieser ältere Herr grade jetzt, wo es mitten in der Nacht sein muss, mit seinem Hund Gassi ging. Aber er sprach das nicht aus. „Gehst du öfter nachts hier üben?“ Viktor seufzte. Er streifte sich seine Haare zurück und begann nun doch zu reden. „Ja“ „Hast du niemanden, der dich trainiert? Entschuldige die vielen Fragen, mein Junge, aber deine Bewegungen haben mich fasziniert. Ich ging davon aus, dass du einen Trainer hast“ So streng und unnahbar der Mann aussah, seine Stimme war doch ganz angenehm und doch fühlte Viktor sich immer unwohler. Diese Ausfragerei nervte ihn wieder. Er würde ihm bestimmt nicht die Wahrheit sagen. „Nein. Ich bin alleine“ murmelte er lustlos. Der Mann sammelte seinen Hund wieder ein und machte ihn an die Leine. Er seufzte, richtete seinen Hut, als wolle er nicht glauben, was Viktor ihm erzählte. „Magst du mir erzählen, wie du heißt?“ fragte der Mann weiter. Der Jüngere schüttelte sich etwas. Er fragte sich, warum dieser ältere Herr ihn so löcherte. Er blieb vorsichtig. Mitgehen mit alten Menschen sei gefährlich, dass haben ihm schon einige Erwachsene erzählt. „…Viktor Nikiforov“ flüsterte er und ärgerte sich im nächsten Moment, dass er seinen vollen Namen gesagt hatte. Womöglich war ‚Nikiforov‘ dem Älteren ein Begriff, und nicht unbedingt ein guter. Tatsächlich weiteten sich die Augen des Mannes in erstaunter Weise. Ihm schien in der Tat ein Licht aufzugehen. Was Viktor nicht ahnte, war, dass besagter Mann innerlich schon eine interessante Entscheidung getroffen hatte. Er streckte die Hand nach dem Jungen aus. „Viktor“ rief ihn der Mann einladend. „Ich bin Yakov, Eiskunstlauftrainer und Dozent an einem Wintersportinternat. Möchtest du mein Schüler werden?“ Stille. Viktor war vollkommen überfordert mit dem, was der ältere Mann namens Yakov ihm da anbot. Er war sich nicht mal sicher, ob das eine Masche war, ob der Mann nicht etwa irgendeinen Stuss erzählte. In dem Silberhaarigen rumorte es gewaltig. ‚Ich, einen Trainer haben?‘ ‚Ich, Schüler an einer Eiskunstlaufschule sein?‘ Die Vorstellung kam ihm dermaßen surreal vor. Warum sollte ihm das Leben auf einmal eine plötzliche positive Wendung schenken? Warum sollte dieser Mensch vor ihm ausgerechnet ihn auserkoren haben? Er kam doch nur zufällig mit seinem Hund hier vorbei. Er wird niemals im Vorfeld geplant haben, einen neuen Schüler zu suchen. Des Nachts. In einem Wald am Stadtrand. Oder doch…? „Ich würde dich auch an dem Internat anmelden. Viktor, merke dir eines, das Angebot mache ich den wenigsten. Aber du hast verdammt viel Talent und darüber bist du dir vielleicht nicht einmal selbst im Klaren!“ Viktor, dessen Selbstwertgefühl durch seine Lebensumstände nicht unbedingt den allerbesten Stand hatte, konnte dies nicht ganz unterstreichen. Für ihn musste ein Eiskunstläufer eine strahlende Figur sein, jemand, der im Rampenlicht steht, den die Leute lieben, der eins wird mit dem Eis und der vorhandenen Musik, einfach ein perfekter Sportler und … Mensch generell. Er selbst fühlte sich weit von dem entfernt, was er am liebsten sein wollte – jener perfekter Eiskunstläufer, der an der Spitze der Welt strahlt. Er liebte diesen Sport, aber er traute sich selbst nicht wirklich zu, so viel erreichen zu können. Bis dato war der Ritt auf der Eisfläche eine Art Hobby für ihn. Ein Mittel zur Entfaltung seiner Gefühle, ein Mittel zur Befreiung der Laster, die auf ihm lagen. Er überlegte lange. Er dachte auch an seine Eltern, die mit Sicherheit dagegen wären, wenn ihr Sohn nun eine Sportschule besuchte. Er dachte an die wohl heftige Reaktion seiner Mutter, die ihn jäh etwas einschüchterte. Dann dachte er wieder an sich selbst. An seine Situation, seinen Alltag. Die Schule. Er wollte nichts über komplexe Formeln, Finanzen oder Physikalische Zusammenhänge lernen. Eiskunstlauf… das klang einfach so viel ansprechender und schöner. Viktors Augen begannen unbemerkt zu leuchten bei der Vorstellung. Er wollte ausbrechen aus alledem. Ausbrechen aus dieser grauen Welt, die ihm bisher blieb. Ein neues Leben voller Schönheit und Ästhetik… es wäre wirklich ein Traum. „…ja“ murmelte er dann im Einklang mit den leuchtenden Augen. Yakov schien schnell zu begreifen, wovon Viktor träumte. Seinem strengen Gesicht entwich ein Lächeln. Viktor lächelte zurück, aber war sich noch nicht so sicher wegen allem, sodass er die Hand des Älteren noch nicht in seine nahm. Viktor ahnte noch nicht, was diese kleine Aussage bedeuten würde. „Das Internat befindet sich in der Innenstadt von St. Petersburg. Ich melde dich dort an. Ich sorge dafür, dass dein Vater zustimmen wird“ Der Ältere wirkt so sicher und anhand dieser Aussage merkte Viktor, dass er natürlich den Namen ‚Nikiforov‘ kannte. Ob das irgendwas mit diesem Spontanangebot zu tun hatte? War dieser Mann vielleicht nur ein Spion, der auskundschaften wollte, was er so trieb? Das war alles so merkwürdig. Aber was blieb Viktor anderes übrig? Vielleicht war Yakov auch der eine Faden, an den er sich hangeln konnte, und niemals mehr würde er eine solche Chance bekommen, etwas in seinem geliebten Sport zu erreichen. „Ok“ sagte er dann. Yakov zog den Hut etwas tiefer und klopfte Viktor sacht auf die Schulter. „Die besten Schüler nehme ich persönlich an die Seite. Du bist noch in einem Alter, in dem ich aus dir jemanden ganz großes machen kann. Dein Talent wird gebraucht, Viktor“ Der Jüngere schritt vom Eis und ging mit Yakov durch den beleuchteten Wald. Der Hund wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Etwas, was Viktors Aufmerksamkeit kurzweilig anzog. Es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, weil der silberhaarige der ganzen Sache nicht so ganz traute und ohnehin kein Smalltalkmeister war. Sie redeten kaum miteinander. Das einzige, was Viktor erfuhr, war, dass Yakov plante, morgen eine Art Besichtigung zu starten, beziehungsweise sollte der Junge mal in das Training schnuppern, was die Schüler genossen. Er sollte rumgeführt werden, eingeweiht und angemeldet. Das klang alles so einfach, eigentlich konnte das gar nicht sein. Das schwierigste für Viktor selbst würde sein, seiner Mutter davon zu berichten. Verheimlichen könnte er das kaum. Am Stadtrand und demnach in der Nähe von Viktors Heim verabschiedeten sie sich. Sie verabredeten sich für morgen Vormittag in der Stadt, dann wenn der Junge eigentlich die Schulbank drücken müsste. Mit wirren, sich drehenden Gedanken kehrte Viktor gegen 04:00 Uhr morgens heimwärts. Theoretisch müsste seine Mutter wie immer noch fort sein. Er hatte den Plan, sich am nächsten Morgen statt zur Schule zum vereinbarten Treffpunkt zu begeben. Seine Mutter hatte diesen Kontrollzwang, aber immerhin verfolgte sie ihn nicht bis zum Schulgebäude. Er öffnete gähnend die Tür und erwartete seinen Pudel, der ihn für gewöhnlich begrüßen wird. Heute aber kam er nicht angerannt, was direkt mehrere Alarmsignale in Viktors Gedanken freisetzte. Stattdessen hörte er es aus dem Wohnzimmer poltern. Das Herz des jungen Russen blieb für ein paar Sekunden stehen. Dann vernahm er die empörte Stimme seiner Mutter. ‚Warum ist… sie schon hier?‘ fragte sich Viktor aufgeregt. Seine Mutter… sie hätte niemals mitbekommen dürfen, dass er nicht hier war. Sonst war sie doch auch immer bis um 6 unterwegs?! Vorsichtig schlich sich der Silberhaarige in Richtung seines Zimmers. Vielleicht wartete da Nezhny auf ihn, vielleicht hatte seine Erzeugerin noch nicht im Zimmer des Jungen nach dem Rechten gesehen. Doch jäh klatschte hinter ihm eine Tür. Viktors Herz setzte wieder aus. Er begann zu schwitzen, und das nicht nur, weil er direkt aus der Kälte kam. „VIKTOR!!! WO KOMMST DU HER?!“ brüllte sie zornig, sofort bemerkte man an ihrer Stimme einen Restalkoholwert. Eigentlich sollte Viktor sie das selbe fragen. Aber soweit kam er nicht mehr. Denn nun erspähte die Frau die Schlittschuhe an seinen Füßen, die er noch immer trug. Der Junge wollte ohne Wort in sein Zimmer verschwinden. Er wurde aufgehalten, ihm wurden ein paar Haare mehr oder weniger Schmerzhaft ausgerissen, sie hielt ihn fest und das keinesfalls in einer Umarmung. Sie krallte ihm in den Rücken ohne Rücksicht auf Verluste, nahm ihn von seinen Füßen, sodass er auf die Knie fiel und hielt in einer Art Würgegriff fest. Wenn sie Alkoholisiert war, schreckte diese Frau vor Gewalt nicht zurück. Viktor kannte das, aber so wie sie ihn nun festklammerte, so hart ging sie noch nie zu Werke und der Junge musste die Zähne zusammenkneifen. Die ein oder andere Schramme wird wieder folgen, aber das ist nichts verglichen mit dem Herumtreten auf seiner Seele, denn er merkte, wie sie ihm gewaltsam die Schuhe entfernte. Das öffnete nicht nur Blutwunden, sondern auch eine Wunde in seinem Herzen. Viktor, der sich selbst geschworen hatte, nicht mehr zu weinen seit dem Tod seines Großvaters, des einzigen Menschen seiner Familie, dem er ansatzweise etwas abgewinnen konnte, hielt einfach erstmal nur aus. Es war nicht einfach, und als seine Schuhe, seine geliebten Schlittschuhe abgestreift wurden, nahm seine Mutter sie und warf sie an die Wand. „JUNGE, WARST DU ETWA…?!“ brüllte sie erst doch ihre Stimme bröckelte leicht im Alkoholsuff. Der Silberhaarige versuchte sich, aus dem Griff zu befreien, ignorierte den Schmerz, der von seinen Füßen ausging, und knurrte. Wo war überhaupt [Name des Pudels?]. Das interessierte ihn viel mehr. „…und wenn? …Wo ist Nezhny?“ antwortete er kratzig. Dafür erntete er lediglich eine Ohrfeige. „Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, vergiss das mit dem Eislaufen!! Ich habe dir verboten, aufs Eis zu gehen, schon vergessen?!“ Nein, das hatte Viktor nicht vergessen. Dies nicht. Aber er wollte es am liebsten vergessen… „DU KLEINE ROTZGÖRE! NIE HÖRST DU AUF DAS, WAS ICH SAGE! ABER DAS WIRD KONSEQUENZEN HABEN, DAS SCHWÖR ICH DIR!!!“ Sie drehte nun vollkommen am Rad. Es war nicht das erste Mal, dass Viktor diesen Frust von ihr zu spüren bekam, aber so ausladend wie jetzt war sie selten. Mit seinen Augen suchte er den Raum nach seinen Schuhen und nach Nezhny ab, den er sich so sehr an seiner Seite sehnte. Dann folgte die nächste Ohrfeige. „SCHAU MICH AN!!!“ Viktor aber sah nicht hin. Er wusste, er könnte nicht ewig verheimlichen, dass er bald ein Sportinternat besuchen würde. Und mit dieser Geheimnistuerei hatte er auch allmählich abgeschlossen. Seine Mutter musste akzeptieren, dass er einen eigenen Willen hatte. „Sag mir… warum… lässt du die ganze Wut immer an mir aus? Ich habe selber auch Träume, ich habe, auch wenn du es wohl kaum fassen kannst, auch Gefühle. Ich bin kein Boxsack oder ähnliches!“ Der Älteren platzten vor Wut fasst die eigenen Fäuste, die sie zurückhalten musste, um den Jungen nicht zu schlagen. Der Alkohol ließ sie Dinge tun, die sie bereuen könnte, denn ihr war eine innere, starke Gebrochenheit anzumerken. Das spürte selbst Viktor, der seine Empathiefähigkeiten doch für recht gering hielt. Aber das hier war nicht seine eigene Mutter. Diese Frau war nur noch krank… „Ich.. ich…!!!“ krächzte sie, ließ zunächst von Viktor ab und stieß gegen die Wand. „Ich bin nur wahnsinnig enttäuscht von dir… ich weiß verdammt noch mal nicht, was ich bei dir falsch gemacht habe… nie… nie hörst du auf mich, du lügst mich an, du zickst rum und lernst nie… was soll denn aus dir werden?“ Das konnte der Junge eigentlich ganz gut beantworten, vorallem nach dem, was ihm heute Nacht geschehen ist. Er ließ sich von der emotionalen Zerbrochenheit der Älteren nicht beirren. Er wusste nicht genau, wie er sie beruhigen könnte, und entschloss sich, die Wahrheit zu sagen, nachdem er wieder aufgestanden ist. „Ich fühle mich nicht verstanden von dir, Mutter“ erklärt er entrüstet und ließ sie nicht aus den Augen. „Ich weiß, was ich werden will. Und das gefällt dir nicht. Warum auch immer das so ist. Aber seit damals wünsche ich mir nichts mehr, als einmal ein großer Eiskunstläufer zu sein. Ich liebe diesen Sport. Ich fühlte mich nirgends so wohl. Du hast dich da immer gegen gestellt. Was hätte ich anders tun sollen, als heimlich aufs Eis zu gehen?“ Mit der Wucht der Aussagen, die ihr Kind dort losließ, hätte die Mutter wohl nicht gerechnet. Sie ist noch perplexer, empörter und verzweifelter denn je. Sie wollte das nicht glauben. Ihr schossen Tränen aus den Augen. Aber Viktor blieb trotz allem standhaft und ruhig. „Du bist auch immer nachts weg, und ich weiß nicht, wo genau hin. Du riechst dabei immer nach Alkohol, wie auch jetzt grade. Warum bist du nicht auch mal ehrlich?“ Die dunkelhaarige Frau sackte am Rand zusammen. Es war nicht zu erkennen, ob sie jetzt einfach nur wütend war, oder traurig. Viktor seufzte. Ob eine Umarmung, Körpernähe irgendwas bringen würde bei ihr? Er war nicht sicher. Er konnte das nicht ganz begreifen. „Irgendwo muss doch das Geld herkommen. Was meinst du, was dein Vater macht? Er hat das Geld, er ruht sich darauf aus und tut nichts für das Wohlergehen seiner Familie… …also muss ich auf meine eigene Art und Weise Geld beschaffen. Ich kann dir nicht erklären, was genau ich mache, dafür bist du noch viel zu jung, Viktor. Aber… …es bricht mich, verdammt noch mal. Ich hatte gehofft, du wirst ein reicher Geschäftsmann, du wirst deinen Vater beerben und alles besser machen, als er…. …wenn du mal eine… eigene Familie hast“ Viktor seufzte. Als hätte er so etwas geahnt. Er verstand nicht, warum sie sich so darauf fixiert hatte. Er war keine Spielfigur, die sie so setzen konnte, wie sie wollte. Und dasselbe sein wie sein Vater wollte er schonmal gar nicht. Er wollte einfach nur glücklich sein, frei sein. „Es tut mir leid, dich zu enttäuschen. Aber nun ists endlich raus“ führt der Silberhaarige formell fort. „Ich werde Eiskunstläufer, weil ich es will. Ich brauch keine übertriebenen Reichtümer, ich möchte einfach das tun, was mir Spaß macht. Das musst du auch verstehen, Mutter“ Sie weinte noch mehr und wurde noch wütender, als wolle sie ihn partout nicht verstehen. Sie kickte die Schlittschuhe durch die Gegend, was Viktor selbst allmählich ein bisschen wütend machte. „Du….“ Krächzte sie. Ihr fehlten aber mehr und mehr die Worte. „Es gibt da einen Mann, der mich auf ein Sportinternat schickt. Dort werde ich das erste Mal professionellen Unterricht im Eislaufen bekommen. Ich habe ja gesagt, ich habe nicht auf deine Zustimmung gewartet, da ich wusste, ich würde sie eh nicht bekommen“ Auf seinen blutigen Fußhacken stehend musste Viktor jäh einem Stift ausweichen, der geflogen kam. Jetzt ohrfeigte ihn seine Mutter erneut. Die Frau war außer sich. Sie konnte nicht mehr und doch war der Jüngere froh, die Wahrheit gesagt zu haben. Er stand hinter dem, was er sagte. Er würde diese Gelegenheit beim Schopf packen. Er ließ sich nicht beirren von den ausbrechenden Gefühlen der Älteren, er suchte seine Schuhe auf. Das war viel wichtiger. Genauso wie sein Hund, der in diesem Moment, glücklicherweise durch die Türklappe gelaufen kam. Das Wedeln des Schwanzes, das Hecheln brachte Viktor kurz zum Leuchten. Er schloss ihn in die Arme. Dieses Tier war einfach so Gold wert. Für ein paar Sekunden vergaß er die berserkende Frau hinter sich, die ihren Alkoholrausch scheinbar noch immer nicht hinter sich hat. „DU…. Ich…“ krächzte sie. Viktor war so mit seinem Hund beschäftigt, dass er nicht mitbekam, wie seine Mutter seine Schuhe nahm, sie wutentbrannt in eine Mülltonne stopfte. Daraufhin stampfte die Frau im Hintergrund, sie polterte. Theoretisch nichts neues, dieses Temperament, auch wenn sie es heute besonders hart trieb. „Na, Nezhny… du bist ganz kalt“ Er streichelte ihn. Er ignorierte das Geschrei und Gestampfe im Hintergrund. Sein Tier machte ein paar Zuckungen in Richtung Flur, als wolle dieser ihn über dessen weggeworfene Schuhe informieren. Viktor brauchte ein bisschen, um das zu kapieren. Mit einem Mal kam seine Mutter und Erzeugerin durch den Flur gerauscht. Der Junge wollte gerade nach seinen Schuhen kramen, als er von seiner Mutter ein Bodycheck bekommt. Er stöhnte, er merkte, dass es anscheinend nichts gebracht hat. Viktor landete in einem Schrank an der Seite, sein Rücken knackste leicht und sein Kopf knallte auch leicht dagegen. Es fiel ihm so schwer, von seinen ziehenden Schmerzen abgesehen, nicht mehr vor Wut in Tränen auszubrechen. Er wollte, so sehr es eben geht, standhaft und stark bleiben. Er wollte sein kühles Herz nicht zum Zerbrechen bringen. Er wollte es doch nur aufweichen… Die beiden kämpften am Boden miteinander. Tränen flossen, der Jüngere und körperlich noch schwächere biss die Zähne zusammen. Soweit wollte er es niemals kommen lassen. Aber er konnte nicht hier und jetzt aufgeben. Er hatte es doch endlich gesagt, er wusste, dass sie nicht begeistert reagieren konnte. Da kamen sie doch, die Tränen bei Viktor, die er zurückhalten wollte, um jeden Preis. „W- Warum? Warum tust du das?!! Komm zu dir!!!