Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Prolog: -------- „Ah! Ich kenn dich doch!“   Koushi hob den Blick von seinem Mittagessen, verwirrt, weil er schon die Stimme gar nicht zuordnen konnte, die ihn da angesprochen hatte – das zugehörige Gesicht mit dem verdutzten Blick sagte ihm genauso wenig wie der etwas groß geratene Kapuzenpullover mit dem auffälligen Print. Ein Bandlogo vielleicht? „Entschuldige bitte, aber ich glaube, du verwechselst da etwas.“ Sein Gegenüber – er musste in Koushis Alter sein, jedenfalls sah er jünger aus als die meisten anderen Studenten – schüttelte eifrig den Kopf, während er sich auf  einen Stuhl plumpsen ließ und seinen Rucksack achtlos neben sich auf einen weiteren warf. „Nein nein!“, rief er aus, wild gestikulierend, „Ich kenn dich ganz sicher! Ihr habt uns letztes Jahr total fertig gemacht!“ Ein Volleyballspieler also, vermutete Koushi, aber das half ihm kaum weiter. Das Gesicht blieb fremd, und nachdem er noch einen langen Moment ratlos den jungen Mann musterte, sah der plötzlich drein, als wäre ihm etwas eingefallen. Er hüstelte verlegen und zog die Schultern hoch. „Mein Team. Nicht mich. Ich war auf der Bank. Seijoh! Das hast du bestimmt nicht vergessen!“ Koushi hatte es nicht vergessen, natürlich nicht. Sein Blick erhellte sich und er grinste freundlich. „Daran erinnere ich mich. Aber ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung habe, wer du bist. Ich bin Sugawara, übrigens.“ – „Yuda Kaneo, sehr erfreut, Sugawara-Kun!“   In den nächsten Minuten lernte Koushi mehr von Yuda, als er erwartet hätte:   Er redete ohne Punkt und Komma, wenn er einmal angefangen hatte. Und er hatte verblüffend viel zu erzählen! Seine Geschichten drehten sich zu größten Teilen um sein altes Team, und die meisten konnte Koushi gar nicht glauben, so anders klangen sie als das, das er von Seijoh kannte. Allein die Vorstellung von Oikawa, der morgens stundenlang im Bad verbrachte und jammerte, wenn auch nur eine Strähne schief hing… Irgendwie war es schade, dass er nie dazu gekommen war, diese andere Seite von Team Seijoh kennenzulernen. Sie klang so liebenswert!   Er war unglaublich sentimental. Auf halbem Weg durch eine Geschichte darüber, wie im zweiten Schuljahr bei einem Trainingscamp die ehemaligen Drittklässler das erste Mal so richtig bewusst als Freunde zusammen gewesen waren, brach er in Tränen aus und konnte erst weitererzählen, nachdem er sich mehrfach geschnäuzt und das Gesicht trockengerubbelt hatte.   Er war ein furchtbar fantasievoller Kerl mit den verrücktesten Ideen.   „Wir haben geschwänzt“, erzählte er mit einem halb schelmischen, halb schuldbewussten Grinsen, lehnte sich über den Tisch hinweg zu Koushi hinüber, „Eine ganze Woche. Sind einfach abgehauen und rausgefahren – es war großartig!“ Seine Augen glühten vor Begeisterung, und sie schimmerten so feucht, dass Koushi ganz nebenbei sicherheitshalber wieder Taschentücher aus seiner Tasche sammelte. „Es war ein guter Abschied.“ Abschied. Koushis Mundwinkel zuckten. Während Yuda sich versucht unauffällig über die Augen wischte, zog er ein Taschentuch hervor und reichte es seiner neuen Bekanntschaft. Er dankte mit einem schiefen Grinsen, und dann war es still, beide waren sie in ihren Gedanken versunken. Yuda, da war sich Koushi sicher, ließ die Abenteuer, die er und seine Freunde erlebt hatten, Revue passieren. Er selbst musste daran denken, dass sein Abschied von Daichi und Asahi irgendwie beinahe enttäuschend unspektakulär ausgefallen war. Am letzten Schultag hatten sie sich von den Jüngeren verabschiedet, ohne ein größeres Drama draus zu machen. Eine Abschiedsrede, freundschaftliches Schulterklopfen, gute Wünsche und liebe Worte, aber nichts, das größer in Erinnerung bleiben würde. Wie es eben jedes Jahr war. Tanaka hatte trotzdem geheult wie ein Schlosshund. Nishinoya hatte die männlichen Tränen auch nicht mehr zurückhalten können, und Yachi hatte sie sowieso beide noch übertroffen mit ihrem Schluchzen. Selbst Kageyama hatte Tränen in den Augen gehabt.   (Hinata hatte so sehr geheult, dass er sich fast übergeben hatte.)   Es war nichts Besonderes gewesen. Daichi und Asahi hatte er danach noch gesehen, bevor er selbst und Daichi jeweils ihre Studentenbuden bezogen hatten. Ihr letztes Treffen vor dem Umzug war im Supermarkt von Asahis Familie gewesen, wo sie über die Ladentheke hinweg noch ein letztes, freundschaftliches Gespräch geführt hatten, versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben, und natürlich hatte Asahi geheult – Daichi hatte heimlich ein paar Tränen verdrückt, auch wenn er das im Nachhinein immer abstritt. Das war es gewesen. „Wir haben am letzten Schultag noch einmal das ganze Team gepackt und sind einfach… rausgefahren. Mit den Fahrrädern. Irgendwohin.“ Yuda lachte leise. „Wir haben uns total verfahren, sind irgendwo in einem Kaff gelandet, dessen Namen noch keiner von uns gehört hat, haben dort zu Mittag gegessen und sind dann weiter geirrt – bis wir auf die Idee gekommen sind, unsere Handys als Karten zu benutzen, waren unsere Akkus schon leer… Am Ende hat Tooru zuhause angerufen und seine Schwester, seine Mutter, und Hajimes Eltern sind jeweils mit einem Auto gekommen, um uns abzuholen. Sie haben so geschimpft!“ Yuda lachte trotz aller Schimpfe aber herzlich, und er zwinkerte verschwörerisch, bevor er weitersprach: „Wir mussten außerdem jemanden bei Toorus Schwester in den Kofferraum packen, weil einfach nicht genug Platz war.“ So, wie er immer noch grinsen konnte, ging Koushi davon aus, dass die Polizei sie nicht erwischt hatte. „Wir sind dann bis zum Morgengrauen noch auf Alienjagd gegangen, wobei Akira nach einer halben Stunde den Dienst quittiert hat, Yuutarou ihm Gesellschaft geleistet hat, damit er nicht allein im Dunkeln rumhockt, und Hajime irgendwann einen Wutanfall bekommen hat, weil das halbe Team auf Toorus Idee hin ihn zum Alien erklärt hat – und dann die Jagdsaison ausgerufen, natürlich.“   Yudas Erzählung ging noch eine ganze Weile weiter. Sie endete damit, dass ausgerechnet der faule Kunimi – sofern Koushi die Namen noch richtig zuordnen konnte! – Iwaizumi schließlich gefangen hatte und dafür zumindest einen herzlichen Lachanfall seiner Kameraden kassiert hatte.   Es war eine furchtbar schöne Geschichte, und Koushi war furchtbar neidisch.   „Weißt du“, murmelte er nachdenklich, „Ich bereue, dass wir nichts weiter getan haben als… ja. Uns zu verabschieden.“ Yuda sah ihn einen Moment lang mitleidig an. Er zog eine Grimasse und sah kurz so aus, als würde er wieder anfangen zu heulen. Dann grinste er, breit und liebevoll und optimistisch, und Koushi stellte fest, es war ein ansteckendes Grinsen und er mochte es. „Holt es nach!“   Und obwohl Koushi bewusst war, dass es eine dumme Idee war, weil sie schlecht realisierbar war, und es doch einfach viel zu spät war, er erwiderte Yudas Grinsen genauso breit. Zu verlieren hatte er nichts mehr.   „Wieso nicht?“ Kapitel 1: ----------- Als er nach einem langen Unitag müde auf das kleine, durchgesessene Sofa plumpste, das seinen Wohnbereich zierte, hatte Koushi schon einen ganz konkreten Plan, was er wollte. Er musste nicht einmal aufs Handy sehen, als er Daichis Nummer wählte – Kurzwahl war schon etwas Schönes –, sondern kramte währenddessen einen Notizblock hervor, den er mit Sicherheit gleich noch brauchen würde. Wenn sein Freund an sein Telefon ging. Koushi stieß ungeduldig die Luft aus, als das Freizeichen zum zweiten Mal ertönte, und beim dritten Mal begann er, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. „Komm schon, Daichi!“ Daichi kam, beim fünften Klingeln. Koushi unterdrückte das Bedürfnis, ihn dafür  zusammenzustauchen, dass er viel zu lange brauchte, um einen Anruf entgegenzunehmen. Um trotzdem seinen Frust abzubauen ließ er sich schwungvoll gegen die Sofakissen fallen. „Daichi. Es ist ein bisschen spät, aber findest du nicht, wir sollten uns noch gebührend verabschieden?“ Stille. Koushi konnte förmlich hören, wie Daichis Augenbrauen wanderten.  Dann lachte er gutmütig und etwas am anderen Ende der Leitung ächzte – Daichis Bett, als er sich darauf niederließ. „Was hast du vor?“   Koushi brauchte keine fünf Minuten, um seinen eher wenig umfangreichen – aber konkreten – Plan an den Mann zu bringen. Es folgte wieder Stille, bevor Daichi die Luft ausstieß und den Kopf schüttelte – Koushi wusste, dass er den Kopf schüttelte. Es war dieses Kopfschüttelseufzen gewesen, das er gerade geseufzt hatte. „Du hast dir ganz schön was vorgenommen“, kommentierte er in einer Art amüsiertem Unglaube, „Und du meinst wirklich…?“ – „Daaaichi! Sei nicht so.“ Er schnaubte protestierend, fest entschlossen, Daichi gar nicht erst ausreden zu lassen, wenn er versuchte, ihm seinen Plan auszureden. Daichi konnte ein entsetzlicher Dummkopf sein und verrannte sich viel zu oft in den falschen Dingen und Koushi würde nicht zulassen, dass er sich diese Idee kaputt machte, ehe er ihr eine Chance gegeben hatte. „Es wäre schön. Aber es ist gewagt, findest du nicht?“ – „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“, gab er lachend zurück. Er hörte ein weiteres Kopfschütteln, doch er wusste, dass Daichi niemals ehrlich nein sagen würde. Es war nicht, als würde er es nicht auch wollen, und auch wenn es mit Sicherheit weniger aufwändige Methoden gegeben hätte, noch einmal ordentlich Abschied zu nehmen, Koushi war überzeugt, dass seine Idee die Beste war.   Nicht nur für sie, sondern vor allem für ihre Nachfolger.   „Okay.“ Daichi grinste durch den Handylautsprecher, und Koushi konnte nicht anders, als mit zu grinsen. Die erste Hürde war geschafft! Und für Koushi eindeutig die schlimmste; Daichi war sein bester Freund, und hätte Daichi ihm einen Riegel vorgeschoben, wirklich und wahrhaftig gesagt, dass er die ganze Sache völlig bescheuert fand und es auch so gemeint, Koushi hätte es hingenommen. Weil es ohne Daichi einfach nicht mehr dasselbe wäre, selbst wenn er noch weiter an seinem Plan festhielt. Bei allen anderen würde er sich voraussichtlich ganz unbeirrbar über alle Einwände hinwegsetzen. „Okay. Machen wir’s.“ Machen wir’s bedeutete noch einmal eine halbe Stunde, um Koushis wenig durchgeplantem Plan ein solides Fundament in den Boden zu stampfen, und als das Gerüst schließlich stand, war Koushis Notizzettel vollgekritzelt von Notizen und Telefonieschnörkeln. Er kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus, als er auf das kunstvolle Gebilde aus Produktivität und Zuhörlangeweile hinabblickte. Enthusiastisch legte er den Kugelschreiber beiseite und sprang auf. Nach dem langen Telefonat war sein Hals ziemlich trocken und er wollte unbedingt einen schönen, heißen Tee – es war schließlich nicht der letzte Anruf, der ihm bevorstand. „Rufen wir die anderen an!“, flötete er vergnügt ins Mikrofon, ehe er auflegte und die Küchentür mit dem Fuß aufstieß.     ***     „Hi! Hier ist Karasunos Sugawara. Entschuldige die Störung, hast du einen Moment?“ Während Oikawas erste Begrüßung noch ausgesprochen fröhlich – „Yaho~!“ – geklungen hatte, begegnete Koushi nun erst einmal nur Schweigen. Er schürzte die Lippen, abwartend, abwägend. Ob der Kerl einfach wieder auflegte? Nein. Das war nicht Oikawas Art. Hoffte Koushi jedenfalls.   „Woher hast du meine Nummer?“ Ah. Doch, er war noch da. Herablassend, unbegeistert, aber er war noch da, und damit konnte Koushi locker arbeiten. Und das Misstrauen in seiner Stimme war verständlich – wahrscheinlich wäre Koushi selbst auch misstrauisch gewesen, hätte ein ehemaliger Volleyballgegner ihn spontan ohne ersichtlichen Grund angerufen. Vielleicht hätte Koushi ihn aber auch einfach zum Kaffee eingeladen. „Yuda.“ – „Yudacchi ist ein Verräter!“, empörte Oikawa sich. Er klang beleidigt, aber weil er sogar noch Spitznamen benutzen konnte, ging Koushi davon aus, dass es nicht halb so schlimm war.   „…woher kennt ihr euch überhaupt?“ „Uni.“ Wieder eine Pause. Zur Informationsverarbeitung? Koushi atmete langsam durch und tippte mit der Fingerspitze auf seinen Notizzettel, abwartend, nicht ganz so geduldig, wie er gern wäre. Oikawa ließ sich Zeit. Vielleicht sogar absichtlich. „Und, was willst du?“ Koushi grinste triumphierend und lehnte sich entspannt zurück. Damit lag der erste Stolperstein hinter ihm. Oikawa hatte nicht einfach aufgelegt! Wenn er ihm seine Idee jetzt noch schmackhaft machen konnte, hatte er diesen Anruf unter Dach und Fach – und das sollte nicht so schwer sein. Oikawa ließ sich begeistern, nicht wahr?   Ließ er. Koushi musste nicht einmal ausreden, damit er Feuer und Flamme war. „Ich werde Iwa-Chan anrufen!“, verkündete er ausgesprochen begeistert. Etwas am anderen Ende der Leitung rumorte. Koushi stellte sich vor, wie Oikawa aufgesprungen war und begann, durch die Wohnung zu tigern, um seinem Enthusiasmus irgendwie ein Ventil zu bieten. Sehr zu seinem Erstaunen folgte auf den fröhlichen Ausruf aber erst einmal Stille. Es dauerte lange, bis Oikawa sich noch einmal zu Wort meldete, und als er es tat, klang es, als hätte er ziemlich viel Mühe, seine Worte hervorzubringen: „Mir ist noch etwas eingefallen.“ Er klang beleidigt, irgendwie schmollend und unwillig – als würde es ihn große Überwindung kosten, zu sagen, was er gerade sagen wollte. Als würde er da ein Zugeständnis machen, das er niemals machen wollte, aber das er nun doch machte. Vielleicht für sein Team. Vielleicht aus anderen sentimentalen Gründen. Koushi hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung, das so schwer klang, dass er sicher war, es hätte ein Loch in den Boden reißen können. Und es klang resigniert.   „Ich kann noch jemanden mitbringen.“     ***     Der Name auf dem Display verkündete listiger Krähen-Captain, als Tetsurou träge auf sein Handy schielte, das neben ihm über das Sofa vibrierte und klingelte. Interessiert hob er die Augenbrauen und das erste ehrliche Grinsen des Tages – es war ein Scheißtag gewesen! Verdammter Volleyballclub… Wäre er nicht zu stolz, er würde schmeißen – breitete sich auf seinem Gesicht aus. Einfach nur, weil er es konnte, ließ er das Handy noch ein bisschen weiterdudeln, ehe er danach griff und den eingehenden Anruf annahm. „Was für eine Ehre, Captain Krähe. Ich dachte schon, ich hab dir meine Nummer ganz umsonst gegeben.“ „Glaub mir, ich hätte drauf verzichten können“, war die ausgesprochen charmante Antwort, die er bekam. Der ehemalige Krähen-Captain klang aufgesetzt freundlich. Es war so vertraut, dass Tetsurou nur noch mehr grinste, und ganz selbstverständlich verfiel er in einen ähnlich aufgesetzt freundlichen Tonfall: „Aber du hast mich angerufen. Es muss ja mächtig wichtig sein.“ Dass Tetsurou die ganze Sache nicht ernstnahm, hörte man  zur Genüge. Aber zugegeben – neugierig war er. Was brachte diesen Kerl dazu, ihn anzurufen, so völlig aus dem Blauen heraus? Vor allem bedenkend, wie lange er Tetsurous Nummer schon hatte und nicht nutzte! Wäre es das reine, kameradschaftliche Bedürfnis nach einem netten Plausch unter Rivalen, wäre er doch viel früher auf den Plan getreten. Im letzten Schuljahr noch zum Beispiel.   „Kann man so sagen. Willst du dein altes Team nochmal so richtig überraschen?“   Tetsurou blinzelte. Einen Moment lang sah er verdutzt auf sein Handy, nicht ganz sicher, ob er sich da nicht etwas zusammenfantasierte. Was auch immer Captain Krähe da gerade implizierte – es versprach viel zu gut zu werden, als dass er nicht mitmachen würde. „Oya~ Ich bin ganz Ohr, Captain.“     ***     „Nein.“ Es war das zehnte Mal, dass Akinori dieses Wort sagte, seit Bokuto angerufen hatte. Er rieb sich über die Nasenwurzel und machte sich eine mentale Notiz, seine Handynummer zu wechseln – das würde immerhin so lange gut gehen, bis Komi der Verräter sie dann wieder weitergab. Und das würde er. Akinori kannte ihn. Akinori kannte vor allem Bokuto, und er wusste, dass auf lange Sicht niemand Bokuto eine Bitte abschlagen konnte. „Konohaaaa!“, quengelte es vom anderen Ende der Leitung – zum elften Mal. Wobei, gut, es war immer variabel: Mal länger gezogen, mal kürzer, mal extra dramatisch und dann wieder unnötig quengelnd und nervig. Die Abwechslung änderte nur nichts an Akinoris Meinung. Ganz davon ab, dass er sowieso keine Zeit hatte – er hatte ein Date an dem Wochenende, danke auch –, hatte er vor allem keine Lust. „Nein“, wiederholte er wieder. Langsam dämmerte ihm, dass das nicht genug war, um Bokuto ruhig zu stellen, also fügte er noch genervt hinzu: „Ich muss das nicht sehen.“ „Was sehen?“ Eigentlich hätte er es ahnen können. Akinori stöhnte entnervt und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne seines Schreibtischstuhls fallen. Er hatte genug von der Diskussion, ehrlich. Er führte sie seit mehr als einem Jahr mit Bokuto, und immer begann und endete sie gleich. Er könnte sie alleine führen, so sehr kannte er sie auswendig. Es wurde Zeit für eine neue Taktik. „Du weißt ganz genau, was!“, meckerte er seinem Handy zu, dann legte er knallhart auf. Alles andere hätte ohnehin nur dafür gesorgt, dass er sich unnötig aufregte. Er schickte Komi eine Nachricht – Nein. – und schaltete sein Handy dann knallhart aus, bevor Bokuto begriffen hatte, dass das plötzliche Tuten auf seiner Seite des Gesprächs bedeutete, dass Akinori es beendet hatte. Er hatte absolut keine Lust auf diese Aktion.   Er hatte wirklich genug davon, Bokuto und Akaashi beim Knutschen zu erwischen.     ***     Der Stapel an Wörterbüchern und fremdsprachigen Lernmaterialen war beängstigend groß, und so oft Morisuke ihn auch anstarrte, er wurde einfach nicht kleiner. Trotzdem sah er heute seltsamerweise weniger beängstigend aus als die letzten Wochen; er schob es auf Sugas beruhigende Stimme, die durch den Lautsprecher seines Handys über den Schreibtisch zu ihm hinüberwaberte, während er versuchte, dem Fremdsprachenchaos zu einer neuen Ordnung zu verhelfen. Eigentlich hätte Suga gern einfach ewig weiterplappern können, doch irgendwann hielt er inne. Morisuke verkniff sich ein unseliges Seufzen, während er Chinesisch-Wörterbücher und Englischlektüren voneinander trennte. Jetzt im Nachhinein war ihm schleierhaft, wieso er geglaubt hatte, sein altes Ordnungssystem, das er vor kurzem zu Beginn des Semesters eingeführt hatte, würde Sinn machen. „Und?“, hakte Suga nach, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er klang aufgeregt und fröhlich und Morisuke konnte sein Strahlen durch das Handy hindurch hören. Es steckte an und er spürte ein Grinsen an seinem Mundwinkel zupfen.  „Natürlich komm ich mit. Die Gelegenheiten, den Knirpsen nochmal gehörig in den Hintern zu treten, lass ich mir nicht entgehen!“ Niemals.   Ein bisschen grauste ihm davor, zu sehen, wie das Team dieses Jahr funktionierte. Von Kuroo hatte er einiges gehört; Insider-Wissen von Captain Kenma. Es klang nicht negativ, aber trotzdem war er skeptisch. Wie sollte diese nutzlose Bohnenstange Lev denn jemals ernsthaft lernen, dass Volleyball aus mehr als Schmetterbällen bestand, wenn es ihm niemand mehr einprügelte?! Wer hielt denn Yamamoto von seinen Peinlichkeiten ab, jetzt, wo er der Senpai war? Schaffte Kenma das? Wie machte sich Shibayama jetzt als alleiniger Libero? Aber er freute sich darauf, sie wiederzusehen. Am Ende hatten sie wirklich nicht annähernd genug Zeit miteinander gehabt. Apropos Zeit – es würde für Suga sicher nicht angenehm sein, zusätzlich zu aller anderen Organisation auch noch einen Schlafplatz suchen zu müssen, oder?   „Übrigens kannst du bei mir übernachten, wenn du möchtest“, kommentierte er zu seinem Handy hinüber. Besser, als wenn der Kerl versuchte, eine Herberge zu finden. Oder sich irgendwo anders einzuquartieren – bei Kuroo zum Beispiel. Niemand wollte in Kuroos Chaos-Palast schlafen. „Vielen Dank, Yaku-Kun! Das nehm ich gerne an.“ Suga klang beinahe verdächtig sonnig. „Du hast nicht zufällig noch Platz für Daichi?“ Morisuke lachte herzlich. Er sah sich in dem kleinen Ein-Zimmer-Büdchen um, das er in Uni-Nähe gemietet hatte, und das eindeutig nicht groß genug für drei Personen war. Wenn er den beiden das Schlafsofa überließ, konnte er selbst den Gästefuton nehmen. Würde kuschlig werden. Für ein oder zwei Nächte aber durchaus kein Problem. Die Vorstellung, sich hier gemeinsam in den Raum zu quetschen, hatte etwas Amüsantes an sich.   „Immer. Vorausgesetzt, du kümmerst dich dafür ums Essen!“     ***     Nach dem dritten Telefonat schwirrte Daichi schon der Kopf. Kuroo war schlimm gewesen. Fukuroudanis Libero war schlimmer. Er war nicht unglücklich, dass Komi lachend abgesagt hatte mit der Erklärung, dass sein Date ihn umbringen würde, wenn er sich darauf einließ. Von Seijohs Hanamaki hatte er ebenfalls eine Abfuhr kassiert – zu weit weg, zu wenig Zeit; „Übrigens hat mich dein Liebchen schon angerufen.“ – und nun wartete er darauf, dass sein nächstes Opfer abnahm. Er wusste nicht einmal, ob Asahi gerade Zeit hatte, hatte eher auf gut Glück angerufen. Der Laden war noch geöffnet, da war Daichi sich recht sicher. Wobei das bei diesen ganzen kleinen Familienmärkten sowieso so eine Sache war, und das hieß auch nicht, dass Asahi gerade arbeiten musste. „Daichi?“ Asahi hatte Zeit. Wie gut. Weniger gut, dass er jetzt schon klang, als wäre er kurz vorm Heulen. Diese Memme. Aber es war vertraut und das entlockte Daichi ein Lächeln. „Hey. Hast du übernächstes Wochenende Zeit?“ „Was ist denn?“   „Suga und ich haben uns da etwas überlegt…“, begann Daichi zu erläutern. Er rappelte sich von seinem Sitzplatz hoch und streckte sich so ausgiebig, wie das mit einem Handy am Ohr eben möglich war. Während er erzählte, trottete er in die kleine Kochnische hinüber; sein Kaffee sollte so langsam eine trinkbare Temperatur erreicht haben. Ein vorsichtiger Schluck, nachdem seine Erklärung beendet war, bestätigte die Hoffnung. Zufrieden lehnte er sich gegen die kleine Arbeitsplatte, das Handy in der einen und die Kaffeetasse in der anderen Hand. Er war bedenklich still am anderen Ende der Leitung. Daichi ahnte schon, was kommen würde. Er verzog mitleidig das Gesicht. „Asahi?“ Noch einmal Stille, dann ein schweres, müdes Seufzen. Es ließ Asahi viel älter klingen, als er war – der Gedanke, dass es zu seinem Gesicht passte, ließ Daichi kurz grinsen, obwohl er bei allem Mitleid gar nicht so sehr das Bedürfnis nach Grinsereien hatte. Natürlich wollte er Asahi dabei haben. Es war kaum ein Trost, dass sie sich darüber hinaus doch jederzeit sehen konnten, wenn sie Zeit hatten.  „Sorry, ich kann nicht. Ich wäre viel zu gern dabei, aber…“, Asahi brach ab und seufzte schwer. Als er fortfuhr, klang er kleinlaut. „So lange kann ich den Supermarkt nicht allein lassen, ich bin fest eingeplant. Sagt Nishinoya und den anderen einen schönen Gruß von mir?“ Die Absage war nicht das Schlimme. Sie war extrem schade, und es tat Daichi weh, dass sein Freund nicht dabei sein würde. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass hier und dort absagen kommen würden, immerhin standen einige von ihnen nicht nur im Studien–, sondern auch im Berufsleben. Aber irgendwie hatte er fest damit gerechnet, dass es seine engen Freunde nicht treffen würde. Er fuhr sich resignierend mit einer Hand über das Gesicht. Die Absage selbst war wirklich nicht der Grund, dass ihm selbst so schwer ums Herz wurde. Das Schlimme war Asahis Tonfall.   „Bitte heul nicht.“     ***     „Hey hey hey!“ Keijis Mundwinkel zuckten zu einem kurzen Lächeln hoch bei dem Lärm, der aus seinem Handy tönte, kaum, dass er abgehoben hatte. Neben sich sah er, wie sein Vize-Captain Minamishima amüsiert die Augenbrauen hob. Er griff mit beiden Händen in sein zerzaustes Haar, um eine Bokuto-ähnliche Frisur zu imitieren und legte fragend den Kopf schief. Keiji nickte. Sein Gegenüber lachte leise und signalisierte ihm mit einer Geste, dass er den Rest übernehmen würde. Er wandte sich ab, ohne Antwort abzuwarten. Er war nicht laut, aber lebhaft. Obwohl er ständig verschlafen aussah, war Minamishima einer der enthusiastischeren Teile der neuen Startaufstellung. Keiji war schon immer gut mit ihm ausgekommen, was mitunter daran lag, dass Minamishima seinerseits immer gut mit Bokuto ausgekommen war. In einigen Punkten waren sie sich ähnlich. Er war zwar weit von Bokutos Charisma entfernt, aber er war trotzdem gut darin, das Team anzutreiben. Oder, in diesem speziellen Fall, das Team wegzuscheuchen. Keiji sah selten, dass die Umkleide so schnell leer wurde. Jetzt dauerte es keine Minute, bis die schwatzenden Sportler von ihrem Vize-Captain vor die Tür gesetzt worden waren, die mit einem letzten Winken von besagtem Vize-Captain schließlich geschlossen wurde. Er war dankbar darum, und so konnte er sich in aller Ruhe wieder seinem Handy zuwenden, nachdem er eigentlich darauf verzichten konnte, dass Bokuto ihm wieder ins Ohr schrie, weil er nicht genug Reaktion bekam. Dass er überhaupt so lange gewartet hatte, ließ Keiji vermuten, dass Bokuto etwas ausgesprochen wichtiges zu erzählen hatte und dafür nun ungeduldig hibbelnd auf seine volle Aufmerksamkeit wartete. Keiji wusste auch, was er zu erzählen hatte. „Bokuto-San.“ – „Akaashiiiiiiiiiiiiii!!!“ Ich habe dich auch vermisst. Es war so vertraut. Sie telefonierten oft, schrieben Nachrichten, und trotzdem fühlte Keiji sich jedes Mal, als hätten sie sich viel zu lange nicht mehr miteinander beschäftigt. „Ich weiß, Bokuto-San.“ Kurze Stille. Bokuto überlegte vermutlich, worauf Keiji sich nun bezog, es konnte immerhin mehrerlei sein. Schlussendlich kam er zu dem Entschluss, dass, was auch immer es war, dringend eines Protests bedurfte. „Aber–!“ – „Ich weiß es. Übernächstes Wochenende.“   Keiji hatte es sogar schon dreimal gehört: Von Sugawara, von Sawamura, und von Komi.   (Und zweimal war das Training damit gestört worden. Aber nach dem ersten Anruf hatte er beschlossen, sein Handy in Reichweite haben zu wollen für den zweifelsohne irgendwann kommenden Anruf von Bokuto, den er nicht verpassen wollte. Bokuto konnte ziemlich dramatisch werden, wenn man seine Anrufe verpasste, vor allem, wenn sie ihm wichtig waren.)   „Akaashiiiiiiiii! Du kannst Gedankenlesen!!!“ Mal wieder. Keiji verdrehte gutmütig die Augen. Egal, wie oft er Bokuto davon abzubringen versuchte, ein paar Tage später hatte er trotzdem wieder die Überzeugung erreicht, dass Keiji ein Gedankenleser sein musste. „Nein, Bokuto-San.“ – „Doch! Sonst wüsstest du das nicht!“ Es war das gleiche Argument wie immer. Ganz ignorierend, dass die Dinge, die Bokuto als Gedankenlesen auffasste, in der Regel unter Beobachtungsgabe und kausales Denken fielen. Oder, wie in diesem Fall, eine andere, sehr simple und viel naheliegendere Erklärung hätten – die aber auch so banal war, dass sie Bokuto vermutlich einfach zu unspektakulär war, um in Erwägung gezogen zu werden.   „Ich wurde schon angerufen, Bokuto-San.“ „…“ „Bokuto-San?“ „…“ „Ich bin froh, dass du angerufen hast, Bokuto-San.“ „Mein Anruf ist ja auch der Beste, hey hey hey!!!“     ***     Chikara hatte gerade einmal so die Zeit gehabt, den Anruf entgegenzunehmen, bis der Tumult um ihn herum losging: Nishinoya hing auf dem niedrigen Tisch, auf dem sie ihre Lernsachen ausgebreitet hatten, Tanaka beugte sich nicht viel subtiler interessiert vor, und während Narita wenigstens den Anstand hatte, nicht allzu neugierig dreinzuschauen, grinste Kinoshita und wackelte eindeutig zweideutig mit den Augenbrauen. „Deine Freundin?“ Seine Worte lösten eine regelrechte Explosion an Empörung und Unglauben aus. Chikara stieß betont langsam die Luft aus, während ihm aus seinem Handy Gelächter entgegenperlte. „Nein“, erwiderte er schließlich, gerade laut genug, um im allgemeinen Theater zu hören zu sein. Er warf einen mahnenden Blick in Tanakas Richtung – halbwegs erfolgreich – und machte eine Geste in Nishinoyas Richtung, dass der auf seinen Platz zurücksollte – nicht erfolgreich. „Suga-San.“ Vielleicht hätte Chikara lieber behaupten sollen, dass es seine Freundin war.   „Suga-Saaaaaaaaaaaaaaaan!!!“ Das Geschrei wurde noch lauter, genau wie das Gelächter am anderen Ende der Leitung. Chikara fand keines von beidem lustig, wenn er ehrlich war. Es war anstrengend, ein Gespräch zu führen, während ein Haufen Unruhestifter um einen herumscharwenzelten und der Gesprächspartner keine andere Reaktion wusste als zu lachen. Chikara hätte sich ein bisschen Mitleid gewünscht. „Warte bitte kurz, während ich mein Team verprügel“, murmelte er in sein Handy, ehe er es Narita in die Hand drückte – er war immer noch der Vernünftigste der Sippe. Die Anderen würden jetzt erst einmal lernen, dass man telefonierende Captains nicht zu belästigen hatte.   Es dauerte viel zu lange, bis endlich Ruhe einkehrte. Nishinoya brütete beleidigt über seinen Literaturhausaufgaben, auch wenn absehbar war, dass er in fünf Sekunden wieder ganz sein lautes Selbst sein würde; Tanaka hingegen sah furchtbar gewichtig in die Runde, seit er zu der Erkenntnis gekommen war, dass er als Vize-Captain doch für Recht und Ordnung zu sorgen hatte. Kinoshita grinste immer noch, aber wenigstens tat er es schweigend. Mit einem schiefen Grinsen reichte Narita Chikara sein Handy wieder. „So. Ich bin wieder da.“ Suga klang immer noch wahnsinnig amüsiert, als er Chikara zurückbegrüßte und dann zu erzählen begann. Nach wenigen Sekunden schon ruhten vier neugierige Augenpaare auf Chikara, was er sich vermutlich selbst zuzusprechen hatte, denn die Enthüllungen des Anderen ließen sein Gesicht verblüfft entgleisen. Er wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Andererseits… „…okay. Wir sind dabei.“ – „Wirklich?“ Sugas Worte wurden von Nishinoya und Tanaka geechot, die völlig begeistert aussahen, ohne zu wissen, worum es ging. Wie ein paar kleiner Hündchen, die noch nicht wussten, dass sie nur ins Auto durften, um zum Tierarzt zu fahren. „Wirklich.