History Maker - The beginning von Wei_Ying (Viktor Nikiforovs BG-Story) ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Die nächsten Tage verliefen, zugunsten von Viktor nicht großartig turbulent. Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn einfach niemand wirklich verstand, dass er so schnell den Stempel ‚speziales, eigenartiges Wesen‘ nicht loswerden würde und der Unterricht langweilig, seltsam oder zu mathematisch war. Er schluckte jegliches Aufkommen irgendwelcher Emotionen in aller Gänze runter, er ignorierte diverse neckische Aussagen von Andrej und Ivan und versuchte, sie auch im Zimmer wie Luft zu behandeln und nicht hinzuhören, was diese zu sagen hatten. Es war wie eine extreme Form der Ignoranz, die er seinen Mitmenschen in der vorherigen Schule schon dargeboten hatte. Es gab aber auch immer diesen einen Lichtblick jeden Tag, und das waren die praktischen Übungen und vor allem die Stunden auf dem Eis. Wie es sich sein ganzes Leben bisher schon durchzog, waren die kleinen Tänze, das Gleiten auf dem Eis, das Kratzen der Kufen das einzige, was überhaupt Gefühle hervorrief, beziehungsweise ließ Viktor nur auf diese Weise Gefühle zu. Über das ganze Geschehen um seine Mutter verlor niemand mehr ein Wort die Tage über. Es half Viktor ein bisschen dabei, die ganze Sache zumindest soweit zu verdrängen, dass er keinen Negativschwall Gedanken bekam. Die gespielte, perfektionistisch geübte Emotionslosigkeit war bitter nötig in manchen Situationen. Nicht vielen fiel das doch eigenwillige Verhalten des Silberhaarigen auf. Es würde nach längerem ein Termin mit Igor warten, nachdem Yakov ja zumindest gemerkt hat, dass etwas mit dem Jungen nicht stimmte. Erina sprach ihn zwischendurch immer mal wieder an und versuchte sich an einer lockeren Unterhaltung, welche Viktor aber konsequent ablehnte. Der Silberhaarige war in diesen Tagen einfach nicht ganz er selbst. Er spürte, dass diese Verwirrtheit, diese Traurigkeit einfach nicht das war, was er wollte. Was zu ihm passte. Aber wie von Zauberhand konnte er sich jene Gefühle eben auch nicht abstreiten. Der Winter erhielt mehr denn je Einzug in die Straßen von St. Petersburg und der Zulauf in die zweite Eissporthalle nebenan wuchs auch von Tag zu Tag. Die Eishallen hatten zwar das komplette Jahr über geöffnet, aber auch im hiesigen Sommer verspürten die meisten Menschen eher nicht so die Lust aufs Eislaufen. Ging es auf Weihnachten zu, strömten immer mehr Besucher in die Eishallen. Ein paar Schaulustige, die die Berechtigung für die Trainingshalle hatten, konnten auch den Jungen und Mädchen beim Training zu sehen. Nicht, das Weihnachten groß gefeiert würde, zumindest nicht in Viktors Umfeld. Seine Familie war generell nicht für Feste feiern, weder aus einem religiösen noch familiärem Interesse. Mit seinem Geburtstag verlief es ähnlich. Auch das feierte seine Familie nie. Viktor war ihnen ja immer mehr eine Last. Er hatte zu funktionieren und das tat er nun mal nicht so, wie vor allem seine Mutter es wollte. Seine Mutter war so oder so eine Frau, an die Viktor nun gänzlich keinen weiteren Gedanken verschwenden wollte. An diesem Tag im November, Viktor war nun schon seit über zwei Wochen an der Schule, waren wieder ein paar Zuschauer für das Training der Schüler angemeldet. Das erste Mal, seit der Silberhaarige hier war. Gegen 13 Uhr begann das üblich strenge Training unter dem Auge Yakovs. Die Jungen mussten sich zunächst zwei Minuten warmlaufen. Viktor war als letztes auf der Eisfläche und schaltete wie üblich die Kulisse um sich ab. Er konzentrierte sich auf das Klirren seiner Kufen, auf die imaginäre Melodie in seinem Ohr. „VIKTOR!!!