“ jappste er verzweifelt. Er erkannte in dem Handgemenge nicht, dass seine Mutter nach etwas Spitzem gegriffen hatte und ausholte. Sie wollte nicht… nein, das konnte sie niemals tun! Viktor kniff die Augen zu, rollte sich ein, bemerkte nur mit einem Kreischen, wie der Körper seiner Mutter plötzlich anhielt, ein lautes Johlen seines Hundes ertönte. „…Nezhny“ murmelte Viktor, seine Tränen runterschluckend, er zitterte leicht. Seine Erzeugerin war gefühlt erstarrt. Mutig traute er sich, umzudrehen unter leicht zerrendem Schmerzen, die langsam in seinen Schädel stiegen. Der Anblick, der sich ihm jetzt bot, bohrte sich in sein kühles Herz und hinterließ einen inneren Schmerz, wie er ihn schon lange nicht mehr erlebt hat. Die Mutter war in Schockstarre, nur langsam konnte sie sich erheben und realisieren, was sie eigentlich die ganze Zeit tut und nun angerichtet hatte. Sie erwischte nicht Viktor, sie erwischte den Pudel. Die Situation war eskaliert und aus den Fugen geraten und für Sekunden wusste keiner, wie er am besten reagieren sollte. Der Junge, der völlig schockiert war, konnte nicht fassen, was passiert war. In seinem Kopf eskalierte vieles und er wusste nicht weiter. Klar denken war nicht, jetzt waren Instinkte gefragt. Hals über Kopf sprang Viktor auf, seine Schmerzen ignorierend, sah sein geliebtes Tier verwundet da liegen. Schnell nahm er das jaulende Tier an sich, über seine Schulter. Ignorierte die verstörte und bewegungsunfähige Frau neben ihm. Schluckte seine Tränen runter. „Du… du bist nicht meine Mutter“ sagte er hartherzig, aber bestimmt. Es war ihm in diesem Moment so egal, was er an Schulsachen, an Kleidung und noch mehr zurückließ. Seine Wertsachen waren bei ihm. Sein Hund, der einen Arzt brauchte, ebenso. Viktor wüsste nicht, wo er ihn hinbringen sollte. Aber er würde suchen. Er wusste, Yakov wird ihn anmelden. Ein neues Leben würde beginnen, sein altes tristes Leben würde enden. „Schönes… Leben noch. Auf Wiedersehen“ verabschiedete sich der Junge mit dem langen silbernen Haar. Nezhny auf den Schultern, langsam aus dem Haus tretend. Er beerdigte grade sein altes Leben. Mit viel Schrecken, unnötigem Schrecken. Jetzt fokussierte er sich erstmal auf seinen Pudel und versuchte, dessen Leben zu retten und auch ihm ein neues zu schenken. ‚Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende‘ Das waren die Gedanken Viktors, nachdem die Tür fiel und er seiner Erzeugerin keines Blickes mehr würdigte. Dies war wieder der kühle Viktor, der den Starken mimen wollte. Er schritt los in die Freiheit. Die Freiheit auf dem Eis – das sollte auf ihn warten. Kapitel 2: ----------- Die Schritte wurden immer länger für den leicht angeschlagenen zehnjährigen Viktor Nikiforov. Seine Wertsachen hatte er mitsamt seines verwundeten Hundes im Schlepptau. Immer kraftloser werdend schleppte er sich Richtung Innenstadt. Es war früh morgens, gegen halb sechs, eine Uhrzeit, in der in den Ghettos besser kein Fuß gesetzt werden sollte. Eine Uhrzeit, in der die Alkoholleichen ihren schlimmsten Zustand aufwiesen, die Drogendealer Hochsaison hatten und generell es gefährlich war, als Jüngling alleine durch die Stadt zu streifen. Ein Tierarzt würde erst um 8 öffnen. Und Viktor hatte keinen Schimmer, wo er einen auffinden sollte. Der Silberhaarige hatte zudem seit Stunden nichts mehr zwischen die Zähne bekommen, was er an seiner inneren Kraftlosigkeit langsam merkte. Nezhny, sein geliebter Pudel, wurde immer kälter, je mehr Blut aus der Wunde austrat. Das Jaulen des Hundes tat Viktor in der Seele weh. Viktor fühlte sich gebrochen. Leer. Verzweifelt. Kraftlos. Am Ende seines Seins. Wenn er nun auch noch seinen Hund verlieren würde, wusste er nicht, ob er überhaupt jemals die Kraft aufbringen könnte, noch einmal aufs Eis zu gehen. Seine Gedanken, die vor wenigen Stunden noch so hoffnungsvoll waren, nachdem er diesen Herr Yakov traf, verliefen sich in düstere Bahnen. Ja, auch wenn er so gerne den starken, unumstößlichen Jungen mimte. Nun war er innerlich am ende. Als hätte seine Seele ihn verlassen. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, so sehr er es versuchte. Der Treffpunkt, den er mit Yakov ausmachte, er war nicht mehr weit entfernt, es war eine Brücke in der Nähe von hier, die er kannte. Die Eishalle von damals war auch hier in der Nähe. Als kleinerer Junge war er mit seinem Großvater einige Male hier, die Weihnachtsbeleuchtung, die hier angebracht würde, sah wunderschön aus und ließ den teils zugefrorenen Fluss wunderbar erstrahlen. Doch alles, auch jene Brücke erschien ihm in diesem Augenblick grau in grau. Davon abgesehen wurde ihm allmählich kalt und schwummrig. Und Nezhny… er war gefühlt auch immer kälter. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, unternahmen natürlich nichts. Ein sichtlich erschöpfter Junge mit schwer verwundetem Tier, warum sollte hier jemand Zivilcourage zeigen und helfen? Warum sollten Menschen ihm überhaupt helfen? Es war doch alles wie immer. Die Kommentare Halbstarker, die seine Haare betrafen, ignorierte Viktor noch immer, aber er hatte auch keine Kraft mehr, sich darüber innerlich aufzuregen. Eine Telefonzelle. Eine alte Telefonzelle, das war Viktors neues Ziel. Irgendwo wird er jemanden erreichen müssen, der seinem Tier hilft. Er selbst war so down, dass er sich selbst relativ egal war. Aber Nezhny! Er warf sich in diese kleine, enge Zelle rein. Es war ein kleiner Hoffnungsschimmer, der noch in ihm steckte. Als Viktor jedoch bemerkte, dass er keine Münzen mehr dabei hatte, ließ er sich schlicht und einfach an der Wand fallen und legte seine Arme über sein Tier. Es war kalt und Nezhny, deren Bewegungen immer weniger und schwächer wurden, würde auch immer kühler. Der Junge versuchte, ihn zu wärmen, so gut es ging. Er wusste nicht mehr weiter. Aber… wenn Nezhny ging, würde er mit ihm gehen. Das einzige Wesen, welches ihm in Zeiten des Trübsals immer noch Trost spendete. Das einzige Wesen, welches ihm Zuneigung und Wärme gab, zu der seine übriggebliebene Familie nicht fähig war. Nezhny wird er nicht allein lassen. Seine Schlittschuhe waren im Müll. Und Kraft zum Eislaufen besaß er kaum noch. Es vergingen bange Minuten, in denen Viktor einfach seine eigenen Grenzen aufgab und bitterlich weinte. Außer einigen empörten Blicken tat niemand etwas. Sie überließen den Jungen einfach seinem Schicksal. Nezhny, Viktors Pudel und einziges echtes Familienmitglied… Es bewegte sich nicht mehr. Blut, welches schnell trocknete, war auf der Hose des Jungen verbreitet. Hoffnung auf Rettung existierte nicht mehr. Viktor saß einfach da, verheult, innerlich leer und mit dem einzigen Wunsch, zu verschwinden… … „Viktor?“ Eine alte Stimme ertönte. Aber der angesprochene war wie in einer Trance. Er bekam es kaum mit. „Viktor….“ Es war Yakov, der alte Mann von gestern. Er hatte Nezhny längst beiseite gelegt. Das Leben des Hundes konnte nicht gerettet werden, soviel stand fest. Aber Viktor hockte nur da, halb unterkühlt und völlig kraftlos. Yakov rütteltete ihn, versuchte, den völlig bleichen Gesichtsausdruck irgendwie zu beleben. Doch er konnte nichts tun. Der Eiskunstlauftrainer, der seinen Posten extra für ihn verlassen hatte, hätte natürlich seine gestrige Idee einfach verwerfen können, alleine schon, weil schier alle Lebensenergie aus dem Silberhaarigen entwichen schienen. Er hätte ihn einfach hier erfrieren lassen können, wie alle anderen auch ignorant sein können. Tatsächlich wollte der Mann, der Viktor im Übrigen gestern nicht das erste Mal beobachtet hatte, ihn nicht aufgeben. „Viktor… du siehst absolut miserabel aus. Ich bringe dich sofort zu unserer Krankenpflegestation. Außerdem solltest du was essen“ Der Junge schüttelte leicht den Kopf. Die leeren, meerblauen Augen spiegelten seine innere Leere so gut wider. Er konnte und wollte sich nicht wehren, denn ihm war nun alles einfach so egal. Der Ältere nahm ihn mit. Er schleppte sowohl den Jungen, als auch den nicht mehr bewegenden Hund mit sich. Es ist ein Bildnis des Grauens. Viktor trat während alledem langsam weg und bekam nichts mehr mit. Vielleicht war all das ja doch nur ein langer Alptraum, aus dem er gleich erwachen wird. Der Silberhaarige, dessen Rücken leicht lädiert ist, wird von dem Älteren direkt in die Krankenabteilung gebracht. Was Viktor nicht ahnte, war, dass es hier auch ein paar Experten für verwundete Tiere gab. Als sie Nezhny in Empfang nahmen, sahen die Mimiken schon nicht vielversprechend aus. Das Leben des Pudels war dahin geschieden. Es gab keine Rettung mehr für das Tier, welches sich für Viktor opferte. Zuviel Blutverlust. Die meisten, die in diesem Moment anwesend waren, nahmen das mit Fassung. Yakov stand nur da und zog ein recht straffes Gesicht. Gefühle waren nicht grade die Stärke, und obwohl er Viktor erst seit gestern kannte, spürte er, dass das den Jungen erheblich treffen würde. Er dachte daran, wie man ihn fördern könnte, was man aus dem Talent des Jungen machen könnte. Ihm kam eine Idee, die ihm und seinem distanzierten Selbst nicht ganz ähnlich sahen. … Es vergingen Stunden, in denen Viktor verarztet wurde. Er hat keine allzu schlimmen Verletzungen, lediglich ein paar Schrammen, blaue Flecken und kleine Platzwunden. Mitten in der nächsten Nacht kam er wieder zu sich, einwenig desorientiert und noch mit leichten Schmerzen. „…!“ Niemand war im Raum, aber sofort ploppte der Gedanke an Nezhny auf. Aufgeregt wuselte er durch den kleinen Raum, löste sich von den Krankenklamotten. Er war es nicht gewohnt, so gepflegt zu werden. Doch, viel wichtiger war, wie erging es seinem Pudel? Er schlich sich aus dem Raum, und sah sich um. Alles war verdunkelt. Niemand war hier. Die Sorge in dem Jungen wuchs. Er kannte sich hier nicht aus. Eine leichte Panik in ihm stieg auf, auch bedingt durch die körperlichen Schmerzen, die er spürte. „Viktor?“ Die Stimme kam vom Gang um die Ecke, sie klang nach Yakov. Der einzige Mensch, der hier einigermaßen wenig Nervosität auslöste in dem Jungen. Und er wird wissen, was mit seinem Pudel geschehen ist. Als der Mann den langhaarigen Jungen entdeckte, ging er nur wortlos auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter. Es war zu erkennen, dass er sich mehr als schwer tat, irgendwelche passenden Emotionen zu zeigen. Viktor erkannte sich darin wieder, für gewöhnlich fiel ihm das – trotz seiner jungen Jahre - auch schwer. Anders als den anderen Kindern in seinem Alter. Nicht aber in den letzten Stunden, die genau jetzt in ihm sich wieder wie ein Film abspielten. Dennoch bemerkte der Silberhaarige, dass der Ältere nicht fröhlich gestimmt war. Eigentlich war dies Aussage genug. „N…Nezhny…?“ brachte er nur piepsend hervor. „Sieh zu, dass du dich ausruhst. Morgen wird dein erster Tag hier sein. Und du bist noch nicht fit“ sagte der Mann nur trocken und lenkte vom Thema ab. Wie sollte er einem zehnjährigen den Tod dessen geliebten Hundes erklären? „Aber… wo… was ist mit Nezhny?“ Viktor bekam den Gedanken nicht aus dem Kopf. Es kam öfter vor, dass der Hund sich des Nachts in sein Bett geschlichen hat und mit ihm gekuschelt hat. Er spürte, dass er diese Wärme grade brauchte. „Alles gut“ Yakov wählte eine Notlüge. „Er braucht Ruhe. Morgen gehen wir ihn besuchen.“ Der Junge gab sich nicht wirklich zufrieden damit. Aber es half nichts. Natürlich ahnte er, was passiert war, denn gestern sah es ja nicht mehr gut aus für sein Tier. Den Rest der Nacht saß er hellwach noch in dem Krankenbett und starrte nach draußen. Es schneite. Ein schöner Anblick. Ungewöhnlich schön. Ob das ein Zeichen ist? Nezhny, du bist da draußen, das weiß ich. Werde ich jetzt wirklich Eiskunstläufer? Kann ich… kann ich hier etwas reißen? Ich bin noch nie wirklich vor den Augen anderer Menschen gefahren… Die Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Sie sprangen hin und her zwischen Aufregung und Trübsal. Er hatte das Gefühl, die Pubertät hätte ihn schon eingeholt. Vor ein-zwei Jahren hatte er solche Gedankengänge noch nicht, da war alles noch so unbeschwert. Aufs Eis ist er dennoch gerne gegangen, aber er hatte sich eben noch nicht über alles solche Gedanken gemacht. Es war einfach so wie es war mit seiner Familie. Aber nun…? Vielleicht sind das erste Anzeichen von Pubertät. Die sollte aber eigentlich erst später kommen. Am nächsten Morgen wurde er von einer Ärztin besucht und durchgecheckt. Er war nicht besonders konzentriert, aber immerhin waren die Schmerzen nun weg. Er bekam ein paar Schmerzmittel verschrieben, und ihm wurde geraten, es nicht mit dem Training zu übertreiben. Wie erwartet ging es hier nur um körperliche Beschwerden, nicht um die angeknackste Psyche des Jungen, der in den letzten Stunden eine Menge durchgemacht hatte. Aber er wird damit sicher schon zurechtkommen. Er ist ja immerhin fast elf, da kann man das schon erwarten. „Lasst mich um ihn kümmern“ sagt Yakov, der Eiskunstlauftrainer, der wegen Viktor wieder eine Theoriestunde ausfallen ließ. „Aber“- protestierte die Ärztin, die den Mann so scheinbar nicht kannte. „In ihm sehe ich die Zukunft des russischen Eiskunstlaufs“ erzählte er bestimmt. „Das muss gefördert werden. Ich weiß, normalerweise durchlaufen die jungen Läufer in jüngerem Alter mehrere Aufnahmeprüfungen und viel Papierkram, bis sie genommen werden“ Viktor stand daneben und hörte nur zu. Es faszinierte ihn. Er glaubte nicht an diese Worte. Warum sollte er an dem bisschen von gestern schon festlegen können, dass er ein besonderes Talent hat? Der Silberhaarige wurde mitgenommen. Ohne Worte verließen er und sein Zukünftiger Trainer das Gelände. Yakovs Hund kam mit. Viktor fragte sich, warum sie spazieren gehen, sagte aber nichts. Sie liefen durch den Park hinter dem Gelände, durch die ca. 5 cm Schnee, die gestern gefallen waren. Schön sah es hier schon aus. Sie trafen ein paar Menschen, die den Jungen nur schroff ansahen. Natürlich lag es an seinen unnatürlich aussehenden Haaren. Yakov erzählte jedem, dass er sein neuer Schüler sei, völlig ohne Misstrauen und Umschweife. Ein bisschen gruselig ist das schon. Und es wirkte als ob die Menschen ihn förmlich musterten, um sich sein Gesicht genau einzuprägen. Anschließend kamen sie zu einer etwas abgelegeneren Stelle. Hier wirkte es, als hätte jemand kürzlich erst umgegraben, vielleicht vor ein paar Stunden erst. Denn hier lag weniger Schnee, Fußspuren waren noch da. Und der Haufen Erde generell sah noch so frisch aus. Als Viktor das kleine Kreuz aus Ästen sah, realisierte er langsam. „Mein Junge… …wir sind da. Wir sind bei Nezhny“ Die Stimme wirkte gespielt betroffen. Aber das interessierte Viktor in diesen Sekunden nicht, als es langsam in ihm ankam. Der Tod seines Hundes, der hier kürzlich begraben wurde. Nicht dass er sich rationalerweise wunderte, wie das alles so schnell von Statten ging, einfach das Tier an dieser Stelle zu beerdigen. Soweit denken konnte er nicht. Es war die Leere, die sich bereits gestern gezeigt hatte. Diese Leere fühlte sich nun an, wie in Stein gemeißelt. Er spürte die Tränen wieder in seine Augen steigen. Er schaffte es nicht, dagegen anzukämpfen. Sein Herz brannte. Es schmolz komplett dahin. Das zweite Mal überhaupt nach dem Tod seines Großvaters. „Nezhny…“ krächzte der Junge, ging in die Knie, hörte innerlich das erfreute Bellen des Tieres, welches er nun nie wieder hören wird. Es schmerzte innerlich so sehr. Er war das einzige neben Eiskunstlauf, was ihn wirklich Freude bereiten konnte. Es war, als wäre ein Teil von ihm von der Welt geschieden. Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber noch einmal prasselten all die Gefühle, die Viktor sonst so oft versteckte, mit einem Mal aus ihm heraus. Er konnte es nicht zurückhalten und nicht kontrollieren. All die Erlebnisse mit dem Hund ploppten in seinem Gedächtnis aus. Er hatte so viel Spaß, nicht selten begleitete ihn das Tier zum Eislaufen, gab ihm Wärme, wenn er sonst keine bekam und spendete Trost. Er fragte sich, während weitere Tränen aus seinen Augen quollen und er ein leichtes Schulterklopfen vernahm, wie er ohne diese Wärme zurechtkommen sollte. Er war nun an einer Eiskunstlaufschule… eigentlich etwas, wovon er immer träumte. Und doch fühlte er sich in diesem Moment nicht imstande, dort zu bestehen. Es vergingen einige Minuten, in denen Viktor von seiner Trauer überwältigt weinte und keinen rationalen Gedanken fassen konnte. „Wir sollten gehen. Bedenke, Viktor… was würde dieses Tier tun, wenn er dich so weinen sieht?