“ Chikara grinste flüchtig, aber bemerkbar genug, dass die Neugier auf den Gesichtern seiner Teamkollegen einer vagen Vorsicht Platz machte. Sie waren nicht zum Spaß hier bei Tanaka versammelt; besonders er und Nishinoya hatten keine guten Abschlussprüfungen hingelegt, und schon hatte der Direktor wieder einmal über ihre Leistungen gemeckert und mit Clubverbot und zusätzlichen Lernstunden gedroht. Das hier war doch eine wunderbare Motivation, um das Lernen zu ermutigen, huh?   „Unter der Bedingung, dass Nishinoya und Tanaka ihre Noten in den Griff kriegen.“ – „Chikaraaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!“     ***     „Ich übernehme das“, verkündete Satori grinsend, nachdem Wakatoshi seine wortkarge Erzählung beendet hatte. Er angelte nach seinem Handy, ohne den stirnrunzelnden Blick seines Mitbewohners irgendwie zu beantworten. Wakatoshi nahm es hin, ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und zog seine Lernunterlagen hervor. So vorbildlich. Satori lümmelte lieber an seinem eigenen Schreibtisch, die Füße hochgelegt, das Handy am Ohr. Wenn die alten Zeitpläne nicht übern Haufen geworfen worden waren, dann sollten seine süßen kleinen Kouhai gerade auf dem Heimweg vom Training sein. Beste Gelegenheit also. Und weil er wusste, dass Tsutomus Handy das lauteste war, rief er natürlich ihn an – und natürlich ließ er ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Yoooo, Tsutomu! Rockst du immer noch den Pottschnitt?“ – „Tendou-San!“ Tsutomu klang gebührend erfreut und begeistert, was Satori zum Grinsen brachte. Er war ja schon süß in seiner Begeisterungsfähigkeit. „Was gibt’s?“ – „Wakatoshi-Kun hat da was geplant… Ihr kommt doch, oder?“ „Immer!!! Wir kommen immer, Tendou-San!“ Natürlich, wenn man Tsutomu fragte. Das war auch so ein Grund, wieso Satori ihn angerufen hatte: Er war viel leichter zu überzeugen als zum Beispiel Neu-Captain Kenjirou.   „Tendou-San. Was. Wird. Das?“   Wenn man vom Teufel spricht~ Leider war es genau dieser Kenjirou, der Tsutomu offenbar sein Handy geklaut hatte und jetzt aus dem Lautsprecher zischte. Er klang alles andere als amüsiert oder begeistert, was Satori ausgesprochen unfair fand. „Awww…“ Wie gemein. „Sei nicht so missmutig, Kenjirou. Dein Haarschnitt ist einfach zu unbalanciert.“ „Tendou-San!“ Klang nicht so, als wäre er zum Scherzen aufgelegt. Hmpf. „Wakatoshi-Kun hat ne Einladung für euch. Es wäre unhöflich, sie nicht anzunehmen, hm?“ Und außerdem war Kenjirou doch immer noch ganz vernarrt in Wakatoshi. Wie auch immer man das sein konnte. Satori verstand es nicht; die junge Liebe war ihm einfach zu fern. „…“ Das Argument zog, das wusste er, noch während Kenjirou eisern schwieg – gerade weil Kenjirou eisern schwieg. Wäre es ihm egal, hätte er längst gegengespuckt. Aber es würde wohl nicht genug sein, um ihn einfach so zu überzeugen. „Wakatoshi-Kun vermisst euch.“ Bestimmt. Auch wenn er das so nicht gesagt hatte. Sollte das nicht reichen, damit Kenjirou einknickte? Dass Wakatoshi ihm gerade einen sehr zweifelnden Blick zuwarf, das ignorierte Satori einfach. Wakatoshi wusste einfach selbst nicht, wie sehr er seine süßen kleinen Kouhai vermisste. „…“ Auf das Schweigen folgte ein Seufzen. Satori grinste – ein gutes Zeichen! „…Wozu?“ Satori grinste noch breiter, ausgesprochen zufrieden. Es ging doch! Mit Tsutomu war es trotzdem lustiger gewesen. Und einfacher. Und die Vorstellung, wie Tsutomu am Ende versuchte, seinen missmutigen Captain zu überzeugen, war einfach zu schön gewesen. Aber immerhin hatte er seine Zusage auch von besagtem missmutigen Captain bekommen. Immer noch grinsend nahm Satori die Füße vom Tisch und lehnte sich amüsiert vor.   „Trainingscamp.“ Kapitel 2: ----------- „Ich habe euch gewarnt.“   Mehr fiel Chikara gar nicht mehr ein, als er zusah, wie zwei seiner Teamkollegen versuchten, sich aus einem wirren Knäuel an Gliedmaßen wieder aufzurichten. Sie waren gestolpert, was eindeutig ihrer Müdigkeit zuzuschreiben war. Während Toriide Osamu innerhalb einiger Sekunden wieder auf den Beinen war und Chikara ein müdes Grinsen zuwarf, blieb sein Zwillingsbruder einfach am Boden sitzen und blinzelte nur träge. Sie waren nicht die einzigen, die aussahen, als würden sie gleich einschlafen. Nishinoya hatte ungewöhnlich dunkle Schatten unter den Augen und Tanaka gähnte im Sekundentakt. Selbst Kageyama und Hinata waren still, weil sie zu müde waren, um groß zu streiten. „Sorry, Captain!“ Osamus Entschuldigung kam völlig verspätet. Er grinste wieder, die Hände nach Tatsuo ausgestreckt, obwohl der keine Anstalten machte, sich aufhelfen zu lassen, sein Blick hing aber immer noch an Chikara. „Wir sind einfach zu nervös zum Schlafen gewesen? Ich meine – das ist unser erstes Trainings-Camp! Und es ist ganz schön krass, dass wir sogar den berühmten Captain Sawamura kennenlernen können!“   Berühmt war womöglich etwas viel gesagt; aber Chikara verstand vollkommen, was der Junge mit dem braunen Wuschelhaar meinte. Obwohl er Daichi kannte, war er mehr als nervös bei dem Gedanken an ihr Wiedersehen. Captain zu sein war eine Sache, mit der Chikara sich inzwischen gut abgefunden hatte. Captain zu sein und zuzusehen, wie Daichi das Team, das nun unter Chikaras Führung stand, kritisieren konnte, war eine ganz andere. Er hatte Angst, nicht gut genug zu sein vor Daichi, der ohne Diskussion der beste Captain seit Jahren gewesen war. „Bei euch versteh ich es ja noch“, murmelte er seufzend, um sich von seinen eigenen Gedanken abzulenken. Auch wenn ein Seitenblick auf den letzten Erstklässler im Bunde zeigte, dass Isshiki ausgesprochen munter und ausgeschlafen aussah, wie er da vor seiner Tasche hockte und sein Gepäck checkte. Als wäre es nicht ohnehin schon viel zu spät, selbst wenn er jetzt merkte, dass er etwas vergessen hatte. Chikaras Blick wanderte weiter, über Nishinoyas Augenringe, Tanakas Gähnen, Hinatas und Kageyamas müdes Schweigen und Narita, der sich gerade wieder über die Augen rieb, die tiefer als Halbmast hingen. Kinoshita winkte mit einem dümmlichen Grinsen, das zu neunzig Prozent aus Müdigkeit bestand. „Aber die da hinten kennen das Prozedere gut genug, dass man meinen sollte, schlafen wäre machbar.“ Sie würden mehrere Stunden fahren, bis sie Tokyo erreichten. Mit einem Bus, der hoffentlich bald kam, gefahren von Coach und Aufsichtslehrer abwechselnd. Mitten in der Nacht, weil das Trainingscamp schon früh am Vormittag begann. Chikara wusste jetzt schon, dass seine Jungs nicht ausgeruht sein würden, selbst wenn sie im Bus noch schlafen konnten.   Er hatte sie gewarnt.   Das Schockierendste war vermutlich, dass ausgerechnet Tsukishima putzmunter und spöttisch grinsend dastand, Yamaguchi neben ihm ebenfalls relativ wach aussehend.   „Chikara, du bist unfair!“ Nishinoyas Protest beendete seine gedankliche Litanei und er warf einen Blick auf den Jungen, der trotz Augenringen aussah, als könnte er die Welt aus den Angeln heben. An Energie mangelte es ihm einfach nie. „Wie sollen wir schlafen können, wenn wir gar nicht wissen, was uns erwartet?! Wir wissen weder, welche Ehemaligen dort sind, noch, welche Teams! Suga-San hat doch gar nichts verraten!“ Was, so wie Chikara seinen ehemaligen Senpai einschätzte, eiskalte Absicht gewesen war. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, während er Nishinoya beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. Es half dabei, ihn von größeren Dummheiten abzubringen, denn obwohl sein Körper schon so angespannt gewesen war, als wäre er bereit, Chikara jeden Moment anzuspringen, verharrte er jetzt gewissermaßen ruhig auf dem Boden.  „Solltest du als Drittklässler nicht erwachsen genug sein, um deine Nervosität unter Kontrolle zu haben? So als Vorbild für die Jüngeren…“ Er hob vielsagend die Augenbrauen. Einen Moment lang sah Nishinoya ihn nur an, begriffsstutzig – eine Nebenwirkung der Müdigkeit, vermutete Chikara –, dann weiteten sich seine Augen in jäher Erkenntnis und er wirbelte herum. Bernsteinfarbene Augen fixierten die müden Trantüten, die sich hier zusammengerottet hatten. Er erwischte genau den richtigen Augenblick, um zu sehen, wie Hinata gegen Kageyama torkelte und damit dafür sorgte, dass sie beide das Gleichgewicht verloren und es ihren Kouhai gleichtaten: Sie landeten unelegant auf dem Boden. „Hinata, du Idiot!“, fauchte es sofort los. Immerhin klang Kageyama wieder wacher, als er empört den kleinen Mittelblocker von sich schob, der mit einem fidelen Satz wieder auf den Beinen war, kaum dass Kageyamas Schubs vergangen war. Chikara konnte so viel Energie nur bewundern, allerdings versprach das nun vor allem sehr, sehr anstrengend zu werden, wo die beiden aus ihrer Müdigkeit gerissen waren. „Du bist doch viel idiotischer!“, zeterte Hinata zurück. Er zeigte anklagend mit dem Finger auf Kageyama, „Was lässt du dich auch von mir umwerfen?! Seit wann bist du denn so schwach?!“ „Sag das nochmal!“ – „Schwach! Du bist schwach, Bakageyama!!!“   Und damit ging es los. Die beiden begannen zu raufen, Nishinoya stürzte sich natürlich sofort auf den Tumult, und Chikara entschied, um seiner Nerven Willen sah er lieber weg als hin. Es war nicht, als könnten sie gerade viel Schaden anrichten und er hoffte, dass die Müdigkeit bald genug wieder zuschlug.   „Ist das immer so?“, fragte eine Stimme neben ihm taktvoll leise. Isshiki blinzelte mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm hinüber. Sie waren auf Augenhöhe, was Chikara auf Anhieb irgendwie sympathisch gewesen war. Hinter dem pickligen Gesicht mit den auffälligen Segelohren versteckte sich ein verblüffend guter Spieler, der es schon vor Ende des ersten Monats in die Startaufstellung geschafft hatte. Seine mauen Aufschläge unterdessen wurden von Yamaguchi und Kinoshita ausgeglichen, die sich zu echten Geheimwaffen entwickelt hatten. Mit einem amüsierten Seufzen sah Chikara zurück auf den seltsamen Haufen, der sein Team sein sollte.   („Komm schon, Tatsu!“, drängte Osamu zum wiederholten Male grinsend und wedelte auffordernd mit den Händen vor seinem Bruder. Tatsuo schüttelte wohl auch zum wiederholten Male den Kopf und wies mit einer vagen Geste auf den Boden. „Komm doch runter.“ Osamu lachte, dann warf er ergeben die Hände in die Luft und ließ sich tatsächlich auf den Boden plumpsen. Tatsuo nahm das zum Anlass, um sich gegen ihn zu lehnen und die Augen zu schließen.)   „Eigentlich nicht. Aber es ist gruselig, die alten Senpai wiederzusehen.“ Der Junge neben ihm mhte nachdenklich, verschränkte die Arme vor der Brust. Einen langen Moment schwieg er, beobachtend, was der Rest des Teams machte, dann kehrte sein Blick zu Chikara zurück. Ein wenig vorsichtig, aber optimistisch. „Ich denke, sie werden stolz sein“, kommentierte er leise. Die Mischung aus Zuversicht und Behutsamkeit in seiner Stimme ließ Chikara flüchtig lächeln.   Im nächsten Moment rumpelte es. Der Lärm vermischte sich mit empörten Ausrufen und Chikara gab jeden Anflug von Zufriedenheit wieder auf, als er sich dem Debakel zuwandte.   Es waren natürlich Hinata und Kageyama – und Nishinoya –, die es geschafft hatten, sich in ihrem Gerangel erneut zu Boden zu befördern. Das für sich war kein Problem. Chikara fand, wer dumm genug war, sich zu raufen, konnte auch alleine wieder hochkommen. Das Problem war eher der gerissene Reißverschluss von Nishinoyas Tasche, deren Inhalt sich fröhlich über den Asphalt verteilt hatte. „N-Nishinoya-Senpai, es tut mir Leid!!!“, rief Hinata sofort panisch aus. Er stand in Rekordzeit wieder, nur um über ein schlecht gefaltetes Handtuch zu stolpern und wieder auf die Nase zu fallen. „Du Idiot, pass doch auf, wo du hinläufst!“ – „Halt die Klappe, Bakageyama! Das ist alles deine Schuld!“ – „Ist es nicht!“ „Der Hofnarr macht seinem Namen wieder alle Ehre“, kommentierte Tsukishima, während er völlig lässig die ruinierte Tasche vom Boden auflas und sie Nishinoya zuwarf. Weil der viel zu sehr damit beschäftigt war, in Tanakas Armen zu zappeln – er hatte ihn geistesgegenwärtig sofort festgehalten, als er Tsukishima herankommen sah –, prallte das Ding nur an seiner Brust ab und fiel wieder zu Boden. Tsukishima lachte, und Yamaguchi grinste ein wenig hilflos, das Gesicht zu einer gutmütigen Grimasse verzogen, die für Chikara schon längst als sein Tsukki macht wieder Unfug, und das tut mir Leid, aber ich steh trotzdem hinter ihm-Ausdruck etabliert war. Isshikis Entschuldigung, dass er Chikara einfach stehen ließ, ging in dem Lärm ziemlich unter, als er zu der Gruppe hinüberlief, genauso wie seine Mahnung, dass sie doch demnächst besser aufpassen sollten.   Es war irgendwie immer das Gleiche mit diesem Team. Kein Tag ohne Desaster.   „Woah–! Captaaaain! Der Bus kommt!“ Osamus Ausruf nahm Chikara die Entscheidung ab, ob er helfen wollte oder sich von dem Chaos lieber fernhielt. Hinter sich hörte er Kinoshitas freudigen Ausruf „Endlich kommt unser Schlafplatz!“, der viel enthusiastischer klang, als er es ihm und seinen schlafmangelbedingten Augenringen zugetraut hätte. Mit einem Kopfschütteln ließ Chikara das ganze Gewühl hinter sich, um ihre erwachsenen Begleitpersonen zu begrüßen, sobald der Bus endlich hielt. Immerhin fanden Nishinoyas Sachen auch ohne seine Anleitung den Weg zurück in seine Tasche, und Osamu schaffte es endlich, seinen Bruder wieder auf die Beine zu ziehen. Tatsuo schwankte einmal, dann machte er sich aus dem stützenden Griff seines Zwillings los und schulterte seine Tasche mit einer so lockeren Professionalität, als wäre er nie müde gewesen. Irgendjemand gähnte. Kurz darauf gähnte es noch einmal, nur aus anderer Richtung. Chikara, obwohl nicht wirklich müde, musste selbst ein Gähnen unterdrücken; es war einfach ansteckend.   Er bezweifelte wirklich, dass die Busfahrt so erholend sein würde. Dass die paar Stündchen Schlaf reichen würden, einen anstrengenden Trainingstag zu überstehen. Es war nicht wirklich sein Problem, und sein Mitleid bei der Vorstellung von übermüdeten Volleyballtrainingsspielen hielt sich in Grenzen. Vielleicht lernten sie sogar daraus und kamen beim nächsten Mal erholter zum Treffpunkt. Chikara würde sie jedenfalls nicht mit Samthandschuhen anfassen – und ihre Gegner noch viel weniger. Er hatte sie gewarnt.     ***     Der einzige Grund, dass er zugesagt hatte, war, dass er immer noch das Gefühl hatte, seinen Senpai etwas schuldig zu sein. Er hätte sich sein Wochenende schöner vorstellen können als damit, zwei ungefähr fünfstündige Busfahrten nach Tokyo und zurück zu unternehmen, und die erste davon mitten in der Nacht, damit sie pünktlich ankamen. Aber wie hätte er Oikawa diese Idee abschlagen können nach der katastrophalen Niederlage der letzten Meisterschaft? Er war es ihnen schuldig. Und obwohl er wirklich keine Lust gehabt hatte und mit einer Miene in den Bus gestiegen war, die an Sauertöpfigkeit nur von Kyoutani übertrumpft wurde, hatte er inzwischen sogar ziemlich seinen Spaß. „Die Story mit der Prügelei wird langsam alt“, kommentierte Kogami mit einem trägen Grinsen. Unter halbgeschlossenen Lidern warf er einen Blick auf das Opfer seiner bösen Ideen. Kusachi gab sich demonstrative Mühe, gar nicht erst in seine Richtung zu blicken; seiner Grimasse nach zu urteilen bemerkte er den Blick seines Kameraden trotzdem. Er fuhr sich nervös mit einer Hand durch das grauschwarze Haar. „Findest du nicht, Shigeru-San?“ Shigeru grinste flüchtig. Kogami war ein Unruhestifter erster Güte, außerdem ein Mädchenschwarm und viel beliebter, als sein mieser Charakter es rechtfertigen durfte – er war wie Oikawa, nur ohne die kindische Attitüde, und dadurch weit weniger anstrengend. „Ich fand sie schon immer unspektakulär“, gab er mit einem Schulterzucken zurück. Die Story mit der Prügelei war Anfang letzten Jahres aus dem Boden geschossen, als die ersten Schüler bemerkt hatten, dass Kusachi eine relativ auffällige Narbe an der Augenbraue hatte. Dazu dann noch der große Körperbau und die nach dem Stimmbruch extrem tief gewordene Stimme, und irgendwie war es zum Volkssport geworden, sich abstruse Gerüchte auszudenken, um seinen Ruf noch mehr zu ruinieren. (Das Beste daran war, dass Kusachi viel zu nett war, um sich zu wehren. Er war ein leichtes Opfer. Selbst Schuld also, fand Shigeru. Er lenkte die Gerüchteküche außerdem damit von Kyoutani und seinem tatsächlich gerüchtewürdigen Verhalten ab, was ganz positiv war, denn als Vize-Captain brauchte er zumindest eine halbwegs erträgliche Reputation.)   Kogami lachte. „Es ist nicht, als hättest du je eine bessere Idee gehabt, Captain“, spöttelte er grinsend. Weil es stimmte und Shigeru auch immer noch keine bessere Idee hatte, konnte er nur mit den Schultern zucken. „Ihr könntet auch einfach aufhören.“ Kusachis Vorschlag klang betont nebensächlich, und er schaffte es, unschuldiger dabei auszusehen als Shigeru auf jedem Kinderfoto, das er hatte. „Wo bliebe denn da der Spaß? Vergiss es, Mikio.“ Shigeru war noch lange nicht oft mit Kogami einer Meinung, aber in diesem Fall stand er voll dahinter. An langen Tagen war die Gerüchteküche eine wunderbare Möglichkeit für ein bisschen Unterhaltung. Und es war doch wirklich nicht schlecht, wenn irgendjemand die negativen Gerüchte innerhalb des Teams für sich hamsterte. „He, Akira, Yuutarou! Habt ihr Ideen?“   Sie waren die einzigen, die noch halbwegs wach aussahen – zumindest Kindaichi. Shigeru hätte gedacht, dass Kunimi schlief, doch der öffnete wie auf Kommando träge ein Auge, als er angesprochen wurde. „Messerstecherei“, kommentierte er nichtssagend trocken. Er erntete einen entsetzten Blick von Kindaichi und ein lautes Lachen von Kogami. „Akira, ich wusste, auf dich ist Verlass!“ – „Halt die Klappe.“ Die Klappe hielt Kogami nicht, aber er ließ Kunimi damit immerhin wieder in Ruhe. Es reichte, damit der zufrieden war und sich wieder bequem zurücklehnte, um weiter zu dösen. Kindaichi warf einen stirnrunzelnden Blick zu Shigeru hinüber. Er musste nicht einmal verbalisieren, was er dachte, es war offensichtlich, dass ihm die Gerüchteschmiede immer noch nicht gefiel. Shigeru zuckte zur Antwort nur mit den Schultern. Kusachi hatte ein dickes Fell.   „Messerstecherei“, griff er lieber das Gespräch wieder auf, statt sich mit Moraldilemmata auseinanderzusetzen. Kogami lehnte sich breit grinsend über den Mittelgang zu Shigeru hinüber. Er strich sich mit einer Hand das hellbraune, leicht gewellte Haar aus der Stirn und sah aus blitzenden Augen zu ihm auf. Objektiv betrachtet konnte Shigeru sehen, wieso die Mädchen auf ihn flogen: Er hatte eine Art von verwegenem Charme, die mitreißend war. Subjektiv war er überhaupt nicht Shigerus Typ. (Schon allein, weil er viel zu männlich war.) „Aber eine richtig extreme“, fügte er hinzu. Seine Finger verflochten sich miteinander und er stützte das Kinn lose auf die Fingerknöchel. „Banden? Yakuza? Motorradgang? Wie wäre es mit einer dieser lächerlichen High-School-Delinquenten-Vereine?“ „Viel zu erbärmlich. Damit macht man sich keinen Ruf.“ Kyoutanis Einmischung kam so unerwartet, dass Shigeru ein paar Mal verdattert blinzelte. Der Kerl saß reglos auf seinem Sitz, die Arme verschränkt, die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, und sah immer noch so aus, als würde er schlafen. Auch als er weitersprach, machte er sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen: „Das sind alles nichts anderes als Versager, die Schule schwänzen, kleine Kinder erschrecken und alte Omas auslachen. Die meisten wissen nicht einmal, wo man hinschlägt, damit es wehtut. Sich mit denen anlegen und ne Narbe davon kassieren? Armutszeugnis.“ Hier und da wurden Blicke getauscht. Es war selten, dass Kyoutanis eigenes Delinquentenwesen so deutlich hervortrat. Einige Erstklässler sahen ernsthaft verschüchtert aus, die anderen Drittklässler eher unbekümmert und die Zweitklässler waren eine Mischung aus ersteren Beiden. Watari verdrehte die Augen, gutmütig allerdings, ehe er sich ein wenig auf dem Sitz herumrückte und seine Tasche als Kopfkissen missbrauchend wieder die Augen schloss. Shigeru selbst hatte sich so langsam daran gewöhnt. Kyoutani würde nie sein bester Freund werden, aber sie konnten zusammenarbeiten. Das reichte. Und wenn Kyoutani doch nicht spurte – Shigeru wusste, dass es nicht lebensgefährlich war, ihm die Stirn zu bieten, und obendrein funktionierte es. Außerdem, auch wenn das Shigeru eher egal war, hatte Kyoutani es geschafft, trotz seiner unfreundlichen Art, Respekt und Anerkennung der anderen zu bekommen – und teilweise sogar Sympathie. „Also“, unterbrach Kogami jede weitere Überlegung amüsiert, „Nachdem Ken-San Schulgangs ausgeschlossen hat… Was machen wir?“   Bis sie sich endgültig entschieden hatten, wo die Messerstecherei herkam – immer wieder mit unterschiedlichen temporären Gesprächspartnern –, war die Busfahrt schon beinahe vorbei.     ***     „Es ist ne gute Übung! Du wirst noch einige Trainingscamps betreuen, also freu dich über die Gelegenheit!“   Kuro hatte es klingen lassen, als müsste Kenma dankbar sein dafür, an einem Samstag in aller Herrgottsfrühe zusammen mit seinem ganzen Team in die Bahn zu steigen und einmal quer durch die Stadt zu fahren. Kuro hatte es klingen lassen, als wäre es ganz großartig, ein Wochenende auf einem Trainingscamp zu verbringen, dessen Organisation sich anhörte als wäre sie löchriger als ein Nudelsieb. (Kuro war an der Organisation beteiligt, es konnte gar nicht allzu organisiert sein.) Kenma war weder dankbar, noch fand er es großartig. Das einzige, worüber er tatsächlich froh war, war die Tatsache, dass die Schule, an der sie sich treffen wollten – die Fukuroudani-Akademie –, nicht am anderen Ende von Japan lag.   Dass sie die Bahnfahrt überhaupt überlebten, war ein Wunder. Zwischendurch waren Lev und Tora so laut, dass Kenma fürchtete, sie würden hochkant aus der Bahn fliegen. Inuoka war auch nicht gerade leise, und Shibayama war schlecht darin, das Team still zu halten. Er mochte Yakus Fähigkeiten geerbt haben, aber ihm fehlte es eindeutig an Durchsetzungsvermögen. Insgesamt war das Team dieses Jahr laut, und es fehlte an Senpai, die wirklich den Antrieb und die Durchschlagskraft hatten, sich Gehör zu verschaffen und Stille zu fordern. Fukunaga sagte nichts, wie immer. Tora war selbst mit einer der Lautesten. Taka, der es jetzt in seinem dritten Jahr endlich in die Startaufstellung geschafft hatte, war ebenfalls weit von leise entfernt und Kenma – Kenma hatte einfach keine Lust, sich unnötig dafür anzustrengen, seinen Willen durchzusetzen. Wenn sie Ärger kriegen wollten, sollten sie sich Ärger einhandeln. Kenma würde nur einschreiten, wenn es wirklich nötig war, alles andere war ihm viel zu aufwändig und energievergeudend.   Träge schlurfte er den Weg vom Bahnsteig bis zu ihrem Ziel entlang. Irgendwo vor ihm stritten Tora und Lev darüber, dass Lev wieder einmal behauptete, das neue Ass zu sein und es endlich in diesem Trainingscamp zu beweisen, irgendwo hinter ihm diskutierten ein paar Erstklässler über eine komische Pannensendung, die sie im Fernsehen verfolgt hatten. Es war anstrengend. „Kenma!“ Angesprochen zu werden war auch anstrengend. Er unterdrückte ein Seufzen, warf einen schrägen Seitenblick zu seinem Gesprächspartner. Überflüssigerweise, er hatte Taka längst an seiner Stimme und seinem fast hüpfenden Gang erkannt. „Sag mal, hat dir Kuroo-San noch irgendwas verraten?“ Die Frage war einfach zu beantworten – Kenma schüttelte den Kopf. Kuro hatte ihm überhaupt nichts verraten, außer, dass er selbst bei dem Trainingscamp zugegen sein würde. Und andere Teams. Dass Fukuroudani dabei sein würde, war allein durch ihre Unterkunft eine logische Schlussfolgerung, doch er bezweifelte, dass Kuro den Rest der Fukuroudani-Trainingsgruppe mobilisiert hatte. Das ergab im Kontext keinen Sinn. „Karasuno kommen“, informierte er dumpf. Shouyou hatte ihm schon vor Tagen eine sehr konfuse Textnachricht geschrieben, die, einmal entschlüsselt, ihn darüber aufgeklärt hatte, dass Karasuno nach Tokyo kamen, und dass ihre ehemalige Captainriege darin involviert war. Vielleicht waren sie nicht die einzigen aus Miyagi, die dabei sein würden. „Karasuno, huh?“, lachte Taka amüsiert. Seine Schritte kamen kurz aus dem Takt, das Rascheln von Stoff ließ Kenma erraten, dass er gerade seine Tasche richtete. „Na. Nachdem sie uns letztes Jahr so fertig gemacht haben… Wird Zeit für Rache!“ „Das sagst du so leicht. Lev ist immer noch schlecht in allem, was kein Schmettern ist. Du kannst Kai nicht das Wasser reichen.“ – „Ouch.“ – „Shouyou sagt, ihr Team sei gut. Und selbst wenn nicht, Zuspieler, Libero und die Nummer Elf werden trotzdem Probleme machen.“ Und Shouyou. Der Gedanke an ihr letztes Spiel ließ für einen kurzen Augenblick etwas in Kenma aufwallen; das Gefühl von erwartungsvoller Aufregung, das mit jedem großen Bosskampf einherging. Shouyou hatte ihn überrascht. Es war erst wenige Monate her, aber Kenma zweifelte nicht daran, dass Shouyou ihn wieder überraschen würde.   „Sei nicht so pessimistisch, Kenma! Du bist ein genauso guter Zuspieler wie dieser Königskerl. Lev wird es lernen, und Shibayama ist verdammt gut darin, seine Lücken auszufüllen! Hab ein bisschen mehr Vertrauen in dein Team. Wir sind hier immerhin nicht bei Hitchcock, so gefährlich wird das Federvieh nicht sein.“ Kenma seufzte. Er würdigte Taka gar keiner Antwort, sondern schlurfte nur mit einem nichtssagenden Ton weiter. Er war zu laut gewesen, eindeutig, denn kaum, dass Taka still war, wehte dafür Levs lautes Organ herüber. „Kenma-San! Diesmal zeigen wir diesen Krähen, was ein wahres Ass ist!“ – „OI! Hör endlich auf zu spinnen, Grünschnabel! Ich bin das einzige Ass hier!“ „Shouyou wird eher ein Ass werden als du, Lev.“ – „Kenma-San!!!“ Tora grinste zufrieden. Lev sah geknickt aus, was Kenma völlig egal war. Shibayama war sofort zur Stelle, um sein riesiges Sorgenkind wieder aufzubauen, und keine Minute später klebte auch Inuoka an dem kleinen Grüppchen. Nächstes Jahr würden sie unzertrennlich sein. Wahrscheinlich war es gut fürs Team. Ein Handyklingeln gab Kenma einen Grund, sich komplett von dem Tumult abzuwenden und Taka und sein Geplapper hinter sich zu lassen – oder eher vor sich, denn es war weit weniger anstrengend, sich zurückfallen zu lassen. Seine Mundwinkel zuckten kurz, als er die gerade eingetrudelte Nachricht las.   Kenma!!!!!! Bald sind wir da!!!!!!!! Seid ihr auch schon da???     ***     Tut mir Leid, Akaashi-Kun~ Bei uns Erwachsenen ist keiner dabei, der die Zeit hat, um zu kochen.   Kuroo klang nicht, als würde es ihm leidtun. Keiji verkniff sich ein Seufzen, steckte sein Handy zurück in seine Hosentasche und signalisierte Suzumeda mit einem Kopfschütteln, dass ihre Hoffnung zerschlagen war. Das Mädchen seufzte, dann stemmte sie die Hände in die Hüften. „Ich kann alleine kochen, kein Problem. Aber… dann wird es ewig dauern. Wäre Yacchan wenigstens mitgekommen…“ Sie zuckte mit den Schultern und grimassierte unzufrieden. „Und Yukie-San kann auch nicht.“ – „Ich helfe.“ Es war nicht das erste Mal, dass Minamishima seine Hilfe anbot. Suzumeda hob aber sofort wieder abwehrend die Hände. „Nichts da! Du wirst trainieren, Minami-San! Ich weiß das sehr zu schätzen, glaub mir das, aber überanstreng dich nicht!“ Er schüttelte nur den Kopf. Keiji verstand auch nicht, weshalb es ein so großes Drama war. Minamishima half öfter beim Kochen, sobald sie auf Selbstversorgung angewiesen waren, und Keiji wusste, dass er deshalb bei den Mädchen ziemlich hoch im Kurs stand. Vielleicht war es eine verdrehte Form von Ehrgefühl. Vielleicht lag es daran, dass seine Hilfe sich üblicherweise nur auf Kleinigkeiten belief, weil die Küchenarbeit schon gut aufgeteilt war. Jetzt zu helfen würde schließlich weit mehr Aufwand für ihn bedeuten. „Wenn Minamin helfen will, soll er helfen“, kommentierte Nishiame unbekümmert. Er lümmelte auf dem Tisch, um den herum sie saßen und grinste breit und träge, „Ich meine, im Ernst! Er hat sein Training noch nie schleifen lassen fürs Kochen, und dann bist du nicht die ganze Zeit so alleine, Suzu-Chan! Und du tust ihm obendrein etwas Gutes damit, wenn du ihn von etwaigen Strafaufgaben befreist.“   „Ich bin nicht begeistert“, schnaufte Suzumeda noch einmal kopfschüttelnd. Sie sah nicht ganz überzeugt aus, aber auch nicht geneigt, noch weiter zu debattieren; das Gespräch drehte sich auch schon lange genug im Kreis. „Aber okay. Wenn er Zeit hat, soll er helfen! Ich sag da bestimmt nicht nein.“ „Wofür dann das Drama? Musstest du jetzt einen extra guten Eindruck hinterlassen, indem du ganz selbstlos seine Hilfe ausschlägst?“ Eine graue Augenbraue hob sich spöttisch, während Kurowa sich von seinem Platz erhob. Er sah nicht gerade warmherzig zu Suzumeda hinüber, die empört die Wangen aufblies, ihn dann aber mit einem weiteren Schnaufen einfach ignorierte. Die ersten Wochen hatte Kurowa mit seiner Attitüde noch einiges an Ärger provoziert, aber inzwischen war das ganze Team an seine bissigen Sticheleien gewöhnt und kaum jemand nahm die Gemeinheiten des Erstklässlers noch für bare Münze. „Sei nicht so gemein, Kurorin~! Ah-! Aber apropos. Kommt unser Ass wieder zu spät?“ Kurowa sah nicht aus, als bedauere er den abrupten Gesprächswechsel. Er ignorierte Nishiame, während er die Küchentür ansteuerte. Die Antwort auf die Frage kam in Form eines Kopfschüttelns von einem weiteren Erstklässler. „Sein Motorrad steht draußen“, erklärte Shima achselzuckend. Er saß gar nicht erst, sondern stand an einen Schrank gelehnt mit verschränkten Armen da, „Wahrscheinlich ist er wieder irgendwo, wo er Ruhe hat.“ – „Wiieee immer. Ich geh ihn suchen!“ Und schon war Nishiame aufgesprungen. Er grinste herzlich in die Runde, ehe er sich ein Reisbällchen von ihrem gemeinsamen Frühstück packte und davonwuselte. Er zeterte darüber, dass Marei sicher noch nichts gegessen hatte; es klang immer wie das empörte Zwitschern eines kleinen Vogels. „Er übertreibt mal wieder“, kommentierte Onaga schmunzelnd und Shima antwortete mit einem Lachen: „Und dafür lieben wir ihn doch! Na komm, du willst dich doch nicht bei den Spaßbremsen einreihen, oder?