“ Wieder einmal hatte er aber den Befehl Yakovs, sich in Reih und Glied aufzustellten, gekonnt überhört. Wie üblich kicherten Andrej und Ivan darüber. „Wie ihr seht, haben wir heute ein paar Zuschauer. Ab und an lassen wir ein paar Menschen rein, um eine Art kleine Wettkampfathmosphäre aufzubauen. Lasst euch von denen nicht irritieren.“ Bemerkte Yakov mit üblich rauer Stimme. „So, und nun zeigt mir eure Waagenpirouette“ Ivan, der schon deutlichst gezeigt hat, dass er gerne im Rampenlicht stand, ließ sich nicht lange bitten. Er glitt nach vorne, nahm Tempo auf, drehte sich ein bisschen staksig in Position, eher er genug Tempo hatte, um sich der Drehung um die eigene Achse zuzuwenden. Er streckte während der ganzen Sequenz sein Bein nach hinten aus, beugte seinen Oberkörper noch etwas vorsichtig nach vorne, sodass sein Körper ansatzweise ein ‚T‘ bildete. Und dann drehte er sich. Ein paar Umdrehungen, sicher nicht so schnell und elegant wie die Profis, ehe er leicht aus dem Tritt kam und sich mit dem Standbein kurz abstützen musste. Yakov grummelte. Dessen gründliche Beurteilung bekämen die Schüler im Monatlichen Feedbackgespräch zu hören. So erntete Ivan erstmal ein gebrummtes „Das geht besser“. Es waren drei weitere an der Reihe, bis Viktor auch mal dran war. Seine Vorgänger wirkten allesamt leicht verunsichert durch die Zuschauer, er hätte schwören können, dass ihnen beim Anlaufen die Knie schlotterten. Als Viktor antrat, sahen alle gefühlt besonders hin. Er begann wieder einmal, alles um sich herum auszuschalten und spielte die übliche Melodie in seinen Gedanken ab. Ohne es bewusst zu merken, formten seine Beine bereits bei der Tempoaufnahme Schlaufen. Mitgerissen von der inneren Melodie, setzte er mehrfach in schnellem Tempo rückwärts über und begann daraufhin, sich wie erwartet auszustrecken. Er, der einzige der Schüler, der bislang wenig bis gar kein Ballettunterricht hatte, bekam diese Bewegung erstaunlicherweise verdammt gut und vor allem elegant hin. Er dachte gar nicht weiter darüber nach, er folgte einfach seiner inneren Stimme, die sich dieses Element sehr schnell eingeprägt hatte. Und mitten in alledem begann er sich natürlich zu drehen. Er schloss die Augen, da er sonst das Gefühl hatte, zu schnell Schwindelanfälle zu bekommen und ließ seinen Körper mit der nötigen Anspannung kreiseln. Zum Schluss richtete er sich vorsichtig auf, vielleicht etwas langsam, aber im Gegensatz zu den anderen Jungen ohne wirkliches Stolpern. Er blickte auf, sein Kopf und Körper wollten sich weiterdrehen, aber mit einem Schlenker zur anderen Seite konnte er dem erfolgreich begegnen. So konnte Viktor einen Blick auf die Sitzreihe der Zuschauer erhaschen, die etwas erstaunt zu ihm sahen, ehe einer sogar einen kleinen Applaus anstimmte. Der Silberhaarige, dessen Haare zum Pferdeschwanz gebunden waren, wagte einen Blick auf Yakov, dessen Mimik wie immer absolut nichtssagend aussah. Er kommentierte Viktors Auftritt nicht. Aber der Junge könnte schwören, er habe den kleinen Anflug eines zufriedenen Nickens wahrgenommen. Besagter privilegierter Trainer überrumpelte die Jungen anschließend mit der Aufforderung, ihm doch mal einen einfachen Toe Loop zu zeigen. Bisher durften die Schüler ein bisschen Freestyle üben, ob sie überhaupt bereit wären für die Sprungelemente. Dies war etwas, wovor Viktor immer großen Respekt hatte und wo er lediglich die letzten Tage die Trockenübungen der verschiedenen Sprünge geübt hatte. Dort kam er über einen halbkreisförmigen Hüpfer nicht hinaus. In der Theorie wusste er, wie es geht. Andrej und Ivan als etwas ältere Hasen beherrschten auch schon