“ Die Frage ging wie ein Pfeil ganz butterweich durchs Herz und ließ es noch mehr bluten. Er konnte nicht antworten, nur schluchzen. „Man merkt, wie viel dir an ihm lag. Erfolgreiche Eiskunstläufer haben ein Herz aus Glas, und das ist auch ganz gut so. Merke dir das, es wird dir noch viel bringen in deiner späteren Laufbahn“ Dass er ein Glasherz besäße, war Viktor neu, aber… nein, im Grunde konnte er das grade nicht leugnen. Er verstand nicht, worauf er hinauswollte, aber vielleicht wird er das, wenn er älter und reifer ist. Vielleicht… hat er dann auch seine Gefühle unter Kontrolle. Vielleicht schafft er es dann, standhaft zu sein. Vielleicht muss das so. Er muss durch die Hölle gehen um den Himmel zu finden. Sie verließen den Platz, Gedankenverloren trabte Viktor zurück zu seinem neuen Heim. Etwas in ihm war nun entgültig tot. „Die nächsten Tage werde ich dich noch ein bisschen schonen, mein Junge. Du wirst dem Theorieunterricht beiwohnen, ehe die ersten Fitnesstests gemacht werden. Und vorher werde ich dich einem Kollegen vorstellen“ Yakov blieb seiner Linie treu. Er ritt gar nicht mehr länger auf den Gefühlen des Jungen herum. Trocken definierte er den Fortgang des Trainings. Etwas, an das Viktor sich noch gewöhnen muss – und wird. Zurück genoss der Junge erstmal eine Dusche, ein warmes Essen und ihm wurden Trainingsklamotten gewährt. Von den anderen Schülern wurde er bewusst ferngehalten. Anschließend stand das Gespräch mit dem psychologischen Betreuer und einem Partner von Yakov an. Ein grauhaariger, Bärtiger Mann namens Igor, der ein stückweit älter aussah als Yakov, aber ein bisschen freundlicher im Gesichtsausdruck wirkte. Wundersamerweise besaßen sie an diesem Internat doch einen psychologischen Aufseher. Igor musterte den Jungen, der seine silbernen Haare hinter seine Ohren schob, damit sie etwas ordentlicher lagen und seine innerliche Gebrochenheit weniger zur Geltung kam. „Interessant. Du bist also Viktor Nikiforov“ sagte er, und klang, als hätte er ihn schon jahrelang erwartet. Er nickte nur und versuchte gar nicht erst zu hinterfragen. „Und du möchtest Eiskunstläufer werden“ Von dem Jüngeren kam als Antwort nur ein verlegener Blick, als wüsste er schon, dass der Mann nicht viel von ihm hielt. „Erzähl. Was möchtest du erreichen? Yakov hat dich nicht umsonst hier her gebracht. Und ich denke nicht, dass es nur dein Name ist, der dich herführte“ Minuten vergingen, in denen Viktor den sterilen Raum absuchte und sich zeitweilen so vorkam, als hätte man ihn in inhaftiert. Inhaftiert dafür, dass er seine eigene Mutter quasi völlig allein dem Schicksal überlassen hat. Inhaftiert dafür, dass er nicht schnell genug Hilfe holen konnte, um seinen geliebten Pudel zu retten. Er fühlte sich wie ein Versager und das sorgte nicht dafür, dass er imstande war, große Reden zu schwingen. „Ich… ich möchte… Freiheit“ murmelte er. Igor zog die eine Augenbraue hoch, während Viktor in seinem Inneren bessere, vielleicht positiv wirkendere Worte suchte. „Wie süß, Nikiforov. Was meinst du denn mit Freiheit?“ „Na.. Eislaufen eben… immer wenn ich auf dem Eis bin, fühle ich mich wohl und frei von… schlechten Gedanken“ erzählt der Junge zögerlich. Der bärtige Mann lächelte verschmitzt. „Du bist schon ein naiver und süßer Junge. Hätte ich nicht erwartet. Aber nun denn. Vielleicht sage ich es dir direkt, aber wenn du wirklich groß werden willst, dann benötigst du nicht nur eine Affinität zu Eislaufen, sondern erst einmal ein gutes Selbstwertgefühl. Das sehe ich bei dir nicht unbedingt“ Na, reib es mir unter die Nase. Dachte sich Viktor leicht genervt. Er fühlte sich innerlich einsam, leer, gekränkt, wo bitte sollte irgendein Selbstwertgefühl herkommen? „Erzähle mir etwas über dein Leben daheim. Ich bin sehr gespannt“ Wieder vergingen lange, zähe Minuten. „Meine Mutter wollte mich vom Eislaufen abhalten. Sie wollte, dass ich Geschäftsmann werde. Und … naja, also, ich bekam halt keine Unterstützung von ihr“ antwortete der Junge kurz und knapp. Igor schien weiter bohren zu wollen, doch fürs erste ließ er die familiären Fragen sein, denn sicher merkte er das unruhige Rumoren in Viktor. „Gut. Ich glaube, ich kann dich schon ein stückweit besser einordnen. Dennoch sieht man dir an, dass du etwas auf dem Herzen hast. Und dabei geht es nicht um deine Familie“ Was versucht dieser Typ? Will der meine Gedanken lesen? Fragte sich Viktor innerlich mehr genervt. Noch genervter ist er davon, dass er indirekt verneint, dass Nezhny nicht seine Familie ist. Viktor sagte nichts, er schnaubte lediglich etwas. Igor ließ ab von dem Jungen, als er erkannte, dass er nun nur noch schweigen wird über alles. Sein Blick wirkte so, als wolle er es schaffen, sein ganzes Leben aus dem Jungen herauszukitzeln. Wieder einer dieser Menschen, auf die Viktor verzichten könnte – davon gab es ja wahrlich nicht wenige. Der Junge seufzte. Und wenn er an seine künftigen Klassenkameraden dachte, motivierte es ihn nicht sonderlich. Er wünschte sich ja am liebsten Einzelunterricht von einem der aktuell erfolgreichen Eiskunstläufer. Aber das erschien ihm nicht möglich. Undenkbar. Warum sollte ihm so etwas widerfahren? Es war Nachmittag, als Yakov Viktor das erste Mal zur nächstgelegenen Eishalle begleitete. Der Junge war aufgeregt, sollte er doch heute das erste Mal theoretischen Einblick auf das Training haben. Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder eine Eishalle zu betreten. Es war ein wohliger, kühler Geruch, der den jungen Russen schnell überfiel. Ein paar Jungen drehten ihre Kreise auf der Eisfläche. Fast wie von selbst bewegte sich Viktor an den Rand und sah hinüber weg. Diese Farbe. Dieser Geruch. Diese Kühle, die vom Boden ausging. Dieses Geräusch, welches die Kufen auf dem Eis hinterließen. Es ist Balsam für Viktors geschundene Seele. Er ignorierte Yakov hinter ihm, der ein Pläuschchen mit dem Mann an der Kasse hielt. Der Silberhaarige fühlte sich prombt heim. Einer der blonden Jungs bemerkte ihn. „Wer bist du denn?“ fragte der blonde, der ein bisschen älter als Viktor aussah. Dieser Blick in dessen Augen verriet wieder viel Entrüstung ob der silbernen Haare des Jüngeren. „Ist das Natur?“ warf er direkt hinterher und Viktor fühlte sich bestätigt. Er seufzte. „Ja…“ „Das ist Viktor, er wird ab morgen mit euch trainieren und in einer Klasse sitzen“ rief Yakov aus dem Hintergrund. Das Erstaunen des Blonden ist nicht zu übersehen. „Aber..“ – „Es ist alles abgesprochen. Außerdem hat er viel Talent“ Dass der alte Mann kein Mann von Empathie war, das hat Viktor schnell gemerkt, aber es wunderte ihn eben auch kaum, dass der junge Athlet eine Schnute zog. „Duuu“ er deutete auf Viktor, der seine Haare hinter die Ohren klemmte. Entzürnt starrten sich beide an. „Ich bin Andrej, und ich bin so gut wie bei der Junioren-Nationalmannschaft dabei. Ich respektiere dich, wenn du mit mir mithältst“ sagte er mit erhobenem Haupt. Yakov lachte, er scheint Gefallen an dieser herausfordernden Art zu haben. Viktor sagte nichts, nickte nur und nahm die Herausforderung an. Er konnte nicht die ganze Zeit Trübsal blasen, und die Tatsache, dass er nun seinem Lieblingssport nachgehen konnte, erweckte doch einen kleinen, totgeglaubten Lebensgeist in ihm. Von menschlicher Zusammenkunft hielt er eh nicht viel, aber für ihn ist es ein Ansporn, einen möglichen Juniorenmeister herauszufordern. So wurde Viktor zunächst an die Seite gestellt, er sollte von außen dem Training beiwohnen. Es war nicht nur Yakov vor Ort, der trainerte, es waren mehrere. Jeder der autoritären Personen hatte eine Gruppe Schüler, je nach Fortschritt aufgeteilt. Die weitesten der Schüler, die Viktor zwischen sieben und zwölf schätzte, wurden bereits in den Sprüngen trainiert. Der Junge war, jetzt wo er dies mit faszinierten Augen begutachtete, noch immer sehr ahnungslos, was den Sport anging. Im Sinne von… er konnte keines der Kunststücke benennen, die Bewertungsskala, die Regeln, die ganzen Hintergrundinformationen waren ihm noch fremd. Bisher hatte er immer nach Bauchgefühl einfach das nachgeahmt, was er von den damaligen Auftritten gesehen hat, oder er hat sich einfach von seinem Instinkt leiten lassen. Ein paar der Schüler bekamen harsche Worte an den Kopf, auch von Yakov, zimperlich gingen sie nicht mit ihnen um. Etwas, was Viktor jetzt schon etwas wurmte. Er mochte es eben gar nicht, wenn er sich an irgendwelche überstrikten Regeln halten musste. Andrej zum Beispiel schien übermütig, als er, entgegen der Haltung seines Trainers, einen Dreifachsprung vollführte und dabei etwas unsanft mit den Knien aufkam. Der Junge ärgerte sich und kassierte direkt die rote Karte, was ihm vom weiteren Training ausschloss – zumindest für ein paar Minuten. Viktor war nicht scharf darauf, die Aggressionen des Jungen abzubekommen. Er war viel schärfer darauf, selber auf die Eisfläche zu gehen. Aber er hatte ja nach wie vor kaum irgendwas Eigenes. Er versuchte, zwanghaft den Trümmerhaufen, den sein jüngstes Leben ihm hinterließ, innerlich zu kehren. Doch hielt ihn all das auch nicht davon ab, einen Versuch zu starten, hier irgendwo Schuhe und Trainingsklamotten aufzutreiben. Sein Herz raste bei dem Gedanken, nachher auch dort auf dem Eis stehen zu können. Kapitel 3: ----------- Als er im Trainingsraum ankam, und Personal suchte, wurde er von einem blonden Jungen ertappt. Andrej schien gesehen zu haben, wie Viktor sich davon gestohlen hatte und lauerte ihn nun im Aufwärmraum auf. „Tu nicht so, als ob du hier einfach überall rumrennen könntest“ tadelte ihn der Junge, dessen Schweißperlen der Anstrengung auf der Stirn ihre Bahnen liefen. Viktor seufzte. „Was willst du?“ fragte er genervt. „Hör zu, ich weiß nicht, was Yakov geritten hat, dass er dich hier so mir nichts dir nichts einschleust, wo unser eins harte Aufnahmeprüfungen bestehen muss, aber… das heißt nicht, dass du alles machen kannst, was du willst, ja?“ Viktor schnaubte nur. Dieser Junge ging ihm schon jetzt gegen den Strich. Er wartete quasi auf die zynischen Kommentare gegenüber seiner Haare. Aber Andrej entschied sich dafür, sich provokant neben Viktor aufzubauen. Er war einige Zentimeter größer als der Silberhaarige. Und zweifelsohne hielt er sich für den allergrößten. „Aber wenn du so geil darauf bist, jetzt schon gegen mich antreten zu wollen, dann los, tu doch, aber ich denke gegen mich kommst du Lappen nicht an“ Seine Worte waren harsch, aber seine Handbewegung ging Richtung rechter Gang. In der anderen Hand holte er einen Schlüssel hervor. Dann drehte er sich um und lief die Tür rechts durch. Scheinbar prüfte er die Kombinationsfähigkeiten des Neulings. Viktor war zwar noch sehr jung und in manchen Dingen recht begriffsstutzig, aber völlig blöd nun auch nicht. Er folgte ihm in den Raum, in denen die Leihschuhe, Handschuhe und Trainingsjacke zu finden waren. „Was machst du eigentlich hier? Wo hast du den Schlüssel her? Hast du nicht eben die rote Karte bekommen?“ entkam es schließlich von Viktor. Das Verhalten dieses Jungen verwirrte ihn abermals. Wie es so oft bei Menschen der Fall war. „Auch wenn es nicht so aussieht für dich Grünschnabel, aber ich bin einer der Lieblingsschüler von Yakov. Ich hör zwar nicht immer auf ihn, weil ich mit meinen dreizehn Jahren kein kleines Kind mehr bin, und mich gerne schnell entwickeln möchte, aber dennoch vertraut er mir auf eigene Art mehr als anderen.“ Er warf Viktor einen feisten Blick zu, als dieser in der Reihe der Schlittschuhe seine Große suchte. „Das wirst du mir auch garantiert nicht wegnehmen, klar? Und jetzt beeil dich. Die anderen haben gleich Teambesprechung, ich kann dich nur ein paar Minuten auf die Eisfläche lassen… Wenn Yakov dich sieht, rastet er aus und wir dürfen uns seine Laune dann mindestens eine Woche antun“ Der Kerl labert ohne Punkt und Komma, aber endlich war Viktor, der irgendwann aufhörte, ihm zuzuhören, fertig mit Umkleiden. Das Anhaben der Schuhe, welche er sich zum Erstaunen des Älteren recht fix angezogen und zugeschnürt hatte, war ein absolut erhabenes, wunderbares Gefühl, was seine eigene Laune enorm steigerte. Da konnte auch der Zynismus des anderen nichts ändern. Die Eisfläche war in der Tat leer, nan sah nur, wie in einer der anderen Trainingsräume ein Licht anging. Es gab noch zwei der Eishallenarbeiter, die die Jungs beobachten und immer aufpassen sollten, dass auch keiner Mist baut, aber für sie war es erstmal nicht relevant, wer das Eis betritt in diesem Moment, während der Trainingszeiten. Sofern sie wussten, dass sie diesem Internatsverein angehörten. Deswegen wurde Viktor zwar interessant gemustert, aber sonst nicht weiter aufgehalten. Beinahe vergaß der Silberhaarige, seine Schoner abzuziehen, weil er sich so von dieser glatten, perfekt präparierten Eislaufbahn magisch angezogen fühlte. Eine künstliche Eisfläche hatte er noch nie betreten. Er achtete gar nicht weiter auf Andrej im Hintergrund – als er aufs Eis tritt und direkt wie von selbst losgleiten konnte, war er wie in einem anderen Film. Was war das für ein unglaublich schönes Gefühl in der Brust des jungen Russen?! So glatt und geschmeidig hatte sich alleiniges nach vorne skaten schon nie angefühlt, es war wundervoll. Zwar saßen die Schuhe extrem eng und drückten auf seine Wunden, aber die realisierte Viktor kaum. Zwei-drei Minuten Aufwärmphase folgten, als Viktor seine Runden drehte und zu Andrejs weiterem Entsetzen vom Tempo mit ihm mithalten konnte. Der ältere bremste, pflanzte sich an die Bande. „Na dann zeig mal, was du kannst“ Viktor fühlte sich frei, es ist, als hätte ihn nun der Kampfgeist gepackt. Die leichten Schmerzen im Rücken ignorierte er, zumal er kurz vorher eine Schmerztablette genommen hatte. Er bremste, stellte sich vor Andrej, wendete sich daraufhin um. Er holte kurz Luft, schloss die Augen und horchte in sich hinein. Es ist faszinierend, aber sobald er auf dem Eis stand, war es, als würden seine Gefühle einen eigenen Weg gehen, eine eigene Geschichte erfinden und innerlich die passende Musik abspielen. Der Silberhaarige begann, sich fortzubewegen, zu gleiten, in aller Eleganz, die sein Körper trotz aller kleineren Blessuren auszustrahlen vermochte. Das passierte wie von selbst. Viktor stellte das aktive Denken ab, weil er wusste, dass dies nur hinderlich sei. Es ist ein Sport, bei dem die Gefühle und die Ästhetik im Vordergrund stehen, nicht zuletzt natürlich auch die Kraft und Athletik des Sportlers, aber genau dieses Zusammenspiel faszinierte Viktor so ungemein. Es ist eine Show, ein Kunststück, in dem der Läufer quasi eine eigene Geschichte erzählt. Langsam verfällt er im Flow, macht den einen oder anderen Schlenker, eine kleine Pirouette, bleibt dann stehen und dann das Ganze in Rückwärts. Dabei wurde er immer schneller und geschmeidiger. Er bekam nicht mit, dass ein paar der Schüler wieder zurückkamen und ihn beobachteten, genauso wenig, wie Andrej nicht schlecht staunte. Als Viktor in die Knie ging und sich elegant zu dem Blonden bewegte, zum Abschluss dieser kleinen Vorführung, machte er seine Augen wieder auf und sah in ein recht erstauntes Gesicht. Jetzt bemerkte er erst, dass nicht nur ein paar Schüler, sondern auch Yakov und ein paar der Eishallenarbeiter hergekommen waren. Der Trainer der Jungs blickte sehr finster drein. Viktor hatte ausdrückliches Aufs-Eis-geh-Verbot bekommen, nun stand er doch auf der Fläche. Doch niemand sagte etwas. Bis Andrej sich regte. „Das war ja besser als erwartet, kurzer“ sagte er mit neckischem Unterton. „Aber bis zu mir sind es noch Meilen~ Da waren ja nicht mal Sprünge bei“ Dafür bekam er erneut einen finsteren Blick des älteren Trainers zu spüren. „Runter, sofort runter, ihr beiden!