“ – „Was? Nein! Bokuto-San wäre viel zu enttäuscht!“   Sie hatten schon fast eine Stunde miteinander verbracht, ohne Bokuto zu erwähnen. Es war beinahe ein neuer Rekord. Keiji grinste versteckt. Bokuto, obwohl nicht mehr Teil des Teams, war immer noch das zentrale Gesprächsthema. Seien es die jetzigen Drittklässler oder die Zweitklässler, jeder, der Bokuto noch live erlebt hatte, trug nun seine Legende weiter und die Bokuto-Anekdoten waren ein elementarer Teil des Trainings geworden. Keiji war froh darum. Bokuto war, egal wie anstrengend er gewesen war, immer ein fundamentaler Stützpfeiler des Teams gewesen, und er war immer wichtig gewesen für alle Teammitglieder seines Jahrgangs und darunter. Dass er nach seinem letzten Schuljahr einfach so verschwand, hatte Keiji nie gepasst – und nun war er immer noch da, in Form alberner Anekdoten und Erzählungen, Witzchen und Insiderscherzen, die vermutlich auch dann noch überdauern würden, wenn niemand mehr so recht verstand, warum sie eigentlich lustig waren und ihr tatsächlicher Ursprung schon verloren gegangen war. Es war ein tröstlicher Gedanke.   Tröstlicher als der Lärm, der vom Flur her hereinkam und im ersten Moment eher erschreckend war: Knallende Türen, polternde Schritte, und ganz automatisch verstummten die Gespräche am Tisch. Für einen kurzen Moment herrschte fast ungläubige Stille im Raum, dann kehrte Leben in die Anwesenden zurück. Suzumeda grinste, Minamishima lachte leise in sich hinein, während Onaga und Shima beide begeisterte Blicke tauschten. Keiji kam gerade noch dazu, aufzustehen und sich der Küchentür zuzuwenden, bevor sie lautstark und viel zu energiegeladen aufflog. Er hätte den Anblick um nichts in der Welt verpassen wollen.   „Hey hey hey! Ich bin zurück!“     ***     Es war neun Uhr morgens, als sie nach einer unnötigen Pause für reisekrankheitsbedingte Kotzerei endlich aus dem Bus stiegen. Um neun Uhr dreißig waren sie in der Sporthalle, in der sie den Großteil des restlichen Tages verbringen würden. Sie waren nicht die einzigen. Nekoma. Fukuroudani. Aoba Jousai. Karasuno. Alle noch mit ihren individuellen Aufwärmroutinen beschäftigt. „Diese Kombi ist bescheuert“, meckerte Sakase zum dritten Mal, seit er die Sporthalle betreten hatte. Er warf einen vernichtenden Blick in Richtung Aoba Jousai, der von einem relativ hochgewachsenen Schönling aufgefangen und mit einem lächelnden Winken beantwortet wurde. Der Libero schnaubte angewidert und wandte sich empört ab. „Jeder weiß, dass Aoba Jousai nichts können und nur wegen Oikawa-San überhaupt so weit gekommen sind! Was machen ausgerechnet die hier?! Und von Karasuno will ich gar nicht erst anfangen!“ – „Beruhig dich, beruhig dich“, säuselte Fukumine mit einem Grinsen, das so falsch war, dass man blind sein musste, um seine Falschheit zu übersehen. Er legte Sakase eine Hand auf die Schulter und tätschelte sie kameradschaftlich, genau wissend, dass er solche Gesten hasste. „Es braucht eben auch immer Spreu, von der man den Weizen trennen kann.“ Sakase schnaubte missgelaunt. Er schubste die Hand auf seiner Schulter weg und sah den hochgewachsenen Jungen neben sich eisig an. „Ich dachte, dafür haben wir dich, Shou?“ Kenjirou verkniff sich ein genervtes Seufzen, als die beiden Störenfriede in ihre übliche Routine aus schlecht als Hohn und Spott getarnten Flirtereien verfielen.   Es war neun Uhr dreißig und Ushijima Wakatoshi, der einzige Grund, weshalb sie hier waren, fehlte immer noch. Stattdessen war Kenjirou jetzt mit einem Team geschlagen, das viel zu aufgekratzt war, mit zwei nervigen Streithähnen und einem Goshiki, der alle fünf Sekunden den Blick zur Sporthallentür wandern ließ, als wolle er bloß Ushijimas großen Auftritt nicht verpassen. Es war alles Tendous Schuld. Kenjirou hätte es ihm gern heimgezahlt. Aber andererseits war eine Gelegenheit, Ushijima wiederzusehen, eine gute Gelegenheit, also vielleicht hatte Tendou so etwas wie Gnade verdient. Zumindest in Maßen. „Kanoo! Kümmer dich um die beiden Streithähne!“, befahl er einem hochgewachsenen, stämmigen Zweitklässler. Der antwortete mit einem gemütlichen Lachen, völlig unbekümmert. Er hatte schon im letzten Jahr ein Talent dafür gezeigt, nervige Teamkameraden von Dummheiten abzuhalten, und seit Sakase Anfang des Schuljahres dazugekommen war und sich innerhalb von wenigen Tagen zu Fukumines größtem Feind und bestem Freund entwickelt hatte, hatte er definitiv immer etwas zu tun. Kenjirou sah nicht einmal zu, wie Kanoo die beiden auseinander zog, sondern wandte sich ab in dem sicheren Wissen, dass er jetzt seinen Frieden haben würde. Dankenswerterweise konnte der Rest des Teams mit mehr sinnvollem Verhalten glänzen.   „Sakase-Kun hat Recht.“ Kenjirou warf einen unzufriedenen Blick in Richtung des neuen Störenfriedes. Ninouchi war sich offenbar keiner Schuld bewusst. Er rückte sich steif die Brille zurecht und sah aufmerksam zu ihm hinunter. „Bisherige Daten erwecken wirklich den Eindruck, dass Aoba Jousai dieses Jahr bedeutend schwächer sein wird als letztes, und gleiches gilt für Karasuno. Die mögen letztes Jahr überraschend gewesen sein, aber damit ist es jetzt auch vorbei. Es dürfte kaum lohnenswert sein, mit solchen Teams zu trainieren.“ – „Völlig egal“, gab Kenjirou achselzuckend zurück, „Training ist in jedem Fall besser als kein Training, und selbst wenn diese Typen nichts können, können wir immer noch von den letztjährigen Schulabschließern profitieren.“ Zugegeben, er hatte wenig Lust auf ein Match gegen Karasuno. Das letzte lag ihm noch unangenehm im Magen, und so sehr er es ihnen heimzahlen wollte, er ahnte, dass es in unnötigem Terror von diversen hitzköpfigen Idioten enden würde. (Er zählte sich nicht mit.) „Es wird uns keinen Trainingsvorteil bieten, gegen diese Teams zu spielen“, beharrte Ninouchi stur. Kenjirou verdrehte nur die Augen.   „Mach deine Aufwärmübungen. Wenn wir auch nur ein Spiel gegen Seijoh oder Karasuno verlieren, bist du Schuld.“ – „Captain, das ist nicht fair. Wenn wir verlieren, ist das eine Sache, die das ganze Team zu verantwort–“ – „Du sagst, sie können nichts, also wirst du es ausbaden.“ Kenjirou zuckte schadenfroh mit den Schultern. Er grinste, als tatsächlich endlich eine vertraute, hochgewachsene und kräftige Gestalt durch die offene Sporthallentür trat. Unter Goshikis Freudenrufen warf er einen gehässigen Seitenblick zu Ninouchi hinüber.   „Gib dir Mühe, dass es nicht so weit kommt.“ Kapitel 3: ----------- Ohne ihren Großkönig waren Seijoh nicht mehr so angsteinflößend. Natürlich waren sie immer noch angsteinflößend, aber ohne Oikawa waren sie eben nicht mehr so angsteinflößend. Der Anblick des Schalottenkopfs war sogar eher seltsam beruhigend, fand Shouyou. Es hätte helfen können, aber seine Augen wanderten immer zu einem der anderen Spieler weiter. Letztes Jahr hatte er ihn nie bemerkt. Jetzt fiel er auf, der hochgewachsene Kerl mit dem grimmig wirkenden, kantigen Gesicht und der Narbe über dem Auge. „Oi. Kageyama. Kennst du den?“ Kageyama sah auf, erst zu Shouyou, dann seinem Fingerzeig folgend zu dem fremden Spieler. Er hob die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf. „Wieso sollte ich den kennen, du Idiot?“ – „Ja weil!“ Kageyama kannte doch so viele von Seijohs Spielern! Shouyou schnitt ihm eine rüde Grimasse, ehe er sich wieder abwandte. Ihr erstes Trainingsmatch des Tages würde gegen Seijoh sein. Ohne Oikawa, denn der hatte sich mit den anderen Ex-Schülern zu einem Team zusammengetan. Zu einem Team, das so gwah! war, dass Shouyou sich kaum traute, zu ihnen zu sehen. Ushiwaka und Oikawa in einem Team! Das war – woah! Shouyou wollte gegen sie spielen. Aber die Regeln ihres Trainingscamps besagten, dass nur die Gesamtsieger jeden Trainingsblocks würden spielen dürfen. Jeder Block umfasste zwei Stunden. Shouyou wollte. Aber dafür musste er die Hürde, die gerade vor seiner Nase war, überwinden. Seijoh. Sein Blick wanderte zurück zu dem anderen Team. Blieb kurz an Kindaichi hängen, dessen grimmiger Blick seit letztem Winter gar nicht mehr so grimmig aussah für Shouyou, dann wanderte er weiter, über einen hübschen Kerl mit unangenehmem Grinsen – und blieb an der Narbe hängen. Wieder. Shouyou schluckte.   „Ist auffällig, huh?“ – „WAAAAAAAH!“ Die fremde Stimme ließ ihn völlig zusammenschrecken. Ihm gegenüber auf der anderen Seite des Netzes stand der Grinsekerl, drei Finger seiner rechten Hand lässig in das Volleyballnetz  eingehängt. So aus der Nähe war sein Grinsen unheilverkündend genug, dass Shouyou spürte, wie sein Körper ihn wieder einmal daran erinnerte, wieso Toiletten erfunden worden waren. „Aww. Hab ich dich erschreckt? Sorry, sorry~“, er lachte, ein Laut, der Shouyou die Haare zu Berge stehen ließ. Braune Augen blickten ihn von oben bis unten an, während das Grinsen des fremden Jungen wuchs und wuchs. „Du bist ja nicht besonders groß, huh?“ – „Haaah?! Sag das nochmal, wenn ich dich fertig gemacht habe!!!“   Aus irgendeinem Grund fand der Kerl das so unglaublich lustig, dass er beinahe Tränen lachte.   „Jedenfalls“, begann er schließlich, immer noch schwang ein Lachen in seiner Stimme mit, „Wegen der Narbe. Wüsstest wohl gern, wo die herkommt, huh?“ Shouyou wollte es leugnen. Aber sein Blick wanderte sofort zurück zu dem Narbengesicht, das gerade unwillig die Stirn runzelte und dabei ein bisschen so aussah, als würde es gerade planen, einen Mord zu begehen. Er schüttelte den Kopf. Hielt inne. Nickte dann aber doch, fast trotzig. Er würde sich nicht einschüchtern lassen! „Ich bin Hinata Shouyou! Erzähl mir bitte, wo die Narbe herkommt!“ – „Kogami Teruo. Der Kerl mit der Narbe ist Kusachi.“ Kogami lachte. Er klang viel zu lässig. „Kusachi-Sama, würde ich dir raten. Ich war natürlich nicht dabei, aber wenn man glauben darf, was gemunkelt wird, hat er die Narbe von einem internen Konflikt der Yakuza.“ „Intern“, echote Shouyou, spürend, wie Panik sich in ihm breit machte. „Intern?!“ „Jo. Die Kusachi-Familie sind angeblich ziemlich hohe Tiere. Wenn ich du wäre, würde ich aufpassen, was ich tue. Die letzten, die uns besiegt haben, hatten ein paar Tage später einen tragischen Unfall…“   Shouyou hatte seine Sprache noch lange nicht wiedergefunden, auch als Kogami längst vom Netz zurückgetreten war. Er winkte in Richtung Shiratorizawa, ehe er zu seinem Captain aufschloss.   „Oi. Idiot.“ Diesmal schrie Shouyou von dem unerwarteten Angesprochenwerden immerhin nicht auf. „K-Kageyama?! Was willst du?“ – „Du hast dir nichts von dem Typen einreden lassen, oder?“ – „D-das–“ Kageyamas Blick wurde ungläubig, er hob herausfordernd eine Augenbraue. Er wartete nur darauf, dass Shouyou eine Dummheit zugab, damit er darauf herumhacken konnte – wie immer. Den Gefallen wollte er ihm allerdings nicht tun. Nur – natürlich hatte ihn das eingeschüchtert! Die Yakuza waren aber auch verdammt gefährlich! Er fand nur nicht die passenden Worte, um das Kageyama auch begreiflich zu machen. Ein hilfesuchender Blick in die Runde seiner Kameraden brachte auch keinen Aufschluss – nur Tsukishimas eisiges, gefährliches Grinsen. Shouyou bereute augenblicklich, sich umgesehen zu haben.   „Oh bitte, Hinata. Bevor du dich nun einscheißt wegen solcher albernen Geschichten… überleg dir lieber, was dein Team mit dir anstellt, wenn wir deinetwegen verlieren.“     ***     Am Ende des ersten Blocks waren es Fukuroudani, die die Ehre bekamen, gegen die Ehemaligen zu spielen. Alle anderen Teams durften eine zusätzliche Runde Strafläufe hinter sich bringen, nach denen sie alle außer Atem waren; das Spiel in der Halle lief noch. Die ersten paar Minuten waren noch interessant mit anzusehen, doch die schiere, überwältigende Differenz im Spiel der beiden Teams wurde so schnell so offensichtlich, dass es Shou jeden Spaß daran nahm, es zu verfolgen. Und ehrlich. Es gab interessanteres. „Schmachtest du wieder dein Liebchen an?“, spöttelte er Koharu entgegen, dessen Blick wie so oft an diesem Tag auf der kleinen Menschentraube Seijoh lag, die Augenbrauen streng zusammengezogen und das Gesicht zu einer unbegeisterten Fratze verzogen. Sofort zuckte der Blick des kleinen Kerls zu ihm hoch und die großen Augen verengten sich zu Schlitzen, die sogar beinahe gefährlich aussahen. „Eifersüchtig, Shou?“ Shou lachte herzlich, wuschelte Koharu durch das Haar – er kassierte dafür einen groben Schubs. „Warum denn? Schlussendlich kommst du ja doch wieder weinend zu mir.“ – „Träum weiter!“ „Aber mal im Ernst“, griff er den ursprünglichen Gesprächsfaden wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust, „Was ist das für ein Kauz? Seit wir hier sind, starrst du ihn an, als wolltest du ihn mit Blicken erdolchen.“ Koharu gab ein Schnaufen von sich, das in Shous Ohren stark nach das wäre viel zu wenig schmerzhaft klang.   „Wir waren auf der gleichen Mittelschule“, gab er achselzuckend zurück. Er tat nonchalant, aber es war unübersehbar, wie viel Ärger da noch brodelte. Es klang, als lägen unter der Oberfläche zahlreiche ausführliche Tratschgeschichten verborgen. Shou fand es unglaublich unterhaltend. Kurzentschlossen packte er Koharu am Unterarm und zog ihn mit sich – „Wir sollten ihm hallo sagen!“ Alle gezeterten Proteste ignorierte er mit völliger Selbstverständlichkeit, so wie er in der Regel alles ignorierte, was Koharu von ihm wollte. Es war Teil ihrer Freundschaft, genauso wie Koharu ihm schon in den nicht einmal vollen zwei Monaten, die er Teil des Teams war, mehr als zehn Mal seinen Glücksbringer geklaut hatte. Nur, wenn es nicht wichtig war. So viel Verstand hatte der kleine Giftzwerg. Sonst wäre Shou auch gar nicht mit ihm befreundet.   „Ich schwöre dir, wenn du nicht sofort mit dem Mist aufhörst…!“ – „Entspann dich, kleiner Drachen~“   Koharu entspannte nicht. Er spuckte immer noch gewissermaßen Feuer, als sie bei den Seijoh-Leuten ankamen. Shou grinste demonstrativ freundlich und winkte in die Runde. „Huhu~ Koharus Mittelschul-Kollege-Kun~!“ Der Schönling mit dem breiten, aufgesetzten Grinsen wandte sich ihnen zu und grinste nur noch breiter. Während er seinem Team offenbar übermittelte, dass er sich ein Weilchen verkrümeln würde, kehrte Shous Blick zu dem Volleyballspiel zurück. Es war wirklich unfair. Fukuroudani waren ein verdammt gutes Team, das hatte er am eigenen Leib erfahren, aber die Älteren steckten sie mühelos in die Tasche. Ushiwaka war dabei. Es mochte Einbildung sein, aber Shou war sich sicher, dass Oikawas Zuspiele noch um Längen besser waren für ihn als Shirabus. Ushiwaka war mächtiger denn je, wie er da auf dem Feld stand und Schmetterball über Schmetterball übers Netz beförderte, so mühelos, als wäre gar nichts dabei. Das ganze Team schien überdurchschnittlich zu sein. Oder Oikawa war einfach sehr gut darin, sie überdurchschnittlich zu orchestrieren. Shou war gar nicht einmal so scharf darauf, gegen sie zu spielen.   „Ich bin hier.“ Die Stimme des schmierigen Schönlings ließ Shou wieder von dem Spiel wegsehen. Er erwiderte das Grinsen des Fremden genauso breit und aufgesetzt gut gelaunt. „Wie nett von dir~ Weißt du, Koharu hat dich einfach vermisst, er wollte dringend hallo sagen.“ – „Hab ich–!“ Koharu brach mitten im Protest ab, wutschnaubend. Der Schönling lachte. Es klang herzlicher, als es wohl gemeint war. „Koharu. Gib es zu. Du hast es doch vermisst, einen Loser fürs kosmische Gleichgewicht bei dir zu haben.“ Keine Sekunde ließ Shou sein Gegenüber aus den Augen. Sein Grinsen flackerte kurz, ehe es nur noch breiter wurde. Er würdigte Shou keines Blickes, während er sich übertrieben demonstrativ zu Koharu hinunterlehnte. Er sah aus wie ein alter Onkel, der mit seinem süßen kleinen Neffen sprach. „Immer noch so klein, hm?“, fragte er in einem Tonfall, der an spöttelnder Liebenswürdigkeit nicht mehr zu übertreffen war, „Immerhin ist dein Freund da ein bisschen besser gebaut als du.“ – „DU HAST KEINE AHNUNG, KOGAMI!“ Ah. Da war also der Name des Typen. Kogami. Schmiergesicht gefiel Shou allerdings besser.   „Yo, Schmiergesicht-Kun~ Was weißt du schon davon, wie ich gebaut bin.“ Nicht, dass du das gemeint has– Shou verlor seinen Gedanken mittendrin, als Kogamis Blick eindeutig an ihm hinabwanderte. Er blieb knapp unterhalb seiner Körpermitte hängen, dann sah der Kerl wieder hinauf, die halbgeschlossenen Augen funkelten boshaft. „Korrigier mich, wenn ich falsch liege.“ „Keine Schwanzvergleiche“, stöhnte Koharu entnervt, „Niemand will deinen kleinen Freund sehen, Teru.“ „Du willst es.“   Shou machte sich nicht die Mühe, Koharu zurückzuhalten, als der sich mit einem Wutschrei auf Kogami stürzte. Eher im Gegenteil. Weil er so ein guter Freund war, stand er ihm natürlich tatkräftig zur Seite.     ***     Es kann sein, dass ich später komme.   Tooru starrte die Nachricht auf seinem Handydisplay an, als hätte sie ihn persönlich zutiefst beleidigt. Sie war gestern Abend um Sieben geschrieben worden, seitdem war sein Handy still gewesen. Heute Morgen war er versucht gewesen, eine Antwort zu schreiben – Wann kommst du? Er hatte es gelassen. Halb aus Beleidigung, weil Iwa-Chan ihm nicht von sich aus die nötigen Informationen zukommen ließ, halb weil er sowieso fest davon überzeugt war, dass Iwa-Chan auftauchen würde. Vielleicht mit ein bisschen Verspätung, aber er würde da sein. Dann hatte das Training begonnen. Und wieder aufgehört, weil es Zeit fürs Mittagessen wurde.   Jetzt saßen sie beim Mittagessen, verteilt um die Tische in der Schulmensa, und überall waren Lärm und Gelächter, während Tooru auf sein Handy hinunterstarrte, als hätte es ihn persönlich zutiefst beleidigt, und darauf wartete, dass Iwa-Chan aufgrund irgendeiner tiefen telepathischen Verbindung begriff, dass er sich jetzt und sofort zu melden hatte, wenn er Toorus Enttäuschung und Zorn noch mildern wollte.   Iwa-Chan war noch nie ein guter Telepath gewesen.   Toorus Handy klingelte erst, als er längst wieder beim Training war. Er sah es in einer Pause, in der er nicht gerade damit beschäftigt war, den Zuspielern der anderen Teams zu zeigen, wieso er besser war als sie. (Tobio ignorierte er dabei, so gut es ging. Immer noch.) Ein verpasster Anruf. Er musste nicht zurückrufen, um zu wissen, was das bedeutete. Trotzdem bedeutete er Bokkun, der ihm gerade am Nächsten war, dass er hinausgehen würde. Irritierte Eulenaugen musterten ihn einen Moment, bevor der Kerl nur mit den Schultern zockte und ihn gehen ließ. Vor der Tür zur Sporthalle ließ er sich in die Hocke sinken, ehe er Iwa-Chans Nummer wählte und das Handy ans Ohr drückte. Er wollte Iwa-Chan zumindest eine Chance geben. Eine. „Oikawa–“ Iwa-Chan klang… erleichtert. Schuldbewusst. Unzufrieden. Tooru presste die Lippen zusammen und versuchte, nicht daran zu denken, dass es das erste Mal seit zwei Wochen war, dass er mit Iwa-Chan sprach. „Du bist nicht hier“, stellte er säuerlich heraus. Am anderen Ende der Leitung wurde Luft ausgestoßen. Es war still. Dann, ganz leise, „Ich weiß.“   „Warum?“ Schon in dem Moment, in dem er fragte, wusste Tooru, dass er die Antwort nicht hören wollte. Er ließ den Kopf nach hinten gegen die raue Fassade der Sporthalle sacken und schloss die Augen. Iwa-Chan erklärte, aber Tooru blendete seine Worte völlig aus, konzentrierte sich nur auf den vertrauten Klang der Stimme, die so durch den Lautsprecher eines Handys überhaupt nicht mehr so vertraut klingen wollte, wie sie eigentlich sollte. Wann hatte er Iwa-Chan das letzte Mal gesehen? Es musste zu ihrer letzten Abschiedsfeier gewesen sein… Danach war alles so schnell gegangen. Umziehen. Ein neues Leben anfangen. Sendai und Shibata lagen zu weit auseinander. „…es tut mir wirklich leid, Oikawa.“ Blinzelnd öffnete Tooru die Augen wieder. Der Himmel über ihm war blau. In der Nähe stand ein riesiger alter Baum, dessen Blätter im Sonnenlicht glänzten. Es erinnerte ihn an den Baum, unter dem er mit den anderen Jungs kurz vor Schuljahresende Shicchis alberne Zeitkapsel vergraben hatte. Es machte Tooru nur noch wütender. „Ich wollte wirklich noch einmal mit dir spielen.“ Es machte Tooru nur noch wütender. Hätte Iwa-Chan es wirklich gewollt– Er schnaubte, fuhr mit einem Ruck wieder hoch. „Keine Sorge, du fehlst hier nicht“, erwiderte er eisig. Was er eigentlich meinte, war ich vermisse dich. Aber er war wütend, er wollte sich diese Blöße nicht geben. Übers Telefon würde Iwa-Chan seine Lüge nicht so einfach hören.   „Ushiwaka ist eh besser als du.“   Und das war es. Die letzten Worte, die Tooru sagte, eher er das erste Gespräch seit zwei Wochen mit Iwa-Chan beendete, sein Handy ausschaltete und in die Sporthalle zurückstapfte.     ***     Der Trainingstag verging viel zu schnell. Keiji hatte das Gefühl, sie hatten kaum angefangen, da rief Suzumeda zum Abendessen und es war plötzlich vorbei. All die Zeit hatte er Bokutos laute Stimme im Ohr, und es war fast, als wäre alles wieder wie früher. Keiji konnte vergessen, dass Bokuto nicht mehr Teil des Teams Fukuroudani war. Solange, bis er ihm auf dem Feld gegenüberstand. Es war das befremdlichste Gefühl gewesen. Keiji war erleichtert. Irgendwie. Oikawa war ein brillanter Zuspieler, der fähig war, das Beste aus Bokuto herauszuholen und mit ihm zu arbeiten, wie er es verdient hatte. Aber gleichzeitig war unglaublich bitter, so nahtlos ersetzt worden zu sein. Dass Bokuto in seiner gedankenlosen Begeisterung auch davon schwärmte, wie großartig Oikawa war – „Aber Akaashi ist viel besser, hey hey hey!!!“ –, hatte es nicht wirklich besser gemacht. Es war ein Tag voller gemischter Emotionen, und trotzdem bedauerte Keiji es, dass er irgendwann vorbei war. Es bedeutete, dass Bokuto bald in seine eigene Wohnung zurückkehren würde. Dass sie die Nacht doch getrennt verbringen würden, was so gar nicht zum Trainingscampgefühl passen wollte.   „Akaashi!“   Keiji hielt inne darin, die große Spülmaschine einzuräumen. Er hatte sich freiwillig bereiterklärt, nach dem Abendessen das Geschirr zu machen, weil er die niveaulose, monotone Arbeit mochte. Er trocknete die Hände an einem Geschirrtuch ab, ehe er sich zu Bokuto umwandte, der ihn breit anstrahlte. „Bokuto-San. Ich bezweifle, dass du helfen willst.“ Seine Antwort war lautes, schamloses Lachen. Er kam näher, legte lose einen Arm um Keijis Hüften und zog ihn enger an sich. Er ließ es geschehen, weil es der erste wirkliche Körperkontakt seit einer Woche war. „Akaashiiii… ich hab dich vermisst.“ – „Ich dich auch.“ Keiji konnte nicht ausdrücken, wie sehr. Sie sahen sich oft, mindestens jedes Wochenende, aber trotzdem war es etwas ganz anderes als noch zu den Zeiten, als sie gewissermaßen Tag und Nacht miteinander verbracht hatten. Er lehnte sich in Bokutos Umarmung, erlaubte sich einen Moment, um die Nähe zum anderen zu genießen, die Augen zu schließen und die ganze Welt einfach Welt sein zu lassen. Irgendwann einmal war ihm Bokuto aufdringlich gewesen in seiner Art, körperlich Zuneigung zu zeigen. Umarmungen, Küsse, Berührungen zu den unmöglichsten Zeiten. Inzwischen wusste er jedes zufällige Streifen ihrer Hände zu schätzen.   Eine zweite Hand legte sich auf seinen Rücken. Sie streichelte, harmlos, sanft, seine Wirbelsäule hinauf und wieder hinunter, bis sie sich im Saum seines Shirts verfing. Natürlich.   „Bokuto-San. Nein.“ „Aber Akaashi…“ Er klang nicht halb so weinerlich, wie Keiji es gern gehabt hätte. Bokutos Stimme war eine Oktave tiefer, als er sie gewohntermaßen hörte, Bokutos Lippen waren zu nah an seinem Ohr, um noch wirklich unschuldig zu sein. „Nein“, wiederholte er noch einmal, fester. Löste sich von Bokuto, damit er ihn ansehen konnte. Die goldenen Eulenaugen standen auf eine Art auf Halbmast, die ihm etwas beinahe verwegenes gab. Keiji kannte diesen Blick zur Genüge. „Nein. Nicht in Gesellschaft, das weißt du.“ Bokutos Blick sagte, dass ja, er es wusste, und dass es ihm obendrein völlig egal war. Der Griff in Keijis Rücken wurde stärker statt schwächer, und einen Moment später fand er sich der Länge nach an Bokutos Körper gedrückt. „Wir haben nur die Wochenenden!“, protestierte der Ältere. Ein leiser Nachhall seines üblichen Jammerns schlich sich in seinen Tonfall. Keiji klammerte sich an diesen leisen Nachhall, weil das es so viel einfacher machte, den rauen Klang von Bokutos Stimme zu ignorieren. „Außerdem ist Konoha gar nicht hier!“ – „Das ist kein Argument.“ – „Aber Akaashi…“ Und da waren die fremden Lippen wieder. Streiften über sein Ohr, seine Wange, trieben ihm Schauder über den Rücken, die er gern unterdrückt hätte, aber nicht unterdrücken konnte. Keijis Kopf arbeitete auf Hochtouren. Ein Abweisen konnte einen ziemlich heftigen Emo-Modus zur Folge haben, außer, er schaffte es, Bokuto so weit abzulenken und zu vertrösten, dass er auf ganz andere Gedanken kam. Was, zugegeben, ganz schön schwer war. Bokutos eingleisiges Denken war besonders in solchen Fällen unglaublich anstrengend. Das Argument, dass er nach Hause musste, würde kaum helfen. Das Argument, dass er einen Gast zu versorgen hatte, auch nicht.   „Bokkun! Kommst du endlich? Ich will gehen!“   Oikawas Stimme klang gedämpft durch die geschlossene Küchentür. Keiji war froh, dass Bokuto sich mit dem Zuspieler angefreundet hatte, keine Frage. Trotzdem war er nicht glücklich, an die Anwesenheit des jungen Mannes erinnert worden zu sein. Bokuto reagierte auf den genervten Ruf. Unwillig grimassierend ließ er von Keiji ab. „Ich k–“ – „Bokuto-San ist beschäftigt!“ Es war ein Impuls. Nichts, über das Keiji näher nachgedacht hätte, und erst jetzt, wo Bokuto ihn mit diesen großen, ungläubigen Augen hoffnungsvoll ansah, wurde ihm bewusst, welche Implikationen seine Worte hatten. Er konnte sie nicht zurücknehmen. Und er wollte es auch gar nicht. Draußen meckerte Oikawa, dass Bokuto sich gefälligst beeilen sollte. Er sei drüben im Schlafraum von Seijoh. Und hatte er schon erwähnt, dass Bokuto sich beeilen sollte? Bokutos Blick war von ungläubig hoffnungsvoll auf erwartungsvoll und hungrig gewechselt, als Oikawas Meckerflut verklang.     Keiji küsste ihn, ehe er es sich anders überlegen konnte.     ***     „Du musst“, beteuerte Sou mit einem kräftigen Nicken. Yuuki echote die Bewegung, „Ganz genau! Du weißt nicht, wann du ihn wiedersiehst!“ Lev blinzelte. Dann blinzelte er noch einmal. Yuuki holte tief Luft und stemmte die Hände in die Hüften. Er hatte das mit Sou jetzt tagelang besprochen, seit er wusste, dass sie Yaku wiedersehen würden. „Du musst“, bekräftigte er noch einmal. Lev blinzelte wieder. Dann lachte er. Ein ehrliches, freundliches Lachen. Yuuki fühlte sich nicht ausgelacht. „Macht ihr euch Sorgen um mein Liebesleben?“ – „Natürlich!“, war die Antwort, die wie aus der Pistole geschossen im Chor kam. Lev lachte wieder, und weil es immer noch nicht bösartig klang, war Yuuki ihm auch nicht böse. „Keine Sorge. Ein Ass weiß, was ein Ass zu tun hat! Kümmert euch lieber um eure eigenen Liebesangelegenheiten~“ Obwohl Levs grinsendes Gesicht einen eindeutig wissenden Ausdruck an sich hatte, als er von Yuuki zu Sou und wieder zurück sah, verstand Yuuki nicht im Geringsten, was sein großgewachsener Freund von ihm wollte. Es schien auch nicht so wichtig zu sein, denn Lev lachte nur noch einmal auf, ehe er sich erhob und verkündete, dass er nun seinen Pflichten als Ass nachkommen würde.   Ohne, dass er hörte, worum es ging, begann Taketora zu zetern. Yuuki grinste. Es war so vertraut. „Viel Glück!“, rief er Lev hinterher, ehe er selbst los lief, um Taketora davon abzuhalten, Dinge zu ruinieren, die er nicht ruinieren sollte. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Vize-Captain wieder ganz beruhigt war, aber schließlich konnte Yuuki sich mit einem Seufzen zurück auf seinen Futon werfen und den Kopf schütteln. Sou grinste ihn breit an. Kurz darauf zerfiel sein Grinsen in einem ratlosen Stirnrunzeln.   „Hast du ne Ahnung, was Lev wollte?“ – „Nicht im Geringsten…“     ***     Zwischen Morisukes Augenbrauen war eine Falte, die so steil war, dass er sie selbst spürte. Suga und Sawamura hatten sich mit einem freundlichen Lächeln zurückgezogen, als Lev angekommen war, um zu verkünden, dass er etwas super Wichtiges zu sagen hatte. Seitdem war Morisuke jetzt mit ihm alleine, stand mitten in einem Flur in einer Schule, die er öfter von innen gesehen hatte, als er zu Beginn seines ersten Schuljahres erwartet hätte. Levs Grinsen war beunruhigend. „Was?“, fragte er schließlich, als die Stille ihm zu dumm wurde. Er wusste nicht, was er erwarten sollte. Wahrscheinlich, dass Lev ihm irgendeinen Unfug erzählte, den Morisuke gar nicht erst hören wollte. Vielleicht wollte er prahlen, weil er irgendetwas geschafft hatte.   „Ich mag dich.“   Das war nicht, was Morisuke erwartet hatte. Sein Magen krampfte unangenehm, und mit einem Mal kamen ihm tausend gute Gründe in den Kopf, wieso das eine dumme Idee war. Die Distanz. Die Tatsache, dass Lev immer noch mehr Kind als erwachsener Mensch war, während Morisuke gar keine andere Wahl mehr hatte, als erwachsen zu sein. Der Altersunterschied. Ihr Geschlecht. Selbst der Größenunterschied klang nach einem guten Argument für ein Nein. „Was“, wiederholte er noch einmal, so verdutzt, dass er es nicht einmal schaffte, es wie eine Frage klingen zu lassen. Levs riesige Katzenaugen sahen immer noch auf ihn hinunter, reglos, ohne zu blinzeln, und das Grinsen war immer noch da. Es war immer noch da, als wäre er immer noch völlig überzeugt, dass er erreichen würde, wofür er hergekommen war. „Ich mag dich“, wiederholte Lev. Er ließ es klingen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, eine logische Konsequenz aus Dingen, die Morisuke einfach nicht sah. „Geh mit mir aus, Yaku-San.“   Es war surreal. Das künstliche Licht des Schulflurs half nicht dabei, dem Ganzen das Gefühl von schlechtem Traum zu nehmen, während Morisuke irgendwo in Levs Gesicht nach Anzeichen dafür suchte, dass er sich verhört hatte oder fehlinterpretierte. Nichts.   „Nein.