Sprünge, aber nicht alle der Schüler taten dies. Erneut trat Ivan nach vorne, nahm Anlauf, Geschwindigkeit auf, machte ein paar Schlenker, eher er in den Rückwärtsgang umschaltete und sich mit einem Bein abstieß. Durch den Schwung drehte er sich in der Luft, schaffte aber nicht ganz eine Umdrehung, ehe seine Kufe wieder das Eis kratzte. Er ging bei der Landung leicht in die Knie und musste sich abfangen. Yakov grummelte sofort. Es war faszinierend, wie sehr Viktor während dieser Praxisübungen seine innere Leere wegstieß und innerlich Gefühle der Begeisterung und Faszination empfand. Sogar ein bisschen Adrenalin, in dem Moment, in dem er wusste, in ein paar Sekunden war er wieder dran. Nirgendwo sonst fühlte sich der Junge so lebendig, so frei wie auf dem Eis. Er liebte es. Er glitt los, schaltete die Welt um sich herum in aller Gänze ab und versuchte, seine Melodien im Kopf laufen zu lassen. Die Schrittfolge hatte er durch die Trockenübungen gut genug im Kopf. Als er schnell genug war, legte er den Rückwärtsgang ein. Sein Adrenalinpegel stieg, sein Herz pumpte wild, als er sich mit dem linken Fuß in die Luft drückte. Er sprang ab und versuchte, so schnell es in dem Schwung ging, sich zu drehen. Dabei schloss er seine Augen, um Schwindelanfälle zu vermeiden. Er bemerkte nicht, dass er sich beinahe zweimal um die eigene Achse gedreht hatte, als seine rechte Kufe wieder das Eis kontaktierte. Etwas drückte die Landung in seine Knie, aber irgendwie schaffte Viktor es intuitiv, sich bei der Landung auf dem Bein zu halten und den Rest des Körpers als Ausgleich leicht von sich zu strecken. So ähnlich, wie er es bei Profis damals gesehen hatte. Als er seine Augen öffnete, war er in Richtung der anderen Schüler, die an der Seite parkten, gewandt. Er bremste leicht und stellte sich wieder auf die Beine, als sein gesamtes Adrenalin abpurzelte und seine Hände begannen, leicht taub zu werden. Ein paar Zuschauer applaudierten. Ivan und Andrej standen da und starrten ihn leicht ungläubig an und ein paar andere hatten erstaunt die Hand vor den Mund gelegt. So sehr er diese elegante Bewegung genossen hat, Viktor fand sich selbst jetzt nicht so überragend. „Und ich sagte noch, EINE Umdrehung. Nicht zwei“ kommentierte Yakov das Geschehen. Der Mann fand immer was zu mäkeln, jedoch war seine Stimme mit leichtem Sarkasmus belegt. Als Viktor seufzend an ihm vorbeifuhr, erntete er nur den Kommentar „Aber was erwarte ich auch sonst von einem Nikiforov. Ich ahnte, dass du dich schneller entwickelst.“ Dieser Name war einfach ein Fluch. Es folgte ein bisschen Freestyle Training unter strenger Beobachtung von drei Trainern, die sich inzwischen einfanden. Viktor wurde unerwarterweise gut belagert, was diesen aber mehr nervte als alles andere. „Na ich habs einfach gemacht wie in der Trockenübung“ wiederholte er gefühlte zigmal auf die erstaunten Fragen der anderen. Aus Spaß versuchte er noch einen Toe-Loop, wieder schaffte er es, elegant abzuspringen, bekam dieses Mal anderthalb Drehungen hin, doch die Landung klappte minimal besser. Wieder ein Applaudieren und ein erstauntes Aufkeuchen der anderen. Sie hätten alle nicht gedacht, dass Viktor, der erst so kurz hier war, die Sprünge auf Anhieb so gut hinbekam. Die meisten anderen Kinder, die auf ihren vorherigen Schulen meist nebenher den Eislaufunterricht genommen haben, mussten sich die Technik über Jahre hinweg erarbeiten. All das hatte Viktor bekanntlich nie. Und erklären, warum es ihm so leicht fiel, konnte er nicht. Damit war der Praxisunterricht vorbei. Viktors Terminkalender sah für heute noch den Termin mit Igor vor, vor dem sich der Silberhaarige immer noch sträubte. Seine halbwegs angenehme Stimmung, die er durch die Eislaufstunden bekam, verflog schnell wieder. Der Schulpsychologe nahm ihn unter seine Fittiche nach einem kurzen Austausch mit Yakov. Da saßen sie nun wieder, in dem kahlen, krankenhausartigen Raum, in dem die Luft sehr dünn schien. Viktor starrte an die Decke, in der Hoffnung, nicht zuviel sagen zu müssen. „Nun, was geht in dir vor, mein Junge?