“ befahl er sichtlich genervt. Yakov bespickte beide Jungen mit einem ganzen Schwall Einläufen. Die anderen Jungen standen recht wortkarg dahinter. Der Trainer blieb dann, nachdem er seinen Ärger ausgesprochen hatte, doch etwas an Viktor kleben. „Trotz allem hast du eine einzigartige Körperbeherrschung, Viktor. Das hatten wir seit Jahren nicht mehr bei einem Einsteiger“ Der Mann verwies die anderen Jungen zur Umkleide, Viktor und Andrej folgten ihnen. Sie sprachen zunächst kein Wort miteinander. „So etwas… wie zu dem Neuling… hat Herr Feltsman seit … damals nicht mehr gesagt“ „Du meinst… seit Evgeni und Alexey? Ich habe die beiden immer total bewundert, als ich anfing…“ „Sie sind ja mittlerweile bei den Senioren aktiv und gehören zu den besten Läufern des Landes“ warf Andrej ein. Viktor, dessen Namensgedächtnis einfach für die Tonne war, spürte bei Erwähnung der Namen ein Herzstechen, wusste aber nicht, warum genau. Es war seltsam. „Dieser Verein hat schon einige Talente hervorgebracht. Evgeni galt immer als einer der größten. Er hat in jüngsten Jahren mal hier trainiert, mittlerweile hat er seinen eigenen Trainer und feierte in diesem Jahr sein Seniorendebut. Ich habe gehört, dass er bald nach Japan reist und bei den NHK Trophys teilnimmt…. Und sein Stil ist einzigartig, er ist jetzt schon eine Ikone für viele von uns“ Viktor fragte sich, ob er ihn schon mal live gesehen hat, damals, als er das erste Mal in einer Eishalle ein Jugendturnier bestaunt hat. Andrejs Blick wippte zwischen Faszination und Eifersucht hinterher, als er von diesem Supertalent erzählte. „Und zu ihm hat Yakov auch immer mal wieder gesagt, selbst als ich anfing mit Sechs, da war er grade neun… er wird mal ganz groß. Lob bekommen die wenigsten auf Anhieb zu hören. Und deswegen… ja, deswegen sind wir alle etwas erstaunt, dass du auch direkt solche Vorschussloorbeeren bekommen hast“ Prompt wurde Viktor ein bisschen verlegen. Währenddessen er in seinen Erinnerungen immer noch nach Evgeni suchte, weil er fühlte, dass er den angesprochenen Jungstar kannte. „Aber Herr Feltsman hatte recht“ warf ein schwarzhaariger kantiger Junge neben Andrej ein. „Das eben war so elegant, man hätte meinen können, da tänzelt eine Frau“ Das war nicht unbedingt ein Kompliment für Viktor. Sicher wieder die erwartete Anspielung auf seine langen Haare. Der Trainingstag war vorbei. Die Jungen begaben sich in die Kantine. Man merkte, dass in dieser Schule besondere Bedingungen herrschten, denn es war in diesem Land, in dieser Region nicht selbstverständlich, dass die Schüler Mittags essen bekommen. Viktor redete nicht mehr besonders viel. Er wurde noch einmal durchgecheckt, es folgte ein persönliches Gespräch mit Yakov, in dem er hauptsächlich Zurechtweisungen zu hören bekam. Er solle ja in Zukunft auf ihn hören, Verbote akzeptieren und sich fügen. Viktor seufzte innerlich, lächelte und nickte, auch wenn er genau wusste, dass er einfach keiner ist, der sich fügt. Er hat zu sehr seinen eigenen Kopf. Vielleicht mag das in den Augen des Älteren Mannes seltsam klingen, dass ein Junge in seinem Alter schon so selbstständig denkt, aber er hatte ja auch kaum eine Wahl bei dieser nicht grade mütterlichen Behandlung seiner Erzeuger. Ab morgen beginne der Theorieunterricht und das Training. Auf dem Stundenplan standen aber nicht nur die umfangreiche Geschichte und Theorie des Eiskunstlaufs, sondern auch ‚normale‘ Unterrichtsfächer, Mathematik, Sprachwissenschaften, Englisch als Fremdsprache, Sozialkunde, Gesellschaftslehre, Biologie. Hauptaugenmerk war aber der Sport. Fitness, Ballettunterricht und eben der praktische Teil auf der Eisfläche machten den größten Anteil aus. Als Viktor das sah, leuchtete er doch ein kleines bisschen auf. Es war ein viel schönerer Stundenplan als sein Vorheriger. Abends aß er noch eine warme Suppe, ehe er in sein neues Gemach eintrat. Wie befürchtet würde Viktor zwei Zimmerkollegen haben. Er zog es vor, einen Rückzugsort für sich zu haben, so wie es immer daheim der Fall war. Er, der nie Geschwister hatte, konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seine Intimsphäre teilten. Er kannte es einfach nicht und verbessern sollte sich die Lage auch nicht, als er Andrej zusammen mit dem dunkelhaarigen, markanten Jungen den Raum betrat. Als er den Silberhaarigen auf dessen Bett sitzen sah, verdrehte er die Augen. „Viktor…“ Es war der Wahnsinn, dass er sich seinen Namen gemerkt hatte. Viel redeten sie nicht. Viktor hatte sich ganz außen am Fenster platziert, er hatte zunächst eine Weile nach draußen gesehen und irgendwelchen Gedanken nachgehangen, ehe er sich einfach ein Buch schnappte, um sich ganz auszuklinken. Die beiden Jungs, er hätte schwören können, dass sich der dunkelhaarige als Ivan vorstellte, alberten herum, diskutierten, welches Mädchen aus der weiblichen Gruppe denn die Süßeste wäre, und über Hausaufgaben, auf die sie keine Lust haben. Auf jeden Fall redeten sie viel und das ohne Inhalt. Und sie störten sich auch nicht daran, dass Viktor sich versuchte, auf die Zeilen in seinem Roman zu konzentrieren. Manchmal brauchte der junge Russe diese Ausflüge in Fantasiewelten, diese halfen ihm, sich auch auf der Eisfläche in eine fremde, eigene Geschichte reinzudenken und sich so gleiten zu lassen. Seit einem Jahr eine seiner Methoden, Ideen zu entwickeln, da man sowas sicher braucht in dem Sport. Aber in dieser Kulisse war Konzentration unmöglich. „Ich bin gespannt, wer von den Mädels dir mal gefallen wird, Viktor. Aber das hat noch zwei Jahre Zeit, bist du verstehst.. ne?“ Viktor zog nur irritiert die Augenbrauen zusammen, denn, so frühreif wie er sich oft vorkam, er verstand nicht, warum es so spannend sei, über das Aussehen der Mädchen zu reden. Ob es wirklich was bringen würde, wenn er älter war? Er wusste, dass es Mann und Frau brauchte, um irgendwie daraus ein Kind zu zeugen, aber tiefer interessierte ihn das tatsächlich nicht. „Aber Erina ist meine, nur damit dus weißt“ warf Ivan ihm nun entgegen. Die Wangen des Jungen färbten sich leicht rosa. Der Silberhaarige konzentrierte sich noch mehr auf sein Buch. Dieses Gerede war irrelevant und nervig, nichts, womit Viktor seine Zeit verschwenden muss. Doch die beiden blieben auch den Rest des Abends nicht leise. Könnte sein, dass sie zwischendrin auch heiter über ihn gelästert haben, der Jüngere zog wie gewohnt seine Maulwurftaktik durch. Irgendwann war es mitten in der Nacht, als Viktor seine Aufmerksamkeit von dem Buch weglenkte auf den Raum. Die beiden Jungs waren mittlerweile zu Bett gegangen und anstelle von Gebrabbel erhüllte mehr oder minder lautes Atmen und schnurren den Raum. Der silberhaarige Junge warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon 2 Uhr nachts. Typisch, es passierte ihm damals zuhause öfters, dass er entweder in einer Lektüre versank oder sich andersweitig mit Eiskunstlauf und interessanten Themen befasste, und zwar so sehr, dass er die Zeit vergaß. Viktor besaß noch nie einen Biorhythmus, der mit dem der Normalmenschen vereinbar wäre. Irgendwann gegen 3 schlief er dann auch ein. ‚Vitya‘ Eine seltsame Stimme schallte in seinem Kopf. Verschwommen machte er die Augen auf und sah in ein helles Licht. Ein Blitzlicht, von einem Scheinwerfer. Und dann war es die Eisfläche, die hell erstrahlte. Viktor schaffte es grade eben, über die Bande zu blicken. Seltsamerweise war er geschrumpft oder in die Vergangenheit gereist. Er verstand nicht, wie er hier hinkam. Jedenfalls sah er vor sich den Auftritt eines jungen Mannes, es waren einige Zuschauer vor Ort, scheinbar war das hier der Schauplatz des Junior Grand Prix. Viktor verstand nicht, warum er hier direkt hinter der Bande stand und nicht bei den Zuschauersitzen. Das machte alles keinen Sinn. Der blonde, ästhetische, junge Athlet bewegte sich geschmeidig. Er wirkte recht groß für sein Alter. Ein einzigartiger Stil, den Viktor nicht beschreiben konnte, aber er war wunderschön mit anzusehen. Alleine die Sprungkombination beherrschte er perfekt. Der Silberhaarige wünschte sich so sehr, nun auch einfach mit dem anderen aufs Eis zu gehen und einfach mit ihm eine Choreo vorzuführen. Aber dazu konnte er noch zu wenig. Langsam würde sich die Kür zu Ende neigen und das Publikum mit Sicherheit applaudieren. Die Punktzahlen werden sicher auch verdammt hoch sein bei ihm. Viktor konnte schließlich nicht eine Sekunde wegsehen. Im Gegenteil. Irgendwie… stand er nun doch selbst auf dem Eis, hinter der Bande. Er konnte sich nicht erinnern dort hingegangen zu sein geschweige denn überhaupt seine Schlittschuhe angezogen zu haben. „Vitya“ hörte er noch einmal eine Stimme ganz deutlich neben sich. Besagter Athlet stand nun direkt neben Viktor. Wo kam er plötzlich her? Der Junge war zusammengezuckt. Der junge Mann hatte eine interessante Ausstrahlung, seine blonden Haare waren etwas länger geschnitten als ein Bob, aber es stand ihm. Er lächelte Viktor mutmachend an und gab ihm die Hand. Etwas erstaunt griff der angesprochene Junge nach der Hand des Sportlers. Doch anstatt sie zu greifen, streifte die Hand die Luft. Alles wurde hell. Irgendwo tat sich ein Loch auf in das Viktor augenblicklich herab stürzte. Er konnte nicht anders, als zum stummen Schrei ausholen und die Augen zusammenzukneifen. Denn die Helligkeit verfärbte sich irgendwann rötlich und Viktor bekam es mit einer kleinen Panikattacke zu tun! Ein Knall und ein hartes Aufkommen auf seinen Knien beendeten schließlich den Fall. Kapitel 4: ----------- Minutenlang lag Viktor zusammengekrümmt neben seinem Bett auf dem Holzboden, die Decke halb mitruntergezogen. Andrej stand neben ihm und zog mit einem Kichern die Decke langsam von ihm runter. „Du kleiner Idiot..“ Der Silberhaarige brauchte einige Momente, um zu begreifen, wo er sich befand. Er blickte auf, versuchte irgendwie seine total wirren Haare zu ordnen und zu entknoten und bemerkte erst dann, dass er aus dem Bett gestürzt war. Auf seinem Knie war direkt ein blauer Fleck ersichtlich, ganz leicht schmerzte es. „Das.. war… nur ein Traum…“ murmelte Viktor, als er an die doch ziemlich merkwürdige Situation mit dem blonden Jungstar auf dem Eis dachte. „Blitzmerker. Was auch immer du träumst, ich möchte es vielleicht gar nicht wissen, wenn du dich dabei so aus dem Bett wirfst“ bemerkte Andrej neckisch. „Es ist halb 8, Der Unterricht beginnt bald. Ich würde besser nicht zu spät kommen“ Immer noch war es ungewohnt für ihn, soviele Menschen um sich zu haben, die sich – so traurig es auch klingen mochte, sich für ihn interessierten, ob nun positiv oder negativ. Mit ein wenig Kopfweh machte er sich auf in den Unterrichtsraum, nachdem er kurz im Bad verschwand und sich dann einen Kaffee am Automaten zog. „Der neue“ murmelte Andrej, der in der vorletzten Reihe ganz links saß, seiner Tischnachbarin. Viktor wurde, wie hätte er es auch anders erwarten können, grade von den Mädchen ausgiebig gemustert, diese hatten getrennt von den Jungen Praxistraining und ihn somit zum ersten Mal gesehen. „Liebe Schüler und Eiskunstlaufstars der Zukunft, wir haben einen neuen Mitschüler. Stellst du dich bitte einmal vor?“ Auch hier gab es diese nervige Prozedur, auf die Viktor keine Lust hatte. Aber mit etwas genervtem Blick stellte er sich dennoch vor und schaute gelangweilt Richtung Decke. Bei Erwähnung seines Nachnamens tuschelten ein paar der Mädels erstaunt und Viktor fragte sich einmal mehr, warum zum Teufel der Name „Nikiforov“ so bekannt in der Gegend. Herr Sokolow, ihr Mathematiklehrer, begann mit dem Unterricht. Viktor dachte immerzu an diesen seltsamen Traum letzte Nacht und bekam vom Unterricht recht wenig mit. Während der recht junge, aber dennoch sehr straight durchgreifende Lehrer mit einer unfassbaren Begeisterung für Zahlen ihnen die Regeln des Bruchrechnens beibrachte, versuchte Viktor auszutüfteln, wer dieser Sportler war, dessen Kür er im Traum bewundert hat. „Viktor“ Prompt wurde er auch schon aus seinen Träumereien gerissen, als er an die Tafel gerufen wurde. Nun denn, bekommen die Menschen halt zu sehen, dass Mathe ihm mehr oder weniger sonst wo vorbeiging, dachte sich Viktor salopp und schritt lustlos zur Tafel. Er sollte eine Gleichung mit Brüchen auflösen und stand erstmal ca. 3 Minuten vor der Aufgabenstellung, ohne wirklich zu verstehen, was diese von ihm will. Mathe war schon in der alten Schule sein Todfeind und er war nie besonders gut darin. Ein paar Jungen lachten. „Das ist aber auch gemein, Herr Sokolow.“ rief eines der Mädels. „Er ist doch den ersten Tag hier, wer weiß, wie weit er von der alten Schule den Kenntnisstand hat“ – „Mensch Erina, warum verteidigst du den Idioten?“ – „Halt dich daraus, Ivan“ Herr Sokolow beendete mit einem Klatschen das anregende Gespräch. „Am besten hörst du nächstes Mal besser zu, Viktor“ Der angesprochene legte die Kreide seufzend auf das Pult. Viel besser würde es dadurch auch nicht werden. Aber diesen Gedanken behielt er doch lieber für sich. Die nächste Theoriestunde war Englisch. Eine etwas dickliche Dame war ihre Lehrerin. Sie war Amerikanerin, die mit einem Russen verheiratet war und seit jeher hier Englischunterricht gab. Laut Andrej erzählte sie jedes Mal, wenn sie einen Neuzugang in der Klasse hatten, erstmal ihre Lebensgeschichte, wie sie ihren Mann kennengelernt hat und warum es sie nun nach Russland an eine Eislaufschule verschlagen hatte. Die sehr quirlige Stimme von ihr konnte sich Viktor schon nach wenigen Minuten kaum anhören. Dennoch lagen ihm Sprachen weitaus mehr als Mathe. Ein bisschen mehr Spaß hatte er zumindest. Er wollte aber endlich aufs Eis. Gegen Mittag gab es eine Pause, danach endlich würden sie zum sportlichen Teil übergehen. In der Pause setzte sich Viktor zunächst abseits hin und versuchte, seine Außenwelt auszublenden. Ein Versuch, der wieder einmal nicht funktionierte, setzte sich ihm gegenüber doch zunächst ein hübsches Mädel mit schwarzen Haaren – Erina – und daneben Ivan, der auffallend oft in ihrer Nähe aufzufinden schien. „Na, Viktor, alles gut bei dir?“ fragte sie einfach mal frei raus. Besagter Junge war noch immer dabei, seinen Traum gedanklich aufzuarbeiten, aber ihm fiel der Name des Athleten zum Verrecken nicht ein. Er spürte, dass dieser nicht zufällig aufgetreten ist in seinem Traum. Er spürte, dass er schonmal eine Kür von ihm bewundert hat, aber er kam einfach nicht auf einen Punkt. Und das wurmte ihn. „Ja, alles ok“ murmelte er nicht ganz richtig und beiläufig. Ivan seufzte. „Warum wolltest du dich denn zu Viktor setzen? Du merkst doch dass der keinen Bock auf soziale Kontakte hat. Komm lieber nach“ – „Nein. Wer sagt denn, dass er keine sozialen Kontakte möchte? Ich denke er braucht ein bisschen Eingewöhnung“ Ivan sah nur empört drein. Viktor sah schließlich auch auf. „Wie kommts, dass du so plötzlich hier bist?“ fragte sie, in Wohlwollen, ein bisschen Smalltalk zu führen. „Yakov hielt mich für talentiert und dann hat er mich hergebracht“ antwortete der Silberhaarige kurz angebunden. Ivan verschwand genervt vom Tisch und begab sich mit Zimmerkumpanen Andrej an die Luft. „Interessant… dass ein Nikiforov sich wieder an Eiskunstlauf versucht“ erzählte sie dann und schaute Viktor mehr als genau in die Augen. Dieser verzog die Augenbrauen. „Warum zur Hölle kennt ihr alle meinen Nachnamen. Das hab ich noch nie kapiert. Aber jeder, der mich nach meinem Namen fragt, ist immer ganz erstaunt, wenn er ihn hört…“ Erina schaute ihn noch erstaunter an. „Du weißt also nicht, was deine Eltern gemacht haben?“ Diese Frage entsetzte Viktor noch mehr und sein Herz zog sich seltsam zusammen. Das Verhältnis zu seinen Eltern war bekanntlich nie gut und er möchte gar nicht an sie denken. Vorallem, wenn er seine leibliche Mutter vor Augen hat, die seinen Pudel auf dem Gewissen hatte. Er hatte sich von dem Schock noch nicht erholt. Er verstand auch ihre Aussage nicht. Seine Eltern haben ihm etwa über Jahre etwas verschwiegen? Dass seine Mutter mit ihren Alkoholexzessen keine positiven Schlagzeilen machen konnte, war klar, aber das alleine konnte unmöglich zu solch trauriger Berühmtheit führen. „Du schaust so verwirrt. Deine Eltern… nun ja, man hat schon einiges gehört über sie. Deine Mutter… sie war in jungen Jahren auch hier und wollte Eiskunstläuferin werden. Und sie war mit die beste Absolventin aller Zeiten.“ Es war wie das Zersplittern einer Glasskulptur, was man sinnbildlich vernehmen konnte. Viktor erschrak, er zuckte auf und rutschte auf dem Stuhl nach hinten. Das konnte sie sich nur ausgedacht haben. So wie sie sich gegen ihn und seine Eiskunstlaufträume stellte. „Wo..woher willst du das wissen? Sie hasst den Sport!“ antwortete er empört und mit einem Grummeln im Magen. „Noch nicht die Vereinsbücher gelesen? Oder die Zeitung immer mal wieder in den letzten Jahren? Selbst du bist da teilweise namentlich erwähnt.