“   Nein. Das war alles, was ihm dazu einfiel. Nein, weil es dumm war, und gedankenlos, und überhaupt nicht in Morisukes Zukunftspläne passte, weil Morisuke anderes zu tun hatte, als eine Beziehung zu pflegen, die objektiv betrachtet einfach eine dumme Idee war, und weil er gar nicht darüber nachdenken wollte, ob Lev nicht eigentlich eine Chance hätte, wenn er sei ihm nur einräumte. Das Grinsen zerfiel. Es dauerte einen langen Moment, indem es einfach eingefroren verharrte, doch dann verschwand es, und Levs Mund wirkte auf einmal so viel kleiner, die Mundwinkel nach unten gezogen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, die Stirn runzelte sich. Er wirkte verständnislos. „Gib mir eine Chance“, beharrte er. Er trat einen Schritt vor, Morisuke einen Schritt zurück, und die neue Intensität, die in Levs Blick lag, machte überhaupt nichts besser. „Nein“, wiederholte er noch einmal. Er holte tief Luft. „Nein. Ich will nicht mir dir zusammen sein.“   Ich mag dich nicht.   „Yaku-San.“ Levs Stimme klang so ruhig, dass es schon gefährlich schien. Unbeirrbar stand er da, sah auf Morisuke hinunter, abwartend, unnachgiebig, als würde sich an Morisukes Meinung etwas ändern, wenn er sie nur lang genug aussaß. Noch ein Kopfschütteln später hatte sich an Levs Haltung nichts geändert. „Nein.“ Langsam schien ihm zu dämmern, dass Morisuke es ernst meinte. Er nickte. Langsam, bedächtig. Entschlossen.   „Okay. Ich werde nicht aufgeben, Yaku-San.“     ***     Koushi hätte nicht gedacht, dass nicht einmal zwei Monate wirklich eine so lange Zeit sein konnten. All die Zeit früher war es selbstverständlich gewesen, dass man sich teilweise auch länger nicht sah, dass man sich eben veränderte, während man sich sah, aber als er jetzt sah, dass Daichi dringend wieder einen Haarschnitt brauchte, wurde ihm ganz schwer ums Herz und er fühlte sich, als hätte er viel zu viel im Leben seines Freundes verpasst und nicht nur ein paar Wochen. Yaku auf der anderen Seite sah noch genauso aus wie das letzte Mal, als Koushi ihn gesehen hatte, und der Gedanke war den ganzen Tag lang sein kleiner Rettungsring gewesen, und er würde es auch Morgen noch sein. Es war alles so seltsam! Auch, das neue Team zu sehen, hatte eher gemischte Gefühle in ihm ausgelöst. Er war glücklich, dass sie miteinander funktionierten und harmonierten, und dass die Neulinge selbst mit den anstrengenderen Leuten wie Tsukishima zurechtkamen, aber gleichzeitig war es diese gemeine Erinnerung daran, dass Koushi keinen Platz mehr in diesem Team hatte. Dass seine Zeit endgültig vorbei war, und es war – deprimierend. Keine Frage, es war eine gute Idee gewesen, dieses Trainingscamp auf die Beine zu stellen. Koushi hatte nur nicht erwartet, wie sentimental es ihn machen würde.   „Du siehst aus, als würdest du dir wieder zu viele Gedanken machen.“ Daichis Kommentar ließ Koushis Blick von seinem Kaffee hochwandern. Yaku kam gerade aus der winzigen Küche seiner genauso winzigen Wohnung. Er hatte Zucker in ein kleines Schüsselchen gekippt, weil er keine Zuckerdose hatte und Daichi aber auch nicht einfach ein Paket Zucker hatte auf den Tisch stellen wollen. Er ließ sich in einen alt aussehenden Sessel plumpsen und warf einen interessierten Blick in die Runde. „Hab ich was verpasst?“ – „Nichts, außer, dass Suga zu viel nachdenkt.“ „Tu ich nicht!“ Koushi seufzte. Er nippte an seinem Kaffee, dann stellte er die Tasse auf den Tisch zurück und stützte das Kinn auf eine Hand. „Aber findet ihr das nicht auch einfach… ne? Es ist, als würde man zusehen, wie die eigenen Kinder erwachsen werden!“ Daichi lachte, weil er Koushis Ausdruck eindeutig ein bisschen zu übertrieben fand, Yakus Blick hingegen wurde weich und verständnisvoll. „Kenmas Ansatz wird immer größer. Bald ist die Farbe rausgewachsen.“ Er klang genau so, wie Koushi sich fühlte – sentimental und ein bisschen verloren, weil diese große Konstante High-School-Leben einfach nicht mehr existierte und plötzlich alles, was einmal unter einen Hut gefasst gewesen war, individuell für sich stand: Alte Freunde waren keine tägliche Selbstverständlichkeit mehr, und man sah sich nicht mehr ganz automatisch. Wenn Koushi noch Kontakt zu irgendjemandem wollte, musste er ihn bewusst suchen, statt dass er einfach darauf wartete, am Morgen vor dem Schultor auf vertraute Gesichter zu treffen.   Es machte ihn ein bisschen neidisch, dass seine ehemaligen Kouhai diesen Luxus noch hatten.   „Ihr benehmt euch dramatisch“, kommentierte Daichi mit einem liebevollen Grinsen. Koushi sah ihn skeptisch an, während er den bestimmt schon vierten Löffel Zucker in seinen Kaffee rieseln ließ, ohne groß darauf zu achten. Sein Blick war mit einem warmen Lächeln auf Koushi gerichtet. „Wir sind nicht aus der Welt. Wir können sie jederzeit wiedersehen, wenn der Terminplan es zulässt. Und sollten wir nicht froh sein, dass die Teams ohne uns funktionieren?“ Etwas Schiefes lag in Daichis Grinsen. Für einen Moment schlug Koushi beschämt die Augen nieder, als ihm bewusst wurde, dass das auch so ein Punkt war, der in ihm vorging – ein winziger, egoistischer Teil von ihm hatte sich gewünscht, dass er eine sichtbare Lücke hinterließ. Es war erleichternd, dass Daichi diesen gemeinen kleinen Wunsch teilte. Und beneidenswert, dass er mutig genug war, es auszusprechen. „Shibayama macht seinen Job besser, als ich erwartet habe.“ Yaku klang ehrlich stolz. Und ein bisschen wehmütig. Koushi verzog mitfühlend das Gesicht. Für ihn war es gewissermaßen noch einfach, schließlich war er schon letztes Jahr größtenteils ersetzt gewesen. Aber Yaku als zentraler Stützpfeiler des Teams… es musste schwer sein, da jetzt jemand anderen zu sehen, der seinen Platz einnahm und gut ausfüllte. Gleiches galt für Daichi. Das Thema war deprimierend. Kopfschüttelnd griff Koushi noch einmal nach seiner Kaffeetasse, ließ seinen Blick durch die kleine Wohnung schweifen, um sich abzulenken. Ein Zimmer, Küche, Bad. Typische Studentenbude mit haufenweise Lernmaterialien auf dem Schreibtisch. Ein kleiner Fernseher stand in einer Ecke und sah dort so ungeliebt aus, dass Koushi ahnte, dass er meistens ausgeschaltet blieb. Das Bett war halb hinter einem Regal verborgen. Auf einem Fensterbrett stand eine einsame Topfpflanze. Ein Volleyball lag auf einem niedrigen Schrank, daneben eine Sporttasche. Der Anblick entlockte Koushi ein sanftes Lächeln; in seiner Wohnung sah es nicht anders aus. „Spielt ihr noch?“ Nicht nur privat, hobbymäßig, ab und zu. An der Uni. Koushi hatte sich noch nicht entschieden, ob er wirklich wieder in den Club wollte. Er hatte erst sehen wollen, ob er mit dem Lernpensum hinterherkommen konnte. (Konnte er. Vielleicht waren es auch ein Stück weit Unsicherheit und Feigheit.) Yakus Blick ging automatisch zu dem Volleyball auf seinem Schrank, dann nickte er. Natürlich spielte er noch, schnaubte er empört; er sah nicht ein, aufzuhören, außerdem würde er Lev nicht mehr ernsthaft in den Hintern treten können, wenn er sein eigenes Training schleifen ließ! Seine Logik ließ Koushi schmunzeln. „Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich weitermachen soll“, gestand Daichi nach einer kurzen Pause. Er grinste ein bisschen verlegen, und in seinen Augen sah Koushi die Erinnerung an die Dummheit, schon nach der Interhigh aus dem Team austreten zu wollen. Er seufzte leise, schüttelte dann den Kopf. „Aber – ich will nicht aufhören. Ich will spielen. Vielleicht sehen wir uns alle mal bei einem Turnier wieder. Vielleicht habe ich nächstes Jahr wieder ein paar der alten Gesichter am Hals. Vielleicht auch nicht. Aber es gehört einfach dazu. Wenn ich fertig bin und weiß, dass ich in der Nähe lande, werde ich es wie Asahi machen und mich dem Nachbarschaftsverein vom Coach anschließen.“   Eigentlich hatte Koushi andere Pläne gehabt. Aber die Aussicht darauf, dazu zurückzukehren, mit Asahi und Daichi in einem Team zu sein, ließ ihn alle Vorstellungen und Überlegungen über den Haufen werfen.   „Ich mache mit!“   Und bis dahin würde das Uni-Team genügen müssen. Er wollte schließlich nicht als Einziger völlig aus der Übung sein! Kapitel 4: ----------- Der Anblick war so nostalgisch, dass Tetsurou nicht aufhören konnte, zu grinsen. Kenma saß auf seinem Futon, die Nase in seiner PSP vergraben. Hinata hockte trotzdem bei ihm und erzählte gerade wild gestikulierend von den neuen Erstklässlern in seinem Team, klagte über ihre Größe, pries ihre Fähigkeiten an. Seit Tetsurou begonnen hatte, zu beobachten, hatte Kenma kaum zweimal den Mund aufgemacht, aber dass er sich überhaupt beteiligte bei jemandem, den er nicht auf täglicher Basis sah und dadurch gut kannte, war immer wieder ein seltsam beruhigender Anblick. In einer anderen Ecke des Raumes hatten sich Shibayama, Inuoka und Lev zusammengerottet. Vor einigen Minuten war Fukuroudanis neuer Libero aufgeschlagen, zusammen mit Karasunos Libero und dem hochgewachsenen Erstklässler, der im nächsten Jahr den Job übernehmen würde, sowie Seijohs Libero. Sie hatten Knabberkram mitgebracht – Tetsurou hatte beinahe aufgelacht, weil es ihn so sehr an Komis schlechte Angewohnheiten erinnerte – und saßen jetzt zusammen, knabbernd und in ein lautstarkes, fröhliches Gespräch vertieft. Yaku hätte wahrscheinlich nur zu gerne teilgehabt, aber der war schon seit einer Weile verschwunden, hatte Sawamura und seinen ehemaligen Vize mitgeschleppt, damit sie trotz weitem Heimweg nicht viel zu spät ankamen. Und zugegeben, wahrscheinlich wäre Lev auch ein Grund gewesen, um Yaku vom Mitreden abzuhalten. Wenn er die viel zu laute Unterhaltung der Zweitklässler richtig belauscht hatte, hatte der kleine Dämon heute schon fleißig Körbe verteilt. Na, zumindest einen. Einen gewaltigen.   Eigentlich hatte Tetsurou auch längst losgewollt. Er vermutete, sein Gast wollte es auch, aber es war schwer, auf Ushiwakas Gesicht irgendetwas zu lesen, das über arrogante Ablehnung hinausging. Kenma könnte ihm vermutlich im Detail erzählen, was in dem Hünen vor sich ging; Tetsurou sparte es sich, ihn zu fragen. Er hatte nichtssagend seine Einwilligung gebrummt, als Tetsurou verkündet hatte, auf Bokuto warten zu wollen, und damit hatte er nun mit seiner Einwilligung zu leben.   Es konnte nicht ewig dauern, was auch immer Bokuto gerade trieb.   Und bis dahin nutzte Tetsurou die Zeit gerne, um einfach zu verinnerlichen, dass sein Team noch funktionierte, dass er ein gutes Erbe hinterlassen hatte, dass Kenma weit besser klarkam als Captain, als der es je erwartet hatte. Bei aller Fremdeinschätzung, Kenma war absolut lausig darin, sich selbst wirklich einzuschätzen. Er traute sich schlussendlich einfach viel zu wenig zu. Aber jetzt, wo Tetsurou einen Tag mit dem neuen Team Nekoma verbracht hatte, war er sich sicher, dass es die beste Idee gewesen war, die er je gehabt hatte, die Jungs dazu zu ermutigen, Kenma zu wählen. Tetsurou war stolz auf ihn. „He, Ushiwaka.“ Er grinste, als er seinen Begleiter ansah, der abwartend neben ihm an der Wand lehnte. Nur kurz sah er hinüber, dann ging sein Blick wieder stoisch nach vorn. Es reichte Tetsurou als Signal, weiterplaudern zu dürfen. „Bist du zufrieden?“ Es gab Fragen, die musste man gar nicht ausformulieren, davon war Tetsurou überzeugt. Er mochte kein Sprachgenie sein, aber das war eine Botschaft, die auch dann ankam, wenn man nicht ausholte, wovon man eigentlich sprach. Heute hatten alle Ehemaligen das Gleiche gedacht. Ushiwaka gab einen leisen Laut von sich, tonlos, nichtssagend. Er verschränkte die Arme vor der Brust, würdigte Tetsurou immer noch kaum eines weiteren Blickes. Trotzdem war sich Tetsurou sicher – Wunschdenken? –, dass er so etwas wie Anerkennung in dem starren Blick erkannte. „Sie sind gut.“   Ein wenig erinnerte Ushiwaka ihn an Kenma in dieser Sache – nur wenige Worte, aber sie hinterließen Wirkung. Es war aber auch das Gleiche, das Kenma über sein Team sagen würde – und es steckte die gleiche Botschaft dahinter: Sie sind extrem stark. Tetsurou hätte gern weitergequatscht, aber draußen auf dem Flur hörte er die vertrauten, viel zu lauten Schritte von Bokuto. Die herannahende Ankunft des Anderen ließ ihn zufrieden grinsen. Er stieß sich von der Wand ab, schob die Hände in die Hosentaschen. „Wir gehen jetzt“, informierte er Ushiwaka, ehe er sich an den bunten Haufen im Raum wandte. „Yo, Nekoma! Wir sehen uns morgen! Macht es uns gefälligst nicht mehr ganz so leicht, den Boden mit euch zu wischen!“ Er erntete Protestrufe und Gelächter, einen müden Blick von Kenma und Empörung ausgerechnet von Karasunos Chibi, der lautstark verkündete, wie gwah und woah Nekoma doch waren. Weil Inuoka sofort einstimmte, kapitulierte Tetsurou. Mit einem Grinsen, das fast schadenfroh zu nennen war, winkte er Kenma, der sich ruhig alleine mit den beiden Plappermäulern auseinandersetzen durfte, dann ließ er Nekomas Schlafraum hinter sich, um Bokuto zu begrüßen. Der übrigens viel zu breit und viel zu zufrieden grinste, was Tetsurou ahnen ließ, wo die Verspätung herkam. Jetzt fehlte nur noch Oikawa. „Bro~ Wo hast du deinen Gast gelassen?“ – „Der ist bei seinem Team! Ich wollte ihn eigentlich holen, aber ich hab vergessen, wo die pennen.“ Eigentlich sollten sie losgehen, um Oikawa zu holen, aber Bokuto ließ sich von dem Lärm, der aus Nekomas Schlafsaal drang, ablenken und blinzelte interessiert auf die inzwischen geschlossene Tür. Ein paar Sekunden starrte er einfach nur, dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen.   „Bro… Das ist voll unfair, dass wir nicht hier pennen können.“ Tetsurou schnaubte leise. War es. Aber es war schon genug, dass sie als Außenstehende überhaupt die Schule benutzen durften. Er verstand schon, dass die Verwaltung das nicht auch noch über Nacht haben wollte, dass ein paar verrückter Studenten sich auf dem Gelände herumtrieben. Aber ja. Er fand es auch unfair. „Gruppenübernachtungen sind einfach viel cooler, huh?“ Blöde Spiele, nächtliche Mutproben, das Gezeter, wenn irgendwer nachts aufs Klo musste und seinem Schlafnachbarn versehentlich irgendwo gegentrat, wo es wehtat – es gehörte zum Trainingscampgefühl genauso dazu wie gemeinsame Mahlzeiten, quälende Strafaufgaben und schweißtreibendes Training selbst. Für Tetsurou war es auch befremdlich, jetzt nach Hause zu gehen. Vorhin, als Yaku sich verabschiedet hatte, hatte er einen Moment ausgesehen, als wäre er den Tränen nah. Sie waren wohl alle nicht ganz glücklich damit. Außer Ushiwaka. Den schien überhaupt nichts stören zu können.   „Hey hey hey!!!“   Bokutos jäher Ausruf ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. In den goldenen Eulenaugen lag das irre Funkeln einer wahnsinnig dummen Idee, und ohne zu wissen, was genau Bokuto von ihm wollte, war Tetsurou schon aus vollem Herzen überzeugt von der Idee. Dieser Blick bedeutete Großes. „Wir machen unsere eigene Trainingscampübernachtung, Kuroo! Wir nehmen Oikawa und Ushiwaka mit! Und dann rufen wir Yakkun an, dann haben wir unser ganzes Team zusammen, hey hey hey!“ Es war genauso irre, wie Tetsurou es sich vorgestellt hatte, und er grinste selbst wie der Wahnsinn persönlich. „Das ist perfekt.“ Das klang doch viel, viel besser, als jetzt getrennte Wege zu gehen. Irgendwie schämte Tetsurou sich glatt, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein, aber ohne Bokutos verrückte Brillanz, die an jedem logisch-praktischen Denken vorbeiging, wäre er wohl nicht darauf gekommen. Immerhin, Einzimmerwohnungen waren nicht gerade dafür bekannt, sieben Leute beherbergen zu können. Aber sollte ihn das kümmern? Ushiwaka sah zwar aus, als wäre er in etwas besonders ekliges getreten, aber das konnte Tetsurou gekonnt ignorieren. Wenn Bokuto sich freiwillig darauf einließ, mit dem Typen in einem Haus zu schlafen, musste man das ausnutzen! Im Vorfeld war es immerhin eine furchtbare Debatte gewesen und er hatte sich rigoros geweigert, auch nur in Erwägung zu ziehen, Ushiwaka bei sich aufzunehmen.   „Jetzt müssen wir nur noch Oikawa finden!“   Sie fanden ihn zehn Minuten später, nachdem sie unnötig viele Türen ausprobiert hatten, dreimal an Karasuno vorbeistolperten – Tetsurou staunte nicht schlecht, als er Shida mit dem neuen Captain reden sah – und außerdem Shiratorizawa bei etwas störten, das verdächtig nach Kissenschlacht aussah. Oikawa saß inmitten seiner alten Teamkollegen und auch ohne zu verfolgen, was er sagte, konnte Tetsurou erkennen, dass der Kerl unnötig theatralisch war. Sein Gebaren und seine Mimik waren überzogen, seine Stimme klang weinerlicher als nötig. Vermutlich klagte er über sein grausames Unileben oder irgendetwas ähnlich Dummes. „Yo, Oikawa! Wir gehen! Hey hey hey!“ Sofort war Oikawas Aufmerksamkeit bei ihnen. Er sprang auf, verschränkte die Arme vor der Brust und reckte arrogant das Kinn vor. „Das hat aber auch lange genug gedauert, Bokkun!“ Es klang nicht, als würde er mit einem Freund reden. Eher mit einem Bediensteten. Bokuto lachte nur, unbekümmert von dem Tonfall, verkündete, er hatte eben etwas furchtbar wichtiges zu tun gehabt, und nachdem Oikawa sich ebenfalls kurz verabschiedet hatte, machten sie sich endlich auf den Heimweg. Ein paar Minuten, um zur U-Bahn zu kommen, dann ungefähr zwanzig Minuten Fahrt, und noch einmal ein paar Minuten, um bis zu Tetsurous Wohnung zu kommen. Er hatte ein Sofa, auf dem jemand schlafen konnte, der nicht allzu groß war – am Ehesten also Yaku? –, hatte ein Bett, in dem zwei Personen Platz hatten – da konnte Bokuto gleich mit rein –, und einen aufgerollten Futon im Schrank für Notfälle. Und die Luftmatratze, die einfach viel zu unbequem war, die er nur für seine Einweihungsparty gekauft hatte. Die war auch groß genug für zwei. Wenn Yaku dann noch einen Futon mitschleppte, würde es reichen. Vorausgesetzt, er kam überhaupt. „Bokuto! Erleuchte Oikawa mal, was wir geplant haben! Ich sag Yakkun Bescheid!“   So hatte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und musste sich Oikawas Geweine nicht geben. Wenn es jemanden gab, der noch schlechter auf Ushiwaka zu sprechen war als Bokuto, dann war es eindeutig Seijohs ehemaliger Captain. Das Handy am Ohr übertönte die enthusiastische Erzählung, die ein paar Meter vor ihm stattfand, während er sich langsam weit genug zurückfallen ließ, um ein bisschen Privatsphäre zu bekommen. Es klingelte dreimal, bevor Yaku ans Handy ging. „Kuroo, hast du mich heute nicht genug genervt?“ Er klang nicht halb so genervt, wie er wohl wollte, deshalb grinste Tetsurou nur, während er einer Straßenlampe auswich, deren gelbes, diffuses Licht den Bürgersteig hell anmalte. „Niemals. Yakkun~ wir laden euch zu einer teaminternen Trainingscampübernachtung ein! Wollt ihr vorbeikommen?“ Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, dann hörte er etwas, das so klang, als wäre Yakus Hand mit seiner Stirn kollidiert. „Das ist nicht dein Ernst“, gab der Winzling fassungslos zurück. In seinen Worten schwang neben aller Fassungslosigkeit etwas mit, das Tetsurou fast zweifelsfrei als Lächeln identifizieren konnte, und sein eigenes Grinsen wurde breiter. Selbst so ein kleiner Klotz wie Yaku war eben nicht gegen Nostalgie und Ehemaligenmelancholie gefeit. „Warte kurz.“   Tetsurou wartete. In seinem Ohr hörte er gedämpfte Stimmen. Er war sich sicher, dass er das barsche Lachen von Karasunos Captain hörte, dann kurz darauf einen halbwegs empörten Ausruf von dessen Kollegen. Vor sich schrie gerade Oikawa grell auf, weil Bokuto es wohl endlich geschafft hatte, seinen großen Plan zu verkünden. Ushiwakas Stimme war leiser, dröhnte aber trotzdem durch die abendliche Stille bis zu Tetsurou hinüber, und Bokuto konnte man ohnehin nicht überhören. Die kleine Gruppe sah unglaublich faszinierend und unpassend aus, schon allein in ihrer unterschiedlichen Körpersprache. Ushiwaka passte überhaupt nicht ins Bild. Oikawa und Bokuto waren verblüffend harmonisch, aber das hatte Tetsurou schon den ganzen Tag über gemerkt. „Wir sind in einer Dreiviertelstunde da.“ Er hätte beinahe verpasst, wie Yaku zurück ans Telefon kam. „Suga-Kun sagt, wir bringen etwas zu essen mit.“   Einen kurzen Moment überlegte Tetsurou, ob er es wagen sollte, Alkohol zu kaufen. Dann dachte er daran, was Yaku mit ihm anstellen würde und stellte sich vor, wie ein betrunkener Yaku wohl drauf sein würde. Es war in seiner Vorstellung eine Mischung aus Nekomata-Sensei und gewalttätigem Brutalo, die Tetsurou viel zu besorgniserregend fand, um sie wirklich erleben zu wollen. Er wagte es nicht.     ***     Sie machten trotzdem einen kleinen Abstecher zum Konbini, als sie in der Nähe von Tetsurous Bude aus der Bahn stiegen. Bokuto wollte Süßigkeiten, Oikawa schloss sich viel zu begeistert an, und Ushiwaka verzog angewidert das Gesicht. Der gesamte Einkauf war alles andere als verantwortungsbewusst, und weil Tetsurou in der Regel doch auf seine Ernährung achtete, drehte sich ihm ein bisschen der Magen um, als er die Berge an Chips, Süßigkeiten und Esspapier-Ufos – „Bokkun, schau dir das an! Das sind Ufos! Sowas kriegst du in Miyagi überhaupt nicht!“ – „Was, ernsthaft? Hey hey hey, dann musst du welche als Souvenir mitnehmen!“ – sah, die sie nach der Kasse in zwei transparente Plastiktüten schichteten. Andererseits, sie aßen solchen Unfug schließlich nicht täglich, also wieso nicht? Ab und zu durfte man sich solche Dinge erlauben, wofür lebte man denn sonst?   Zuhause angekommen musste Tetsurou erst einmal die Überreste seiner letzten Lern-Session vom Tisch schieben, bevor sie ihre Süßigkeitenberge drauftürmen konnten. Er gab Ushiwaka und Oikawa eine kurze Tour der winzigen Wohnung, um ihnen Bad und Küche zu zeigen und außerdem darauf hinzuweisen, dass der Temperaturregler an der Dusche absoluter Müll war und sie nur die Wahl zwischen eiskalt und kochendheiß hatten. „Kein Wunder, dass deine Haare so aussehen“, kommentierte Oikawa sofort mit einem angewiderten Blick auf die Dusche. Tetsurou hätte ihm in diesem Moment gern den Hals umgedreht. Er sparte es sich, genauso wie die Erklärung, dass da kein Temperaturregler der Welt half. Und auch sonst nichts. Das brauchte dieser eitle Pfau einfach nicht zu wissen! Durch den Abstecher zum Konbini dauerte es nicht mehr lange, bis Yaku und Anhang ebenfalls aufschlugen. Weil Yaku sowieso wusste, wo alles war, machte Tetsurou sich nicht die Mühe, die neuen Gäste herumzuführen; Yaku führte sich eh auf, als wäre er hier zuhause, kommandierte Suga in die Küche ab, scheuchte Sawamura mit einer riesigen Tüte voller Futon ins Wohnzimmer, während er noch damit beschäftigt war, seine Schuhe unnötig umständlich auszuziehen. „Wir haben ein Gastgeschenk dabei“, verkündete er mit einem Kopfnicken auf eine kleine Tüte, die auf Tetsurous Schuhschrank stehen geblieben war. Im gleichen Moment runzelte der Libero die Stirn, als sei er selbst nicht ganz glücklich mit dem Inhalt dieser Tüte. Tetsurou sah, warum, als er hineinblickte. Er grinste, während Yakus Blick sich weiter verfinsterte.   „Es war Suga-Kuns Idee.“     ***     Es war gut, dass Yaku und seine Gäste vorbeigekommen waren; Tetsurou war sich sicher, dass ihre Anwesenheit die Spannungen zwischen Ushiwaka und Oikawa entzerrte. Das Abendessen – Suga konnte hervorragend kochen! – verlief ohne jede Katastrophe, und schließlich saßen sie irgendwie auf Sofa und Fußboden verteilt um den dankenswerterweise niedrigen Wohnzimmertisch herum. Ein paar Minuten herrschte friedliche Stille. Ein paar Minuten, dann war Bokutos gesättigte Trägheit vorüber und er beugte sich von seinem Platz auf der Sofalehne aus begierig vor, wieder dieses herrliche Funkeln in den Augen, das Tetsurou viel zu sehr liebte. „Wir müssen noch irgendwas Cooles machen!“, verkündete er inbrünstig. Es war logisch; den Abend spektakulär ausklingen zu lassen, hatte bei ihnen schon immer zum Trainingscampen gehört. Sei das nun mit einem intensiven Privattraining, einer Mutprobe, einer Kissenschlacht oder irgendeiner anderen coolen Aktion, aber es gehörte einfach dazu, nicht einfach schlafen zu gehen. Yaku stöhnte, weil er die abendlichen Aktionen noch nie besonders gemocht hatte, während Suga verkündete, dass das eine wunderbare Idee war. Sawamura grinste, aber es sah nicht so aus, als wäre er wirklich überzeugt. „Wir können Flaschendrehen spielen.“ Es war nicht einmal der Vorschlag, der so unheilverkündend beunruhigend war. Es war Oikawas absolut unschuldiges, harmloses Lächeln, mit dem er die Alkoholflasche hochhob, die Yakus Gruppe mitgebracht hatte.   „Hey hey hey!“   Natürlich war Bokuto dabei. Natürlich war Tetsurou dabei. Sawamura und Yaku stimmten zu, aber ersterer sah schon vor Beginn des Spiels leidend aus, während zweiterer die Stirn runzelte, als plane er jetzt schon Züchtigungsmaßnahmen für zu übertriebenes Verhalten. „Ich habe keine Lust, mich euren Kinderspielen anzuschließen.“ Nur Ushiwaka musste Spaßbremse spielen. „Komm schon, Ushiwaka-Chan~ Oder hast du etwa Angst, zu verlieren?“ Oikawas Stimme troff nur so vor Hohn und Spott und Provokation. Bei Tetsurou hätte es funktioniert. Ushiwaka zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Ich muss mich nicht zum Idioten machen, um besser zu sein als du.“ Es war faszinierend, mit anzusehen, wie absolut hasserfüllt die beiden miteinander umgingen. Freundschaftliche Rivalität war eindeutig etwas anderes als diese Blicke, die auf Oikawas Seite Hass und Abscheu sprühten, und auf Ushiwakas Seite abfälliges Desinteresse. „Hey, hey… kein Streit bitte!“, mahnte Suga sanft. Er hob mit einem unsicheren Lachen abwehrend die Hände und lächelte Ushiwaka dann gewinnend an. Er pflückte Oikawa die Flasche aus der Hand, ohne hinzusehen und hielt sie auffordernd dem Riesen hin. „Es gehört dazu, hm? Du kannst immer noch aufhören, wenn es dir zu blöd wird, aber ohne dich anzufangen macht den Sinn einer Teamübernachtung kaputt!“   „Ihr seid erbärmlich, wenn ihr den Wert eines Teams daran bemesst, wie geschlossen es idiotischen Schwachsinn macht.“ Die Flasche nahm er trotzdem an.   Mit vereinten Kräften brauchten sie keine fünf Minuten, um den Tisch soweit frei zu räumen, dass eine Flasche zum Drehen dort Platz fand. Sie war auch schnell geleert, und bald standen rings am Rand des Tisches sieben Gläser mit Alkohol. „Also. Wir brauchen Regeln, huh?“ Tetsurou grinste. Er mochte Regeln. „Wer seine Aufgabe oder Frage nicht erfüllen oder beantworten kann oder will, der muss zur Strafe einen großen Schluck trinken. Sobald der Alkohol leer ist wird jedes Nichterfüllen und Nichtbeantworten damit bestraft, dass man ein Kleidungsstück ausziehen muss. Irgendwelche Einwände?“ Yaku sah aus, als wollte er protestieren, aber dann ließ er es doch bleiben. Tetsurou kannte ihn. So lange spielen wir eh nicht war aber auch ein naheliegender Gedanke. Nachdem auch sonst niemand meckern wollte, griff Tetsurou die Flasche und reichte sie an Oikawa weiter. Seine Idee, also hatte er die Ehre, beginnen zu dürfen.   „Mögen die Spiele beginnen~“     ***     Es fing harmlos genug an. Es waren die üblichen Späße: unnötig alberne Akrobatik, peinliche Gesangseinlagen, und Fragen, die ein bisschen zu privat waren, um sie zu beantworten, wenn man nicht übermütig und aufgepeitscht war. Es war gewissermaßen schon alt und langweilig für Tetsurou, der sicher nicht mehr nachzählen konnte, wie oft er sich mit solchen und ähnlichen dummen Spielen die Nacht vertrieben hatte. Trotzdem war es lustig; Ushiwaka, Oikawa und die beiden Ex-Krähen brachten frischen Wind in alte Spiele und es war interessant genug, herauszufinden, dass Oikawa ein beeindruckender Sänger war, Ushiwaka es schaffte, nicht mehr als den immer gleichen Ton zu produzieren, egal, was er zu singen versuchte. Sawamura weigerte sich sogar lieber lachend und Suga schien ihm sehr dankbar dafür zu sein. Tetsurou merkte es sich; sobald sein Glas erst leer war, stand Sawamura sicher sehr anders zu einer kleinen Gesangseinlage.   Dass Ushiwaka nicht nach wenigen Minuten das Spiel schon wieder für beendet erklärte, erstaunte Tetsurou. Er hatte nicht erwartet, dass die Spaßbremse sich wirklich lange mitziehen lassen würde. Insgesamt war die Stimmung weit besser als befürchtet; irgendwo auf halbem Wege zwischen Flasche drehen und Aufgabenstellen hatte Oikawa scheinbar vergessen, dass er eigentlich entsetzlich angepisst auf Ushiwaka sein wollte, denn dieses nächste Mal, dass die Flasche auf dem Hünen landete, lachte der Kerl nur fröhlich. Seine Augen leuchteten übermütig, aber nicht bösartig, als er sich lässig auf den Tisch lehnte. „Erzähl mal, Ushiwaka-Chan~ Warst du kaltherziges Monster eigentlich schon einmal verliebt?“ – „Nenn mich nicht so. Und nein.“ „Waaaaaaaaaaaaas?!“ Natürlich war Bokuto entsetzt. Tetsurou wusste nicht, ob er entsetzt sein wollte oder nur den Kopf schütteln. Es passte zu Ushiwaka und seinem ultimativ nur aufs Volleyballspielen ausgelegten Lebensstil. Oikawa sah auch nicht wirklich aus, als ob die Antwort ihn verwunderte – nur ein bisschen beleidigt. Er hatte sich sicher etwas anderes erhofft, bei aller Erwartung. „Aber jeder Mensch ist doch irgendwann mal verliebt!!! Das gehört zum High-School-Leben dazu, Ushiwaka!“ Tetsurou lachte. Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass Bokuto keinerlei Verständnis von Verliebtheit gehabt hatte, keinerlei Begriff davon, dass er verknallt war, bis kurz vor Ende des letzten Schuljahres. Und auch dann war es schlussendlich nicht Bokutos Verdienst gewesen, dass die Erkenntnis kam, sondern Akaashis; mit dem Jahresende im Nacken hatte er sich endlich dazu durchgerungen, Bokuto seine Gefühle zu gestehen. Die natürlich erwidert wurden, daran hatte an diesem Punkt wohl niemand – Akaashi inklusive? – mehr gezweifelt. Es war vorher nie ein Thema gewesen, aber mit diesem Gespräch kam bei Bokuto die selbstverständliche Erkenntnis, dass er Akaashi sehr, sehr liebte, und eigentlich nutzte er seitdem jede Gelegenheit, es herumzuposaunen. Dass er es gerade nicht tat, lag wohl nur daran, dass ihn Ushiwakas Lieblosigkeit so sehr entsetzte. „Vielleicht hast du ja einfach noch nicht den Richtigen gefunden!