“ Er sagte erstmal einfach nichts. „Ich hörte, du seist emotional instabil wegen diverser Vorfälle. Als du ankamst, haben wir erfahren, dass dein Haustier, dein Pudel verblutet ist. Das ist sehr bedauerlich. Magst du mir mehr darüber erzählen?“ Es war einfach wie in den ein- zwei Büchern, die er über Psychologen und Patienten gelesen hatte. Sie porkelten gerne an den Stellen, an denen es am meisten wehtat. Viktor schluckte. Ihm wurde leicht mulmig. Er wollte die Sache einfach vergessen. „Es ist wichtig, dass du uns informierst, Nikiforov. Wir wollen dir helfen, über deine vergangenen Erlebnisse hinwegzukommen, aber dafür musst du schon reden. Du mochtest deinen Pudel schließlich sehr, denke ich mal“ Der Junge seufzte und sein Herz war schwer belegt. Er konnte dieses Gefühl nicht verhindern, da er einfach sehr an Nezhny hing. „Ja.“ murmelte er. „Wie erwartet. Wodurch ist er denn verblutet? Als die Tierärzte nebenan ihn untersucht haben, konnten sie einen Stich erkennen.“ Viktor schluckte nochmals. Obwohl er es vermeiden wollte, spielten sich diese Szenen mit seiner Mutter und deren völligen Ausraster vor seinem geistigen Auge wie ein Film ab. Sein Atem wurde unruhig. Er konnte sein Unwohlsein nicht verstecken. „J..ja.. ein Stich… v-von einem Messer“ stammelte der Junge. Igors Blick weitete sich. Er suchte die Hand des Silberhaarigen, die leicht zitterte. „Das ist in der Tat ungewöhnlich. Dann kann es kaum ein Unfall gewesen sein. Was ist wirklich passiert?“ Viktor zitterte noch mehr. Er wollte darüber nicht reden und nun bekam er diese Gedanken nicht los. Seine Mutter war so dermaßen außer sich gewesen, dass sie Viktor verletzen wollte. Nezhny hatte ihn beschützt. Wer weiß, wo sie ihn erwischt hätte. Dieser Pudel hat ihn gerettet und sich geopfert. Dass er nun nicht mehr da war, war ein kaum zu tragender Verlust und der Junge fühlte sich einwenig schuldig. Aber so erzählen konnte er das nicht. Dennoch atmete er so tief durch, dass er Luft hatte, um doch etwas mehr zu berichten. „M…meine Mutter… war… sauer… w-weil ich nachts raus war… ich wollte eislaufen und durfte das nicht von ihr aus… deswegen musste ich es heimlich tun… aber… da… hat sie mich gefunden… und… i-ich weiß nicht warum… aber sie wollte mir w-wehtun… und… d-dann…“ Seine Stimme brach ab und es sammelten sich wieder ein paar Tränen in den Augen, die er vehement versuchte, runter zu schlucken. Aber Igor schien schon zu ahnen, was er erzählen wollte. Sein Blick ging leicht an Viktor vorbei, dennoch bat er den Jungen zur Ruhe. Einige Minuten geschah nichts, niemand sagte auch nur irgendeinen Ton. Bis Igor die Stille unterbrach. Er stand auf, schritt an Viktor vorbei und schaute zum Fenster raus. „Ein einsamer Junge, beschützt von seinem geliebten Tier, das sich für ihn aufopferte und ihm seine Seele schenkte..“ trällerte er. „Dein Schicksal könnte glatt einer Art Märchen entstammen“ Viktor sah ihn einfach nur perplex an. Machte der Mann sich etwa über ihn lustig? „Du hast einen weiten Weg vor dir. Die Pubertät liegt noch vor dir und es wird sich noch eine Menge verändern“ Er wandte sich noch einmal dem Jungen zu. „Ich glaube, wir werden noch viel Spaß miteinander haben. Und noch etwas.. ich habe gesehen, deine Arme sind außergewöhnlich vernarbt. Natürlich trägt man Narben davon, wenn man Sport macht, bei dem der ganze Körper gebraucht wird, bei Eiskunstläufern aber befinden sich diese zumeist an den Füßen und Knien. Hast du dafür eine Erklärung?