“ Viktor saß einfach nur fassungslos da. Was gab sie bitte von sich? Gibt es denn nur idiotische Menschen auf dieser Welt? Erina drehte sich ab und kramte mit einem recht undefinierbaren Blick im Schrank hinter ihr rum. Dort waren eine Menge Zeitschriften angesammelt. Viktor jedoch konnte es einfach nicht glauben, was sie erzählte. Die Schwarzhaarige fand sehr schnell einen älteren Artikel in einer Vereinszeitschrift und hielt ihm diesen mit vielsagender Mimik vors Gesicht. Jahrhunderttalent Eleonora Nikiforov gewinnt im Alter von 14 die russischen Meisterschaften im Eiskunstlauf. […] In einem Alter, in dem man eigentlich noch gar nicht für die Erwachsenen zugelassen ist, hat der russische Verband sogar eine Sondergenehmigung für sie ausgestellt […] Ihr Stil ist ihr Markenzeichen. Niemand steht die Sprungkombinationen derartig elegant wie die hübsche junge Frau. […] Ihr steht eine unglaubliche historische Karriere bevor. Ihr größter Traum sei es, olympisches Gold zu gewinnen, um ihre Liebe für den Sport erfolgreich zu krönen […] Viktor blinzelte, sein Mund klappte leicht auf und er fühlte sich, als hätte ihm jemand ein Brett vor die Stirn geschlagen. Eleonora war in der Tat seine Mutter und das Foto weiter unten ließ keinen Zweifel mehr zu. Es ist die Frau, die ihn gezeugt und ihn immer beschränkt, unterdrückt und schikaniert hatte, die Frau, die immer deutlichst dargestellt hat, wie sehr sie seine Eiskunstlaufleidenschaft doch verabscheute. Sie sah auf dem Foto einige Jahre jünger aus, logischerweise, war dieser Artikel doch schon 15 Jahre alt. Aber viel mehr noch entsetzte Viktor dieses Lächeln, dieser Erguss der Freude über den ersten Platz im Gesicht der jungen Dame. Das war nicht mal aufgesetzt. Das sah so verdammt echt aus. Dem Jungen verschlag dies die Sprache. Er wusste gar nicht was er denken sollte. Seinen Kaffeebecher, den er sich frisch gezogen hatte, ließ er zu Boden fallen. Hatte sie ihn jahrelang angelogen? Es machte alles keinen Sinn. „Du siehst so blass aus. Hat sie dir wirklich gar nichts erzählt?“ Seltsamerweise wirkte Erina nicht so, als wolle sie sich über Viktor und dessen totaler Entrüstung lustig machen. Sie schien sich mehr Sorgen um ihn zu machen. Der Silberhaarige schüttelte mechanisch den Kopf. Das durfte alles nicht wahr sein. Die junge Klassenkameradin zeigte ihm einen etwas neueren Zeitungsartikel. Schwere Verletzung von Jahrhunderttalent Eleonora Nikiforov überschattet das Turnier in Moskau […] Eleonora Nikiforov (16), überaus erfolgreiche Absolventin der Eislaufschule in St. Petersburg, einmaliges Talent, und mit ihren jungen Jahren bereits auf dem Weg in die Weltspitze, steht nun vor den Trümmern ihrer verheißungsvollen Karriere. […] Aus noch ungeklärten Gründen patzte sie beim Absprung für den dreifachen Axel, sie rutschte weg und kam mehr als nur unglücklich auf ihrem rechten Knie sowie dem Kopf auf […] Mit einer großflächigen Platzwunde am Kopf wurde sie aus der Halle getragen und hinterließ eine Schneise der Sprachlosigkeit und des Schocks. „Sie wird in dieser Saison definitiv nicht mehr antreten können“ […] Es ist unfassbar, wie der hübschen jungen Athletin ein solcher Fehler unterlaufen konnte. Sie war bekannt dafür, dass sie die Sprünge perfektionierte wie kaum eine zweite […] Dieser Artikel entstand etwa zwei Jahre, bevor Viktor geboren wurde. Der Junge verstand die Welt nicht mehr. „Viktor…? Wusstest du das auch nicht?“ Erina seufzte. Gleich würde der Unterricht weitergehen und die beiden saßen hier völlig perplex. Viktor war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, sein Herz zog sich ganz ungemütlich zusammen und in seinem Kopf rumorte es dennoch so stark, dass er leichte Kopfschmerzen bekam. Andrej und Ivan kehrten in die Kantine zurück und konnten sich das Kichern kaum verkneifen, als sie den silberhaarigen entdeckten, dessen Schuhe halb im Kaffee getränkt waren und dessen Gesichtsausdruck total entgleist war. Als hätte man ihm die Seele geraubt. „Das tut mir wirklich leid, Viktor, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich ging davon aus, deine Mutter hätte dir alles erzählt. Ich konnte nicht ahnen, dass sie sich so sehr dem Eiskunstlauf abgewendet hat“ sagte Erina etwas sorgsam und erntete eifersüchtige Blicke von Ivan. „Aber du bist ja nun auch hier. Da müsste sie doch auch informiert sein, oder?“ Viktor drehte sich nur weg, weil sein Schädel gefühlt platzte vor Infos, die er nicht gebrauchen konnte. Er ist immer noch zu durcheinander von allem, was die letzten Tage geschehen ist und jetzt ist die Spitze erreicht. „Bitte… nicht… sei bitte still“ murmelte er schwach. Erina bemerkte langsam, was für einen wunden Punkt sie bei Viktor aufgekratzt haben könnte. „Erina, es ist hoffnungslos. Dem wird das doch alles zuviel, wie du siehst. Son bisschen mehr denken als in der Waldorfschule, in der er vorher war, kann ganz schön wehtun“ bemerkte Ivan gehässig. Die schwarzhaarige ignorierte die Aussage und sah wehleidig zu dem Silberhaarigen, der nun schwer seufzend aus dem Raum trottete. Andrej und Ivan machten sich weiter über Viktor und dessen Verpeiltheit lustig. „Lasst ihn doch einfach mal. Ich wollte einfach nur ein bisschen mit ihm reden und habe eine wunde Stelle getroffen. Ich fühl mich etwas schlecht.“ „Sag mal… warum bekomm ich das nicht zu hören, wenn du mir mal einen reindrückst, hä?...“ Ivan wurde rot. Das war für alle nicht zu übersehen. „Stehst du etwa auf den komischen Kauz?“ Jetzt wurde sie ein bisschen rot. Sie sagte nichts. Im gleichen Moment erläutete der unüberhörbare Gong zur nächsten Stunde. Der praktische Teil fing an. Alle fanden sich im Raum ein. Alle, außer Viktor, der war verschwunden. „Wo ist dieser Nikiforov denn hin? Haben wir ihn schon erfolgreich verschreckt?“ „Er war vorhin noch im Pausenraum und hat von Erina ne Ansage bekommen, na klar, da wirft doch jeder das Handtuch, haha“ Das Getuschel war laut, die angesprochene junge Frau seufzte, während ihr Athletiktrainer hereinkam. Nun standen Dehn- und Aufwärmübungen an. Niemand verlor weiter ein Wort über Viktor und der Lehrer vermisste ihn auch nicht direkt, da er ja seit heute erst offiziell hier war. Erina jedoch konnte nicht aufhören, sich innerlich Sorgen um ihn zu machen. Viktor selbst hatte sich in seinen Raum zurückgezogen. Für keinerlei Unterricht hatte er einen Nerv, nicht einmal die Motivation aufs Eislaufen könnte er heute noch ergreifen. Für ihn fühlte es sich in diesen Momenten, in denen er alles aus der Pause Revue passieren ließ, an, als wäre sein bisheriges Leben eine Lüge gewesen. Als wäre alles, was er erlebt hat, gar nicht wirklich passiert. Seine Mutter, diese Frau mit den Alkoholexzessen, die ihn gerne geschlagen hatte und zuletzt tödlich gewalttätig gegenüber Nezhny wurde, soll auch einmal von Eiskunstlauf geträumt haben? Ausgerechnet Sie? Er verstand das alles nicht. Und dann soll es auch noch einen Unfall gegeben haben, bei dem sie sich schwer verletzte? Nichts davon hatte er jemals aus ihrem Mund erfahren. Es hieß immer nur, wie brutal, wie gefährlich Eiskunstlauf sei und dass sie es nicht zuließe, wenn Viktor diesen eigenen Weg ginge. Er solle ja lieber ein wirtschaftlich erfolgreicher Mann werden. Das war es immer. Ob es der Unfall war, der dazu führte, dass sie diesen Sport danach mied mit ‚es sei zu gefährlich‘? Kam es nur deswegen zu allem Unheil? Er kam nicht umhin und dachte wieder an Nezhny. Wie gerne hätte er in diesem Moment seinen Pudel bei sich. Das nach wie vor einzige Wesen, dem er jemals wirklich vertraut hatte. Doch der Pudel war nicht mehr unter den Lebenden. Er konnte nicht mehr um die Ecke kommen und sich an Viktors Schulter kuscheln. Oder leise wimmern. Oder diesen Dackelblick aufsetzen, wenn er hungrig war. Niemand war hier im Raum und somit ließ Viktor auch die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten, zu. Er versank mit seinem Kopf in seinen Armen und vergrub seinen Körper halb auf seinem Bett. Man konnte ein leises Splittern fühlen. Ein Wimmern hören. Und ein lautes Knacken. Es war das zerbrochene Herz eines Jungen, der seine ganze Existenz in Frage stellte. Die Fragen nach dem Warum fanden in diesem Augenblick kein Ende mehr für Viktor. Er merke, dass er doch viel emotionaler war, als er es je zugegeben hätte. Er hatte doch nur diesen einen Traum von Anfang gehabt. Er hatte immer dafür gekämpft, sich schikanieren lassen, daran geglaubt, er könnte ausbrechen und seiner Mutter endlich zeigen, wie schön der Sport sei. Doch nun schien das alles, alles, woran er glaubte, surreal zu sein. Was seine Mutter ihm wohl noch verschwiegen hatte? Er vermochte es sich nicht auszudenken. Verwirrt und von der Rolle ließ Viktor den Tränen seinen Lauf. Er konnte es nicht mehr aufhalten. „N-Nezhny…“ Stille. „Nezhny… ich vermisse dich… ich möchte… d-dich… knuddeln….“ Seine Stimme verließ ihn fast komplett. Er konnte es kaum akzeptieren, dass sein geliebter Pudel tot war und ihn nie wieder streicheln würde. Nach einigen langen Minuten, in denen Viktors Herz innerlich auszubluten schien, trat ausgerechnet Yakov ein. Er war äußerst schockiert, als er den Jungen so dermaßen Ende sah. „Viktor…“ Der Junge hörte kurz auf zu schluchzen, aber er sah nicht auf. „Du weißt schon, wie gerne ich es mag, wenn man nicht auf mich hört? Da hab ich dir erst gestern was zu erzählt“. Der Silberhaarige reagierte kaum drauf. „Unterricht schwänzen wird hier nicht gerne gesehen. Und ich dachte, du willst unbedingt aufs Eis“ – „Das wollte ich a-auch die ganze Zeit!!“ unterbrach ihn Viktor nun, er sah auf, seine geröteten Augen sahen vollkommen verheult aus und nun schaffte er es auch nicht mehr, einfach abzublocken. Es musste einfach raus. Und zwar alles. „Aber sie verstehen es nicht! Sie wissen nicht mal wie e-es ist, w..wenn man das ganze Leben lang w-wie ein Spielball behandelt wird, wenn s-sich niemand darum schert, w-was du wirklich willst, w-w-was du fühlst, dich anlügt und d-dir alles wegnimmt, was d-du geliebt hast!!“ quillte es förmlich in der zittrigsten Stimme, die er machen könnte, aus ihm heraus. Selbst das Gebot seines Großvaters stellte er nun entgültig auf den Kopf. Das war kein leises Weinen aus Traurigkeit mehr. Das war Verzweiflung… Yakov stand nur da, die Fäuste zusammengeballt und schaute ihn brüsk an. Er hatte schon viele Schüler gehabt und über die Zeit ein bisschen Verständnis für Empathie sich aneignen können, wovon er aber wenig hielt. Er verstand es, in seiner Rolle als Trainer und Führungsperson das Beste aus seinen Schülern herauszuholen, ihnen sportlich den Weg zeigen, und wenn das hieße, dass er ihnen in den Hintern trat. Die Rolle des Psychologen gehörte schon immer Igor. Dafür war er nie geschaffen. Er war schon froh, dass er privat etwas mehr Gefühl zeigen konnte, aber das gehörte eben nicht in eine Eliteschule wie diese. Insgeheim schien er zu ahnen, dass er von seiner Mutter sprach. Und Eleonora hatte er in seinen jungen Jahren auch mal unter seine Fittiche gehabt. Er wusste alles, was passiert war mit ihr. Auch nach dem Unfall. Und er wusste sich nicht anders zu helfen. Er gab Viktor eine flüchtige Ohrfeige. „Du hängst an der Vergangenheit, Viktor. Du lässt dich von Dingen beeinflussen, die längst passiert sind. Sie sind ein Teil von dir. Du kannst es nicht ändern. Du kannst aber an dir arbeiten. Und an deinem Talent arbeiten. Weißt du, warum ich dich eingeschleust habe?“ Viktor saß da, perplex, weder in der Lage, Gefühle oder Gedanken zu ordnen. „Ich habe erkannt, dass du ein mindestens so großes Talent wie deine Mutter besitzt. Ich konnte nicht anders, ich musste dich, nachdem ich dich gesehen hab, einschreiben lassen! Du kannst mehr schaffen, als das, was wir alle jemals im Eiskunstlauf gesehen haben! Und ich möchte deshalb nicht sehen, wie du dich dem Training entziehst! Du kannst und musst jetzt dein Potential erkennen, auch wenn das bedeutet, dass du deine persönlichen Gefühle einmal schlucken musst und auf die Vorgaben der Trainer hörst. Das brauchst du, um dich zu entwickeln!“ Mit solch deutlichen Worten war er Viktor bislang noch nicht begegnet. Gestern hatte er ein paar Beschimpfungen entgegen genommen, aber diese hinterließen nicht dieselbe Narbe in seinem Glasherz, wie diese Worte. „Als ob ich das a-absichtlich mache! Ich würd ja gern!“ giftete Viktor emotional weiter. „Ich wollte schon seit ganz klein unbedingt Eiskunstläufer werden! Aber… sie.. sie wissen nicht, sie wissen es genauso wenig wie meine blöde Erzeugerin, wie es ist, wenn m-man erfährt, dass alles… a-alles, was ich bisher glaubte, f-falsch war! Ich… ich k-kann einfach grad… nicht… ich komm darauf einfach nicht klar!!“ Yakov, der Mann mit dem Herz aus Stein, seufzte. Er legte eine Hand auf die Schulter von Viktor. Als hoffe er, er könnte irgendwie verstehen, was der Junge fühlte. „Ich denke, dass Igor dir in manchen Dingen besser helfen wird als ich. Aber ich wünsche mir, dass du uns zeigst, was du kannst. Erscheine bitte morgen wieder vernünftig zum Unterricht, ja? Dein Talent darf der Welt nicht entgehen!“ Der Silberhaarige seufzte, wimmerte noch ein wenig, heute würde er keinen Fuß mehr auf die Eisfläche bekommen. Er zitterte viel zu sehr und kämpfte viel mehr damit, nicht in ein komplettes Loch zu fallen. Irgendwas musste er finden, wofür es sich lohnen würde, weiter zu machen. Er war nie der Typ, der einfach Dinge tat, weil sie ein alter Mann ihm befahl oder wünschte. Er schaffte es immer nur, alles aus eigener Überzeugung zu tun. Überzeugung die nun mit Füßen getreten wurde. Er hoffte selbst, dass er morgen wieder ein stückweit mehr die Lust empfand, sich auf die kühle Fläche zu begeben. Yakov drehte ab und verließ den Raum. Den anderen erzählte er nichts von dem, was er mit Viktor besprochen hatte. Er beließ es bei einem ‚Er fühlt sich grade nicht gut und setzt daher aus‘, was die Jungen um Andrej nur mit einem Augenverdrehen quittierten. Viktor machte sich hier nicht unbedingt beliebt bisher, aber das war nun auch nichts neues und ihm auch mehr oder weniger egal grade. Nicht egal war ihm dieses Loch in seinem Herzen. Er wollte wirklich nicht hier sitzen und die ganze Zeit nur weinen. Es brachte nichts. So sehr sein Herz schmerzte, er hatte kaum eine andere Wahl, als das in den nächsten Tagen einfach zu schlucken. Das Eislaufen… es war einfach das einzige Mittel, womit er sich von all seinen negativen Gefühlen, all diesen Vermissgefühlen für Nezhny und auch die Verwirrung gegenüber der Geschichte um seine Mutter ablenken könnte. Er pflanzte sich auf sein Bett und schaltete den Fernseher, den sie auf dem Zimmer hatten, ein, um auf andere Gedanken zu kommen. Viktor entschied sich für eine Doku über niedliche Katzenbabys und Tiere in freier Wildbahn. Die nächsten Tage werden hoffentlich weniger turbulent durchlaufen, redete er sich ein und versuchte, während er mit einem kleinen Aufleuchten innerlich die friedlich miauenden Katzen begutachtete, einfach die ganze Geschichte um seine Mutter zu vergessen… Kapitel 5: ----------- Die nächsten Tage verliefen, zugunsten von Viktor nicht großartig turbulent. Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn einfach niemand wirklich verstand, dass er so schnell den Stempel ‚speziales, eigenartiges Wesen‘ nicht loswerden würde und der Unterricht langweilig, seltsam oder zu mathematisch war. Er schluckte jegliches Aufkommen irgendwelcher Emotionen in aller Gänze runter, er ignorierte diverse neckische Aussagen von Andrej und Ivan und versuchte, sie auch im Zimmer wie Luft zu behandeln und nicht hinzuhören, was diese zu sagen hatten. Es war wie eine extreme Form der Ignoranz, die er seinen Mitmenschen in der vorherigen Schule schon dargeboten hatte. Es gab aber auch immer diesen einen Lichtblick jeden Tag, und das waren die praktischen Übungen und vor allem die Stunden auf dem Eis. Wie es sich sein ganzes Leben bisher schon durchzog, waren die kleinen Tänze, das Gleiten auf dem Eis, das Kratzen der Kufen das einzige, was überhaupt Gefühle hervorrief, beziehungsweise ließ Viktor nur auf diese Weise Gefühle zu. Über das ganze Geschehen um seine Mutter verlor niemand mehr ein Wort die Tage über. Es half Viktor ein bisschen dabei, die ganze Sache zumindest soweit zu verdrängen, dass er keinen Negativschwall Gedanken bekam. Die gespielte, perfektionistisch geübte Emotionslosigkeit war bitter nötig in manchen Situationen. Nicht vielen fiel das doch eigenwillige Verhalten des Silberhaarigen auf. Es würde nach längerem ein Termin mit Igor warten, nachdem Yakov ja zumindest gemerkt hat, dass etwas mit dem Jungen nicht stimmte. Erina sprach ihn zwischendurch immer mal wieder an und versuchte sich an einer lockeren Unterhaltung, welche Viktor aber konsequent ablehnte. Der Silberhaarige war in diesen Tagen einfach nicht ganz er selbst. Er spürte, dass diese Verwirrtheit, diese Traurigkeit einfach nicht das war, was er wollte. Was zu ihm passte. Aber wie von Zauberhand konnte er sich jene Gefühle eben auch nicht abstreiten. Der Winter erhielt mehr denn je Einzug in die Straßen von St. Petersburg und der Zulauf in die zweite Eissporthalle nebenan wuchs auch von Tag zu Tag. Die Eishallen hatten zwar das komplette Jahr über geöffnet, aber auch im hiesigen Sommer verspürten die meisten Menschen eher nicht so die Lust aufs Eislaufen. Ging es auf Weihnachten zu, strömten immer mehr Besucher in die Eishallen. Ein paar Schaulustige, die die Berechtigung für die Trainingshalle hatten, konnten auch den Jungen und Mädchen beim Training zu sehen. Nicht, das Weihnachten groß gefeiert würde, zumindest nicht in Viktors Umfeld. Seine Familie war generell nicht für Feste feiern, weder aus einem religiösen noch familiärem Interesse. Mit seinem Geburtstag verlief es ähnlich. Auch das feierte seine Familie nie. Viktor war ihnen ja immer mehr eine Last. Er hatte zu funktionieren und das tat er nun mal nicht so, wie vor allem seine Mutter es wollte. Seine Mutter war so oder so eine Frau, an die Viktor nun gänzlich keinen weiteren Gedanken verschwenden wollte. An diesem Tag im November, Viktor war nun schon seit über zwei Wochen an der Schule, waren wieder ein paar Zuschauer für das Training der Schüler angemeldet. Das erste Mal, seit der Silberhaarige hier war. Gegen 13 Uhr begann das üblich strenge Training unter dem Auge Yakovs. Die Jungen mussten sich zunächst zwei Minuten warmlaufen. Viktor war als letztes auf der Eisfläche und schaltete wie üblich die Kulisse um sich ab. Er konzentrierte sich auf das Klirren seiner Kufen, auf die imaginäre Melodie in seinem Ohr. „VIKTOR!!!