“, lamentierte er weiter. Er lehnte sich zu Ushiwaka hinüber, um ihm auf die Schulter zu klopfen, doch Ushiwaka lehnte sich gerade so weit zur Seite, dass Bokutos Hand ins Leere griff. Einen Moment blinzelte der eulenhaft, verwirrt, sah von Ushiwaka zum Rest der Tischgesellschaft und wieder zurück, dann richtete er sich wieder ordentlich auf. Blinzelte wieder.   Tetsurou überlegte, ob er darauf hinweisen sollte, dass das Spiel noch lief, oder ob er es bleiben ließ. Die Entscheidung nahm ihm netterweise Suga ab, als der sich ins Gespräch einmischte: „Aber sag, Ushijima-Kun. Wie müsste denn jemand sein, in den du dich verlieben kannst?“ – „Kompetent“, war die absolut nicht hilfreiche Antwort. Ushiwaka hielt inne, die Stirn kaum merklich gerunzelt. Dachte er gerade ernsthaft darüber nach? Offensichtlich, denn dem Stirnrunzeln folgte schließlich noch eine weitere Erwiderung: „Jemand, der die Dinge, die er tut, ernstnimmt. Ich kann keinen Menschen respektieren, der mit einer halbherzigen Arbeitshaltung an seine Pflichten und Interessen herangeht. Oder aus sentimentalen Gründen Dummheiten begeht.“ Sein Blick huschte kurz in Oikawas Richtung hinüber, dessen eigene Augen ablehnend funkelten. Der Moment war schnell genug vorüber, dass Tetsurou überhaupt nicht entschlüsseln konnte, was da zwischen den beiden abgegangen war, aber für einen winzigen Augenblick hatte er den Eindruck gehabt, in dem Dialog und anschließenden schweigenden Blickaustausch hätten zwischen den Zeilen die Worte unter anderen Umständen hätte ich dich lieben können gesteckt. Vielleicht war ihm das halbe Glas Alkohol aber schon zu sehr zu Kopf gestiegen.   „Hey, wir sollten weitermachen, oder? Ushiwaka können wir auch später noch verkuppeln~“   Besagter Ushiwaka nahm die Aufforderung an, griff nach der Flasche, und weiter ging das Spiel. Die erste Frage nach Verliebtheit hatte eine Pforte geöffnet, die von harmlosen, kindischen Scherzen zu jugendlichem Übermut führte. Tetsurou zweifelte nicht daran, dass bald noch mehr Fragen und Aufgaben in die Richtung kommen würden – trotzdem machte er sich keine Sorgen, als Ushiwakas Flaschendreh auf ihm endete. Ushiwaka war harmlos. „Was ist das Dümmste, das du je getan hast?“ Ushiwaka war nicht harmlos. Tetsurou stöhnte unglücklich, raufte sich durchs Haar. Er sah, dass Oikawa es kommentieren wollte und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, noch ehe er den Mund aufmachen konnte. Es brachte den Anderen immerhin dazu, nur spöttisch zu lächeln, ehe er mit einem lässigen Kopfschwung seine eigene Frisur wieder perfekt in Form brachte. Angeber. „Ich habe gewettet“, verkündete er tragisch, denn Tetsurou war ein Mann von Ehre, und das bedeutete, er nahm solche Spiele ernst. Dass seine Antwort reichlich mau war, war eine andere Sache, aber Ushiwaka hatte schließlich nicht nach Details gefragt. Bokutos neugieriger Eulenblick fragte nach Details, aber Tetsurou ignorierte ihn, so gut er konnte. Am Ende war die drehende Flasche ja doch viel interessanter – für den Moment.     ***     Das Thema Liebe blieb hängen. Suga war der nächste, der es aufgriff, als er sich mit einem wirklich freundlichen Grinsen zu Bokuto hinüberlehnte. „Bist du verliebt?“ – „Natürlich! Akaashi ist einfach toll, hey hey hey!“ Natürlich war Akaashi toll. Tetsurou hatte schon zahllose Male davon gehört, wie toll Akaashi war, wenn er nicht gerade eine entsetzliche Spaßbremse war. Er zweifelte daran, dass irgendjemand der Anwesenden wirklich geil darauf war, die Geschichten ebenfalls zu hören, also mischte er sich ganz nonchalant ein: „Wie wäre es, wenn wir alle reihum die Frage mal beantworten, damit sie unser Spiel nicht in die Länge zieht?“ – „Bro! Das ist genial! Das machen wir!!!“ – „Ich bin auch für Kuro-Chans Idee!“ Weil Suga sie ebenfalls großartig fand und es Ushiwaka schlicht egal war, waren die beiden Skeptiker Yaku und Sawamura so drastisch überstimmt, dass es beschlossene Sache war. Tetsurou grinste immer noch. „Die Regeln gelten immer noch – wer sich weigert, zu antworten, muss trinken.“ Aber eigentlich lag in dieser Weigerung genug Antwort, dass Tetsurou sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand so dumm war, wirklich zu trinken. Suga tat es trotzdem, mit einem strahlenden Funkeln in den Augen und einem nonchalanten Grinsen, ehe er zwinkernd verkündete, dass das sein Geheimnis sei. Kein besonders gut gehütetes Geheimnis und Tetsurou vermutete, dass die ganze Aktion rein zur Show diente – und vielleicht als Ausrede dafür, zu trinken. Er konnte es nicht einschätzen; hinter der harmlos lächelnden Fassade mit dem Leberfleck steckte ein verblüffend gefährlicher Kerl. Er bereute inzwischen sehr, dass er sich damals nur die Nummer von Karasunos Captain erschlichen hatte. Er hätte sicher viel Spaß mit Suga haben können. Aber hey. Das konnte man alles nachholen!   Yakus Antwort auf die Frage war ein so vehementes Nein!, dass Tetsurou ihm keine Sekunde lang glaubte. Er war noch nie ein guter Lügner gewesen, und nach allem, was Tetsurou heute gehört hatte, glaubte er ihm noch weniger. „Bist du sicher?“, fragte er amüsiert nach und hob die Augenbrauen. Yaku bestätigte noch einmal inbrünstig. Hey. Niemand konnte Tetsurou Gemeinheit nachsagen. Er hatte ihm die Wahl gelassen. „Bro! Das müssen wir ändern! Das ist ja genauso schlimm wie Ushiwaka!“ Tetsurou grinste breit, als Yaku erbleichte. „Bro… Wir könnten Ushiwaka und Yakkun verkuppeln!“ Das war nicht, worauf Tetsurou hinausgewollt hatte. Der verdammt dumme Kommentar hatte nicht nur Yakus Gesicht total zum Entgleisen gebracht, sondern auch so ziemlich jeder der anderen Anwesenden guckte dumm aus der Wäsche. Selbst Ushiwakas Gesicht verzog sich. Tetsurou konnte kaum noch atmen vor Lachen. Auch wenn, objektiv betrachtet, Yaku vielleicht gar keine so schlechte Wahl für Ushiwaka war. Er war ernsthaft, ehrgeizig, und die meiste Zeit einfach ein viel zu grober kleiner Klotz, um sentimentale Dummheiten zu begehen. Auf der anderen Seite war das ein Pärchen, das sich Tetsurou nicht einmal vorstellen wollte, und Yakus Charakter war zu einhundert Prozent inkompatibel mit Ushiwaka. Bei der ersten Erwähnung seiner Körpergröße wäre es doch vorbei. „Ich hab da eine bessere Idee, Bro… Wusstest du, dass Yakkun heute–“ – „Kuroo Tetsurou. Ich warne dich.“ Yaku klang wütend. Ernsthaft wütend. Wütend genug, dass Tetsurou fürchten musste, dieses Gespräch nicht ohne blutige Nase zu verlassen, wenn es weitergehen würde. Er schielte auf das Glas vor Yakus Nase hinunter. Noch relativ voll. Na, mal sehen, wie er zu dem Gespräch stand, wenn es relativ leer war.   Um das Thema zu wechseln, drängte Tetsurou dazu, ihre Fragerunde wieder aufzunehmen; Sawamura bestätigte, dass er verliebt war. Er wurde mehr als verlegen dabei und grinste schief. Er war damit das genaue Gegenteil von Oikawa, dessen Antwort nur vor Arroganz troff: „Ich bin nicht verliebt. Die Leute verlieben sich in mich.“ Tetsurou wusste, wenn er ebenfalls verneinte, dann würde Bokuto keine Ruhe mehr geben, weil er unbedingt kuppeln wollte. Und er konnte verzichten, dass der Idiot auf die Idee kam, ihn wahlweise mit Ushiwaka oder mit Yaku verkuppeln zu wollen, denn er lebte in der felsenfesten Überzeugung, dass keines von beidem funktionieren könnte, nicht einmal in einem abgedrehten Paralleluniversum. Die Wahrheit sagen fiel also im Grunde genommen raus, wenn er nicht zur neuen Attraktion des Abends werden wollte, und ehrlich, das wollte er nicht, denn es gab so viel bessere! Lügen wollte er auch nicht. Also… Er sah auf sein Glas hinunter. Eigentlich konnte er es nicht fassen, dass er die Suga-Variante in Erwägung zog. Die Botschaft dahinter wäre interpretativ eindeutig, aber gleichzeitig war Tetsurou sich relativ sicher, dass Bokuto es erst einmal ruhen lassen würde, immerhin hätte Tetsurou seine Pflicht damit erfüllt und klar signalisiert, dass er zu dem Thema nichts zu sagen hatte. Bisher hatte Bokuto jedes Trinken relativ kommentarlos hingenommen. Also, warum nicht? Tetsurou trank. „Brooo!!!“ Bokuto sah ihn an, die Augen weit aufgerissen, ungläubig. Er machte den Mund auf, als wolle er protestieren, doch dann stockte er. Ließ den Blick wandern. Erkenntnis dämmerte auf seinem Gesicht und er nickte, hob vielsagend die Augenbrauen. Was auch immer genau er sich gerade ausgedacht hatte, Tetsurou wollte es nicht im Detail wissen – aber es rettete ihn vor weiteren Fragen.     ***     „Bro! Du musst irgendjemanden anrufen und so tun, als wärest du sein heimlicher Verehrer!“ Tetsurou fand seine Idee großartig. Bokuto auch, so wie er grinste. Vor allem schien er schon eine sehr genaue Idee zu haben, wen er anrufen wollte. Er griff nach seinem Handy, hantierte kurz daran herum, dann hielt er es sich ans Ohr, begierig darauf wartend, dass abgenommen wurde. Tetsurou warf einen kurzen Blick auf die Uhr, und er hatte tatsächlich kurz Mitleid mit dem Opfer, ehe er noch breiter grinste. „Hey hey hey!!! Ich bin–“ Weiter kam Bokuto nicht, dann hielt er inne, stutzend, blinzelnd. Er hob langsam den Blick und sah ratlos in die Runde. „Konoha hat aufgelegt…“ Tetsurou brach in lautes Gelächter aus, genau wie Oikawa, Suga und Sawamura. Yaku erstickte sein Prusten in einem dieser seltsamen Esspapier-Ufos, auf die Oikawa so sehr abfuhr. Ushiwakas Mundwinkel zuckten. Ob aus Genervtheit oder Amüsement, das konnte Tetsurou nicht erkennen. „Versuch es nochmal, Bro. Aber subtiler.“ Bokuto sah aus, als hätte er keine Ahnung, was subtil bedeutete, aber er versuchte es wirklich noch einmal. Drückte das Handy ans Ohr, begann unruhig zu hibbeln, und als schließlich jemand abhob, brüllte er sofort los: „Hey– ich bin dein heimlicher Verehrer!!!“ Diesmal kam wohl Reaktion, denn Bokuto riss die Augen weit auf. Er nahm das Handy vom Ohr, starrte es mit hochgezogenen Augenbrauen angestrengt an. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf – und legte auf. Vermutlich, jedenfalls legte er das Handy dann zurück an seinen Platz. „Bro! Da war Komi dran! Aber ich hab doch Konoha angerufen!“   „Oh! Jetzt wo du es sagst, Bokuto-Kun… als ich die beiden angerufen habe, um sie einzuladen… haben sie nicht beide etwas von einer Verabredung gesagt? Weißt du noch, Daichi?“ – „Ja, stimmt. Ich hab‘s nur nicht aufeinander bezogen.“ Suga und Sawamura hatten keine Ahnung, was sie angerichtet hatten. Tetsurou wusste es allerdings. Er war auch der Einzige, der nicht zusammenschreckte, als Bokuto völlig explodierte in der Erkenntnis, dass Konoha ein Date hatte – und dann auch noch das Trainingscamp für dieses Date sausen ließ. „Das muss ich sehen! Konoha hat doch keine Ahnung, wie man ein Date hat!“ – „Broooo! Das Trainingscamp. Das kannst du deinem Team doch nicht antun!“   Tetsurou fühlte sich ein kleines bisschen schlecht für das Argument. Ein winziges bisschen. Aber es zog, und wie sagte man doch so schön? Der Zweck heiligte die Mittel.     ***     Der Anblick von Ushiwaka war unbezahlbar, wie er um ein Uhr morgens zurück ins Wohnzimmer kam, mit einer von Tetsurous Schürzen – Scherzgeschenke zum Einzug, die Tetsurou dann einfach zu benutzen begonnen hatte, denn ehrlich, beim Kochen waren sie nützlich – umgebunden und einer Tasse in der Hand, keine Miene verzogen. Er hatte allen Ernstes, ganz wie seine Aufgabe es verlangte, in diesem albernen Aufzug um Mehl beim Nachbarn gebeten. Und es bekommen. Er sah nicht einmal aus, als hätte es ihm allzu viel ausgemacht. Er stellte die Tasse in die Küche, zog die Schürze aus, kam dann zurück, um die Flasche zu drehen. Sie blieb auf Bokuto stehen, der seinerseits Urheber dieser großartigen Aufgabe gewesen war. „Deine Aufgabe ist es, irgendeinen der Anwesenden zu küssen.“ Vielleicht hatte es ihm doch etwas ausgemacht. Bokuto war völlig empört. Er sah Ushiwaka an, als wäre er von allen guten und schlechten Geistern verlassen, dann riss er sich ohne jedes Zögern das Shirt vom Leib. „Ich kann Akaashi nicht fremdgehen!!!“, verkündete er inbrünstig und in einem Tonfall, als hätte Ushiwaka gerade ihn und seine ganze Familie absichtlich aufs Tiefste beleidigt.   Dass er keine willkürlichen Typen küssen konnte, hinderte ihn allerdings nicht daran, die Aufgabe einfach weiterzugeben. Oikawa war das Opfer, das nun küssen sollte, was die Flasche ihm auswählte. Die Flasche schien Oikawa nicht zu mögen, denn sie machte Halt, als sie Ushiwaka erreichte. „Nein.“ Oikawa schüttelte vehement den Kopf. Seine Wangen waren gerötet vom Alkohol. Er schob beleidigt die Unterlippe vor, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte noch einmal den Kopf. „Nein! Mein Tag war schon beschissen genug, das brauch ich nicht auch noch!“ Tetsurous erster Reflex – Themenwechsel. Er hatte Oikawas Theatralik den ganzen Tag über oft genug in Aktion gesehen, und er wollte sich gar nicht vorstellen, was da für eine dramatische Rede jetzt auf sie zukam, wenn sie ihn reden ließen. Auf der anderen Seite war Tetsurou einfach unglaublich sensationsgeil – konnte er sich so eine Chance wirklich entgehen lassen? Nein. Konnte er nicht. „Was ist los, Oikawa?“ – „Kuro-Chan!“ Auch wenn der Spitzname echt nervte. Tetsurou schnaubte. „Denk dir nen anderen Spitznamen aus, oder ich hör dir nicht zu.“ – „Kurocchi!“ Nicht besser, aber… Tetsurou seufzte, lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und hob auffordernd die Augenbrauen. „Ja, erzähl uns, was los ist, Oikawa!!! Wir können bestimmt helfen!“   Die Geschichte, die Oikawa erzählte, war so wirr und konfus, dass sie Tetsurou Kopfschmerzen bereitete. Sie begann irgendwann vor Ewigkeiten, als Oikawa noch ein kleiner Junge gewesen war und sich mit einem Kind aus der Nachbarschaft angefreundet hatte, nachdem der Junge ihm sein Schmetterlingsnetz an den Kopf geworfen hatte. „Und das nur, weil ich den blöden Käfer verscheucht habe! Ich hab das nicht absichtlich gemacht!!!“ Es dauerte eine ganze Weile, bis Tetsurou begriff, dass dieser böse, gewalttätige Kerl, von dem Oikawa nach eigener Aussage selbst nicht mehr wusste, wieso er mit ihm befreundet war, Seijohs ehemaliges Ass Iwaizumi war. In Oikawas Litanei klang er tatsächlich nicht sonderlich sympathisch, und trotzdem beteuerte der Kerl immer wieder, dass sie beste Freunde waren und eigentlich alles immer zusammen gemacht hatten. Bis zur Universität; sie gingen jetzt getrennte Wege, und ganz grausamerweise hatte Oikawa seinen Freund jetzt schon wochenlang nicht mehr gesehen. Das Ende vom Lied war, dass er unglaublich beleidigt war, dass Iwaizumi auf den letzten Drücker das Trainingscamp doch abgesagt hatte. Tetsurou, so unfassbar es für ihn selbst war, hatte verblüffend viel Verständnis für Oikawas Drama. Gut, er war es immer gewöhnt gewesen, ein Jahr ohne Kenma zu verbringen, einfach wegen ihres Altersunterschieds, aber trotzdem wurde ihm jedes Mal unwohl, wenn er Kenma zurückließ. Vor allem dieses Mal, wo es einfach… endgültig war. Kenma würde einen ganz anderen Weg einschlagen als Tetsurou, wenn er erst mit der Schule fertig war, und so sehr Tetsurou das guthieß und unterstützte, die Vorstellung, nicht mehr da zu sein, um Kenma zu unterstützen, war befremdlich und einfach nicht schön. Es gehörte einfach dazu. Auch wenn Oikawas Freundschaft auf einer etwas anderen Basis aufbauen mochte, konnte Tetsurou absolut verstehen, wieso es schlimm war. Wahrscheinlich würde Tetsurou nicht viel anders reagieren, wenn Kenma ihn einfach so sitzenließ.   „Ist nicht, als wäre sein Fehlen ein Verlust“, kommentierte Ushiwaka trocken. Tetsurou erwartete, dass Oikawa widersprechen würde, aber stattdessen nickte der Kerl wild. „Das hab ich ihm auch gesagt!“ – „Du hast was.“ Wenn selbst Yaku so fassungslos war, dann war doch offensichtlich, was für eine Schnapsidee das war! Es war unfassbar, dass jemand, der so viel emotionale Intelligenz wie Oikawa besaß, solche Dummheiten machen konnte. „Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht brauche“, wiederholte der Kerl und zog beleidigt die Nase hoch, „Und dass Ushiwaka eh besser ist als er.“ „Du bist ein Idiot“, verkündete Yaku ohne jede Gnade. Oikawas Protest ignorierte er eiskalt, während er aufstand und verkündete, dass er aufs Klo musste. Dass er gar nicht aufs Klo ging, sondern in die Küche, ignorierte irgendwie jeder, genauso wie die Tatsache, dass er einfach nicht mehr zurückkam. Offensichtlich hatte da jemand keine Lust auf große Gespräche über Gefühle. Tetsurou verstand das vollkommen; er hätte auch keine Lust darauf, würde er vor seinen eigenen davonlaufen.   „Yakkun hat Recht, Oikawa-Kun“, kommentierte Suga sanft, nachdem sie einige Minuten nur schweigend dagesessen hatten. Oikawa sah ihn mit geradezu hasserfülltem, feuchtem Blick an. „Du hast keine Ahnung! Ihr habt doch alle keine Ahnung!“ – „Erleuchte uns“, forderte Sawamura. Oikawa sackte unzufrieden auf seinem Platz zusammen. Er angelte eines der Ufos hervor und begann, es mit den Fingerspitzen zu zerrupfen, als brauchte er eine Ausrede, weshalb er sich nur halbherzig auf das Gespräch konzentrierte. Tetsurou verkniff sich ein leises Seufzen, weil sein Magen sich genau diesen Moment aussuchte, um ihn daran zu erinnern, dass er langsam hungrig wurde. „Hey, Bro!“ Er stieß Bokuto in die Seite. Der Kerl war völlig fixiert auf Oikawas Drama gewesen und schreckte zusammen, ehe er sich Tetsurou zuwandte. „Ich hab Hunger. Du kennst doch den Konbini hier um die Ecke, ne? Hol mal Yakkun aus der Küche und nehmt Ushiwaka mit und holt uns allen etwas zu futtern?“ – „Aber–“ Bokuto unterbrach seinen eigenen Protest. Wahrscheinlich, weil er auch hungrig war. Er warf noch einen unschlüssigen Blick in die Runde, dann sprang er auf und trat zu Ushiwaka hinüber, um ihm kräftig auf die Schulter zu klopfen – diesmal traf er.   „Hey hey hey! Wir gehen einkaufen! Los, wir müssen noch Yakkun holen!“     ***     „Iwa-Chan ist ein Idiot.“ – „Das wissen wir schon“, erwiderte Suga geduldig, „Du wolltest uns etwas Neues erzählen.“ Oikawa war still. Er runzelte angestrengt die Stirn, schob die Unterlippe vor. Bei allem Theater sah er ehrlich verletzt aus, und irgendwie tat es Tetsurou wirklich, wirklich leid. Beste Freunde waren ein Thema, das er nur zu gut nachvollziehen konnte. „Iwa-Chan hat keine Zeit für mich! Er hat mich schon zweimal versetzt, seit wir mit der Uni angefangen haben, und jetzt das hier!“ Er gestikulierte wild in den Raum hinein, wobei er die pulvrige Füllung seines Ufos verstreute. Bei dem Gedanken an all das Chaos, das er morgen aufräumen durfte, wurde Tetsurou ein bisschen flau im Magen. Seine Wohnung war ja nie perfekt aufgeräumt, aber dieses Schlachtfeld war selbst ihm viel zu viel. „Was erwartest du? Ihr geht zur Uni, vielleicht jobbt noch einer von euch nebenbei, was weiß ich, und ihr wohnt in verschiedenen Städten. Sei doch froh, dass ihr euch überhaupt so oft seht.“ Oikawa sah zu Sawamura hinüber, als wollte er ihn umbringen. Kurz schien er in Erwägung zu ziehen, ihm die Überreste seiner Süßigkeit an den Kopf zu werfen, dann steckte er sie sich lieber selbst in den Mund. Eine Antwort bekam der andere gar nicht. Sawamura seufzte, tauschte einen Blick mit Suga, der auch nur die Schultern zuckte. Beide sahen nicht aus, als hätten sie besonders gute Ideen, wie sie mit dem jammernden Oikawa umgehen sollten. Tetsurou, bei allem Verständnis, war auch ein bisschen überfordert. Oikawa benahm sich wie eine eifersüchtige Freundin–    „Oi. Oikawa.“ – „Kurocchi.“ Noch ein feindseliger Blick. Was an Tetsurous Gesicht war es, dass Oikawa sofort wusste, dass er nicht mögen würde, was er hörte? Tetsurou wusste es wirklich nicht. Diese Leute, die jeden Gedanken vom Gesicht und aus jeder Geste herauslesen konnten, waren einfach unheimlich auf ihre Art. Wäre er es nicht sowieso wegen Kenma gewöhnt, er würde vermutlich einen großen Bogen um sie machen. „Du bist verknallt.“ „WAS?!“ „Oh. Das ergibt Sinn.“ Oikawas und Sugas Reaktionen hätten nicht weiter auseinanderliegen können. „Ich bin nicht– Kurocchi!“ Es war offensichtlich, dass Oikawa wusste, dass er log. Genauso offensichtlich wie die Tatsache, dass er nicht darüber sprechen wollte. Tetsurou schüttelte seufzend den Kopf. Er warf Suga einen fragenden Blick zu. Der Kerl nickte ergeben – es hatte keinen Zweck, hier weiterzumachen. Trotzdem lächelte er aufmunternd, so als hätte er noch einen Plan in der Hinterhand, dem er mehr Erfolg zusprach. Er klatschte grinsend in die Hände.   „Aber sagt mal, Jungs! Wollen wir nicht nachher alle noch Kontaktdaten tauschen?“   Tetsurou war absolut dafür. Kapitel 5: ----------- Als Koushi aufwachte, viel zu früh, gemessen daran, wie unglaublich spät sie erst ins Bett gegangen waren, schien der Großteil der Anderen noch zu schlafen. Daichi schnarchte – wie immer –, aus der Richtung von Kuroos Bett hörte er auch nicht mehr als ein leises Geschnarche. Ushiwaka schlief, oder lag zumindest ganz ruhig da. Yakus Platz auf dem Sofa war hingegen leer. Leise stand Koushi auf, bemüht, weder auf knisternde Süßigkeitenverpackungen, noch auf irgendetwas anderes zu treten oder irgendetwas umzuwerfen. Umständlich staksend dauerte es so unnötig lange, bis er die kleine Küche erreichte, deren Tür penibel geschlossen war. Er trat ein, ohne zu klopfen. Ihn begrüßte der Duft von frischem Kaffee und ein müder Blick vom Küchentisch, an dem Yaku hockte, eine Tasse Kaffee bei sich stehend und einen Teller mit halbgegessenen Überresten von ihrem Mitternachtssnack vor der Nase. Er sah aus, wie Koushi sich fühlte, blass und mit dunklen Schatten unter den Augen, trotzdem lächelte er breit. „Morgen. Kaffee?“ – „Gern. Bleib sitzen, ich nehm mir selbst welchen.“ In welchem Schrankfach sich die kleine Sammlung an Kaffeetassen und Trinkgläsern befand, wusste er immerhin noch von gestern. Er ließ sich Yaku gegenüber nieder, nachdem er sich zu dem Kaffee ebenfalls einen kleinen Teil von ihrem gestrigen Essen stibitzt hatte.   „Habt ihr das Oikawa-Drama noch geklärt, während wir weg waren?“ „Mhm… so irgendwie. Wir haben lediglich rausgefunden, dass er in seinen besten Freund verliebt ist, dann hat er abgeblockt.“ Koushi zuckte bedauernd mit den Schultern. Aber hey, das war genug, damit konnte er weiterarbeiten. Er mochte Oikawa nicht gut kennen, und deshalb nicht gerade der Richtige sein, um ihm klarzumachen, was für ein Idiot er war, aber er kannte da jemanden, der wohl die nötigen Qualifikationen hatte. Nicht, dass es wirklich Koushis Angelegenheit war, theoretisch. Aber sollte er wirklich herumsitzen und nichts tun, wenn er helfen konnte? Yaku ihm gegenüber grimassierte und schüttelte den Kopf. „Klingt anstrengend.“ – „Wie war euer Ausflug eigentlich?“ – „Bokuto hat fünfmal versucht, falsch abzubiegen. Er hat die ganze Zeit den Mund nicht zubekommen und Ushiwaka mindestens zehnmal dazu aufgefordert, jetzt und sofort gegen ihn anzutreten, damit er ihm beweisen kann, wie viel besser er doch ist, und – ugh! Ich war kurz davor, beide umzubringen.“ Koushi lachte nur. Yaku funkelte ihn an, doch sein Blick wurde schnell wieder milder. „Aber Ushiwaka ist eigentlich echt keine so üble Gesellschaft.“ Wäre es nicht Yaku gewesen, Koushi hätte einen bösen Witz gemacht. Aber weil er den Jungen doch schon gut genug kannte, und weil es einfach genug war, in Yakus Gesicht zu lesen, wusste er, dass ein solcher Witz ohnehin nicht auf fruchtbaren Boden fiel.   Sie verfielen in zufriedenes Schweigen, aßen ihr Frühstück, nippten an ihrem Kaffee. Koushi mochte die friedliche Stimmung und die Ruhe. So viel Spaß er auch gehabt hatte, der Abend war so turbulent gewesen, dass er im Nachhinein ein paar ruhige Minuten wirklich sehr wertschätzen konnte. Es war eigentlich insgesamt die erste Gelegenheit, die er hatte, um wirklich zu verarbeiten, wie viel nur an diesem Samstag passiert war. Er hatte das neue Team Karasuno kennengelernt, er hatte beschlossen, dem Volleyballclub beizutreten und alle seine Zweifel einfach über Bord zu werfen. „Es war wirklich eine gute Idee“, kommentierte Yaku aus dem Nichts heraus und grinste vage, „Dieses Camp. Ich bin froh, dabei zu sein.“ Er unterbrach sich selbst mit einem Schnauben. „Auch wenn es anstrengend ist.“ – „Was Kuroo-Kun gestern angedeutet hat?“ Koushi hob die Augenbrauen, nippte an seinem Kaffee. Yaku zog eine Grimasse, als wollte er sagen erinner mich nicht daran, doch dann nickte er langsam, ehe er jedes Wort, das er hätte sagen können, selbst in einem Schluck Kaffee ertränkte. „Willst du reden?“ Kopfschütteln. Innehalten. Noch ein Kopfschütteln. Dann ein Seufzen. Koushi fand, dass es nicht schwer war, zu erraten, was gerade bei Yaku los war. Er lächelte aufmunternd, während er aufstand. Trat im Vorbeigehen zur Spüle an Yaku heran, um ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter zu legen. „Ich bin da, wenn du reden willst. Und vergiss nicht: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ Er lachte sanft.   „Und ich gewinne jetzt hoffentlich einen Blumentopf damit, dass ich die anderen wecke und dafür sorge, dass wir pünktlich kommen!“     ***     „Wenn ihr zu spät zum Training kommt, gibt es Ärger!“, rief Takayuki lachend, während er die Zimmertür hinter sich schloss. Es war noch früh, viel zu früh, um Panik zu machen, deshalb lachte Yuuki nur leise. Dass sie überhaupt schon wach waren, statt noch zu schlafen, war Karasunos Hinata zu verdanken; nach einem lautstarken Zusammenstoß mit irgendeinem der anderen Spieler war im Grunde das gesamte Trainingscamp aufgewacht. So früh mit dem Training zu beginnen fand allerdings niemand wirklich reizvoll, und so hatten sie im Zuge des Kriegsrats beim frühen Frühstück beschlossen, die Zeit bis zum geplanten Trainingsbeginn als zusätzliche Freizeit zu nutzen. Inzwischen hatte sich das Team größtenteils zerstreut. Yuuki, Sou und Lev waren die einzigen gewesen, die nach dem Frühstück überhaupt zurück in ihren Schlafraum gekommen waren – Takayuki war nur kurz wieder hereingeplatzt, um sein Handy zu holen –, und wo die anderen sich aufhielten, wusste Yuuki überhaupt nicht so recht. Zugegeben, für den Moment reichte es ihm aber auch, dass er einen Platz hatte, um in Ruhe mit seinen Freunden zu reden, schließlich gab es viel zu besprechen, und diese Sache konnte vor allem keinen Aufschub gebrauchen. „Also, was ist schiefgelaufen?“, griff Sou den alten Gesprächsfaden wieder auf. Er stützte die Hände auf die lose übereinandergeschlagenen Beine und lehnte sich verschwörerisch vor. Sein Blick ruhte auf Lev, immerhin würde der die Frage am Ehesten beantworten können. Als Yuuki folgte, begegnete ihm aber nur ein ratloses, unwilliges Stirnrunzeln. „Er hat nein gesagt.“ – „Ja, so weit waren wir schon. Aber warum?“   Das war das Problem. Selbst Yuuki, der viel Zeit mit Yaku verbracht hatte, konnte sich nicht ausmalen, woher die rigorose Ablehnung kam. Also. Doch. Es gab natürlich eine ganz lange Liste an Möglichkeiten, angefangen bei schlicht mangelndem sexuellen Interesse am eigenen Geschlecht, und Yuuki war sehr bewusst, dass das eigentlich eine sehr realistische Möglichkeit war – aber das hätte Yaku einfach direkt sagen können, nicht wahr? „Er hat dir wirklich keinen Grund gegeben?“, hakte er noch einmal nach, obwohl er die Frage schon am Vorabend sicher fünf Mal gestellt hatte. Lev schüttelte wieder nur den Kopf, „Er hat nur gesagt, er will nicht.“ Yuukis ratloser Blick wurde von Sou geechot, genauso wie das folgende resignierende Seufzen. Es war so kompliziert! Yaku war sonst so direkt. Trotzdem sagte er nicht, was sein Problem war, und während er dazu sicher nicht verpflichtet war, war sich Yuuki eigentlich sehr sicher, dass es eigentlich Yakus Art wäre, einfach ganz klar zu sagen, was bei ihm los war. Abgesehen von– „Die Größe!“, vervollständigte Sou den halben Gedankengang mit einem triumphalen Grinsen. Als hätte er gerade eines der größten Rätsel der Weltgeschichte gelöst. Lev sah ihn groß und ungläubig an. Sah an sich hinunter. Zu Sou zurück. Wieder an sich hinunter. „Aber ich bin doch sicher groß genug für Yaku-San…“ Yuuki spürte, wie Hitze ihm ins Gesicht schoss und fast panisch unterbrach er das Gespräch mit hektischem Gefuchtel. „L-Lev!!! Nicht deshalb!“ – „Aber es geht doch immer darum, wenn man über Größe spricht!“ Sou lachte. Yuuki wollte lieber im Erdboden versinken und vergrub verlegen das Gesicht in den Händen. Vielleicht war es noch ein paar Stunden zu früh am Morgen für solche Gespräche. Aber eigentlich war es jetzt sowieso schon zu spät für den Gedanken.   „Was Sou meint – vielleicht stört ihn der Größenunterschied!“ – „Genau. Yaku-San hat doch solche Größenkomplexe! Lev, glaubst du nicht, das könnte es sein?“   Wirklich überzeugt sah Lev nicht aus. Yuuki hingegen fand die Theorie unglaublich schlüssig, immerhin sprachen sie hier von Yaku, der jeden verprügelte, der auch nur darüber nachdachte, dass er kleiner als der Durchschnitt war. Tagtäglich mit einem Kerl zusammen zu sein, der locker dreißig Zentimeter größer war, war doch auch nur eine dauerhafte Erinnerung daran, wie klein man war, oder? Ganz zu schweigen davon, dass Yuuki sich das auch logistisch nicht so praktisch vorstellte. Bekam man denn beim Küssen dann nicht einen furchtbar steifen Hals? „Aber bei dir und Inuoka geht das doch auch! Und außerdem könnte Yaku-San doch Plateauschuhe kaufen, dann sieht das schon ganz anders aus!“ „Ganz schlechte Idee“, lachte Sou herzlich, „Yaku-San bringt dich um, wenn du ihm das jemals vorschlägst! Übrigens haben Yuuki und ich nichts damit zu tun! Du bist nochmal zehn Zentimeter größer als ich, außerdem wollen wir ja auch nicht knutschen.“ Levs Augenbrauen wanderten beinahe ungläubig in die Höhe, er sah aus, als wollte er noch einmal nachhaken, ob sie sich denn ganz sicher dabei waren. Waren sie, jedenfalls war sich Yuuki sehr sicher darüber. Und darum ging es auch gerade gar nicht! „Okay! Die Größe könnte ein Argument sein, weshalb er nein gesagt hat. Aber daran können wir gerade nicht so viel ändern, huh? Haben wir noch andere Ideen, woran es liegen könnte?