“ Der Silberhaarige hatte wirklich keine Lust, noch mehr von Dingen zu erzählen, die er tunlichst vergessen wollte. Grade erst hatte er sich gefangen. „Bin oft hingeflogen“ murmelte er einfach, er wollte so schnell es geht diesem Gespräch entfliehen. „Eine Lüge“ enttarnt ihn Igor sehr schnell. „Viktor, wenn du wirklich mit dem, was dich belastet, abschließen möchtest, musst du schon offen und ehrlich reden. Nur dann kann ich dir helfen“ „Ich möchte aber grade nicht mehr reden...nicht über das… ich bin schon wieder….fertig..“ Igor sagte nichts, aber Viktor konnte die Augen von ihm regelrecht auf seinen Schultern spüren. Das Herz des Jüngeren zog sich zusammen, Emotionen wie Wut oder Verzweiflung machten sich in ihm breit. Er verteufelte es, dass er in seinen jungen Jahren mit solchen Gefühlen konfrontiert wird. All das machte die Situation nicht besser. Es wirkte, als ob der Psychologe innerlich eine verrückte Idee fasste. Und diese gekonnt vor Viktor verschweigen wollte. ‚Du bist doch auch nicht besser. Sagst auch nicht was du denkst, was?' ging es in Viktor vor, seine Gedanken verknoteten sich, ehe er mit der Faust zur Seite und dann auf den Tisch haute, um sich symbolisch von der Negativspirale in Person seiner Erzeugerin freizukämpfen. „Gut, Viktor Nikiforov, dass war es erstmal. Du hast, wie ich eben schon erwähnte, noch eine Menge Arbeit vor dir. Ich verschreibe dir aber zunächst ein kleines Rezept, welches möglich machen wird, deine negativen Emotionen freizusetzen“ erwähnte Igor nach Minuten des Schweigens, in der man lediglich die Uhr ticken hörte. Viktor seufzte und verstand nicht ganz. Er hatte leichte Kopfschmerzen durch die Grübelei, eine Grübelei, der er in seinem Alter von fast 11 Jahren im Grunde noch nicht folgen kann. Weshalb es ihn einfach alles mehr und mehr verwirrte. Körperlich hatte er so gesehen kaum noch etwas, ein paar Spuren, vor allem an seinen Füßen haben sich für immer eingebrannt. Krank war er nicht. Die Vorstellung, eine Pille verabreicht zu bekommen, die irgendwas mit seinen Gedankengängen anstellt, war aber verdammt gruselig. Igor legte ihm einen Zettel hin, daneben war besagte Pillenschachtel. „Was… ist das?“ fragte der Jüngere. „Eine Art Antidepressiva. Wenn ich dir Details erkläre, wird das dich nur noch viel mehr verwirren als ohnehin schon. Frag mich nochmal, wenn du so 14 – 15 bist, dann wirst du das eher verstehen. Jedenfalls… ermöglichen dir die Tabletten, deine Gefühle und Gedanken besser zu kontrollieren“ Der Ältere erwähnte nicht, dass diese Medizin dafür sorgte, dass Viktors Gefühle unterdrückt werden sollen. Es ist nicht ganz das, was er zu Viktor sagte. Skeptisch nahm dieser die Packung an sich. Zwei mal am Tag solle er sie einnehmen und nach einer Woche würde er das merken. Er verließ den Raum und wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als sich an diesen Plan zu halten. In den nächsten zwei Wochen passierte nicht allzu viel. Zumindest nichts offensichtliches. Die Jungen hatten immer mehr Training auf dem Eis, immer dann, wenn die Hobbyläufer die Eisfläche verlassen hatten. Den schulischen Theorieunterricht hatten sie auch noch, und in Mathe und Englisch einen Test geschrieben. Während Viktor in dem Englischgrammatiktest ganz gut abschnitt und eine 41 schaffte, fiel er in Mathematik nahezu komplett durch. Er machte sich aber keinen Hehl draus, auch wenn dies natürlich