“ Wieder einmal hatte er aber den Befehl Yakovs, sich in Reih und Glied aufzustellten, gekonnt überhört. Wie üblich kicherten Andrej und Ivan darüber. „Wie ihr seht, haben wir heute ein paar Zuschauer. Ab und an lassen wir ein paar Menschen rein, um eine Art kleine Wettkampfathmosphäre aufzubauen. Lasst euch von denen nicht irritieren.“ Bemerkte Yakov mit üblich rauer Stimme. „So, und nun zeigt mir eure Waagenpirouette“ Ivan, der schon deutlichst gezeigt hat, dass er gerne im Rampenlicht stand, ließ sich nicht lange bitten. Er glitt nach vorne, nahm Tempo auf, drehte sich ein bisschen staksig in Position, eher er genug Tempo hatte, um sich der Drehung um die eigene Achse zuzuwenden. Er streckte während der ganzen Sequenz sein Bein nach hinten aus, beugte seinen Oberkörper noch etwas vorsichtig nach vorne, sodass sein Körper ansatzweise ein ‚T‘ bildete. Und dann drehte er sich. Ein paar Umdrehungen, sicher nicht so schnell und elegant wie die Profis, ehe er leicht aus dem Tritt kam und sich mit dem Standbein kurz abstützen musste. Yakov grummelte. Dessen gründliche Beurteilung bekämen die Schüler im Monatlichen Feedbackgespräch zu hören. So erntete Ivan erstmal ein gebrummtes „Das geht besser“. Es waren drei weitere an der Reihe, bis Viktor auch mal dran war. Seine Vorgänger wirkten allesamt leicht verunsichert durch die Zuschauer, er hätte schwören können, dass ihnen beim Anlaufen die Knie schlotterten. Als Viktor antrat, sahen alle gefühlt besonders hin. Er begann wieder einmal, alles um sich herum auszuschalten und spielte die übliche Melodie in seinen Gedanken ab. Ohne es bewusst zu merken, formten seine Beine bereits bei der Tempoaufnahme Schlaufen. Mitgerissen von der inneren Melodie, setzte er mehrfach in schnellem Tempo rückwärts über und begann daraufhin, sich wie erwartet auszustrecken. Er, der einzige der Schüler, der bislang wenig bis gar kein Ballettunterricht hatte, bekam diese Bewegung erstaunlicherweise verdammt gut und vor allem elegant hin. Er dachte gar nicht weiter darüber nach, er folgte einfach seiner inneren Stimme, die sich dieses Element sehr schnell eingeprägt hatte. Und mitten in alledem begann er sich natürlich zu drehen. Er schloss die Augen, da er sonst das Gefühl hatte, zu schnell Schwindelanfälle zu bekommen und ließ seinen Körper mit der nötigen Anspannung kreiseln. Zum Schluss richtete er sich vorsichtig auf, vielleicht etwas langsam, aber im Gegensatz zu den anderen Jungen ohne wirkliches Stolpern. Er blickte auf, sein Kopf und Körper wollten sich weiterdrehen, aber mit einem Schlenker zur anderen Seite konnte er dem erfolgreich begegnen. So konnte Viktor einen Blick auf die Sitzreihe der Zuschauer erhaschen, die etwas erstaunt zu ihm sahen, ehe einer sogar einen kleinen Applaus anstimmte. Der Silberhaarige, dessen Haare zum Pferdeschwanz gebunden waren, wagte einen Blick auf Yakov, dessen Mimik wie immer absolut nichtssagend aussah. Er kommentierte Viktors Auftritt nicht. Aber der Junge könnte schwören, er habe den kleinen Anflug eines zufriedenen Nickens wahrgenommen. Besagter privilegierter Trainer überrumpelte die Jungen anschließend mit der Aufforderung, ihm doch mal einen einfachen Toe Loop zu zeigen. Bisher durften die Schüler ein bisschen Freestyle üben, ob sie überhaupt bereit wären für die Sprungelemente. Dies war etwas, wovor Viktor immer großen Respekt hatte und wo er lediglich die letzten Tage die Trockenübungen der verschiedenen Sprünge geübt hatte. Dort kam er über einen halbkreisförmigen Hüpfer nicht hinaus. In der Theorie wusste er, wie es geht. Andrej und Ivan als etwas ältere Hasen beherrschten auch schon Sprünge, aber nicht alle der Schüler taten dies. Erneut trat Ivan nach vorne, nahm Anlauf, Geschwindigkeit auf, machte ein paar Schlenker, eher er in den Rückwärtsgang umschaltete und sich mit einem Bein abstieß. Durch den Schwung drehte er sich in der Luft, schaffte aber nicht ganz eine Umdrehung, ehe seine Kufe wieder das Eis kratzte. Er ging bei der Landung leicht in die Knie und musste sich abfangen. Yakov grummelte sofort. Es war faszinierend, wie sehr Viktor während dieser Praxisübungen seine innere Leere wegstieß und innerlich Gefühle der Begeisterung und Faszination empfand. Sogar ein bisschen Adrenalin, in dem Moment, in dem er wusste, in ein paar Sekunden war er wieder dran. Nirgendwo sonst fühlte sich der Junge so lebendig, so frei wie auf dem Eis. Er liebte es. Er glitt los, schaltete die Welt um sich herum in aller Gänze ab und versuchte, seine Melodien im Kopf laufen zu lassen. Die Schrittfolge hatte er durch die Trockenübungen gut genug im Kopf. Als er schnell genug war, legte er den Rückwärtsgang ein. Sein Adrenalinpegel stieg, sein Herz pumpte wild, als er sich mit dem linken Fuß in die Luft drückte. Er sprang ab und versuchte, so schnell es in dem Schwung ging, sich zu drehen. Dabei schloss er seine Augen, um Schwindelanfälle zu vermeiden. Er bemerkte nicht, dass er sich beinahe zweimal um die eigene Achse gedreht hatte, als seine rechte Kufe wieder das Eis kontaktierte. Etwas drückte die Landung in seine Knie, aber irgendwie schaffte Viktor es intuitiv, sich bei der Landung auf dem Bein zu halten und den Rest des Körpers als Ausgleich leicht von sich zu strecken. So ähnlich, wie er es bei Profis damals gesehen hatte. Als er seine Augen öffnete, war er in Richtung der anderen Schüler, die an der Seite parkten, gewandt. Er bremste leicht und stellte sich wieder auf die Beine, als sein gesamtes Adrenalin abpurzelte und seine Hände begannen, leicht taub zu werden. Ein paar Zuschauer applaudierten. Ivan und Andrej standen da und starrten ihn leicht ungläubig an und ein paar andere hatten erstaunt die Hand vor den Mund gelegt. So sehr er diese elegante Bewegung genossen hat, Viktor fand sich selbst jetzt nicht so überragend. „Und ich sagte noch, EINE Umdrehung. Nicht zwei“ kommentierte Yakov das Geschehen. Der Mann fand immer was zu mäkeln, jedoch war seine Stimme mit leichtem Sarkasmus belegt. Als Viktor seufzend an ihm vorbeifuhr, erntete er nur den Kommentar „Aber was erwarte ich auch sonst von einem Nikiforov. Ich ahnte, dass du dich schneller entwickelst.“ Dieser Name war einfach ein Fluch. Es folgte ein bisschen Freestyle Training unter strenger Beobachtung von drei Trainern, die sich inzwischen einfanden. Viktor wurde unerwarterweise gut belagert, was diesen aber mehr nervte als alles andere. „Na ich habs einfach gemacht wie in der Trockenübung“ wiederholte er gefühlte zigmal auf die erstaunten Fragen der anderen. Aus Spaß versuchte er noch einen Toe-Loop, wieder schaffte er es, elegant abzuspringen, bekam dieses Mal anderthalb Drehungen hin, doch die Landung klappte minimal besser. Wieder ein Applaudieren und ein erstauntes Aufkeuchen der anderen. Sie hätten alle nicht gedacht, dass Viktor, der erst so kurz hier war, die Sprünge auf Anhieb so gut hinbekam. Die meisten anderen Kinder, die auf ihren vorherigen Schulen meist nebenher den Eislaufunterricht genommen haben, mussten sich die Technik über Jahre hinweg erarbeiten. All das hatte Viktor bekanntlich nie. Und erklären, warum es ihm so leicht fiel, konnte er nicht. Damit war der Praxisunterricht vorbei. Viktors Terminkalender sah für heute noch den Termin mit Igor vor, vor dem sich der Silberhaarige immer noch sträubte. Seine halbwegs angenehme Stimmung, die er durch die Eislaufstunden bekam, verflog schnell wieder. Der Schulpsychologe nahm ihn unter seine Fittiche nach einem kurzen Austausch mit Yakov. Da saßen sie nun wieder, in dem kahlen, krankenhausartigen Raum, in dem die Luft sehr dünn schien. Viktor starrte an die Decke, in der Hoffnung, nicht zuviel sagen zu müssen. „Nun, was geht in dir vor, mein Junge?“ Er sagte erstmal einfach nichts. „Ich hörte, du seist emotional instabil wegen diverser Vorfälle. Als du ankamst, haben wir erfahren, dass dein Haustier, dein Pudel verblutet ist. Das ist sehr bedauerlich. Magst du mir mehr darüber erzählen?“ Es war einfach wie in den ein- zwei Büchern, die er über Psychologen und Patienten gelesen hatte. Sie porkelten gerne an den Stellen, an denen es am meisten wehtat. Viktor schluckte. Ihm wurde leicht mulmig. Er wollte die Sache einfach vergessen. „Es ist wichtig, dass du uns informierst, Nikiforov. Wir wollen dir helfen, über deine vergangenen Erlebnisse hinwegzukommen, aber dafür musst du schon reden. Du mochtest deinen Pudel schließlich sehr, denke ich mal“ Der Junge seufzte und sein Herz war schwer belegt. Er konnte dieses Gefühl nicht verhindern, da er einfach sehr an Nezhny hing. „Ja.“ murmelte er. „Wie erwartet. Wodurch ist er denn verblutet? Als die Tierärzte nebenan ihn untersucht haben, konnten sie einen Stich erkennen.“ Viktor schluckte nochmals. Obwohl er es vermeiden wollte, spielten sich diese Szenen mit seiner Mutter und deren völligen Ausraster vor seinem geistigen Auge wie ein Film ab. Sein Atem wurde unruhig. Er konnte sein Unwohlsein nicht verstecken. „J..ja.. ein Stich… v-von einem Messer“ stammelte der Junge. Igors Blick weitete sich. Er suchte die Hand des Silberhaarigen, die leicht zitterte. „Das ist in der Tat ungewöhnlich. Dann kann es kaum ein Unfall gewesen sein. Was ist wirklich passiert?“ Viktor zitterte noch mehr. Er wollte darüber nicht reden und nun bekam er diese Gedanken nicht los. Seine Mutter war so dermaßen außer sich gewesen, dass sie Viktor verletzen wollte. Nezhny hatte ihn beschützt. Wer weiß, wo sie ihn erwischt hätte. Dieser Pudel hat ihn gerettet und sich geopfert. Dass er nun nicht mehr da war, war ein kaum zu tragender Verlust und der Junge fühlte sich einwenig schuldig. Aber so erzählen konnte er das nicht. Dennoch atmete er so tief durch, dass er Luft hatte, um doch etwas mehr zu berichten. „M…meine Mutter… war… sauer… w-weil ich nachts raus war… ich wollte eislaufen und durfte das nicht von ihr aus… deswegen musste ich es heimlich tun… aber… da… hat sie mich gefunden… und… i-ich weiß nicht warum… aber sie wollte mir w-wehtun… und… d-dann…“ Seine Stimme brach ab und es sammelten sich wieder ein paar Tränen in den Augen, die er vehement versuchte, runter zu schlucken. Aber Igor schien schon zu ahnen, was er erzählen wollte. Sein Blick ging leicht an Viktor vorbei, dennoch bat er den Jungen zur Ruhe. Einige Minuten geschah nichts, niemand sagte auch nur irgendeinen Ton. Bis Igor die Stille unterbrach. Er stand auf, schritt an Viktor vorbei und schaute zum Fenster raus. „Ein einsamer Junge, beschützt von seinem geliebten Tier, das sich für ihn aufopferte und ihm seine Seele schenkte..“ trällerte er. „Dein Schicksal könnte glatt einer Art Märchen entstammen“ Viktor sah ihn einfach nur perplex an. Machte der Mann sich etwa über ihn lustig? „Du hast einen weiten Weg vor dir. Die Pubertät liegt noch vor dir und es wird sich noch eine Menge verändern“ Er wandte sich noch einmal dem Jungen zu. „Ich glaube, wir werden noch viel Spaß miteinander haben. Und noch etwas.. ich habe gesehen, deine Arme sind außergewöhnlich vernarbt. Natürlich trägt man Narben davon, wenn man Sport macht, bei dem der ganze Körper gebraucht wird, bei Eiskunstläufern aber befinden sich diese zumeist an den Füßen und Knien. Hast du dafür eine Erklärung?“ Der Silberhaarige hatte wirklich keine Lust, noch mehr von Dingen zu erzählen, die er tunlichst vergessen wollte. Grade erst hatte er sich gefangen. „Bin oft hingeflogen“ murmelte er einfach, er wollte so schnell es geht diesem Gespräch entfliehen. „Eine Lüge“ enttarnt ihn Igor sehr schnell. „Viktor, wenn du wirklich mit dem, was dich belastet, abschließen möchtest, musst du schon offen und ehrlich reden. Nur dann kann ich dir helfen“ „Ich möchte aber grade nicht mehr reden...nicht über das… ich bin schon wieder….fertig..“ Igor sagte nichts, aber Viktor konnte die Augen von ihm regelrecht auf seinen Schultern spüren. Das Herz des Jüngeren zog sich zusammen, Emotionen wie Wut oder Verzweiflung machten sich in ihm breit. Er verteufelte es, dass er in seinen jungen Jahren mit solchen Gefühlen konfrontiert wird. All das machte die Situation nicht besser. Es wirkte, als ob der Psychologe innerlich eine verrückte Idee fasste. Und diese gekonnt vor Viktor verschweigen wollte. ‚Du bist doch auch nicht besser. Sagst auch nicht was du denkst, was?' ging es in Viktor vor, seine Gedanken verknoteten sich, ehe er mit der Faust zur Seite und dann auf den Tisch haute, um sich symbolisch von der Negativspirale in Person seiner Erzeugerin freizukämpfen. „Gut, Viktor Nikiforov, dass war es erstmal. Du hast, wie ich eben schon erwähnte, noch eine Menge Arbeit vor dir. Ich verschreibe dir aber zunächst ein kleines Rezept, welches möglich machen wird, deine negativen Emotionen freizusetzen“ erwähnte Igor nach Minuten des Schweigens, in der man lediglich die Uhr ticken hörte. Viktor seufzte und verstand nicht ganz. Er hatte leichte Kopfschmerzen durch die Grübelei, eine Grübelei, der er in seinem Alter von fast 11 Jahren im Grunde noch nicht folgen kann. Weshalb es ihn einfach alles mehr und mehr verwirrte. Körperlich hatte er so gesehen kaum noch etwas, ein paar Spuren, vor allem an seinen Füßen haben sich für immer eingebrannt. Krank war er nicht. Die Vorstellung, eine Pille verabreicht zu bekommen, die irgendwas mit seinen Gedankengängen anstellt, war aber verdammt gruselig. Igor legte ihm einen Zettel hin, daneben war besagte Pillenschachtel. „Was… ist das?“ fragte der Jüngere. „Eine Art Antidepressiva. Wenn ich dir Details erkläre, wird das dich nur noch viel mehr verwirren als ohnehin schon. Frag mich nochmal, wenn du so 14 – 15 bist, dann wirst du das eher verstehen. Jedenfalls… ermöglichen dir die Tabletten, deine Gefühle und Gedanken besser zu kontrollieren“ Der Ältere erwähnte nicht, dass diese Medizin dafür sorgte, dass Viktors Gefühle unterdrückt werden sollen. Es ist nicht ganz das, was er zu Viktor sagte. Skeptisch nahm dieser die Packung an sich. Zwei mal am Tag solle er sie einnehmen und nach einer Woche würde er das merken. Er verließ den Raum und wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als sich an diesen Plan zu halten. In den nächsten zwei Wochen passierte nicht allzu viel. Zumindest nichts offensichtliches. Die Jungen hatten immer mehr Training auf dem Eis, immer dann, wenn die Hobbyläufer die Eisfläche verlassen hatten. Den schulischen Theorieunterricht hatten sie auch noch, und in Mathe und Englisch einen Test geschrieben. Während Viktor in dem Englischgrammatiktest ganz gut abschnitt und eine 41 schaffte, fiel er in Mathematik nahezu komplett durch. Er machte sich aber keinen Hehl draus, auch wenn dies natürlich Stoff genug für die Mitschüler war, ihn zu necken. Allen voran Andrej und Ivan waren da ein echt nerviges Gespann. Und mit denen teilte Viktor auch noch einen Raum! Gut nur, dass sie bislang nur verbal über ihn herzogen und er die beiden auf dem Zimmer ganz gut ignorieren konnte. Was aber signifikant war, war, dass es Viktor tatsächlich gelang, alle Kommentare bezüglich seines berühmten Nachnamens, welche ihn ja immer an seine Mutter erinnerten, gefühlsmäßig besser wegzustecken. Sie im Grunde zu ignorieren. Ob es wirklich an den Medikamenten lag, die er regelmäßig einnahm? Jedes mal, wenn er an seinen verstorbenen Pudel oder seine Mutter dachte, spürte er innerlich einiges brodeln, aber es fühlte sich einfach immer dumpfer an. Als würden diese aufkeimenden Gefühle erstickt werden. Ohne dass der Junge irgendwas dafür tat. In drei Tagen stand der nächste Termin mit Igor auf dem Plan. An diesem verregneten Freitag jedoch beendeten die Jungen erst einmal das heutige Training. Viktor war stolz, aber er schaffte es nicht, den einfachen Sprung von neulich in nochmaliger Perfektion auf die Eisfläche zu zaubern. Hier mal ein Wackler in der Landung, heute kam er sogar irgendwie komisch auf den Knien auf, weil er etwas im Anlauf vergeigt hatte. Da waren ein paar andere sicherer. Viktor verstand das nicht, ihr Trainer Yakov noch weniger, sodass dieser nicht grade zimperlich umging mit seinen strengen Parolen. Grade an den silberhaarigen Jungen schien er ungemeine Erwartungen zu haben, die dieser grade nicht erfüllte. Somit holte der Mann mit der angehenden Glatze auf dem Kopf Viktor nach dem Training zu sich. „Was sollte das werden?