“  „Vielleicht–“   „–liegt’s an deiner Frisur.“   „Meine Frisur?“, wiederholte Lev verwirrt, und Yuuki blinzelte, sah zu Sou hinüber, dessen Blick genauso ratlos zu ihm gerichtet war – hast du das grad gesagt? Mit einem nicht mehr ganz männlichen Paniklaut wirbelte Yuuki herum. Die Tür war offen, und im Rahmen stand einer von Fukuroudanis Erstklässlern, der jetzt mit einem breiten, sonnigen Grinsen die Hand zum Gruß hob. „Yo! Morgen zusammen! Ich hoffe, ich stör nicht~?“ – „Also…“ Eigentlich, strenggenommen, störte er wohl ein bisschen, immerhin war das Gespräch privat! Yuuki jedenfalls würde nicht wollen, dass sein Liebesleben vor Leuten ausgebreitet wurde, die er eigentlich nicht kannte. Lev hingegen schien das gar nicht zu stören, denn die erste Verwirrung wich schon längst einem freundlichen Grinsen. „Löwenzahn-Kun! Was machst du denn hier?“ „Löwenzahn–? Hör mal, Mieze, ich hab nen Namen! Shima Takuya. Takuya reicht. Merk es dir gefälligst!“ Trotz der harschen Worte lachte er, ein lautes, dröhnendes und fröhliches Lachen, das unheimlich ansteckend war. Sou und Lev stimmten ein und auch Yuukis Mundwinkel zuckten amüsiert. Er rückte ein Stück zur Seite, um Platz auf dem Futon zu machen, den sie als Sitzgelegenheit missbrauchten, und so selbstverständlich, als hätte er schon ewig dazugehört, ließ Takuya sich auf den jetzt freien Platz plumpsen. Vielleicht störte er ja wirklich nicht.  „Krieg ich ne Vorstellungsrunde?“ „Klar! Ich bin Sou, der Riese ist Lev, und der Winzling hier ist Yuuki! Also, was führt dich zu uns?“ „Und was ist jetzt das Problem mit meiner Frisur?“   „Eins nach dem Anderen! Warum ich hier bin, darüber können wir nachher reden. Aber zu deiner Frisur – sie ist eben langweilig? Wenn du deinen Typen da beeindrucken willst, musst du schon härtere Geschütze auffahren!“ „Ich glaube nicht“, begann Yuuki vorsichtig, sehr darum bemüht, nicht zu grinsen. Sou machte sich so viel Mühe gar nicht und grinste ganz ungeniert, als er fortfuhr: „dass Yaku-San wirklich so viel Wert auf eine tolle Frisur legt!“ Man konnte wirklich nicht behaupten, dass Yaku modebewusst war. Takuya war trotzdem der Überzeugung, dass ein Versuch nicht schaden konnte – jeder Mensch ließ sich von einem beeindruckenden Äußeren mitreißen, das war doch simple Logik. Yuuki verfolgte das Gespräch schweigend, mit einer gewissen Faszination. Dass Takuya ein eitler Pfau war, das war schnell zu erraten gewesen. Dass Lev allerdings tatsächlich auch mit einem gewissen Gespür für Mode und Styling aufwarten konnte, überraschte Yuuki ungemein. Er hatte noch nie darauf geachtet. Vielleicht hatte er Lev einfach auch noch nicht oft genug in nicht-Schuluniform-oder-Trainings-Klamotten gesehen, als dass es ihm aufgefallen wäre. In jedem Fall war es unglaublich interessant, den beiden dabei zuzusehen, wie sie minutenlang über Levs Frisur diskutieren konnten und schließlich tatsächlich zu dem Ergebnis kamen, dass ja, es vielleicht gar kein so schlechter Ansatz wäre, es mit einem Frisörbesuch zu versuchen.   Es war zumindest einfacher, als den Größenunterschied ändern zu wollen.   „Nachdem das nun geklärt ist – warum bist du hier?“ Takuya grinste breit. Er stützte sich nach hinten auf seine Hände und sah gleichzeitig unglaublich stolz und unglaublich aufgeregt aus. „Ich finde, wir sollten uns bedanken. Ich meine, es ist echt ne einmalige Gelegenheit, die wir hier haben! Nicht nur, mit so vielen grundverschiedenen Teams zu spielen, sondern vor allem mit den Ehemaligen! Entsprechend – ich würde den Jungs gern irgendwie ein Dankeschön geben, das ist immerhin das Mindeste. Bloß…“ Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, kratzte sich am Nacken. „Mein bisheriger Plan war, dass wir eine Art Best Of aus unseren Teams zusammenstellen, um gegen die Großen zu spielen – damit sie auch mal ne Herausforderung haben! Gestern haben sie uns ja durchweg ganz schön plattgemacht. Na ja. Shiratorizawas Captain hat mich netterweise darauf hingewiesen, dass das wenig mit einem Dankeschön zu tun hat, und – jetzt hab ich keine andere Idee! Durchziehen will ich die Sache trotzdem, weil sie cool ist. Und es ist sicher spannend, zu sehen, wie viel wir gegen sie ausrichten können, wenn wirklich nur die Besten spielen, oder?“ War der Gedanke an ein Dankeschön schon großartig gewesen, so toppte die Idee absolut alles – ein Match mit ihren besten Spielern! Das war eine unglaubliche Vorstellung. Sie hatten starke Mannschaften hier versammelt, die jede für sich ernstzunehmend waren und spannende Spieler hatten. Wenn man davon die jeweils Besten nahm, dann– „Wow“, murmelte Yuuki andächtig, wandte sich mit begeistertem Blick an ihren neuen Freund, „Das wäre so cool, Takuya!“ – „Aber wie bestimmen wir das?“ Sous Frage riss Yuuki kurz aus seiner Begeisterung. Sein Freund zuckte ratlos die Schultern, „Wir haben ja keine Zeit für ein Kräftemessen oder so.“ „Wir fragen Kenma-San“, beschloss Lev mit einem sehr zufriedenen Blick, „Auch wenn natürlich klar ist, dass ich als Ass dabei sein werde.“ „Wieso fragen wir euren Captain?“ Sou klärte auf, wieso Kenma ein guter Berater wäre. Takuya nickte verstehend, dann lachte er herzlich auf. „Wir haben auch so einen! Wenn wir beide finden, erwischen wir also den Berater-Jackpot?“   Nachdem damit der Plan, Kenma oder Fukuroudanis Taktiker aufzusuchen und dort um Rat zu fragen, beschlossene Sache war, kehrten sie dazu zurück, über ein Dankeschön für die Älteren nachzudenken. Die ersten Ansätze waren eher wenig hilfreich – Grußkarten waren langweilig, Präsentkörbe zu teuer, und wenn man Süßigkeiten oder ähnliches kaufte, musste man auch noch Dinge erwischen, die die entsprechenden Leute auch aßen. Die erste Idee, die auf Anklang stieß, scheiterte daran, dass sie nicht realisierbar war. An einem Sonntag war nicht viel damit, Shirts bedrucken lassen zu wollen, ganz zu schweigen davon, dass der nächste Laden dafür vermutlich viel zu weit weg war, um noch irgendwie rentabel zu sein, denn wer wollte schon das ganze Training verpassen für ein kleines Geschenk? „Haben wir wasserfeste Stifte? Irgendwer hat doch sicher Marker dabei? Dann können wir auf den Shirts auch einfach unterschreiben!“ „Ich hab Marker“, kommentierte Yuuki. Sous Idee war gut – oder zumindest weit besser als alles, was sie bisher hervorgebracht hatten. So richtig begeisternd war sie trotzdem nicht, aber es war ein Anfang, mit dem sich sicherlich weiterarbeiten ließ. Shirts hatten einfach zu viele Nachteile! Die Farbe wusch sich sicher viel zu schnell raus, selbst wenn sie wasserfest war, außerdem waren sie sperrig, wenn man sie als Andenken wirklich irgendwo im Zimmer platzieren wollte. Und es sollte schließlich ein Geschenk sein, an dem die Älteren nachhaltig Freude haben konnten. Grundlegend war das Unterschreiben aber eine tolle Idee. Die Frage war nur, was? Keine Shirts. Taschen? Eher weniger. Trinkflaschen… wurden irgendwann ausgetauscht, und waren auch als Zimmerdeko nicht besonders toll. Vielleicht wäre es besser,  noch einmal loszulaufen und etwas zu kaufen. Verkauften Konbini denn überhaupt Dinge, auf denen sich eine Unterschriftensammlung lohnen würde? Das einzige, was Yuuki spontan einfiel, waren Instantnudeln und Getränkedosen, und beides klang nun wirklich nicht nach der geeigneten Schreibunterlage.    „Volleyball“, kommentierte Lev plötzlich, brachte ihn damit zu einem verwirrten Blinzeln. Sou machte den Mund auf, um zu widersprechen, denn sie hatten doch schon festgestellt, dass das Volleyballspielen zwar eine großartige Idee war, aber nicht wirklich als Dankesgeste taugte. Bevor er einen Ton hervorbrachte, erhellte Erkenntnis sein Gesicht im gleichen Moment, in dem auch Yuuki bewusst wurde, worum es ging. Sie tauschten einen begeisterten, grinsenden Blick.   „Lev, du bist genial!“     ***     Sie waren zu viert. Shibayama, Lev, Inuoka, und einer von Fukuroudanis Erstklässlern, der Kenma bisher vor allem dadurch aufgefallen war, dass er ein unangenehm mitreißendes Charisma hatte. Er war kein schlechter Spieler, aber sein größter Wert lag darin, dass er motivieren und mitziehen konnte. Wenn er in den nächsten Jahren noch die nötige geistige Reife lernte – aktuell war er viel zu impulsiv und gedankenlos abenteuerlustig –, konnte er in seinem dritten Jahr ein ausgesprochen guter Captain werden. Wobei in zwei Jahren fast jeder das Potential zum Captain erreichen konnte. Kenma sah nicht weiter auf, als die kleine Gruppe vor ihnen zum Stehen kam, hielt den Blick auf seine PSP gesenkt und verfolgte lieber mit voller Aufmerksamkeit das Geschehen auf dem Bildschirm. Schon bevor das Gespräch begann, war es ihm bereits unangenehm. Er war hergekommen in der Hoffnung, Ruhe zu haben und sich zurückziehen zu können, bevor es ans Training ging. Sehr zu seiner Überraschung war das eine Idee gewesen, die nicht nur er hatte. Fukuroudanis diesjähriges Ass war kaum zehn Minuten nach ihm hier aufgetaucht, hatte nur einmal kurz, schroff nachgefragt, ob er störte – Kenma hatte verneint, primär, weil er nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen. Sekundär, weil er von Marei zumindest so viel musste, dass er ähnlich wie Kenma selbst kein Freund von unnötigem Smalltalk war. Es war ein bisschen seltsam, schlussendlich für Kenma aber nicht wirklich störend, dass der andere genauso schweigend wie er selbst hier saß und seinen eigenen Gedanken nachhing. Jetzt im Nachhinein wünschte er sich, er wäre abgezogen und hätte sich ein besseres Versteck als die Wand an der Seite von Sporthalle Zwei gesucht, dann wäre er womöglich von dem Grüppchen verschont geblieben, dessen Anwesenheit schon versprach, dass, was auch immer da kommen würde, anstrengend würde.   „Jackpot~“, flötete der fremde Erstklässler. Er ging schwungvoll in die Hocke, sodass er in etwa auf einer Höhe mit ihnen war. Kenma sah sein Grinsen nicht, aber er hörte es, „Marei-San! Captain-San, wir haben da ne Frage!“   Keine Minute später sahen vier erwartungsvolle Augenpaare sahen zu ihnen hinüber. Shibayama sah tatsächlich so aus, als würde er den Mund halten und abwarten, aber Inuoka, Lev und der riesige Erstklässler aus Fukuroudani sahen der Reihe nach so aus, als würden sie gleich platzen, wenn niemand etwas sagte. Kenma fand die ganze Idee ermüdend und anstrengend. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm, dass seine zufällige Gesellschaft es wenig anders sah als er. Mareis Augenbrauen waren kaum merklich zusammengezogen, eine Mischung aus Nachdenklichkeit und Ablehnung. Er schüttelte langsam den Kopf, ehe er den Erstklässler sich gegenüber ins Auge fasste. „Es wird nicht klappen.“ Marei nahm ihm die Worte aus dem Mund. Kenmas Schultern sackten erleichtert ab. Er spürte die Blicke der Anderen auf sich, womöglich in der Hoffnung auf Widerspruch, doch mehr als ein knappes Nicken bekamen sie nicht. Es stimmte – sie hatten damit genauso wenig eine Chance wie in ihren üblichen Teams, wenn nicht sogar weniger. Sie waren nicht aufeinander eingespielt. Selbst Kenma könnte nicht ohne Probleme Zuspieler für diese fremden Spieler sein, deren Macken und Angewohnheiten er größtenteils nicht kannte. Sie waren zwar alle nicht Shouyou oder Lev, und damit nicht völlig unberechenbar, aber sie waren unbekannte Variable genug, dass es nicht funktionieren würde. Vielleicht in der zweiten Spielhälfte. Aber dann war es schon zu spät, um ernsthaft Schaden anzurichten, denn selbst dann würde es noch dauern, bis sie wirklich aufeinander eingependelt waren. Nicht einmal ein Genie wie Kageyama würde damit klarkommen. Auch ganz von seiner Persönlichkeit abgesehen, die noch weniger für so ein Spiel taugte. So viel Flexibilität besaß keiner von ihnen. Zugegeben, Kenma war sich nicht einmal sicher, dass Oikawa, der wohl mit großem Abstand der flexibelste von ihnen allen war, das wirklich erreichen könnte. Er war ein brillanter Zuspieler und hatte mit seinem zusammengewürfelten Ehemaligenteam eindeutig bewiesen, dass er ein sehr gutes Händchen dafür hatte, sich auf neue Spieler einzustellen, aber da ging mit Sicherheit noch mehr. Der Gedanke war angsteinflößend.   „Aber Kenma-San! Das klappt bestimmt! Ihr habt ja mich!“   Kenmas Augenbraue zuckte, doch er sparte es sich, Lev darauf hinzuweisen, dass er weit davon entfernt war, bei einem Best Of dabei zu sein. Lev war weit besser geworden, seit er im Team angefangen hatte, keine Frage, aber er war immer noch Lev, und Lev konnte einfach nicht besonders viel, sobald es über Schmettern und Blocken hinausging. Wäre das Schmettern die einzige Baustelle, Lev hätte sogar sehr gute Chancen darauf, einen Platz zu ergattern, aber selbst als Außenangreifer hatte man auch andere Pflichten, und gerade als Mittelblocker lag Levs eigentlicher Schwerpunkt theoretisch sowieso in einem Bereich, in dem er immer noch nicht über den Durchschnitt herausragte, wenn man einmal von seiner Größe absah. „Du taugst nicht“, kommentierte Marei trocken. „Es gibt weit bessere Mittelblocker als dich.“ Eine Sache, die prinzipiell nicht schwierig war. Shiratorizawa und Aoba Jousai hatten allgemein einen hohen Standard. Karasunos Tsukishima war inzwischen eine schier unüberwindbare Mauer geworden, und auch Fukuroudanis Vize-Captain war auch ein beeindruckender Mittelblocker. Selbstverständlich waren sie nicht für jede Teamaufstellung die allerbeste Wahl, aber jeder einzelne war deutlich besser geeignet als Lev. Es waren nicht einmal nur die herausragend guten Spieler, die besser geeignet waren.  „Shouyou taugt.“ „Kenma-San! Aber er ist so winzig!“ – „Und schnell. Er ist ein genauso guter Blocker wie du. Sogar seine Annahmen sind inzwischen passabel. Deine nicht.“   Lev sackte unglücklich in sich zusammen. Inuoka und der Erstklässler tätschelten ihm aufmunternd den Rücken, aber Kenma sah aus dem Augenwinkel, dass seine Augen eine stumme Konversation mit Shibayama führten, an deren Ende der kleine Libero schließlich nickte und dann mit einem freundlichen Lächeln zu Kenma sah.  „Hinata-Kun also. Und weiter?“ Kenma stieß langsam die Luft aus. Das hatte er so nicht gesagt. Shouyou war tauglicher als Lev, aber Shouyou für ein solches Team aufzustellen, bedeutete, dass sie im Grunde das gesamte Team um ihn herum aufstellten, um seine Schwächen auszugleichen und seine Stärken zu unterstützen. „Karasunos Chibi. Könnte funktionieren. Er sollte gegen die meisten Blocks ankommen, oder?“ Es war kein Gespräch, das Kenma führen wollte, trotzdem nickte er müde. Andererseits, ob er sich nun beteiligte oder nicht, er konnte nicht verhindern, dass sie ihren Plan in die Tat umsetzten, und er hatte noch weniger Lust, dass sie am Ende auf die Idee kamen, ihn als Zuspieler einstellen zu wollen. Er hatte tausend gute Gründe, weshalb er genau das eben nicht wollte, aber allen anderen voran war die Vorstellung, mit Shouyou spielen zu müssen, so angsteinflößend, dass Kenma nicht einmal daran denken wollte. Er konnte nicht mit Shouyou mithalten. Er wusste das. Shouyou wusste es nicht. Er würde Erwartungen haben, die Kenma nicht erfüllen konnte. Er würde enttäuscht sein. Er stieß langsam die Luft aus, sein Blick zuckte kurz hoch in vier erwartungsvoll wartende Gesichter. „Kageyama als Zuspieler.“ – „Nehmt am besten noch Karasunos Libero dazu.“   Eigentlich war es danach wirklich simpel. Es gab nicht viele Varianten eines Best-Of-Teams aus diesen Leuten, schon alleine wegen dem Aspekt Shouyou. Ihre Qualitäten und Kompetenzen waren relativ eindeutig, und nachdem ein großer Teil des Teams einfach logisch aufeinander aufbauend zustande kam, war es nicht schwer, die restlichen Lücken zu füllen. Eigentlich war es nur gar nicht simpel. Lev ließ einfach nicht locker. Als das Gespräch sich den Mittelblockern zuwandte, war er sofort zur Stelle, um sich eifrig anzubieten, obwohl er überhaupt keine gute Wahl dafür war. Sein Block war bei weitem nicht gut genug, um Shouyous nicht überragende Blockerfähigkeiten zu unterstützen. Er war riesig, aber was half das? Außerdem hatte das Team teilweise hervorragende Außenangreifer, es war nicht, als würde Lev dringend im Angriff gebraucht werden. Er würde gar nicht gebraucht werden, und es nervte Kenma, dass er nicht locker ließ. Es nervte ihn, und allein weil es ihn nervte, hatte er überhaupt keine Lust, Lev entgegenzukommen. Auch wenn es, rein objektiv betrachtet, eine gute Gelegenheit wäre, ihm und seinem Ego einen gehörigen Dämpfer zu verpassen.  „Sie brauchen idealerweise einen Ersatzspieler“, stellte er tonlos heraus. Wer würde schon Lev einwechseln, wenn er bedeutend bessere Spieler haben konnte? Wenn er das ganze Spiel über nur die Bank hüten durfte, würde ihm hoffentlich die Erleuchtung kommen, dass seine Fähigkeiten noch einen langen Weg vor sich hatten, um zu seinem Ego aufzuholen. „Soll Haiba das doch machen. Er wird eh nicht eingewechselt werden.“ Es war auf eine seltsame Art befriedigend, dass Marei Kenmas Ansicht teilte. „Das werdet ihr ja noch sehen! Natürlich werde ich eingewechselt!“   Er würde nicht eingewechselt werden. Kenma hoffte, dass es tatsächlich mit einem Lerneffekt einhergehen würde.     ***     Keijis Blick wanderte zweifelnd von dem Volleyball in Shimas Händen zu dem grinsenden Gesicht des Jungen, dann zurück auf den Volleyball. Zwischen dem Ball und der linken Hand hatte Shima einige bunte Marker eingeklemmt, deren Farben Keiji schon in den teilweise wirklich gekrakelten Unterschriften wiederfand, die auf dem Ball prangten. „Das ist Schuleigentum.“ Es war das erste, das ihm dazu einfiel. Zwei Jahre an Bokutos Seite prägten einfach, und Keiji war es inzwischen unmöglich, den Reflex zu unterdrücken, eine offensichtliche Dummheit herauszustellen, wenn er sie sah. Leider gehörte Unbeirrbarkeit zu den Dingen, die Bokuto seinem Team vererbt hatte, und Shima lachte nur völlig unbekümmert auf.  „Ach komm! Die paar Bälle fallen eh nicht auf! Und es ist für nen guten Zweck!“ Der Volleyball kam näher, drückte auffordernd gegen Keijis Brust. „Captain, bitte~!“ Es war nicht der einzige Volleyball; Shimas Begleiter – ein kleiner Haufen Katzen – trugen die anderen sechs Bälle auf den Armen. Einen für jeden Ehemaligen. Keijis Blick kehrte auf den Ball vor seiner Nase zurück. Unter den schiefen Unterschriften fand er Nishiame und Suzumeda, und selbst Kozumes ordentliche Schrift hatte sich vergleichsweise winzig zwischen zwei Unterschriften, die ihm gar nichts sagten, eingenistet. Wahrscheinlich hatten sie Kozume gezwungen. Einige der Namen waren so eng beieinander geschrieben, dass man sie nur mit Mühe auseinandersortieren konnte. Ein Volleyball hatte eben nur eine gewisse Fläche, und irgendwann war sie aufgebraucht.  „Komm schon! Jeder macht mit! Sogar die Spaßbremse aus Shiratorizawa hat unterschrieben!“ Etwas in Shimas Tonfall suggerierte, dass er es nicht ganz freiwillig getan hatte. Keiji seufzte stumm, während er sich in Gedanken selbst korrigierte. Wahrscheinlich hatten sie weit mehr als nur Kozume gezwungen.   „Bokuto-San wird es lieben!“   Das Argument zog irgendwie. Keijis Mundwinkel zuckten. Natürlich würde Bokuto es lieben. Bokuto liebte alles, was eine dumme Idee war, und diese Idee war dumm. Sie war, abgesehen davon, dass die Bälle immer noch Schuleigentum waren, wirklich liebenswert, aber sie war vor allem wirklich dumm. So ein bunt beschriebener Ball würde sich gut in Bokutos winziger Bude machen.    (Natürlich hatte er ausziehen müssen – „Das macht jeder nach der High School, hey hey hey!“ Keiji war sich immer noch sehr sicher, dass jeder de facto eigentlich nur Kuroo bedeutete, aber für Bokuto war das doch ohnehin einerlei.)   Mit einem stummen Seufzen nahm er den Ball an sich, packte einen der Marker aus Shimas Hand, ohne auf die Farbe zu achten, und warf dem Jungen einen strengen Blick zu.  „Wenn das Fehlen der Bälle auffällt, wirst du dafür aufkommen, neue zu besorgen.“ Volleybälle waren nicht billig. Keiji hatte keine Zweifel daran, dass Shima das nicht alleine stemmen könnte, aber das war überhaupt nicht sein Problem. Den ganzen Plan jetzt noch aufzuhalten war auch unmöglich, immerhin waren die Bälle längst beschmiert, also konnte er Bokuto wohl trotzdem diese Freude machen. Shimas Grinsen erblasste für einen Moment, aber dann war es schon wieder an seinem Platz. Unbeirrbar. „Keine Panik!“, verkündete er selbstüberzeugt, warf sich in die Brust, „Das fällt nicht auf! Und wenn doch, dann hängen wir sowieso alle drin!“ Keiji sparte sich den Widerspruch. Shima würde es merken, wenn es wirklich so weit kam. Er unterschrieb auf dem Ball, reichte ihn dann zurück. Unterschrieb auf dem nächsten. Und dann den anderen fünfen, bis Shima und Anhang schließlich wieder zufrieden abzogen, um die ein oder zwei noch fehlenden Unterschriften zu finden.   Er hoffte nur, dass der Ärger, den sie sich da mit ihrem Direktor anlachten, sich auch wirklich lohnen würde.     ***     In der Sporthalle herrschte eine solche Hektik, als wären sie mitten in einen Hurrikan geraten. Morisuke hatte erwartet, dass die Jungs schon trainierten, schlicht, weil sie doch ein paar Minuten zu spät waren, aber statt zu trainieren, standen alle fünf Teams eng aneinander gedrängt beieinander und die daraus resultierende Diskussion war so laut, dass Morisuke das unbestimmte Stimmengewirr durch die ganze Halle echon hörte. „Yooo, wir sind da!“, rief Kuroo in die lärmende Meute. Wie von der Tarantel gestochen stob die Gruppe auseinander. Hier und da wurden Blicke getauscht, Morisuke sah grinsende Gesichter, die seltsam unheilverkündend aussahen. Sie hatten irgendetwas geplant. Er wollte gar nicht erst wissen, was es war. Aber hatte er eine Wahl? Wahrscheinlich war es sogar besser, es einfach schnell hinter sich zu bringen, auf dass er sich nach einem kurzen Moment des Aufregens wieder auf die wichtigen Dinge konzentrieren konnte. Seufzend stapfte er näher zu den Jüngeren, stemmte die Hände in die Hüften. „Okay. Was habt ihr geplant?“ „Das ist eine Überraschung!“, rief Lev sofort aus. Er grinste, breit und penetrant und viel zu glücklich. Morisuke runzelte unwillig die Stirn, während er in das dümmlich grinsende Gesicht sah. Er verstand nicht, wie Lev so gute Laune habe konnte, bedenkend, was gestern zwischen ihnen vorgefallen war. Aber Lev schien überhaupt nicht mehr daran zu knabbern. War es ihm egal, oder lag es einfach nur an seinem grenzdebilen Optimismus? Morisuke wollte es gar nicht wissen. „Also. Zumindest ein Teil ist eine Überraschung! Den anderen können wir euch sofort zeigen. Takuya! Shibayama! Inuoka!“   Aufgescheucht von Lev eilten die benannten drei Jungs davon, rüber in den Geräteraum. Als sie nach wenigen Sekunden wiederkamen, trugen alle drei Volleybälle auf den Armen – Shibayama und Inuoka jeweils zwei, und der riesige Fukuroudani-Erstklässler, der bei ihnen war, hatte drei auf seinen Armen aufgetürmt. Lev nahm ihm einen der Bälle ab, nachdem sie wieder herangekommen waren. „Hey, kommt rüber!“, rief der Erstklässler zum Rest der Gruppe nach hinten. Aus dem Pulk lösten sich nach einem kurzen Moment drei Gestalten. Karasunos Yamaguchi, Aoba Jousais grimmig guckender Mittelblocker mit der unvorteilhaften Kopfform, und Shiratorizawas pottschnittiger Außenangreifer gesellten sich zu Levs Grüppchen, jeder von ihnen bekam einen Ball in die Hände gedrückt. Dann standen sie da. Alle sieben aufgereiht, Volleyball in den Händen und Grinsen im Gesicht. In ihren Blicken spielte sich zu gleichen Teilen Glück und Freude wie beinahe melancholische Sentimentalität. Es erinnerte Morisuke an seinen Schulabschluss. An den letzten Tag, den er auf der Nekoma High School verbracht hatte, mit seinem alten Team, mit den Gesichtern, die ihm über bis zu drei Jahre viel zu vertraut geworden waren. Das letzte Mal, dass er Kuroo in der Mittagspause Papierknäuel an den Kopf werfen konnte, weil er zu nervig laut lachte. Das letzte Mal, dass sie sich nach der Schule trennten, um den Heimweg anzutreten, die altgewohnte Begrüßung von „Bis Morgen!“ plötzlich nur noch ein unbestimmtes „Man sieht sich!“ – es schnürte ihm die Kehle zu, auch wenn er sich strikt weigerte, das zu zeigen. Shibayama räusperte sich, und der Laut riss Morisuke aus seinen Gedanken. Sein Nachfolger sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen, aber er schlug sich wacker, lächelte über die feuchten Augen hinweg. Holte noch einmal tief Luft.   „Wir wollen danke sagen“, begann er, seine Stimme zitterte und brach zum Ende des Satzes hin. Er lachte, als wollte er damit verstecken, wie kurz vorm Weinen er stand. Inuoka klopfte ihm mitleidig auf die Schulter, dann fuhr er fort, wo sein kleiner Freund aufgehört hatte: „Es war übrigens Takuyas Idee! Die wir alle sehr gut fanden. Weil. Wir wollen euch auch irgendetwas mitgeben.“ „Ihr habt uns schließlich wahnsinnig viel mitgegeben.“ Yamaguchi grinste hilflos, zog die Nase kraus, hob die Schultern – „Ich meine – die letzten Jahre. Und klar, ihr seid jetzt– ihr seid kein Teil des Teams mehr. Aber–“ – „Es bleibt so viel zurück! Wir könnten Ushijima-San niemals vergessen!“ Yamaguchi schien erleichtert zu sein, dass jemand ihm den Gesprächsfaden abgenommen hatte. Er lächelte scheu zum Pottschnitt hinüber, der entgegen seiner bisher eher arrogant-aggressiven Haltung ein überraschend freundliches Lächeln zustande bringen konnte. Nach einem kurzen Blickkontakt mit Yamaguchi wandte er sich um, hob auffordernd die Augenbrauen in Richtung des Seijoh-Spielers, der hier stand. Morisuke fragte sich unwillkürlich, ob sie ihre kleine Rede vorher geübt hatten, oder tatsächlich gerade improvisierten. „Und dann das Trainingscamp hier! Ihr hättet keinerlei Verpflichtung mehr gehabt, euch irgendwie um uns zu kümmern, und trotzdem habt ihr das aufgezogen, und uns damit unglaubliche Trainingsmöglichkeiten beschert.“ „Wofür wir uns auch bedanken wollen“, fügte Fukuroudanis Erstklässler hinzu. Er grinste breit, seine Augen funkelten auf eine Art, die in Yaku den Eindruck erweckte, dass er diesem Jungen niemals länger hätte böse sein können, wäre er Teil seines Teams gewesen. „Für das Trainingscamp. Für die Zeit, die ihr unsere Teams bereichert habt. Die Zeit, in der ihr Senpai wart, die uns an die Hand genommen und geführt haben. Dafür, dass ihr jetzt hier steht, und immer noch ein Teil unseres Lebens seid, obwohl ihr dazu keine Verpflichtung habt. Dafür, dass eure jeweiligen Teams wichtig genug sind, um heute noch einmal hier zu stehen.“ Er warf einen Blick aus feuchten Augen zu seinen Kameraden hinüber. Jeder einzelne antwortete mit einem Nicken. Sie waren nicht ganz synchron, aber eindeutig abgesprochen, als sie sich in Bewegung setzten und jeder einzelne mit seinem Volleyball in den Händen loslief, auf einen der Ehemaligen zu. Es wunderte Morisuke nicht einmal, dass es Lev war, der schließlich vor ihm zum Stehen kam – nur der Blick des Riesen, ungewohnt sanft, kein arrogant selbstüberzeugtes Grinsen auf den Lippen, verunsicherte ihn. „Deshalb“, begann Lev, streckte ihm den Ball entgegen, den er hielt. Morisuke sah irritiert zur Seite, und auch dort schienen die Bälle allesamt auf eine Übergabe aus zu sein. Zögernd nahm er den Ball an, brachte Lev damit, breit und glücklich – nicht nervig! – zu grinsen. „Danke.“ Leise, für Lev-Verhältnisse. Morisukes Magen machte einen kleinen, unangenehmen Salto, den er nie wieder erleben wollte. Dann trat Lev wieder einige Schritte zurück, zusammen mit seinen Kollegen. Sie ergaben keine saubere Reihe, und das unruhige Gewusel hinter ihnen sah sowieso chaotisch aus. Trotzdem schafften sie es ohne ein näher sichtbares Signal, sich synchron zu verbeugen – selbst Kenma machte mit ungewohnt viel Einsatzbereitschaft mit. Ihre Stimmen halten als bunter Chor von den Wänden wider:   „Vielen Dank für alles!“     ***     Im Nachhinein bestritt Tetsurou es natürlich, aber die kleine, seltsame Dankesrede der Kleinen hatte ihm Tränen in die Augen getrieben. Nicht nur ihm, letztlich – Yaku und Suga hatten beide geheult, Sawamura war nicht weit davon entfernt gewesen, die Männlichkeit seiner Tränen gegen ein dramatisches Schluchzen auszutauschen, und Bokuto hatte sowieso geheult wie ein Schlosshund, warum auch nicht? Es war Bokuto, so etwas wie Scham kannte er nicht. Oikawa hatte auch Tränen in den Augen, hatte das Gesicht idiotisch verzogen, als könnte er die Tränen damit bekämpfen. Es war sicher Wunschdenken; Tetsurou beharrte trotzdem darauf, dass auch Ushiwakas Blick feucht geglänzt hatte. Kaum merklich, aber doch. Am Ende vergeudeten sie beinahe eine halbe Stunde damit, sich über ihre Geschenke zu freuen. Volleybälle. Unterschrieben. Einige Namen waren so klein aneinander geknubbelt, einige Sauklauen so unleserlich, dass Tetsurou nicht einmal die Hälfte von ihnen entziffern konnte, aber – war das denn wichtig? Das war eindeutig eine Geste, bei der der Gedanke mehr zählte als die Ausführung, und der Ball bekam definitiv einen Ehrenplatz in seiner Wohnung! Wo auch immer. Eingeklemmt ins DVD-Regal zwischen DVDs und Regaldecke wäre ein guter Platz. „…! Bro!“ Bokutos Ausruf kam jäh und unerwartet. Gerade war er noch damit beschäftigt gewesen, seinen Ball zu bewundern, und jetzt sah er Tetsurou an, als wäre ihm gerade der Sinn des Lebens klargeworden. (Wobei, wenn man Bokuto fragte, der Sinn des Lebens simpel Volleyball war, das konnte es im Grunde also gar nicht sein.) „Die müssen auch Autogramme von uns kriegen!!! Das ist doch voll lahm, wenn wir jetzt nicht auch alle Autogramme geben!“ Autogramme. Tetsurous Augen leuchteten auf. „Bro, du hast Recht!“ – „Bokkun, das ist eine geniale Idee!