Stoff genug für die Mitschüler war, ihn zu necken. Allen voran Andrej und Ivan waren da ein echt nerviges Gespann. Und mit denen teilte Viktor auch noch einen Raum! Gut nur, dass sie bislang nur verbal über ihn herzogen und er die beiden auf dem Zimmer ganz gut ignorieren konnte. Was aber signifikant war, war, dass es Viktor tatsächlich gelang, alle Kommentare bezüglich seines berühmten Nachnamens, welche ihn ja immer an seine Mutter erinnerten, gefühlsmäßig besser wegzustecken. Sie im Grunde zu ignorieren. Ob es wirklich an den Medikamenten lag, die er regelmäßig einnahm? Jedes mal, wenn er an seinen verstorbenen Pudel oder seine Mutter dachte, spürte er innerlich einiges brodeln, aber es fühlte sich einfach immer dumpfer an. Als würden diese aufkeimenden Gefühle erstickt werden. Ohne dass der Junge irgendwas dafür tat. In drei Tagen stand der nächste Termin mit Igor auf dem Plan. An diesem verregneten Freitag jedoch beendeten die Jungen erst einmal das heutige Training. Viktor war stolz, aber er schaffte es nicht, den einfachen Sprung von neulich in nochmaliger Perfektion auf die Eisfläche zu zaubern. Hier mal ein Wackler in der Landung, heute kam er sogar irgendwie komisch auf den Knien auf, weil er etwas im Anlauf vergeigt hatte. Da waren ein paar andere sicherer. Viktor verstand das nicht, ihr Trainer Yakov noch weniger, sodass dieser nicht grade zimperlich umging mit seinen strengen Parolen. Grade an den silberhaarigen Jungen schien er ungemeine Erwartungen zu haben, die dieser grade nicht erfüllte. Somit holte der Mann mit der angehenden Glatze auf dem Kopf Viktor nach dem Training zu sich. „Was sollte das werden?“ Viktor verdrehte die Augen. „Na ein Toe-Loop“ - „Das war ein Sturz, nichts weiter! Viktor… was ist los mit dir?“ Der Trainer kam ihm näher, baute sich auf und machte sich gefühlt doppelt so groß wie Viktor, auch wenn nicht allzu viele Zentimeter die beiden trennten. „Ich weiß es doch auch nicht… mit meiner Konzentration stimmt was nicht… ich hab das Gefühl, irgendwas ist im Busch“ Yakov legte seine Hand mehr oder weniger sanft auf die Bande der Eislaufbahn. „Viktor. Das kannst du Igor am Montag erzählen. Du kannst das, das weiß ich, das wissen wir alle. Es liegt dir in den Genen, aber dazu haben wir ja schon einiges gesagt. Ich möchte nächste Woche wieder mehr von dir sehen, verstanden?“ Sicher stand der Mann auch nur unter Druck von der Vereinsführung, da er den Silberhaarigen bekanntermaßen kostenfrei eingeschleust hatte. Der Jüngere sagte nichts weiter und schaute nur zerknirscht. Ohne seinen Trainer noch eines weiteren Blickes zu würdigen schritt er weg und wurde nicht aufgehalten. Am Abend würden die Jugendlichen die Halle stürmen bei der Eisdisko. Die Jungs aus der Akademie verzogen sich für gewöhnlich auf ihre Zimmer. Viktor hatte sich in gewohnter Manier auch wieder auf sein Bett gepflanzt und sich nun schon den vierten Roman gekrallt, den er mitgenommen hatte. Andrej und Ivan gehörten zu der Sorte Jungs, die es immer wieder versuchten, sich heimlich zur Disko zu stehlen und womöglich Alkohol zu ergattern. Die beiden waren 13 und ein paar Zerquetschte, noch lange nicht genug, dass das legal wäre. Wie dem auch sei, oft genug schon kamen sie spät wieder und waren mit Sicherheit nicht immer nüchtern. Viktor fragte sich, ob Ivan oder Andrej mit Yakov verwandt seien, sodass diese manches mal eine Sondergenehmigung von ihm bekamen, denn normal kam ihm das alles nicht vor. Aber generell waren die Frustrationen diesen fragenden Gedanken mehr oder weniger gewichen. Viktor seufzte nur und widmete sich seinem Buch. Sollen sie doch illegales Zeug