“ Viktor verdrehte die Augen. „Na ein Toe-Loop“ - „Das war ein Sturz, nichts weiter! Viktor… was ist los mit dir?“ Der Trainer kam ihm näher, baute sich auf und machte sich gefühlt doppelt so groß wie Viktor, auch wenn nicht allzu viele Zentimeter die beiden trennten. „Ich weiß es doch auch nicht… mit meiner Konzentration stimmt was nicht… ich hab das Gefühl, irgendwas ist im Busch“ Yakov legte seine Hand mehr oder weniger sanft auf die Bande der Eislaufbahn. „Viktor. Das kannst du Igor am Montag erzählen. Du kannst das, das weiß ich, das wissen wir alle. Es liegt dir in den Genen, aber dazu haben wir ja schon einiges gesagt. Ich möchte nächste Woche wieder mehr von dir sehen, verstanden?“ Sicher stand der Mann auch nur unter Druck von der Vereinsführung, da er den Silberhaarigen bekanntermaßen kostenfrei eingeschleust hatte. Der Jüngere sagte nichts weiter und schaute nur zerknirscht. Ohne seinen Trainer noch eines weiteren Blickes zu würdigen schritt er weg und wurde nicht aufgehalten. Am Abend würden die Jugendlichen die Halle stürmen bei der Eisdisko. Die Jungs aus der Akademie verzogen sich für gewöhnlich auf ihre Zimmer. Viktor hatte sich in gewohnter Manier auch wieder auf sein Bett gepflanzt und sich nun schon den vierten Roman gekrallt, den er mitgenommen hatte. Andrej und Ivan gehörten zu der Sorte Jungs, die es immer wieder versuchten, sich heimlich zur Disko zu stehlen und womöglich Alkohol zu ergattern. Die beiden waren 13 und ein paar Zerquetschte, noch lange nicht genug, dass das legal wäre. Wie dem auch sei, oft genug schon kamen sie spät wieder und waren mit Sicherheit nicht immer nüchtern. Viktor fragte sich, ob Ivan oder Andrej mit Yakov verwandt seien, sodass diese manches mal eine Sondergenehmigung von ihm bekamen, denn normal kam ihm das alles nicht vor. Aber generell waren die Frustrationen diesen fragenden Gedanken mehr oder weniger gewichen. Viktor seufzte nur und widmete sich seinem Buch. Sollen sie doch illegales Zeug anstellen, dachte er sich selbstgefällig. Er würde sowas niemals mitmachen. Zwischendurch hörte man ein Klappern. Hier und da Schritte. Umherwuselnde Schüler. Diejenigen, die noch abends etwas Warmes zu essen kaufen wollten und sich nicht mit den Broten vom Kiosk wie Viktor zufrieden gaben. Meist tun es viele, um noch ein Pläuschen mit den Mädchen auf dem anderen Flur zu halten, da sie sich auf dem Zimmer der Jungs nicht aufhalten durften. Naja, soweit die Regel, aber natürlich hat Viktor Ivan schon mal mit Erina auf diesem Flur gesehen, die gewissenhaft einen Zimmerbesuch ablehnte. Einmal hatte besagte junge Dame Viktor gefragt, ob dieser nicht mal mit ihr etwas zu Abend essen wolle. Aber er hatte abgelehnt. Sie wirkte geknickt, und seitdem haben die beiden nicht mehr miteinander gesprochen. Aber den Silberhaarigen juckte das recht wenig. Alleine das sie fast alle zwei bis drei Jahre älter waren und er eigentlich fast ins Jüngling-Abteil gehörte, bedeutete doch schon, dass er und die anderen nicht auf einer Wellenlänge sein konnten… Das Wochenende stand vor der Tür und dann würden so ziemlich alle Schüler zurück zu ihren Familien fahren, um sich etwas zu erholen. An Wochenenden war vormittags freies Training und gelegentlich Nachhilfe in der Schule. Die Neulinge wurden die ersten fünf bis sechs Wochen aber grundsätzlich da behalten. Viktor bekam hauptsächlich Mathematiknachhilfe, jedoch schien Herr Sokolow an ihm echt zu verzweifeln. Andererseits nahm der Junge so gut es geht Eislauftraining, letzten Sonntag hat er vier Stunden am Stück eine Rücklagen-Pirouette geübt und abends über Rückenschmerzen geklagt. Aber es war sehr fraglich, wie das dieses Wochenende laufen würde. Die fünf Wochen waren für ihn rum und das bedeutete, das Viktor theoretisch zurück zu seiner Mutter müsste. Es ploppte ein dumpfer Gedanke auf, der zwar keine überragenden Emotionen in ihm auslöste, da irgendeine unbekannte Schranke in ihm das unterdrückte. Jedoch lenkte es ihn vom Lesen ab. Genervt legte er das Buch zur Seite und streckte sich auf dem Bett aus. Irgendwann, es mag nach 23 Uhr schon sein, kehrten die anderen beiden Jungen in den Raum zurück. Sie gackerten, Ivan erzählte etwas davon, dass er große Lust hat, mit Erina ins Bett zu steigen, und wie erwartet kümmerten sie sich nicht darum, wie es Viktor damit erging. Dieser hatte sich einfach einen Zettel und einen Stift genommen, um seine Gedanken oder den anderen Quatsch, der in seinem Kopf so tobte, loszuwerden. Außerdem notierte er sich ein paar Schrittfolgen zu den Eiskunstlaufsprüngen, die sie noch lernen werden. „Was machste denn da?“ Welch ein Wahnsinn, der Junge war doch keine Luft für sie, so sehr er sich das irgendwo wünschte. „Dinge notieren“ - „Vielleicht stalkt der uns ja heimlich, ich trau dem alles zu“ meint Andrej abfällig. Viktor seufzte absichtlich laut, um seine Antipathie deutlich zu machen. „Ja, der fährt sicher auch auf Erina ab, macht Sinn, ja“ röhrte Ivan. Die beiden bauten sich dann vor dem Silberhaarigen auf, um ihn von seinen möglichen spionischen Schandtaten abzuhalten. Sie rissen dem Jüngeren den Zettel aus der Hand. Ivan, der schwarzhaarige Junge mit dem spitzen Gesicht und den hervorstehenden Wangenknochen - man könnte ihn auch auch als Klischeerussen bezeichnen – schaute schräg aus der Wäsche, als er versuchte, das von Viktor geschriebene zu entziffern. Der saß nur da und schaute die beiden mit einem grimmigen fiesen Katerblick an, setzte sich sonst aber nicht zur Wehr. „Ich möchte nicht zu meiner Erzeugerin, nie wieder, sie ist ein Monster… ...alle gehen mir hier einfach nur auf den Sack, ich wünschte, ich bekomme einen persönlichen Trainer und muss nicht mehr mit den Idioten trainieren! Und auf Mathe könnte ich auch scheißen. Ich hasse dieses Fach. Ich kapier das nicht, vorallem wenn Buchstaben drin vorkommen… ...Verdammt, warum empfinde ich kaum irgendwas?!“ laß Ivan all das Gekritzel laut vor und sorgte dafür, dass Viktors Blick sich weiter verfinsterte. Andrej schüttelte sich leicht. Dann warf der Schwarzhaarige den Zettel abweisend auf die Decke direkt vor Viktors Füßen, als solle er sich damit den Hintern abwischen. „Idiot… aber Karma vergisst nicht“ Die beiden sagten nichts mehr, pflanzten sich auf ihre Betten und machten das Fernsehen an. Bis 0 Uhr durften sie ja noch gucken und Viktor mit irgendwas nervigem beschallen. Doch in ihm stellte sich ein Mir-ist-doch-alles-egal-Gefühl ein. Vielleicht war er froh, dass sie seine Notizen nicht weiter kommentiert haben. Trotz der Beschallung döste der Silberhaarige irgendwann mehr und mehr weg. Vor seinem geistigen Auge bildete sich der Anblick eines Hundes, der Nezhny sehr ähnelte. Es war ein schöner Traum, den er zunächst nicht als solchen registrierte. In diesem Traum war er bereits in jungen Jahren, im Alter von 5, ein Star auf dem Eis und von jedem unterstützt. Der blonde Superstar aus dem vorherigen Traum kam auch wieder vor, er nahm sich sogar ab und an Trainingssessions für Viktor. Und seine Mutter stand am Rand und applaudierte. Zudem saßen regelmäßig einige seiner kleinen Fans am Rand, die ihn anfeuerten. Eine abrupte Kältewelle beendete die wunderschöne Vision jäh. Einige Sekunden lag er da, eingekauert, und bemerkte, dass man ihm die Decke weggenommen hatte. Es war dunkel draußen, aber in dieser Jahreszeit wurde es hierzulande nur kurz mal Tageslichthell. Es war kurz nach 5. Langsam nervten seine Mitbewohner gewaltig. Jetzt ließen sie ihn nicht mal mehr in Ruhe schlafen. Immerhin bemerkte er so nun, dass seine Blase drückte. Ergo drückte er sich in seinem Nachthemd leise und vorsichtig raus auf dem Flur. Nachts war es hier nicht nur kalt, sondern auch auf seltsame Art gruselig. Niemand war hier, es war dunkel und lediglich das Mondlicht fiel durch die Fenster hinein. Die Regenwolken hatten sich verzogen. Penibel genau achtete Viktor auf seine Umgebung. Kurz vor der Abbiegung zu den Männertoiletten war ein großes Fenster, dessen Vorhänge um die Zeit geschlossen waren, durch das viel Licht fiel, und man gut auf den Eingang eine Etage tiefer blicken konnte. Heute waren die Vorhänge nicht ganz zu. Wahrscheinlich leicht manipuliert von den Idioten in seinem Zimmer. Als er vorsichtig an den Seidengardinen zog, um sie zusammenzuschieben, erhaschte Viktor einen Blick auf die Straße. Und das, was er dort erblickte, ließ ihn augenblicklich erstarren und zum kleinen Schrei ausholen. Er stolperte an die gegenüberliegende Wand, ziemlich sicher, dass seine Paranoia ihn schon solche absurden Dinge sehen lassen. Nichtmal Dinge… auf der anderen Straßenseite hatte er auf einer sonst nicht so belebten Straße eine Frau gehüllt in einem scharlachroten Jackett gesehen. Eine Frau, die seiner Mutter verdammt ähnlich sah… Er wusste, dass seine Mutter, sollte sie mal zur normalen Zivilisation aufbrechen, immer einen dunkelroten Mantel trug! Vorsichtig krabbelte er nach vorn. Das musste er sich eingebildet haben… Hatte er nicht. Sie stand wirklich da. Und in dem Moment, in dem Viktor leicht panisch zwischen den Gardinen nach draußen lugte und es einfach nicht fassen konnte, die Realität grade verteufeln wollte… da sah die Frau auch hoch, genau in Viktors Richtung. Es war zweifelsohne seine Mutter. Kapitel 6: ----------- Es vergingen Sekunden, in denen Viktor sich ernsthaft fragte, ob er noch immer träumte. Er kniff sich kurzerhand in den Oberarm und verspürte einen zähen Schmerz, aber die Umgebung änderte sich nicht. Das war real. Seine Mutter und Erzeugerin stand vor dem Eingang der Akademie. Um ca. 5 Uhr morgens. An dem Ort, von dem sie wohl nie mehr irgendwas wissen wollte. ‚Hat sie mich gesehen?‘ Panisch wuselte Viktor weiter, seine Gedanken überschlugen sich, die innere Schranke hatte mächtigen Druck, die Gefühle vom Zerbersten zurückzuhalten. Er prallte gegen die Wand und stolperte in die Jungentoiletten rein, machte schnell das Licht an und pflanzte sich in eine leere Kabine. Hier fühlte er sich sicher. Einigermaßen. Warum ist sie hier? Hatte sie ihn gesucht? Warum hat sie es zuvor nicht getan? Er ist immerhin schon 5 Wochen hier und ihm kam es zugute, dass diese Frau anscheinend so wenig Interesse an ihrem Sohn noch hatte, dass sie ihn nicht mal suchen wollte. Er hatte an besagtem Tag X im Handgemenge zu ihr gesagt, dass er an die Akademie gehe, es waren die Worte, die ihren Berserker-Modus erweckten. Viktor wäre es am liebsten gewesen, wenn er sie einfach nie wieder hätte sehen müssen. Aber es war nicht der Fall… Auf der Toilette hockend nickte er wieder ein und bemerkte das nicht. Er lehnte dabei mit dem Kopf hinten an der Klospülung. Seine Arme rutschten nach unten und ein bisschen Klopapier verbreitete sich auf den Boden. „Viktor…?“ Laut hörte er seinen Namen. Eine alte Männerstimme, die nach Yakov klang. Er zuckte hoch und fiel fast von der Kloschüssel, ehe er registrierte, wo er sich befand. Ihm war kalt, sofort fing er an, leicht zu zittern. „J-Ja?“ „Kommst du raus da? Wir müssen was besprechen!!“ Streng wie immer. Und peinlich genug, dass er ihn hier fand. Auf der Toilette. Anderthalb Stunden waren vergangen, und sofort kam Viktor wieder das Bild seiner Mutter in den Sinn. Ob Yakov deswegen mit ihm reden wollte? Der Herzschlag des Jungen beschleunigte. „Unglaublich. Die Jungs haben sich schon Sorgen gemacht. Ist es so schrecklich in deinem Bett, dass du hier schlafen musst?“ „Die haben sich sicher keine Sorgen gemacht! Aber… sorry, das wollte ich nicht!“ Im gleichen Moment entfloh Viktor ein heftiges Niesen. Sie gingen aus dem Raum, der Jüngere bekam etwas wärmeres zum Anziehen. Zudem einen warmen Kakao und ein Hustenbonbon. In seiner Nase kribbelte es und er bekam leichte Kältewellen. Keine besonders guten Vorzeichen. „Ich hätte es fast nicht erwartet… aber Nora… deine Mutter ist hier.“ Da war sie, die Bestätigung, bis grade eben hatte Viktor noch gehofft, dass sie nur eine Einbildung war. Sofort drehte sich sein Magen um. „Sie ist bei Igor. Ich ging davon aus, dass sie gar nicht mehr hier lebt, seid ich dich gesehen habe, und weiß, dass du ihr Sohn bist, hat sich doch einiges geändert. Was ich mitbekommen hatte aus dem Gespräch unten… sie wirkte aufgewühlt, dass sie nach alledem nach Jahren wieder diesen Ort aufsuchte. Sie… nun ja, sie möchte auch mit dir sprechen“ „Sie will mich doch nur hier wegholen!!“ prustete es aus Viktor, kurz danach folgten zwei Röchler. „So wirkte es nicht direkt. Aber gehen wir am besten mal mit runter in Igors Gesprächszimmer.“ Viktor wollte sich fast weigern, da ihm bei dem Gedanken, mit diesem Menschen zu kommunizieren, anders wurde. Zum Glück fühlte sich seine innere Wut und Verzweiflung gut unterdrückt, sonst hätte er vielleicht geschrien oder den Tisch umgeworfen. Er konnte den Grad der innerlich brodelnden Funken nicht ganz einschätzen. Er folgte seinem Trainer doch. Immerhin war das nochmal eine Gelegenheit, dieser Frau die Meinung zu geigen und seinen Verbleib zu sichern. „Viktor… ich nehme für dich Sachen in Kauf, die ich eigentlich nicht durchgehen lasse. Ich sorge auch dafür, dass die anderen weitestgehend nichts mitbekommen. Bitte benimm dich einfach. Ich weiß, es ist nicht leicht. Aber wenn du hier bleiben willst, musst du auch mal gehorchen“ Diese übliche strenge Art brachte den Jungen nur zum Seufzen. „Ja...“ Scharf auf die Sache war er nicht grade… Sie standen schließlich vor Igors sperriger Tür. Eine Art Klopfzeichen folgte. Dann der Einlass. Viktors Herz setzte kurz aus. Aber ansonsten waren seine Gefühle erstaunlicherweise verstummt. Er sah nicht hin, er schaute zu Boden und vernahm ein nervöses Klappern vom Tisch. „Nora, bitte...“ Nun sah der Junge doch auf. Diese Frau, deren Haare dunkel gefärbt waren, hatte gefühlt noch mehr Falten bekommen, als ohnehin schon. Sie starrte ihr Kind eindringlich an. Viktors Lippen bebten, er wollte ihr am liebsten soviel Unheiliges an den Kopf werden, aber die innere Schranke hielt ihn ab. Stattdessen setzte flache Atmung ein, er wurde von Yakov auf den Stuhl gegenüber geleitet und versuchte, irgendwie nicht aus der Fassung zu geraten. Diese Stille nahm bedrohliche Formen an. Fünf Minuten hielt sie. Das Trainergespann sah sich vielsagend an. Mit einer Familienfehde hatten sie hier wohl selten zu tun. „Nora, was wolltest du Viktor denn mitteilen?“ unterbrach Igor die einschneidende Stille. „Es… es… tut mir leid“ krächzte sie und starrte dann ihre Handtasche an. „Was… was tut dir leid? G-Glaubst du… nach alledem… reicht mir das?!“ gab Viktor fuchsig zurück. „Ich… ich bin einfach schrecklich...“ Die beiden älteren Semester hielten sich bewusst zurück und mischten sich zunächst nicht ein. „Ja… du hast… du hast mich immer behandelt wie Dreck… wie ein Ding, was so funktionieren muss, wie du es gern hättest… und du hast Nezhny...“ Trotz der inneren Schranke fiel es dem Jungen noch immer schwer, darüber zu reden, vor allem, wenn die verantwortliche Person direkt gegenüber sitzt. Er schluckte, zitterte leicht und spürte inneren Druck. Er konnte dieser Frau nicht in die Augen sehen. Er starrte auf die zappeligen, schwitzigen Hände von ihr. Mitsamt den dreien abgebrochenen Nägeln. Zittrig griff sie nach einem Tuch. Schließlich vernahm Viktor ein Schluchzen. „Er wusste nicht, dass du hier mal Schülerin warst“ „I… Ich konnte es ihm nicht s-sagen. Zu viele… schreckliche Erinnerungen...