“   Es dauerte viel zu lange, bis Griesgram Yaku und Spaßbremse Ushiwaka überzeugt waren und Shibayama seine Marker angeschleppt hatte. Dann wurde es chaotisch. Sich in Reih und Glied aufzustellen, wäre zu langweilig, und irgendwie systematisch mit dem Unterschreiben vorzugehen ebenfalls: Sie huschten völlig kopflos durch die ganze Halle, immer auf der Suche nach einem Shirt, auf dem sie noch nicht unterschrieben hatten. Im Vorbeilaufen entdeckte Tetsurou so einiges, das interessant war. Persönliche Widmungen. Sei ein liebes Hündchen~ hatte Oikawa aus das Shirt von Seijohs Vize-Captain geschrieben. Mach Asahi stolz waren Sugas Grüße an Karasunos Libero. Sawamura hatte nicht gerade ordentlich darunter gekritzelt Aber nicht zu sehr, sonst heult er wieder! Tetsurou brauchte viel länger als nötig, um von Shirt zu Shirt zu kommen, einfach, weil er die kleinen Botschaften, die teilweise darauf prangten, mochte und lesen wollte. Du bist ein guter Captain, schrieb er auf Kenmas Shirt, neben Yakus ordentlicher Mahnung Lass dich von den Nervensägen nicht unterkriegen!! Jedes Shirt erzählte seine eigene kleine Geschichte. Sehr zu Tetsurous Erstaunen schaffte sogar Ushiwaka persönliche Widmungen. Weiter so, sagte die kurze Notiz auf dem Shirt des Pottschnitts, während Shiratorizawas Captain die kryptische Nachricht vergiss dein Versprechen nicht erhielt. Bokutos Nachrichten waren die Besten. Ich mag deine Haare, hey hey hey!!! hatte er auf das Shirt des neuen Fukuroudani-Riesen geschrieben. Du trittst in große Fußstapfen, aber du schaffst das! Auch wenn deine Füße klein sind prangte in unordentlicher Krakelschrift auf Mareis Shirt, und auf dem Shirt eines anderen Fukuroudani-Erstklässlers stand Du siehst aus wie ein Kind von mir und Akaashi, also musst du cool sein! Manchmal hinterließ er nicht mehr als ein simples Hey hey hey!!!, während Karasunos Chibi sogar eine persönliche Widmung bekam – für meinen größten Fan. Akaashis Shirt war mit dem wenig subtilen für den schönsten Zuspieler überhaupt beschrieben. Am besten war eigentlich Levs Shirt, fand Tetsurou. Mach Yakkun klar! Er lachte, während er die anderen Unterschriften überflog. Yaku hatte bereits unterschrieben, auf Levs Rücken. Du bist noch mehr als ein Jahr zu früh, um Ass zu sein. Was die meisten als Beleidigung lesen würden, war für Tetsurou ein klarer Zuspruch – Lev mochte noch zu früh sein, aber er war nicht unfähig, und er konnte diesen Punkt erreichen, selbst in Yakus Augen. Tetsurou schmierte sein eigenes Autogramm auf das Shirt, zusammen mit der Mahnung, dass Lev gefälligst Kenma nicht zu sehr ärgern sollte, dann trat er wieder von dem Riesen zurück und machte sich auf die Suche nach den restlichen Shirts, die ihm noch entkommen waren.   Sie hatten mit dem Training noch nicht einmal begonnen, als Tetsurou mit einem entsetzten Blick auf die Uhr feststellte, dass er schon seit zehn Minuten weg gewesen sein wollte. Kaum zu fassen, dass sie gerade erst Shibayama seine Marker zurückgegeben hatten, nachdem sie fertig mit der Unterschriftenaktion geworden waren. „Hey, Jungs!“, rief er in den Raum hinein. Eine Unzahl an neugierigen Augenpaaren richtete sich auf ihn. „Sorry, aber ich muss los! Ich hab heut noch nen Termin.“ – „Eeeeeh?! Kuroo-San, das geht nicht!“ Inuoka machte einen hektischen Satz auf ihn zu, so als wollte er Tetsurou im Zweifelsfall einfach festhalten. Es war ihm aber zugegeben egal, ob das ging oder nicht – er musste eben weg. Er wollte ja auch nicht! Aber Wettschulden waren Ehrenschulden, und vor allem würde er es ewig bereuen, wenn er seinem Unwillen nachgab und es schleifen ließ. Diese miese Schlange war ein nachtragender Bastard, und Tetsurou hatte keine Lust, noch bei seiner Grabesrede davon zu hören, was für ein schlechter Verlierer er doch war. „Es geht wirklich nicht!“, bestätigte jetzt auch Lev mit einem wilden Nicken, „Wir müssen doch noch gegen euch spielen?“ „Wir?“ Aber wenn es nur ein Spiel war… Tetsurou presste die Lippen zusammen, nachdenklich. Er konnte einfach Bescheid geben, dass er später kam. Vielleicht. Nicht hier zu bleiben wäre auch kein großer Verlust für das Ehemaligenteam, immerhin wären sie immer noch spielfähig zu sechst. Und so eine große Herausforderung waren ihre alten Teams nun einfach wirklich nicht.   Scheinbar war das aber auch gar nicht, was geplant war. Skeptisch beobachtete er, wie unter Levs Wink wieder ein paar Gesichter aus dem allgemeinen Pulk hervortraten. Kageyama. Nishinoya. Chibi-Chan. Der grimmige Mittelblocker von Seijoh, der eben schon an der Dankesrede beteiligt gewesen war. Pottschnitt. Marei. Yamamoto. Auf den ersten Blick eine idiotische Mischung – auf den zweiten Blick ein verblüffend gut funktionierendes Team. Tetsurou grinste. Kenma wich seinem Blick ganz bewusst aus, mehr als sonst, und das allein war für ihn Beweis genug dafür, dass der Pudding in der Planung drinsteckte. „Nicht schlecht“, murmelte Oikawa amüsiert, doch in seinen Augen lag ein kalter, gefährlicher Glanz, von dem Tetsurou schon glatt verdrängt hatte, dass der Kerl dazu fähig war. Ihm war der Oikawa, der morgens aus dem Bett fiel und aussah wie ein explodiertes Vogelnest, irgendwie vertrauter geworden als der charismatische, dezent unfreundliche Volleyballspieler. Tetsurou stieß ein leises Seufzen aus. Verschieben also. Es war ja nicht so wichtig. Aus der Gruppe trat Kageyama hervor, entschlossen, die Schultern gestrafft. Sein Blick glitt zu Oikawa hinüber, als er sprach:   „Wir fordern euch heraus!“ Kapitel 6: ----------- Dafür, dass das ganze Team beisammensaß, war es ungewöhnlich still; statt wie üblich eifrig durcheinander zu plappern, waren selbst solche Störenfriede wie Lev oder Tora vollkommen still, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Dass sie alle so geknickt waren, war beinahe albern. Natürlich hatte ihr eigens zusammengestelltes Eliteteam verloren. Kenma hatte von vornherein keine einzige Sekunde daran gezweifelt. Sie konnten gar keine Chance haben mit einem so zusammengewürfelten Team, das noch nicht einmal ein Übungsspiel gehabt hatte, um sich aufeinander einzustellen. Am Ende hatten sie sogar noch viel deutlicher verloren, als Kenma erwartet hatte, hatten noch schlechter zusammengespielt, als er spekuliert hatte – er hatte unterschätzt, wie unglaublich schlecht das Team menschlich funktionierte. Dass Kageyama ein schwieriger Charakter war, hatte er gewusst. Er hatte auch geahnt, dass seine Persönlichkeit zu Problemen führen würde. Dass er mit einigen seiner Teamkameraden überhaupt nicht klarkam, das war für Kenma doch aber unerwartet gekommen. Im Endeffekt hatte ihr Eliteteam schlechter gespielt als jedes Team einzeln für sich. Den geschockten Gesichtern fast aller Beteiligten zufolge hatte kaum jemand damit gerechnet. Im Grunde sollte es sie aufrütteln. Ihnen zeigen, wo ihre Fehler waren, und zumindest im Groben einen Weg aufzeigen, wie sie besser werden konnten. Wenn sie erst damit fertig waren, zu verarbeiten, würden sie an diesem Scheitern wachsen können.   Shouyou tat es jetzt schon. Kenma hatte die Entschlossenheit in seinem Blick gesehen, keine fünf Minuten nach dem finalen Punkt, nachdem das erste Entsetzen von seinem Gesicht verschwunden war.   „Also.“ Kuros Stimme riss Kenma aus seinen Gedanken, ließ ihn von seinem Platz auf dem Boden von Nekomas Schlafraum aufsehen. Sie hatten sich nach dem Spiel in ihrem Team zusammengerottet, nachdem gemeinsam beschlossen worden war, das Training frühzeitig zu beenden. Nicht nur, weil Kuro sowieso gehen wollte, sondern auch, weil sich nach dem ernüchternden Spiel niemand mehr so recht nach Training fühlte. Kenma weinte den Stunden der Anstrengung sicher nicht hinterher, die sie sich hier sparten. Auf eine große Rede von Kuro hätte er allerdings auch verzichten können. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, stand breitbeinig neben Yaku da und sah mit dem Blick auf sie hinunter, den er als Captain immer für schwere Gespräche reserviert gehabt hatte. Obwohl er kein Captain mehr war, zeigte der Blick immer noch die gleiche Wirkung wie damals – alle Aufmerksamkeit lag auf ihm. „Hört auf, solche Gesichter zu ziehen. Ihr seid gut.“ „Nicht gut genug“, murmelte Tora verbittert. Er gab sich natürlich Schuld an dem katastrophalen Spielergebnis, immerhin war er dabei gewesen. Er hatte nicht schlechter gespielt als sonst, aber Kenma konnte es trotzdem nachvollziehen. Tora war ein hervorragender Allroundspieler, dessen Stärken vor allem darin lagen, dass er auch in der Verteidigung glänzte, aber als Angreifer war er eben eher… nicht herausragend. Neben den brillanten Außenangreifern, neben denen er gespielt hatte, fiel das natürlich ins Gewicht. „Das ist nur passiert, weil ihr mich nicht eingewechselt habt“, fügte Lev mit einem selbstgefälligen Grinsen hinzu. Kenma musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, wie die Reaktionen auf seine Worte ausfielen. Wäre Tora etwas weniger verbittert gewesen, er hätte losgezetert. So blieb Toras Zetern aus, stattdessen wich die Stille einem Schnauben von Yaku, das irgendwo zwischen empört und abfällig und wütend changierte. „Natürlich hat man dich nicht eingewechselt“, schnappte er gnadenlos, „Niemand, der bei klarem Verstand ist, wechselt seinen schlechtesten Spieler ein. Mit dir auf dem Feld wäre es doch nur noch schlimmer geworden.“ – „Das ist überhaupt nicht wahr!“ Natürlich war es wahr. Kenma wusste es. Yaku wusste es. Kuro wusste es. Vermutlich wusste es so ziemlich jeder hier im Raum. In Levs eifrigem Widerspruch schwang ein leiser Nachhall von verletztem Stolz mit, von Verbitterung und Enttäuschung – er wusste es genauso, wie jeder andere. Dass seine Freunde ihn dieses Mal nicht verteidigen, wie sie es oft taten, war wohl ein Übriges.   „Yaku hat Recht.“ Eigentlich war es überflüssig, aber Kenma hatte den Eindruck, dass es eine Notwendigkeit war, es zu erwähnen. Er wollte nicht Teil der Diskussion werden, aber als Captain hatte er nicht mehr das Recht, sich bequem zurückzulehnen und zuzusehen – zumindest nicht immer. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, aus Levs angekratztem Ego noch etwas zu machen und ihn zu einer Selbsterkenntnis zu treiben, die dafür sorgte, dass er endlich begann, ernsthaft an seinen Schwächen zu arbeiten, statt nur seine Stärken zu polieren. „Du hast es gehört! Sogar Kenma stimmt zu! Du bist kein guter Spieler. So wirst du niemals das Ass werden!“ „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich schon das Ass sein, Yaku-San!“ Yakus ungläubiges Schnauben sagte mehr als tausend Worte hätten sagen können. Bedrückte Stille machte sich im Raum breit, als es verklungen war. Niemand schien das Bedürfnis zu haben, sich weiter zu dem Spiel zu äußern, zu ihrer Niederlage, zu allem, das damit zu tun hatte. Sie nahmen sich die Niederlage so sehr zu Herzen, als hätten sie ein Ticket zur Nationalmeisterschaft verschenkt. Objektiv konnte Kenma es nachvollziehen, auch wenn er überhaupt nicht mitfühlte. Sie hatten ihre alten Kameraden beeindrucken wollen. Hatten zeigen wollen, dass sie auch ohne die jetzt fehlende Unterstützung der Älteren zurechtkamen und stark genug waren, um ihr Erbe aufrecht zu erhalten. Dass sie dieses Jahr wieder eine Leistung erbringen konnten, auf die sie stolz sein konnten. Die Demonstration war aufs Peinlichste gescheitert.   „Lernt einfach draus.“   Der simple Ratschlag kam von Yaku. Kuro neben ihm lachte leise. Es war typisch Yaku – einfach, geradeheraus, und trotzdem etwas, das viel komplizierter war für jeden, der eben nicht Yaku war. „Natürlich läuft so ein Schwachsinn nicht! Es war absolut klar, dass ihr verliert. Habt ihr das ernsthaft nicht bedacht? Jetzt tragt es gefälligst wie Männer und hört auf, euch in Selbstmitleid zu suhlen! Ihr seid zu schlecht? – Scheiß drauf! Trainiert gefälligst härter! Werdet besser! Ihr habt ein ganzes verdammtes Schuljahr vor euch, um aus diesem Sauhaufen hier ein funktionierendes Team zu machen, also tut es!“ „Yakkun~ sei nicht so harsch mit ihnen.“ Yaku schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust. Er murmelte etwas in sich hinein, das verdächtig nach irgendjemand muss es doch tun klang. „Es kann nicht jeder so ein Monster sein wie du.“ – „Halt die Klappe. Du hast auch nachgelassen, Kuroo! Nimm dein Volleyballtraining gefälligst ernster!“ Kenma sah, wie Kuro eine leidende Grimasse schnitt. Er wusste genau, warum – Kuro mochte sein neues Team nicht. Beinahe täglich konnte Kenma sich am Telefon Kuros Gejammer über die Uni anhören. Über die gemeinsamen Kurse. Über das Volleyballspielen auf der gleichen Spielfeldseite wie er. „Yaku hat Recht.“ – „Kenma! Fall mir nicht in den Rücken!“ Kuro benahm sich wie ein riesiges, peinliches Baby. Außerdem nervten seine täglichen Klagegesänge. Er sollte sich ein Beispiel an Yaku nehmen – zumindest in Sachen Durchhaltevermögen.   Jemand lachte. Leise. Es war Taka gewesen, die Hand vor den Mund gepresst, doch im nächsten Moment brach es laut aus ihm heraus. Lachen, genau wie Gähnen, war offensichtlich ansteckend genug, denn es verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schnell genug lachte die halbe Mannschaft. Die schwere, drückende Stimmung verflog, als wäre sie nie da gewesen. Kuro grinste zufrieden, Yaku seufzte und stemmte kopfschüttelnd die Hände in die Hüften. Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe, und als Kenmas Blick kurz unauffällig zur Seite huschte, sah er, wie einige der Anderen sich unauffällig lachend über die Augenwinkel wischten.   „Shibayama!“ „J-ja!!!“ Der Junge sprang beinahe auf vor Schreck von der jähen Ansprache. Kenma verfolgte aus dem Augenwinkel, wie Yaku auf ihn zutrat und ihm den braven Haarschopf zerwuschelte. Shibayama zog die Schultern hoch, doch er lächelte unter Yakus Hand. Das Grinsen auf dem Gesicht des Älteren sah Kenma nicht, doch er konnte es hören: „Du machst deinen Job gut. Du kannst nicht jeden von Levs Patzern ausbügeln, und das erwartet auch keiner von dir. Du kannst ihm ruhig trotzdem ab und zu in den Arsch treten, wenn er wieder ein Idiot ist! Betrachte es als Zusatz zu deinem eigentlichen Job.“ „Yaku-San, du bist gemein“, meckerte Lev geknickt. Er klang nicht mehr ganz so unglücklich wie vorhin noch, und sein Gejammer brachte ihm ein Lachen von Inuoka ein, der ihm kameradschaftlich auf die Schultern klopfte. Das Team kehrte langsam wieder zu seinem typischen Verhalten zurück. „Du verdienst es. Ich hör erst auf damit, wenn du kein inkompetenter Trottel mehr bist!“   Das war es. Yaku trat wieder zurück. Er hatte offensichtlich genug gesagt, grinste nur noch zu ihnen hinunter mit einem Blick in den Augen, der an ein stolzes Elternteil erinnerte, dass gerade seine Kinder zum ersten Mal allein zur Grundschule gehen ließ. Kenma fühlte sich unangenehm klein in diesem Moment. „Nachdem Yakkun jetzt fertig ist…“ Kuros Rede war das übliche Palaver. Blut in den Adern, das fließen musste, um das Gehirn zu versorgen, Verbindungen, die nicht abbrechen durften. Kenma hatte es schon tausend Mal gehört, Kenma wollte es nie wieder hören, und er war froh, dass es eine Tradition war, die mit Kuros Abschied aus dem Team schon längst im Aussterben begriffen war. Sie kamen ohne Kuros komische Motivationsreden aus, und bislang hatte sich noch niemand über ihr Fehlen beklagt. Kenma erwartete, dass das so bleiben würde. „Kenma.“ Die jähe Ansprache riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Blick flackerte kurz zu Kuro hinauf, nahm ein breites Grinsen wahr, hinter dem sich eine Mischung aus Melancholie, Erleichterung und Sentimentalität versteckte. Allein der Anblick reichte, damit Kenma wusste, dass er gar nicht hören wollte, was Kuro zu sagen hatte. Er wollte es nicht hören, aber er hörte trotzdem zu.   „Du bist ein guter Captain.“   Es war die eine Sache, in der sie sich niemals einig werden würden. Kenma war der Überzeugung, dass er der Letzte war, der als Captain taugte. Es war logisch; er hatte viel zu wenig eigenen Antrieb, um Captain zu sein. Zu wenig Energie. Zu wenig Motivation. Er war kein Teamplayer. Am Liebsten war er für sich und fernab der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er war alles, was ein Captain nicht war, und trotzdem war er Captain dieses Teams. Es war Kuros Schuld. Kenma hatte es ihm noch nicht verziehen. Kuro blieb trotzdem unbeirrbar darin, dass es richtig war, dass er das ganze Team dazu aufgehetzt hatte, Kenma zum Captain zu wählen. Kuro glaubte, dass er der Richtige für den Job war. Kuro glaubte, er hätte ihm damit irgendeinen guten Dienst getan. Kenma würde es niemals verstehen. Er sah noch einmal in Kuros Gesicht auf, sah das gleiche breite Grinsen wie vorhin noch, die Wehmut darin trat immer deutlicher hervor, und gleichzeitig hatte sich auch Stolz eingenistet. Es war kein gutes Grinsen.   „Pass auf unser Team auf, Captain.“     ***     „Ihr könnt langsam wieder aufhören, dreinzuschauen, als wäre die Welt untergegangen, wisst ihr?“ Sugas Stimme klang irgendwo zwischen mitleidig und resignierend. Es war das zweite Mal in den letzten Minuten, dass er versuchte, die allgemeine Laune zu heben. Beim ersten Mal war die Reaktion nichts weiter gewesen als schweres Seufzen, das jedem unglücklich Verliebten Konkurrenz machen konnte. Auch jetzt erntete er nur herzzerreißend tragisches Geseufze aus mehreren Mündern. Chikara war dankbar um Sugas Bemühungen, schon alleine, weil er sich gerade selbst nicht imstande fühlte, sein Team aufzumuntern, doch gleichzeitig hatte er einfach nur Mitleid mit ihm, denn er biss nur auf Granit damit. Es war verständlich. Er war selbst unglaublich frustriert, obwohl er nicht einmal mitgespielt hatte. Aber die vernichtende Niederlage, die das Team  hatte einstecken müssen, war einfach ansteckend gewesen. Die Erkenntnis, wie schlecht sie waren, war einfach schockierend. Und es war auch lange nicht die einzige Niederlage gewesen. Es war, als stünden sie wieder am Beginn des letzten Sommers, am Anfang des ersten Sommertrainingscamps, das sie mit der Fukuroudani-Gruppe gehabt hatten. Sie hatten nicht gut abgeschnitten. Waren sie das Team mit den meisten Niederlagen? Chikara hatte nicht mitgezählt, und bisher hatte er sich nicht getraut, die Dokumentation von Narita anzusehen. Allein, dass er immer wieder unglücklich auf sein Klemmbrett gesehen hatte, sagte eigentlich auch genug aus. Und selbst, wenn sie durch irgendein Wunder nicht die Schlechtesten gewesen waren – sie waren nicht gut gewesen. Daichi und seine unglaublich flexiblen Fähigkeiten, die ihn an der Front und in der Verteidigung unersetzlich machten. Asahi und seine unglaubliche Angriffskraft, die jede Verteidigung durchbrechen konnte. Selbst Suga, wenn auch selten auf dem Feld, der sich immer hervorgetan hatte durch seine Sensibilität und sein Verständnis des ganzen Teams. Ihr Fehlen war an allen Enden und Ecken spürbar. Das neue Team war nicht schlecht. Die Zweitklässler hatten größtenteils solche sprunghaften Fortschritte gemacht, dass sie wirklich herausragende Spieler wurden. Die Erstklässler waren unglaublich vielversprechend. Es war trotzdem nicht genug.   Daichi, dessen war sich Chikara sicher, hätte dieses Team viel eher zum Sieg führen können.   „Letztes Jahr.“ Chikara hob müde den Blick, begegnete Daichis Lächeln, in dem ein beinahe väterlicher Stolz lag. Der Blick von jemandem, der wusste, dass seine Zeit vorbei war, aber der fest darauf vertraute, ein gutes Erbe hinterlassen zu haben. Es tat weh. Daichi war stolz auf sie, obwohl sie nichts erreicht hatten.  „Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal, seit ich bei Karasuno angefangen habe, daran glauben können, dass wir eine Chance auf die Nationalmeisterschaft haben. Obwohl unsere Situation nicht gut war. Die Krähen, die nicht fliegen können. Aber…“ Er machte kurz Pause, schüttelte lächelnd den Kopf. Sein Blick glitt über die Anwesenden, die vor ihm auf dem Boden des Klassenzimmers saßen. Er blieb irgendwann an der Ecke hängen, in der sich Hinata und Kageyama tummelten. „Angefangen bei den Erstklässlern, die dieses unglaubliche Potential mitgebracht haben – wir haben uns durchgebissen. Wir haben so viele neue Techniken und Taktiken gelernt, wie ich vorher in meinem ganzen Volleyballleben nicht gelernt habe. Wir haben allen gezeigt, dass wir fliegen können.“ Chikara warf einen kurzen Blick zu seinem Team. Sie alle folgten wie gebannt Daichis Worten, so, wie sie es immer getan hatten. Selbst die diesjährigen Erstklässler waren völlig still und wie gefangen von Daichis Charisma, was gerade bei Osamu eine Seltenheit war; er hatte eine ungesunde Tendenz dazu, einfach ein bisschen zu laut zu sein. Er passte viel zu gut ins Team damit.   „Ihr könnt auch dieses Jahr fliegen. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen! Da ist Potential, überall.“ Daichi breitete die Arme aus. Er strahlte, und inzwischen sah er gezielt zu den Neulingen hinüber. Osamu, der kein Genie war, kein Kageyama, aber ein guter Zuspieler mit einem hervorragenden Blick für seine Umwelt und einem guten Händchen für seine Spieler. Mit Charisma und Liebe – er erinnerte Chikara manchmal an Sugas Art zu spielen, nur in mutiger. Tatsuo, der mit seinen ein Meter achtzig für einen Libero überraschend groß war – Nishinoya liebte ihn dafür –, und der im ersten Moment aussah, als hätte er keinerlei Motivation und Antrieb. In dem Moment, in dem er auf dem Spielfeld stand, war davon nichts übrig und er war genauso talentiert wie sein Zwillingsbruder, erfüllte seine Rolle, auch ohne ein Genie zu sein. Isshiki, dem man, wenn man ihn so sah, erst einmal gar nichts zutraute. Er war nicht herausragend groß, er sah nicht aus wie jemand, der besondere Fähigkeiten hatte, er war nicht kräftig, nicht herausragend muskulös, aber er war ein technisch unglaublich guter Angreifer, der eine beneidenswerte Ballkontrolle hatte, die mit mehr Übung auch Hinata Konkurrenz machen können würde. Sie hatten unglaublich viel Potential, das wusste Chikara auch. Trotzdem fiel es ihm schwer, dieses Team mit dem gleichen Aufwind zu sehen wie das letztjährige Team. „Ihr habt noch lange nicht das Ende erreicht! Macht weiter. Fliegt höher! Glaubt mir mal, dass wir uns nicht entgehen lassen, eure zukünftigen Spiele zu sehen! Und das nächste Mal bringen wir Asahi mit.“ Chikaras Mundwinkel zuckten. War das ein Versprechen oder eine Drohung? Für ihn fühlte es sich mehr nach letzterem an, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Aber die Worte halfen zumindest den Anderen – Nishinoya strahlte schon wieder. Tanaka, der sich offensichtlich herausgefordert fühlte, grinste wild, genau wie Hinata, der aussah, als würde er am Liebsten aufspringen und weitertrainieren. Der Blick des orangen Wuschelkopfs glitt zu Kageyama hinüber. Chikara fürchtete wirklich, dass das Freak-Duo gleich losstürmen würde. Was Sugas sanfte Worte nicht geschafft hatten, schaffte Daichis Captainrede.   Es war bewundernswert. Beneidenswert.   „Daichi hat Recht. Ihr seid ein gutes Team. Ich habe so viel Zeit letztes Jahr damit verbracht, euch zu beobachten, ich muss es wissen! Natürlich ist dieses Jahr alles anders. Sicher dauert es noch eine Weile, bis ihr aufeinander eingespielt seid. Aber wenn es soweit ist, dann werdet ihr es noch viel weiter bringen. Besser werden. Und wer weiß? Irgendwann besiegt ihr uns noch!“ Wie auch immer das gehen sollte. Aber es war eine Hoffnung, an die sich nur zu gerne geklammert wurde: Überall wurden Stimmen laut, wurden Kriegserklärungen gesprochen, selbstbewusste Aufrufe, dass sie beim nächsten Mal auf jeden Fall gewinnen würden.  „Wir machen euch fertig!“ „Ja, zieht euch warm an!“ „Die Krähen werden nie wieder nicht fliegen!“   „Zumindest, wenn unsere Majestät endlich Teamwork lernt“, spöttelte Tsukishima plötzlich in die allgemeine Euphorie. Sofort kippte die Stimmung wieder. „Oi, Tsukishima! Nimm das zurück!“, rief Hinata ihm empört entgegen. Kageyama war still. Er sah auf den Boden hinunter, hatte die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Natürlich hatte Tsukishima wieder einen wunden Punkt getroffen. Natürlich hatte er noch einmal daran erinnern müssen, dass es unter anderem Kageyamas Unfähigkeit, mit einigen der fremden Spielern zu spielen, gewesen war, die das Team hatte scheitern lassen. Seijohs Außenangreifer zum Beispiel hatte er nach einem missglückten Wurf gar nicht mehr angespielt. „Ich sage nur die Wahrheit. Wenn der König nicht endlich lernt, sich auf den Pöbel einzustellen – auf allen Pöbel, nicht nur auf seinen kleinen Stiefellecker –, dann haben wir spätestens nächstes Jahr einen neuen Zuspieler.“ „Tsukishima!“ Es war eindeutig genug. Chikara sprang von seinem Platz auf, überbrückte die kurze Distanz zu dem Blondschopf, der völlig desinteressiert zu ihm aufsah. Hinatas Blick folgte jeder von Chikaras Bewegungen, abwartend, aber jederzeit bereit, wieder auf Tsukishima loszugehen, wenn es seiner Meinung nach nötig wurde. „Wenn es dir so wichtig ist, dass Kageyama noch mehr Teamwork lernt, dann bring es ihm bei!“ „–was?“ „Du hast mich verstanden. Ab heute ist es dein Job, Kageyamas Teamkompetenzen zu fördern.“ Tsukishimas Blick entgleiste völlig, sein Kopf ruckte so hektisch vor, dass die Brille ihm halb von der Nase rutschte. Osamu gackerte. Chikara sah, wie Yamaguchi hinter Tsukishima grinste, sein Blick sah beinahe erleichtert aus. Er schien froh über die Entwicklung zu sein, während Hinata dreinsah, als hätte man ihm verkündet, dem Direktor wären wieder Haare gewachsen.   Daichis lautes Lachen unterbrach die Szene sehr schnell. „Das hätte ich nicht besser machen können!“, rief er immer noch glucksend aus. Eine kräftige Hand legte sich auf Chikaras Schulter und drückte sie sanft. Chikara konnte nur schief lächeln. Daichis Lob ehrte ihn, aber gleichzeitig konnte er nicht verhindern, dass er an all die Fehler dachte, die er hatte. Daichis Fußstapfen waren gigantisch groß, es war beinahe unmöglich, dass Chikara es schaffte, in sie hineinzuwachsen. Daichi hatte Charisma, konnte mitreißen. Er war konsequent, fleißig, war stark und stur, hatte noch nie aufgegeben und würde niemals aufgeben, egal, welchen Hindernissen er sich gegenübersah. Chikara war fortgelaufen. Und auch wenn er wiedergekommen war, es war eine Schwäche, derer er sich immer noch schämte, und ein Fehler, den er sich selbst nicht verzeihen konnte. Ganz egal, wie oft Nishinoya betonte, dass Chikaras Wert doch genau darin lag, dass er zurückgekommen war, dass das seine große Stärke war – Chikara sah das einfach nicht. „Ennoshita“, mahnte Suga amüsiert. Chikara zuckte ertappt zusammen, warf einen kurzen Blick in Sugas Richtung, der ihn mit einem sanften Lächeln und wissendem Blick musterte. Suga wusste, was gerade in ihm vorging. Suga wusste es immer. „Vergiss nicht, dass sie alle hinter dir stehen. Du musst nichts allein tragen, auch wenn du der Captain bist.“   Das machte es nicht einfacher. Sie standen alle hinter ihm, und irgendwann würde Chikara sie enttäuschen.   „Chikara!!!“ Als hätte Nishinoya nur auf eine Gelegenheit dazu gewartet, hing er plötzlich auf Chikaras Schultern. Er taumelte unter dem unerwarteten Gewicht des Jungen, der sich mit allen Vieren an ihn geklammert hatte. Es war Nishinoyas Glück, dass er so leicht war, und Chikara im Vergleich recht kräftig, sonst wären sie wohl beide unangenehm auf dem Boden gelandet. Er seufzte, ächzte, doch er versuchte gar nicht erst, den winzigen Libero von sich zu schieben. Im Grunde war er nur froh, dass Tanaka sich nicht auch noch auf ihn stürzte. Oder Hinata. Oder Osamu, der auch am Liebsten immer mitten im Geschehen steckte. Dass er gerade nicht hier war, ließ Chikara ungesehen vermuten, dass er mit seinem Bruder beschäftigt war. „Chikara, du bist ein großartiger Captain! Also. Abgesehen von dem Lernzwang. Und der miesen Nachhilfe. Und dem konsequenten Morgentraining. Und dem Schreiverbot.“ Nishinoyas Aufzählung klang alles andere als positiv. Abstruserweise war es aus seinem Mund trotzdem ein Kompliment. „Meiner Meinung nach klingt das sogar sehr gut“, gab Daichi lachend zurück. Er sah wirklich zufrieden aus. Als er Chikaras Blick auffing, wurde sein Grinsen breiter, aufmunternd, stolzer. Du schaffst das, schien es sagen zu wollen. Chikara hätte ihm gerne widersprochen, ob verbal oder nonverbal, aber so weit kam er gar nicht, da tauchte in seinem Augenwinkel doch noch ein karottenfarbiger Haarschopf auf. „Ennoshita-San ist wirklich klasse! Gwah und woah, auch wenn er manchmal richtig gruselig sein kann! Sogar Kageyama hat Angst vor ihm!“ – „Hab ich nicht, du Idiot!“   Immerhin hatte Kageyama sich von dem Schrecken erholt, künftig mit Tsukishima zusammenarbeiten zu sollen.   Es war peinlich. Hinatas Einmischung trieb nur noch mehr Idioten auf den Plan. Jetzt war auch Tanaka dabei, und keine Minute später, irgendwo zwischen Kageyamas und Hinatas Streit darüber, wie gruselig Chikara nun war, mischte auch Osamu lachend mit, und irgendwo hörte er Kinoshitas schadenfrohe Stimme – er wusste viel zu genau, dass Chikara solche Situationen nicht mochte, also machte er natürlich mit. Und langsam wurde Nishinoya schwer. „Tatsuo! Holst du bitte deinen Senpai hier runter?“ – „Komme.“ Tatsuo klang überhaupt nicht motiviert, aber er gehorchte. Chikara seufzte erleichtert, als er spürte, wie das überflüssige Gewicht von seinem Rücken verschwand. Als er sich umdrehte, sah er Nishinoya noch kurz in Tatsuos Griff zappeln, ehe der Junge wieder auf dem Boden aufkam und dann losstürmte, um an anderer Stelle Unheil anzurichten. Er warf sich auf Tanaka. „Siehst du?“ Chikaras Blick wandte sich zu Suga um. Der Ältere grinste zufrieden. Alles, was Chikara sah, war ein Haufen unkontrollierbarer Idioten. Er hatte kein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Captain. Er hatte auch kein Vertrauen darin, dass sein Team in dieser Wahl auch nur ansatzweise die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es funktionierte trotzdem.   „Vergiss das hier nicht“, sagte Suga leise. Über das Gewusel an Stimmen verstand Chikara ihn kaum. Daichi neben ihm nickte, drückte noch einmal aufmunternd Chikaras Schulter, „Ganz genau. Und solange du für sie tust, was du kannst, wirst du immer genau der Captain sein, den sie brauchen.