anstellen, dachte er sich selbstgefällig. Er würde sowas niemals mitmachen. Zwischendurch hörte man ein Klappern. Hier und da Schritte. Umherwuselnde Schüler. Diejenigen, die noch abends etwas Warmes zu essen kaufen wollten und sich nicht mit den Broten vom Kiosk wie Viktor zufrieden gaben. Meist tun es viele, um noch ein Pläuschen mit den Mädchen auf dem anderen Flur zu halten, da sie sich auf dem Zimmer der Jungs nicht aufhalten durften. Naja, soweit die Regel, aber natürlich hat Viktor Ivan schon mal mit Erina auf diesem Flur gesehen, die gewissenhaft einen Zimmerbesuch ablehnte. Einmal hatte besagte junge Dame Viktor gefragt, ob dieser nicht mal mit ihr etwas zu Abend essen wolle. Aber er hatte abgelehnt. Sie wirkte geknickt, und seitdem haben die beiden nicht mehr miteinander gesprochen. Aber den Silberhaarigen juckte das recht wenig. Alleine das sie fast alle zwei bis drei Jahre älter waren und er eigentlich fast ins Jüngling-Abteil gehörte, bedeutete doch schon, dass er und die anderen nicht auf einer Wellenlänge sein konnten… Das Wochenende stand vor der Tür und dann würden so ziemlich alle Schüler zurück zu ihren Familien fahren, um sich etwas zu erholen. An Wochenenden war vormittags freies Training und gelegentlich Nachhilfe in der Schule. Die Neulinge wurden die ersten fünf bis sechs Wochen aber grundsätzlich da behalten. Viktor bekam hauptsächlich Mathematiknachhilfe, jedoch schien Herr Sokolow an ihm echt zu verzweifeln. Andererseits nahm der Junge so gut es geht Eislauftraining, letzten Sonntag hat er vier Stunden am Stück eine Rücklagen-Pirouette geübt und abends über Rückenschmerzen geklagt. Aber es war sehr fraglich, wie das dieses Wochenende laufen würde. Die fünf Wochen waren für ihn rum und das bedeutete, das Viktor theoretisch zurück zu seiner Mutter müsste. Es ploppte ein dumpfer Gedanke auf, der zwar keine überragenden Emotionen in ihm auslöste, da irgendeine unbekannte Schranke in ihm das unterdrückte. Jedoch lenkte es ihn vom Lesen ab. Genervt legte er das Buch zur Seite und streckte sich auf dem Bett aus. Irgendwann, es mag nach 23 Uhr schon sein, kehrten die anderen beiden Jungen in den Raum zurück. Sie gackerten, Ivan erzählte etwas davon, dass er große Lust hat, mit Erina ins Bett zu steigen, und wie erwartet kümmerten sie sich nicht darum, wie es Viktor damit erging. Dieser hatte sich einfach einen Zettel und einen Stift genommen, um seine Gedanken oder den anderen Quatsch, der in seinem Kopf so tobte, loszuwerden. Außerdem notierte er sich ein paar Schrittfolgen zu den Eiskunstlaufsprüngen, die sie noch lernen werden. „Was machste denn da?“ Welch ein Wahnsinn, der Junge war doch keine Luft für sie, so sehr er sich das irgendwo wünschte. „Dinge notieren“ - „Vielleicht stalkt der uns ja heimlich, ich trau dem alles zu“ meint Andrej abfällig. Viktor seufzte absichtlich laut, um seine Antipathie deutlich zu machen. „Ja, der fährt sicher auch auf Erina ab, macht Sinn, ja“ röhrte Ivan. Die beiden bauten sich dann vor dem Silberhaarigen auf, um ihn von seinen möglichen spionischen Schandtaten abzuhalten. Sie rissen dem Jüngeren den Zettel aus der Hand. Ivan, der schwarzhaarige Junge mit dem spitzen Gesicht und den hervorstehenden Wangenknochen - man könnte ihn auch auch als Klischeerussen bezeichnen – schaute schräg aus der Wäsche, als er versuchte, das von Viktor geschriebene zu entziffern. Der saß nur da und schaute die beiden mit einem grimmigen fiesen Katerblick an, setzte sich sonst aber nicht zur Wehr. „Ich möchte nicht zu meiner Erzeugerin, nie wieder, sie ist ein Monster… ...alle gehen mir hier einfach nur auf den Sack, ich wünschte, ich bekomme einen persönlichen Trainer und muss nicht mehr mit den Idioten trainieren! Und auf Mathe könnte ich auch scheißen. Ich hasse dieses Fach. Ich kapier das nicht, vorallem wenn Buchstaben drin vorkommen… ...Verdammt, warum empfinde ich kaum irgendwas?!