“ Es war ihr anzumerken, wie unsagbar schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Sie traute sich auch nicht, zu Viktor zu schauen. Nach einem Jahrzehnt und noch länger, wie sie ihren inneren Frust über den Verlauf des Lebens einfach gefressen und quasi gelebt hat, war es langsam Zeit für die Wahrheit. Aber Viktor verstand nicht und ihm kam das mehr als seltsam vor. Er wünschte sich, er könnte in diesem Moment wirklich all seine Wut aus seiner verkorksten Kindheit aussprechen. Die Wut ist in ihm und der innere Druck ist stark, das Gefühl will sich aber nicht hundertprozentig einstellen und das kann nur an diesen Tabletten liegen, die er seit dem letzten Gespräch mit Igor genommen hatte. Gleichzeitig erschreckte der Junge sich, in welche Richtungen er in seinem Alter schon denkt und wie sehr er sich irgendwo auch mal wünschte, endlich Kind sein zu dürfen. „V...Viktor… ich… bin untröstlich… du hast nie auf… das gehört was ich dir gesagt habe… ich… mir war nicht bewusst, dass du… so sehr schon einen eigenen Willen hast…“ Natürlich habe ich das, dachte sich der Silberhaarige recht trocken, während sein inneres Brodeln seltsam abkühlte. Die Tablette, die er vorhin bei Yakov im Büro genommen hatte, sie schien richtig einzuschlagen nun. Igor lächelte Viktor indes vielsagend zu, als hätte er nur drauf gewartet, dass die Zerknirschtheit etwas aus dem Gesicht des Jungen wich. „Ich wollte, dass du erfolgreich bist. Dass du ein eigenes und sicheres Leben führen kannst. Ich hatte e-einfach immer die Vorstellung, wie stolz ich auf dich sein könnte, wenn du einen ganzen Konzern anführst, reich wirst und einflussreich bist! Ich hatte mir gewünscht, d-dass du nicht die Fehler machst wie ich und Instinkten folgst… die nur Elend herbeiführen...“ sprudelte es aus ihr heraus und Viktor war sich plötzlich sicher, noch nie solche ehrlichen Worte aus ihrem Mund gehört zu haben. Doch noch traute er dem Braten nicht ganz und wartete schon darauf, weggeschleift zu werden. Jetzt mischten sich wieder die Trainer ein. „Nora, du warst ein hervorragendes Talent, wir haben es wirklich bedauert, was damals passiert ist und dass du niemals den Mut hattest, zurückzukehren auf die Eisfläche. Wir dachten, du seist untergetaucht, weggezogen, es war nicht mehr möglich, dich zu erreichen. Bis wir hörten, dass du einen Sohn hast.“ erzählte Yakov erschreckend betreten. Eleonora schniefte noch etwas herum. „Verbirgst du noch irgendwas vor mir?“ fragte Viktor dann trocken. Die Tabletten wirkten immer mehr ein. Igor stellte sich hinter den Jungen und legte seine Hand auf dessen Schulter. Genauso hatte er es konzipiert. Dass ihr eigenes Kind sie so ausfragte, ließ die seelisch zerstörte Frau schwer seufzen. „Ja… ich habe mir in der Öffentlichkeit, grade in der Zeit, in der ich mein Geld auf dem Strich verdiente, einen anderen Namen gegeben.“ „Und welchen?“ Viktor knetete seine Faust, die immer noch leicht geballt war. „Ich war… einfach Elena“ Verrückt. Viktor wusste also nicht mal, dass sie für ihre nächtlichen Ausflüge einen Decknamen angenommen hatte. Der Junge saß etwas perplex dort. Ohne Rücksicht darauf, dass da immer noch ein Zehn, fast Elfjähriger im Raum saß, erzählte die Frau ein paar Details aus dem Doppelleben, welches Sie führte. Über Affären, über die Angst, geschwängert zu werden, über furchtbare Männer und vielen schrecklichen Szenen, die… man getrost als sexuellen Missbrauch sprechen kann. Da war es wieder, das Thema, welches der Junge nicht nachvollziehen konnte – die Anziehung des männlichen Geschlechts gegenüber Frauen. Oder die sexuelle Anziehung überhaupt. Er möchte es verstehen aber wie immer wurde ihm direkt an den Kopf geworfen, dass er einfach noch zu jung für das alles sei. Yakov hatte auch nicht mit einer derartigen, plötzlichen Offenheit von seiner damaligen Schülerin gerechnet. Viktor musste sich irgendwo eingestehen, dass er auch niemals etwas von dem Schrecklichen geahnt hätte, was sie da erzählte, aber der Alkohol wurde dadurch immerhin erklärt. Kein Verhalten aber rechtfertigte eine Attacke wie auf Nezhny. „V..Viktor… es tut mir leid, ich konnte das alles nicht erzählen. Ich bin einfach in meinem Frust versunken und als ich dich mit den Schlittschuhen gesehen habe, wie du spät heimkamst, war das ein Schlag ins Gesicht für mich. Ich verlor die Kontrolle. Deswegen ist mir die Hand so ausgerutscht..“ Eine Rechtfertigung war nicht das, was der Silberhaarige hören wollte. Er seufzte. „Bist du deswegen hier? Weil du denkst, dass ich dir verzeihe für alles?“ Er schaute an die Decke. Nicht in der Lage, die Gefühle hinter seinen Gittern zuzulassen. „Nein… d-das nicht...“ Da waren sie doch wieder, die Tränen in den Augen von Eleonora. „Aber ich war… ich stand unter Schock, als ich realisierte, dass du abgehauen bist. Ich dachte, du kommst abends wieder. Aber… du kamst auch die nächsten Tage nicht wieder und i-in der Stadt habe ich dich auch nicht finden können..“ Dramatisch berichtete sie von ihrer Suchaktion, fürchtete sich aber, die Polizei und die öffentlichen Behörden einzuschalten, da sie um das illegale Geschäft ihres Doppellebens fürchtete. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass Viktor angekündigt hatte, auf das Eiskunstlaufinternat zu wechseln. Sie hatte es ihm aber nicht glauben wollen und sich auch nicht in die Nähe des Ortes getraut, an dem ihr damals eine glorreiche Karriere bevorstehen hätte können. Sie wehrte sich einige Tage dagegen, genau hier zu suchen. Sie gab zu, dass sie Viktor doch sehr vermisste, und in dem Moment fiel es ihr wie die Schuppen von den Augen: War sie eigentlich irgendwie mal für ihn da? Hatte sie sich eigentlich mal drum geschert, wie es ihrem Jungen ging? Würde er wirklich glücklich werden, wenn sie ihn in die wirtschaftliche Spitze auf den Chefsessel drängeln würde? In all dem Frust und dem Alkoholrausch bemerkte sie seltenst, dass sie mit ihm nicht grade zimperlich umging, dass sie ihn schlug und ohrfeigte und ihr mehrfach die Hand einfach ausrutschte. Sie war emotional so oft außer Kontrolle und hat vieles davon an ihrem eigenen Kind ausgelassen. Es war ein Schock an dem Tag neulich, als Nora in ihrem Wohnzimmer, sich einsam fühlend an all das entsinnte und ihr klar wurde, was sie mit ihm angestellt hatte. Und nebenbei ein Tier auf dem Gewissen hatte. Dies war letztendlich der Grund, dass sie sich doch überwand und die alte Nummer von Yakov raussuchte, welche in ihren Dokumenten noch irgendwo herumlag. Der Trainer hatte noch immer die gleiche Haustelefonnummer. Es kostete sie vieles, wieder mit ihm zu reden. Genauso kostete es sie einiges an Nerven, diesen Ort wieder aufzusuchen. Sie kam mit mulmigen Gefühl zum heutigen Termin, war Stunden zuvor schon in der Kälte gestanden und hatte das schicksalhafte Gebäude betrachtet. Deswegen hatte Viktor sie heute morgen auf der Straße entdeckt. Und sie ihn hinter dem Schleier wohlgemerkt auch, was ihr den letzten Anstoß dazu gab, den Schritt ins Gebäude herein zu wagen. Viktor schüttelte sich nach alledem. Würde das ‚Antidepressivum‘ nicht wirken, würde er vermutlich mit irgendwas um sich schmeißen. So aber nahm er das schockiert, aber reserviert auf. „Ich möchte nichts weiter, als einmal ein erfolgreicher Eiskunstläufer sein. Daran wirst du nichts mehr ändern können. Du hast damals nicht den Mut gehabt, weiter an dem festzuhalten, was dich glücklich macht, sondern dich verstellt und komisches, illegales Zeug gemacht. Und immer schön nach Alkohol gestunken, das war mir immer zuwider. Aber ich werde das niemals tun, egal ob ich mal stürze oder mir wehtue.. ich liebe diesen Sport und ich werde es immer tun“ Das war mal eine Ansage des Jungen, dessen Pubertät normalerweise noch vor ihm lag und sie brachte sogar die Augen der Trainer zum Weiten. Seine Mutter nahm ein Tuch und wischte sich die Tränen weg, weil sie spätestens jetzt realisierte, wie ernst ihrem Sohn diese sportliche Karriere war. „Nora wird sich jetzt einer Entzugskur und einer psychologischen Behandlung unterziehen. Das habe ich im Vorfeld besprochen und sie hat zugestimmt. Vielleicht wird sie dann in der Lage sein, deine Karriere zu akzeptieren und dir womöglich Rückhalt zu geben. Ich weiß, das bringt dein geliebtes Tier nicht zurück. Aber du kannst endlich loslassen von dem, was dich über Jahre erschüttert hat, Viktor. Damit du den Weg gehen kannst, den du gehen möchtest“ erklärte Igor weise und informativ. Für die beiden Nikiforovs war die Situation schwer zu meistern. Sie sagten sich nichts mehr und schluckten gewaltig. Aber nach einiger Zeit konnten sie beide sich endlich ins Gesicht schauen. „V...Vitya“ Noch nie hatte sie ihn so angesprochen. Nora erhob sich langsam und zittrig. Viktor sah auf und war offen überrascht über diese Reaktion. Das Trainergespann wartete ab, was die Frau vorhatte. Sie beugte sich ein wenig, kam vor Viktor zum Knien, der etwas zurückwich, womöglich war da immer noch eine Alkoholfahne. Dann atmete die Frau tief durch, breitete vorsichtig ihre Arme aus und legte sie leicht unbeholfen um den Körper des Zehnjährigen. Man spürte, wie viel Überwindung sie es kostete, ihr eigenes Kind zu umarmen. Etwas, was für so viele Menschen so selbstverständlich erschien, passierte bei den Nikiforovs grade das allererste Mal seit langer Zeit. Viktor war sichtlich überfordert, und glaubte erst, dass sie ihn einfach von hier wieder fortbringen möchte, dementsprechend nahm er zunächst eine starre defensive Haltung ein. Nach einer Minute spürte der Silberhaarige ein kleines Erweichen in seinem Herzen. Diese Umarmung war echt. Sie war nicht gespielt, sie wollte ihm ernsthaft Körperwärme und Nähe schenken. Viktor legte irgendwann auch seine Arme vorsichtig um sie. Es war ein seltsames Gefühl und sicher nichts, womit die Frau all ihre Taten verzeihlich machte. Aber der Junge hatte sich insgeheim immer gewünscht, mal von ihr in den Arm genommen zu werden. Er schloss seine Augen und genoss diese gefühlte halbe Stunde, in der sie ausharrten und Nora inzwischen mit weiteren Tränen kämpfte. „Bitte… versprich mir, dass du das beste aus dir machst… und aufpasst… und den Fehler nicht machst den ich getan hab…“ Viktor realisierte langsam, dass sie ihn nicht wegholen möchte. Das musste er erst mal schlucken. „Ich bin krank und… habe es lange nicht gemerkt, deswegen lasse ich mich behandeln… du gehst deinen Weg“ Yakov legte eine Hand auf ihre Schulter. „Versprichst du es, Vitya…?“ murmelte die Frau leise. Nicht nur, dass der Kosename in ihm einen Hüpfer auslöste, sondern auch, dass sie eine Seite von sich zeigte, die er bisher nicht kannte. Sein Herz raste etwas schneller und insgeheim fragte er sich wieder, ob er träumte. „Ja...“ Nach einigen Minuten der Umarmung verabschiedete sich Eleonora mit Igor, die endlich begriffen zu haben schien, was sie Viktor angetan hatte und wie sie ihn behandelt hatte, nur weil sie selbst mit schweren Traumata zu kämpfen hatte. Die Wirkung der Tabletten ebbte auch wieder etwas ab sodass der Junge die turbulenten Emotionen in sich auch wieder mehr wahrnahm. ‚Sie ist doch nicht so böse? Wollte sie Nezhny nicht wehtun…? Aber…‘ „Viktor, geh bitte ein bisschen trainieren, damit du deine Leistung wieder verbesserst, ja?“ wies ihn Yakov streng, aber sogar selbst ein wenig mitgenommen. Der Junge, der sich zwischendurch kurz die Nase putzte, tat nichts lieber als das. Was könnte ihn jetzt besser von dem Ganzen ablenken als das Eislaufen? Vermutlich nichts. Diverse Formalitäten wurden in den darauffolgenden Stunden geklärt, ehe das finale Gespräch der Vorsitzenden mit Nora stattfand. Sie hatte einen Platz in einer Psychotherapie sicher und sie könnte alsbald, wenn sie sich gut entwickelte, auch einen vernünftigen Arbeitsplatz bekommen. „Viktor hat wirklich unglaubliches Talent von dir geerbt. Ich kann es nicht oft betonen.“ Erzählt Yakov gegen Abend. Dessen Mutter hatte sich etwas berappelt. Es würde wohl noch ein bisschen dauern, bis sie wirklich all ihre Taten aufarbeiten und Viktors Wünsche vollends akzeptieren könnte. „Er ist grade erst professionell gestartet und schon auf einem höheren Stand als diejenigen, die wir bereits seit Kleinkindalter betreuen. Sein Charakter macht manchmal etwas Probleme“ Igor übernahm. „Obwohl er noch nicht in der Pubertät ist, rebelliert er manchmal. Wie ein kleiner Sturkopf das eben macht. Eine interessante Entwicklung. Ich kann positiv aber sagen, dass er sehr früh weiß, was er will und was er ablehnt. Und auch wenn seine mathematischen Leistungen unzureichend sind und ich bei ihm eine Rechenschwäche vermute… er ist auf seine Art ein sehr kluger Kerl. Er wird seinen Weg machen, auch wenn es noch viel Arbeit braucht“ Nora hatte sich etwas Wasser zu trinken gemacht und ein Kaugummi genommen, um dem Drang nach Alkohol nach einem harten langen Tag abzugelten. Es wird anfangs wirklich schwer sein für sie. Aber sie war bereit, noch ein bisschen mehr aus Viktors Vergangenheit zu erzählen, zumindest das was sie wusste. Es sollte in den darauffolgenden Tagen und Wochen immer mal wieder neue Infos von ihr geben, Ballast, den sie loswerden musste. Einsicht, dass sie sich wirklich nicht so kümmern konnte und es nicht geschafft hat, Viktor zu greifen und sich ihren eigenen Ängsten zu stellen. Sie beschrieb ihn in ganz jungen Jahren, in der Zeit, bevor er den Eiskunstlauf für sich entdeckte, als sehr aufgedrehten kleinen Jungen, der vor allem sehr probier-freudig war und sie damals auf diese Weise immer gerne zur Weißglut gebracht hatte. Da landete gerne mal ein Finger auf einer Herdplatte, nachdem er grade laufen gelernt hatte und sie ihn einmal auf dem Arm hatte beim Kochen. Die Schreie waren schmerzhaft und ein Teil der Narbe sah man heute noch. Im Alter von 4 Jahren begann er wie von selbst, auf Dinge zu klettern, fiel dabei nicht selten hin. Er begann in Büchern zu blättern, versuchte wohl, sich selbst das Lesen beizubringen, dachte sich, nachdem er grade Sätze brabbeln konnte, Namen für Gegenstände aus. Und jedes mal, das hatte sie bereits gemerkt, als er nicht mal 3 Jahre alt war, dieses unbändige Funkeln in den kristallblauen Augen, wenn er irgendwas geschmeidiges, schönes, leuchtendes sah. Dasselbe Leuchten in seinen Augen, immer dann wenn er Melodien wahrnahm. Kurz darauf änderte sich aber vieles. Dieser Moment, als er einen Eiskunstlaufwettbewerb sah, da schien es um Viktor geschehen. Ab da änderte sich das bis dato noch recht elterliche Verhältnis zwischen ihm und Nora drastisch. Ihre Schwarzarbeit, die sie betrieb, war noch gut zu verbergen und Viktor bekam davon nie etwas mit, bis zu besagtem Zeitpunkt. Der Junge zog sich urplötzlich zurück, wirkte so, als würde ihn etwas bedrücken. Er wirkte zunehmend desinteressierter, unnahbarer für die alltäglichen Freuden, lustloser und vor allem auch müder wegen seiner nächtlichen Ausreißer. Nora wusste nicht, was mit ihm los war. Wenn sie mal wieder mit ihm reden konnte, erzählte er vom Eislaufen, wie sehr er es sich wünschte, auch so was zu können und in Anbetracht ihrer eigenen Tragödie kam sie nie mit solchen Aussagen zurecht. Sie erzählte, wie sie richtiggehend Angst hatte, dass Viktor allen Ernstes eine Eiskunstläuferkarriere anstreben wollte. Diese Angst führte zu vermehrt unkontrollierten Ausbrüchen, zu vermehrtem Alkoholkonsum und zur Talfahrt ihrer seelischen Verfassung. Nebenbei erwähnte sie, dass die silbernen Haare von Anfang an gewachsen sind und sie nicht weiß, wie diese auf natürlichem Wege bei ihm entstehen konnten. Und sie beschrieb, dass Viktors Vater vor langem schon ausgezogen sei und seinen Sohn nicht wirklich kannte. Sie verlor den Draht zu Viktor und letztendlich zu sich selbst. Dass es einen Hund gab, dem der Junge mehr Liebe zuwandte als ihr, gab dem ganzen den Rest. Sinnbildlicher konnte man es kaum darstellen, wie die Familie gänzlich zerbrach. Für Yakov und Igor waren diese Informationen mehr als wertvoll und es würde ihnen vielleicht leichter fallen, noch besser an Viktor und dessen Seelenleben heranzukommen. Dieser Junge hat mehr durchgemacht, als man es sich bei einem Jungen in seinem Alter wünschen könnte. Viktor durfte die Wochenenden im Internat bleiben und diese Zeit, in der er relativ alleine da war, war mehr als genugtuend für ihn. Er konzentrierte sich auf sein Training, auf die Stunden auf dem Eis und er gewann mehr und mehr Sicherheit. Nachdem seine Mutter aufgetaucht war, legte ihn eine Erkältung ein paar Tage flach. Eine Zeit, die sehr anstrengend war und Jungen wie Andrej und Ivan zu diversen Schikanen anstiften konnte. Mal schoben sie ihm Salz in den Kaffee oder versuchten, seine Schlittschuhe zu manipulieren, aber keiner der Streiche ging letztendlich durch und davon abgesehen wirkte Viktor weniger empfindlich zu reagieren. Es war, als wäre bei der Umarmung mit Nora etwas in ihm aufgeflammt, als hätte er innerlich einen Dämonen bezwungen. Weihnachten stand vor der Tür und mit Weihnachten auch der Jahreswechsel. Vor alledem aber stand am 25. Dezember noch Viktors Geburtstag auf dem Plan. Ein Tag, den der Junge nie besonders feierte. Was ihn wohl dieses Jahr erwarten könnte…? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)