“ laß Ivan all das Gekritzel laut vor und sorgte dafür, dass Viktors Blick sich weiter verfinsterte. Andrej schüttelte sich leicht. Dann warf der Schwarzhaarige den Zettel abweisend auf die Decke direkt vor Viktors Füßen, als solle er sich damit den Hintern abwischen. „Idiot… aber Karma vergisst nicht“ Die beiden sagten nichts mehr, pflanzten sich auf ihre Betten und machten das Fernsehen an. Bis 0 Uhr durften sie ja noch gucken und Viktor mit irgendwas nervigem beschallen. Doch in ihm stellte sich ein Mir-ist-doch-alles-egal-Gefühl ein. Vielleicht war er froh, dass sie seine Notizen nicht weiter kommentiert haben. Trotz der Beschallung döste der Silberhaarige irgendwann mehr und mehr weg. Vor seinem geistigen Auge bildete sich der Anblick eines Hundes, der Nezhny sehr ähnelte. Es war ein schöner Traum, den er zunächst nicht als solchen registrierte. In diesem Traum war er bereits in jungen Jahren, im Alter von 5, ein Star auf dem Eis und von jedem unterstützt. Der blonde Superstar aus dem vorherigen Traum kam auch wieder vor, er nahm sich sogar ab und an Trainingssessions für Viktor. Und seine Mutter stand am Rand und applaudierte. Zudem saßen regelmäßig einige seiner kleinen Fans am Rand, die ihn anfeuerten. Eine abrupte Kältewelle beendete die wunderschöne Vision jäh. Einige Sekunden lag er da, eingekauert, und bemerkte, dass man ihm die Decke weggenommen hatte. Es war dunkel draußen, aber in dieser Jahreszeit wurde es hierzulande nur kurz mal Tageslichthell. Es war kurz nach 5. Langsam nervten seine Mitbewohner gewaltig. Jetzt ließen sie ihn nicht mal mehr in Ruhe schlafen. Immerhin bemerkte er so nun, dass seine Blase drückte. Ergo drückte er sich in seinem Nachthemd leise und vorsichtig raus auf dem Flur. Nachts war es hier nicht nur kalt, sondern auch auf seltsame Art gruselig. Niemand war hier, es war dunkel und lediglich das Mondlicht fiel durch die Fenster hinein. Die Regenwolken hatten sich verzogen. Penibel genau achtete Viktor auf seine Umgebung. Kurz vor der Abbiegung zu den Männertoiletten war ein großes Fenster, dessen Vorhänge um die Zeit geschlossen waren, durch das viel Licht fiel, und man gut auf den Eingang eine Etage tiefer blicken konnte. Heute waren die Vorhänge nicht ganz zu. Wahrscheinlich leicht manipuliert von den Idioten in seinem Zimmer. Als er vorsichtig an den Seidengardinen zog, um sie zusammenzuschieben, erhaschte Viktor einen Blick auf die Straße. Und das, was er dort erblickte, ließ ihn augenblicklich erstarren und zum kleinen Schrei ausholen. Er stolperte an die gegenüberliegende Wand, ziemlich sicher, dass seine Paranoia ihn schon solche absurden Dinge sehen lassen. Nichtmal Dinge… auf der anderen Straßenseite hatte er auf einer sonst nicht so belebten Straße eine Frau gehüllt in einem scharlachroten Jackett gesehen. Eine Frau, die seiner Mutter verdammt ähnlich sah… Er wusste, dass seine Mutter, sollte sie mal zur normalen Zivilisation aufbrechen, immer einen dunkelroten Mantel trug! Vorsichtig krabbelte er nach vorn. Das musste er sich eingebildet haben… Hatte er nicht. Sie stand wirklich da. Und in dem Moment, in dem Viktor leicht panisch zwischen den Gardinen nach draußen lugte und es einfach nicht fassen konnte, die Realität grade verteufeln wollte… da sah die Frau auch hoch, genau in Viktors Richtung. Es war zweifelsohne seine Mutter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)