“     ***     Ushijima Wakatoshi war kein großer Redner. Kenjirou wusste das, genauso, wie der Rest des Teams Shiratorizawa das wusste. Es war der Grund, weshalb Kenjirou nicht verstand, dass sie sich ebenfalls geschlossen als Team zurückzogen, als die anderen Teams verkündeten, sie wollten für ein teaminternes Abschiedsresümee alleine sein. Kenjirou war ohnehin nicht der Meinung, dass es ein Resümee brauchte, denn alles, was sie wissen mussten, wussten sie schon. Sie waren nicht halb so gut gewesen, wie sie hätten sein sollen. Natürlich hatten sie Niederlagen eingesteckt. Nicht nur gegen Nekoma und Fukuroudani, was im Vergleich noch verständlich gewesen war. Auch gegen Seijoh. Gegen Karasuno. Alle großen Töne hatten überhaupt nicht geholfen. Wider Erwarten war keines der anwesenden Teams wirklich schlecht gewesen, und irgendwie hatte jedes von ihnen Siege erringen können. Dann das Desaster, das dieses letzte Spiel gewesen war. Kenjirou wollte gar nichts mehr davon hören, und am liebsten hätte er das gemeinsame Gespräch abgeblasen – er brauchte es wirklich nicht, sich seine und die Unzulänglichkeiten seines Teams unter die Nase reiben zu lassen. Aber er konnte nicht. Er konnte Ushijima gar nichts abschlagen. Er hatte ihn enttäuscht, schon wieder.   Für Kenjirou war das ganze Wochenende eine Enttäuschung gewesen. Zu sehen, wie Ushijima mit Oikawa zusammenspielte, mit dem Mann, den er Zeit seiner High School immer als größten Rivalen betrachtet hatte, als Dorn im Auge, als Störenfried. Zu sehen, wie sie gemeinsam auf dem Spielfeld standen und Punkt um Punkt erzielten. Sie waren ein beeindruckendes Team. Oikawa mochte nicht mit Ushijimas Persönlichkeit harmonieren, aber er funktionierte, besser, als Kenjirou jemals funktioniert hatte. Es war unglaublich frustrierend. Kenjirou wusste, dass ihm damit das einzige Recht, an Ushijimas Seite zu sein, verloren ging. Wenn er als Zuspieler nicht mehr von Nutzen war, dann hatte er gar keinen Nutzen für Ushijima, völlig verständlicherweise. So war das in der Welt des Leistungssports. Wer schwach war, wurde nicht gebraucht. Selbst, wenn er die Aufnahmeprüfung für Ushijimas Universität schaffte, selbst, wenn er seinen Platz im Volleyballteam fand, es war im Grunde einerlei, denn er würde nicht mit Oikawa konkurrieren können. Kenjirou bildete sich viel auf seine Fähigkeiten ein, aber er kannte seine Grenzen. Vergiss dein Versprechen nicht. Und trotzdem hatte Ushijima ihn noch nicht aufgegeben. Es war der einzige Hoffnungsschimmer, den Kenjirou hatte. Er atmete bebend aus, straffte die Schultern. Schon seit Minuten standen sie hier beieinander, schweigend, und niemand schien so recht wagen zu wollen, das Gespräch wirklich zu beginnen. Er würde es selbst vermeiden, wenn es möglich war, aber ganz abgesehen davon, dass sie nicht endlos Zeit hatten, es war für ihre Nerven genauso wenig sinnvoll, es weiter und weiter aufzuschieben. „Ushijima-San.“ Kenjirous Stimme klang fester und selbstsicherer, als er sich fühlte. Ushijimas Blick, stoisch und nichtssagend wie immer, wandte sich ihm kurz zu, dann sah er allgemein auf das Team, das er im letzten Jahr noch angeführt hatte.   Das im letzten Jahr so viel stärker gewesen war. Ohne Ushijima hatten sie kein Zentrum mehr, um das sie kreisen konnten. Sie hatten hervorragende Spieler, die allesamt in ihren jeweiligen Disziplinen herausragend gut waren, aber sie hatten kein alles überstrahlendes Ass mehr. Goshiki, dieses kleine Gör, würde Ushijima niemals das Wasser reichen können, ganz egal, wie hart er trainierte. Tendou fehlte auch spürbar. Er war immer ein zweischneidiges Schwert gewesen, und seine Persönlichkeit war unangenehm, aber sein spezieller Blockstil war trotzdem oft genug eine Hilfe gewesen, besonders gegen Kontrahenten, die unerwartet stark gewesen waren. „Ihr werdet nicht weit kommen.“ Die Worte, obwohl völlig tonlos gesprochen, waren schlimmer, als es das lauteste Geschrei hätte sein können. Wie ein Peitschenhieb trafen sie Kenjirou, der instinktiv die Schultern hochzog, als könne er sich so vor einem weiteren verbalen Angriff schützen. Sie würden scheitern. Goshiki sah völlig entsetzt aus. Kawanishi senkte den Kopf, wich Ushijimas Blick aus, während sich auf anderen Gesichtern Trotz zeigte. Hier und da war Schuldbewusstsein. Einfach nur blanker Ärger bei Fukumine, und Sakase sah aus, als wolle er einfach aus Prinzip gegenspucken, wie er es immer tat. „Wie oft habt ihr gegen Karasuno verloren?“ – „Dreimal“, wusste Ninouchi verbittert zu berichten. Er rückte seine Brille zurecht, sah dahinter schuldbewusst und verärgert aus. Beschämt, weil er zu vor noch so deutlich der Überzeugung gewesen war, dass sie nicht verlieren würden. Beunruhigt, weil er Kenjirous Drohung offenkundig nicht vergessen hatte. Es erfüllte Kenjirou mit einer grimmigen Zufriedenheit, die ihn für einen kurzen Moment fast vergessen ließ, wie wenig ihm die Situation hier gefiel. „Seijoh?“ – „Zweimal.“ Ushijima nickte langsam.   „Letztes Jahr wäre das nicht passiert.“   Letztes Jahr war es schlicht nicht passiert. Sie hatten jedes Spiel gegen Seijoh gewonnen. Dass Karasuno sie geschlagen hatte, war ein Glückstreffer gewesen, weil deren irrsinnig halsbrecherische Taktik ihnen einen Überraschungsvorteil verschafft hatte. Hätten sie vorher gewusst, worauf sie sich einließen, wäre Karasuno nicht so davongekommen, dessen war sich Kenjirou sicher. An der Art, wie Ushijima sie gerade ansah, erkannte er, dass der Ältere den gleichen Gedanken hegte. „Es ist aber nicht mehr letztes Jahr“, patzte Sakase ungestüm. Er hatte die Augenbrauen herausfordernd erhoben. „Und jetzt erzähl mir nicht, dass wir ach so schlecht sind, weil wir das letzte Spiel verloren haben! Wie hätte man das denn gewinnen können mit solchen Idioten, die dabei waren?!“ „Goshiki hat sich gut geschlagen.“ Das Lob kam so unerwartet, dass entsprechender Goshiki dreinsah wie ein Goldfisch, den man versehentlich neben sein Glas hatte fallen lassen. Er starrte Ushijima ungläubig aus riesigen Augen an, die immer riesiger wurden, dann straffte er die Schultern und brüllte mit einer steifen Verbeugung seinen Dank in die Welt hinaus. Sakase gab einen angewiderten Laut von sich, der verblüffende Ähnlichkeit mit Erbrechen hatte. Fukumine tätschelte ihm gespielt mitleidig die Schulter, während Kenjirou versuchte, Goshiki nicht mit Blicken zu erdolchen. Eigentlich sollte er froh sein, dass Ushijima noch ein Lob übrig hatte nach allem. Er war aber nicht froh, dass es ausgerechnet Goshiki traf.   „Dieses Jahr ist Karasuno kein karger Betonboden.“   Dieses Jahr ist das Team stärker, übersetzte Kenjirou gedanklich. Seijoh dürfte schwächer als im letzten Jahr sein. Oikawa hatte eine gigantische Lücke hinterlassen. Shiratorizawa war aber auch längst nicht mehr so unglaublich überragend. Ihr Kraftverhältnis hatte sich drastisch gedreht, etwas, das Kenjirou im Vorfeld nicht in solchem Maße erwartet hatte. Ein paar Monate Training konnten natürlich alles wieder ändern. Aber so, wie es aktuell war, waren sie einfach nicht mehr aus Prinzip die Stärksten, sondern – mittendrin. Ein Team von vielen. Ein Team, das ernsthafte Konkurrenten hatte, das nicht mehr völlig sicher davon ausgehen konnte, die Vorrunden der Nationalmeisterschaften zu überstehen.   „Ihr müsst härter trainieren.“   Ein Team, das härter trainieren musste, darin stimmte Kenjirou völlig mit Ushijimas Einstellung überein. „Erst meckern, und dann sowas. Entscheid dich mal! Sollen wir uns nun den Arsch aufreißen, oder haben wir eh keine Chance?!“ – „Hey, hey~ Koharu, nun beruhig dich mal.“ Fukumines Grinsen war alles andere als beruhigend, fand zumindest Kenjirou. Die Hand auf Sakases Schulter sah auch nicht viel beruhigender aus, aber der Erstklässler schnaubte nur noch einmal, ehe er tatsächlich einen Schritt zurücktrat und die angespannten Schultern sichtbar fallen ließ. Kenjirou verstand nicht, woher es kam, dass Fukumines provokante Anwesenheit in diesem Moment beruhigend war, aber in jedem Fall war er dankbar darum, dass die verdrehte Freundschaft der beiden funktionierte, wenn es nötig war. „Halt die Schnauze, Shou.“ Wirklich ruhig sah Sakase zwar noch nicht wieder aus, aber immerhin erschien es nicht mehr so, als wolle er seinem Gesprächspartner am Liebsten die Augen auskratzen. „Eins schließt das andere nicht aus“, knurrte Kenjirou kopfschüttelnd. Der Libero wirbelte zu ihm herum, große braune Augen sprühten Funken. Die Hand auf seiner Schulter hielt ihn davon ab, näher zu treten. „Du ergibst keinen Sinn“, schnaubte er abfällig. Er verschränkte die Arme vor der Brust, das Kinn provokant vorgereckt. Er hätte gefährlich aussehen können, hätte er nicht so ein verdammtes Babyface – und den grinsenden Fukumine hinter sich, der ihn immer noch an der Schulter hielt. Läge die Hand stattdessen in seinem Nacken, dann wäre das trotzige Babykätzchenimage perfekt. Kenjirou stieß langsam die Luft aus, sah den kleinen Jungen ohne jede Gnade an. „Wir verkacken, wenn wir nichts tun. Wir verkacken wahrscheinlich auch, wenn wir uns den Arsch aufreißen, aber je härter wir trainieren, desto größere unsere Chancen. Wollt ihr euch wirklich drauf ausruhen, dass wir keine guten Karten haben?“ Sakase schwieg. Er verengte die Augen und verzog das Gesicht, aber er sparte sich jeden weiteren Widerspruch. Reaktion auf seine Worte bekam Kenjirou aus Goshikis Richtung: „Niemals, Captain!!!“ Immerhin war ihr neues Ass noch hochmotiviert. Aber nachdem er als einziger ein Lob kassiert hatte, wunderte es Kenjirou auch nicht. Verdammtes Gör. „Dann ist alles geklärt“, verkündete Ushijima schließlich nach einem Augenblick, in dem einfach nur Stille im Raum hing. Er stand stoisch da, sein Blick ruhte auf Kenjirou, unleserlich wie immer. Er bildete sich trotzdem ein, eine Spur von Zufriedenheit in den schmalen Augen zu entdecken. Bevor er sich ganz sicher war, wandte Ushijima den Blick wieder ab, ließ ihn einmal über das gesamte Team schweifen. Schließlich wandte er sich ab. Er würde gehen, wie er gekommen war, ohne mit der Wimper zu zucken, kaum begreifend, was für einen großen Einfluss er auf das ganze Team hatte. So, wie es immer gewesen war. Ushijima sah sich, sah seine Leistung, sah die Leistung seines Teams, doch er verstand nie, dass zwischen aller Leistung immer noch Menschen waren, und diese Menschen zueinander auch eine emotionale Bindung aufbauten. „Ich erwarte bessere Leistung bei eurem nächsten Spiel.“ Ich werde es mir ansehen. Kenjirous Herz krampfte nervös. Er wusste, die Worte würden das Team antreiben, denn niemand wollte unter dem kritischen Blick von Ushijima scheitern, aber gleichzeitig setzten sie immens unter Leistungsdruck. Zwischen Meisterschaftszulassung und Ushijimas Meinung war vermutlich letztere das Schwerwiegendere. Ushijima bemerkte nichts davon. Völlig unbekümmert schritt er zur Tür, nur um im Türrahmen noch einmal innezuhalten und zurückzusehen. Sein unleserlicher Blick traf Kenjirou.   „Ich warte.“     ***     „Es ist ja gar kein Wunder, dass ihr nicht gegen uns gewinnen konntet. Immerhin habt ihr gegen einen Top-5-Spieler gespielt!“   Bokuto grinste selbstgefällig in die Runde des Teams, das sich um ihn scharte wie ein paar kleiner Kinder, die sich ein Lob von ihrem Lieblingsonkel abholten. Der Vergleich war im ersten Moment vermutlich dämlich, aber Keiji konnte an nichts anderes denken. Fast das ganze Team – selbst ein Großteil der Erstklässler – hing einfach viel zu sehr an ihm. Es war ein gutes Gefühl, und die Tatsache, dass allein Bokutos Anwesenheit und seine Unbekümmertheit reichten, damit die vorangegangenen Niederlagen nicht völlig herunterzogen, war für Keiji eine große Erleichterung. Er hätte kein deprimiertes Team mit nach Hause nehmen wollen. „Gegen zwei“, gab Minamishima dreist zurück. Bokuto sah ihn völlig verwirrt an, während der aktuelle Vize-Captain kaum merklich unter seinem eher müde wirkenden Blick grinste und belehrend den Zeigefinger hob, „Vergiss Ushiwaka nicht, Bokuto-San.“ – „Der ist nicht halb so cool wie ich, Minamin!“ Nishiame und Shima lachten amüsierten über den kurzen Austausch und Bokutos absolute Empörung. Keijis Mundwinkel zuckten flüchtig. Es fühlte sich vertraut an, einfach beieinander zu sitzen und noch einmal darüber zu sprechen, was das Training gebracht hatte. Normalerweise etwas, das in den Umkleiden geschah, aber auf den Trainingscamps war es schon immer üblich gewesen, dass etwaige Trainingsgespräche in ihrem Schlafraum stattfanden. Wenn er nicht daran dachte, dass sich ihre Wege gleich wieder trennen würden, Bokuto in die eine Richtung davongehen würde und Keiji in die Andere, dann konnte er sich wirklich einreden, dass alles noch genauso war wie vor dem Schuljahreswechsel.   „Ich finde ja, wir haben uns gut geschlagen!“, verkündete Nishiame fröhlich. Er hatte die Knie an die Brust gezogen, die Arme lose darum geschlungen und ließ nun seinen Kopf auf den Knien hin und her rollen. „Nicht wahr?“ „Auf jeden Fall!“, stimmte Shima voller Enthusiasmus zu. Er strahlte in die Runde, lehnte sich vor, damit er besser zu Nishiame hinüberlinsen konnte – „Und viel wichtiger: Wir haben neue Freunde gefunden!“ Eine Aussage, die vor allem auf ihn selbst zutraf, der doch geradezu von Nekoma adoptiert worden war. Letztes Jahr war es Kuroo gewesen, den Fukuroudani adoptiert hatten. Vielleicht würde es eine Tradition werden, die sich jedes Jahr fortsetzte. Keiji konnte sich nicht vorstellen, wie es im nächsten Jahr enden würde, aber der Gedanke ließ ihn zufrieden schmunzeln. So sehr ihn Kuroo die meiste Zeit nervte, der Gedanke einer funktionierenden, teamübergreifenden Freundschaft war angenehm, und eine so innige freundschaftliche Rivalität trieb oft genug das ganze Team mit an. Und auch wenn Shima eindeutig den Jackpot erwischt hatte, was die neuen Freundschaften anging, es ging weit darüber hinaus: Keiji hatte mehr nebenbei mitbekommen, dass Nishiame sich mit einigen der anderen Liberos verbrüdert hatte, während Marei und Kozume scheinbar so langsam auch an den Punkt kamen, wo sie die Gesellschaft des jeweils anderen nicht nur ertrugen. Onaga hatte er mit dem freundlich aussehenden Hünen aus Shiratorizawa plaudern sehen, wann immer sie ein paar freie Minuten hatten. Allein von dem Gesichtspunkt aus war das Trainingscamp ein voller Erfolg gewesen.   Für Keiji war es aber auch auf der Basis von Erfahrungssammlung wertvoll. Shiratorizawa und Aoba Jousai waren zwei völlig fremde Teams, deren jeweiliger Stil noch einmal etwas ganz neues gewesen war. Karasuno war ohnehin immer für eine Überraschung gut. Obwohl Fukuroudani im Schnitt wohl am besten abgeschnitten hatten, waren sie über viele Hürden gestolpert, an denen sie in Zukunft arbeiten mussten, wenn sie effektiv dagegen bestehen wollten. Es würde nicht leicht werden, aber Keiji freute sich auf die neuen Herausforderungen. Die Erfahrung des mannschaftsübergreifenden Teams war auch trotz der niederschmetternden Niederlage positiv gewesen. Zu sehen, dass Talent und Fähigkeiten ihre Grenzen hatten schlicht dadurch, dass es an der Flexibilität scheiterte, konnte nicht schaden. Sie würden niemals blind und ohne Probleme mit fremden Spielern zusammenarbeiten können, ohne sich vorher einzuspielen, aber sich bewusst gemacht zu haben, wie schwierig das eigentlich war, konnte immens helfen, diese Einspielzeit zu verringern. Nicht nur teamübergreifend, sondern auch für den Fall, dass es zu Spielerwechseln kam, die den Rhythmus unterbrachen.   „Hey hey hey! Ihr seid wirklich gut! Akaashi hat ein gutes Team zusammengestellt!“   Es war kein großes Lob, und trotzdem breitete sich auf vielen Gesichtern ein begeistertes Strahlen aus. Shima und Onaga klatschten jubelnd ab, während Nishiame und Minamishima grinsende Blicke tauschten. Selbst Mareis eher nichtssagendes Gesicht verzog sich zu einem stolzen Lächeln. Wer Bokuto nicht kannte, ging davon aus, dass ein Lob von ihm nicht viel wert war. Er war zu leicht zu begeistern, zu leicht aufzupeitschen, und die meiste Zeit sprach er, ohne wirklich eine Ahnung zu haben von dem, was er gerade erzählte. Keiji wusste, dass es wenige Leute gab, die ein solches Feedback ernstnehmen würden. Es war kein Wunder – kaum jemand machte sich die Mühe, Bokuto weit genug kennen zu lernen, um zu begreifen, dass hinter dem dümmlichen Eulenblick wesentlich mehr steckte, als es oft den Anschein hatte. Es war ein immenses Lob. Bokuto mochte dumm und oft ein bisschen verpeilt sein, aber er hatte mehr als genug Ahnung vom Volleyball, dass er tatsächlich in der Lage war, zwischen gut und schlecht zu differenzieren. Auf einer ganz urtümlichen, instinktiven Ebene, aber dafür auf dieser Ebene besser als so ziemlich jeder andere da draußen. Das war es, was sein Lob so wertvoll machte. Bokuto könnte niemals erklären oder in Worte fassen, wo seine Meinung herkam, könnte es nicht ausführen und detaillieren, aber das war nicht wichtig. Er wusste es einfach. „Es könnte besser sein“, kommentierte Kurowa trocken. Er sah – so ziemlich als einziger – überhaupt nicht überzeugt aus und brachte Nishiame mit seinen Worten dazu, mahnend zu schnaufen. „Kurorin! Luft nach oben ist immer, lass das nicht so schlecht klingen!“ Bokuto sah nachdenklich vom einen zum anderen, kratzte sich am Kinn. „Hör mal, Sohn-Kun, du hast ja auch noch ne ganze Menge Luft nach oben!“ Jemand lachte leise, irgendwo ertönte ein ersticktes Prusten. Kurowa selbst alles andere als amüsiert aus, gab einen vagen, abfälligen Laut von sich. Wieder einmal, konfrontiert mit einer Situation, die ihn störte, stand er auf, die Hände in den Hosentaschen vergraben, offensichtlich planend, dem ganzen Gespräch einfach den Rücken zu kehren. „So viel Blödsinn geb ich mir nicht. Der Typ hat ne Schraube locker. Von jemandem, der an schlechten Tagen nicht einmal mehr weiß, wie man einen Ball schmettert, lass ich mir nichts sagen.“ Seine Worte waren trocken, nichtssagend, kalt. „Kurorin!“, rief Nishiame mahnend aus. Er sprang auf, doch bevor er sich näher auf ihn hätte stürzen können, hatte Marei ihn mit einem Kopfschütteln aufgehalten. Keiji hatte ähnlich den Impuls, aufzustehen, aber genau wie Nishiame gehalten wurde, hatte Minamishimas Hand sich schwer auf seine Schulter gelegt. Objektiv gesehen war es die richtige Entscheidung; auf Kurowas Provokationen einzugehen führte nur zu unnötig langgezogenen Streitereien, während blanke Ignoranz in der Regel dazu führte, dass er die Freude an seinen bissigen Kommentaren verlor. In der Regel war Keiji gut darin, ihn zu ignorieren. Gerade aber… er presste die Lippen zusammen, stieß betont langsam die Luft aus.   Kurowa erinnerte ihn viel zu sehr an die Szenen, die er im ersten Schuljahr erlebt hatte. An das damalige Team Fukuroudani, das aus Drittklässlern bestanden hatte, die Bokuto am Liebsten nicht einmal ansehen wollten, während die Zweit– und Erstklässler mehr und mehr seinem aberwitzigen Charme erlagen. Es war immer der gleiche Wortlaut gewesen, immer der gleiche Hintergrund der missgelaunten Kommentare und der Ablehnung. Bokuto war unfähig, weil er exzentrisch war. Er war nutzlos, weil er auffällige Schwächen hatte. Dass seine immensen Fähigkeiten jeden Fehltritt mehr als aufwogen, hatte damals niemand sehen sollen. Keiji war froh gewesen, als die Drittklässler damals verschwunden waren, und mit ihnen die unnützen Kommentare. Er hatte immer geglaubt, dass das das Ende der Geschichte sein würde, und jetzt wiederholte sie sich trotzdem. Natürlich war es irgendwie egal, jetzt, wo Bokuto nicht mehr wirklich Teil des Teams war, aber für Keiji würde er immer ein Teil davon bleiben – und als solcher wollte er, dass Bokuto gut behandelt wurde, ganz, wie es ihm gebührte. „Er wird es lernen“, murmelte Minamishima sanft, aufmunternd. Er drückte Keijis Schulter behutsam. „Er wird es lernen. Er wird noch oft genug sehen, dass er gegen Bokuto in tausend Jahren nicht ankommen kann.“ Keiji nickte langsam, immer noch unwillig, die Sache so stehen zu lassen, aber wissend, dass es das Beste war. Resignierend stieß er langsam die Luft aus, regte sich nur ein kleines Stück – ein Signal, dass sein Vize ihn wieder loslassen konnte. Ohne die fremde Hand auf der Schulter fühlte er sich wohler. Er wusste es zu schätzen, dass Minamishima ihn gezügelt hatte, aber jetzt, wo das erste Bedürfnis danach, seinen Impulsen nachzugeben, abgeebbt war, fühlte er sich von der Sorge des Anderen nur eingeengt. Nishiame saß auch wieder. Er runzelte die Stirn, ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht. „Wenn er all die Zeit, die er mit meckern und abhauen verbringt, in sein Training stecken würde, könnte er noch viel besser sein!“, jammerte er seufzend, kopfschüttelnd. „Er wird es lernen“, wiederholte Minamishima noch einmal. Es klang schon fast, als wolle er sich selbst davon überzeugen. Keiji wandte den Blick von seinen Kameraden ab, sah zu Bokuto hinauf. Er hatte sich nie viel aus den bissigen Kommentaren seiner Senpai gemacht, entsprechend glaubte Keiji nicht, dass Kurowa ihn jetzt zu sehr tangiert hatte – das machte ihn nicht weniger wütend, aber es war zumindest beruhigend, dass es seinen Freund nicht in ein Tief stürzen würde. Bokuto blinzelte eulenhaft zur Tür hinüber, durch die Kurowa inzwischen verschwunden war. Er blinzelte noch einmal. Schüttelte dann irritiert den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. Er sah unglaublich ernst aus. Geradezu besorgniserregend ernst – ein Anblick, der verdrehterweise sehr erleichternd war –, und genau deshalb konnte Keiji ihn schon nicht mehr ernstnehmen, noch bevor er den Mund aufgemacht hatte. Es ging nicht nur ihm so – Nishiame gluckste schon verhalten. „Akaashiiiii! Du hast unseren Sohn schlecht erzogen!“     ***     Oikawa sah aus, als wäre er in irgendetwas getreten, in das er nicht hätte reintreten wollen. Gerümpfte Nase, angewiderter Blick, verschränkte Arme. Er strahlte puren Missmut aus. Shigeru kannte den Blick schon so lange, dass er sich nichts mehr daraus machte. Selbst wenn er wirklich gegen ihn persönlich gerichtet war – solange Oikawa noch zu so viel mimischer Theatralik fähig war, konnte es gar nicht so extrem schlimm sein. Und es war doch nur natürlich, dass er sich über die gnadenlose Niederlage mokierte, die sie hinter sich hatten. Shigeru hatte den Gedanken von einem gemischten Team sowieso albern gefunden, aber wenn die Kinder eben spielen wollten, sollten sie spielen? Sie konnten ja nur auf die Nase fallen. Zu lernen, wieder aufzustehen, war auch nützlich genug, solange niemand erwartete, dass Shigeru eine nette, verständnisvolle, helfende Hand bot. „Ihr habt verloren“, stellte Oikawa noch einmal heraus, was sowieso jeder wusste. Kyoutani machte einen abfälligen Laut, der ein bisschen klang, als hätte er Oikawa lieber vor die Füße gespuckt. Shigeru warf ihm einen mahnenden Blick zu, der völlig ignoriert wurde. Er selbst musste eine gute Portion Schuldbewusstsein herunterschlucken. Er hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, dass sie Oikawa so viel Scheitern präsentiert hatten. „Aber gut. Das war zu erwarten. Gegen mich verliert man eben. Außerdem war klar, dass Tobio-Chan nicht taugt.“   „Es war nicht Kageyamas schuld!“, fuhr Kindaichi fast sofort auf. Seine Worte ließen Oikawa verwirrt blinzeln, während Kogami laut und melodisch lachte. „Yuu~ta~rou~“, singsangte er amüsiert, lehnte sich zu Kindaichi hinüber, legte ihm einen Arm um die Schultern in einer Geste, die schon überzogen kumpelhaft war, „Sag nicht, du bist verlieeebt~? Komm schon, natürlich war der Kerl schuld, der war immerhin zu blöd zum Passen.“ Shigeru seufzte leise. Kindaichis Blick war eisig, ablehnend. Er schob Kogami gnadenlos von sich, der nur lachte und lässig einen Schritt zurücktrat. Oikawa hatte die Nase noch mehr gerümpft, aber Shigeru war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass Kindaichi Kageyama verteidigte, und Oikawa das einfach nicht einsah, oder ob es daran lag, dass er es einsah, aber nicht einsehen wollte. Zwei Jahre mit Oikawa zu verbringen machte es unmöglich, die Geschichten vom König des Spielfelds nicht zu kennen. Kageyama, das brillante, unschlagbare Zuspieler-Genie mit der miesen Persönlichkeit und dem diktatorischen Denken, den viel zu hohen Anforderungen, die niemand erfüllen konnte. Kageyama, der völlig ungerechtfertigt, wie Oikawa immer wieder beteuert hatte, wenn er ganz besonders tragische Phasen hatte, seinen Platz im Mittelschulteam gestohlen hatte. Kageyama, der in seinem dritten Mittelschuljahr schließlich von seinem ganzen Team verraten wurde, weil niemand mehr auch nur versuchen wollte, seine wahnsinnigen Würfe anzunehmen. Der Sturz des egozentrischen Königs, in den Kunimi und Kindaichi selbst verwickelt gewesen waren. Sie waren völlig zerstritten auseinandergegangen, von allem, was Shigeru gehört hatte. Er hatte keine Ahnung, was tatsächlich passiert war – er hatte Kitagawa Daiichi nicht besucht. Er hatte auch nie nachgefragt, weil es ihn schlussendlich doch nicht wirklich interessiert hatte. Kageyama war nicht in seinem Team, also war es ihm egal gewesen, wie die Stimmung ihm gegenüber war. In jedem Fall aber war es doch logisch gewesen, dass sie mit so einer Vergangenheit nicht miteinander funktionieren konnten. „Es ist nicht seine Schuld“, beharrte Kindaichi stur. Er sah nicht mehr auf, während er sprach – als würde er sich schämen. Er schwieg einen Moment, schien mit den Worten zu ringen, ehe er seufzend weitersprach: „Er ist nicht einmal mehr halb so schlimm, wie er früher war. Ich kann nur – ich kann einfach nicht  mit ihm spielen!“ „Du hängst viel zu sehr in der Vergangenheit.“ „Hör auf Akira, Yuutarou~ Hör auf, dem Kerl nachzuweinen.“ – „Kogami…!“   Die ganze Diskussion war so überflüssig, dass niemand recht zuhörte, während Kogami und Kindaichi sich über Kageyama zofften. Shigeru jedenfalls blendete es ganz bewusst aus, Kunimi sah so gelangweilt aus, dass er zweifelsohne auch nicht zuhörte. Hier und da wurden Blicke getauscht, aber es war schon so lange Gewohnheit, dass Kogamis Hang zu Spötteleien immer mal wieder zu Streit führte, dass es eigentlich keinen mehr kümmerte. Oikawa verdrehte irgendwann nur die Augen, während er ungeduldig dastand, mit den Fingern auf den Oberarm trommelnd, als wollte er sagen habt ihr’s bald? „Haltet doch endlich eure dummen Schnauzen!“, blaffte Kyoutani mitten in die Diskussion, die nicht enden wollte. Seine Worte reichten tatsächlich, damit Stille einkehrte. Kindaichi murmelte eine vage Entschuldigung, während Kogami immer noch demonstrativ grinste, als er sich ein Stück zurückzog. Oikawa lachte herzlich und vergnügt, doch seine Augen blitzten unheilvoll.   „So brav heute, Kyouken-Chan~ Und das ganz ohne–“ Iwaizumi, blieb ungesagt im Raum hängen. Shigerus Augenbrauen wanderten einen Augenblick fragend in die Höhe, doch ehe er überhaupt hätte so weit denken können, um in Frage zu stellen, weshalb Oikawa sich selbst unterbrochen hatte, war dessen ich bin in irgendetwas ekliges getreten-Gesichtsausdruck wieder an seinem Platz und er wandte sich mit aufgeblähten Wangen an das ganze Team. „Natürlich war Tobio-Chan schuld!“, verkündete er, ein bisschen zu hastig fast. „Aber“ – und an diesem Punkt wich das Theater einem ernsten, beinahe gefährlich nüchternen Blick. Mit einem Schlag war seine Stimme eine Oktave tiefer, „Kindaichis Ansicht stimmt genauso. Er hätte das definitiv besser lösen können, und hätte er mal versucht, sich auf Tobio einzulassen, hätten sie ein paar mehr Punkte machen können. Nicht, dass es einen Unterschied macht.“ Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Verloren hättet ihr trotzdem.“ Es war ein unumstößlicher Fakt. Es störte Shigeru auch nicht. Dass sie schlechter gewesen waren als nötig – das störte. Kindaichi sah immerhin gebührend beschämt aus, deshalb sparte Shigeru sich die Überlegung, wie er ihn noch dafür bestrafen konnte. „Nicht zu verlieren wäre unmöglich gewesen, Tooru-San.“ „Ich weiß, ich weiß, Kogamicchi! Gegen mich kommt ihr in tausend Jahren nicht an! Tobio auch nicht. Er ist viel besser geworden, aber solange er nicht ein bisschen mehr Empathie lernt… tjah.“ Oikawa sah nicht halb so bedauernd aus, wie er tat. Shigeru fand es in erster Linie beunruhigend, dass Oikawa Kageyama immer noch mehr Leistungspotential zusprach, obwohl der Kerl schon absolut unmenschlich war. Gegen ihn zu spielen war ein Albtraum, den Shigeru nicht zu oft träumen wollte.   In den nächsten Minuten herrschte Stille. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen – wobei Shigeru bezweifelte, dass Kogami überhaupt denken konnte. Dessen Grinsen verhieß schon wieder alles, aber keinen klugen Gedanken. Kindaichi knabberte immer noch an seinem Scheitern. Kunimis Blick lag träge auf ihm, so, als würde er abwägen, ob nicht doch irgendwann der Punkt kam, an dem er einschreiten sollte. Wirklich zufrieden sah hier niemand aus, und Shigeru konnte es völlig nachvollziehen. Trotzdem war er froh, dass er sich dazu durchgerungen hatte, herzukommen. Das Trainingscamp war eine gute Gelegenheit gewesen, noch einmal zu sehen, wo ihre Schwächen lagen und woran sie arbeiten mussten. In so kurzer Zeit mit so vielen verschiedenen Mannschaften zu spielen, konnte verblüffend erleuchtend sein. In erster Linie aber war es vor allem ermüdend, denn es hatte Shigeru gezeigt, dass ihr Trainingspensum bei weitem nicht hoch genug war. Ihm grauste davor, das zu tun, aber sobald sie zurückkehrten, würde er mit Irihata und Mizoguchi sprechen, um ein noch strafferes Trainingsregime durchzusetzen. Nicht, dass das allzu problematisch werden würde. Die beiden Coaches waren vermutlich viel zu begeistert davon.   „In jedem Fall…“, unterbrach Oikawa die Stille schließlich wieder. Sämtliche Köpfe drehten sich in seine Richtung. Seine Augen waren unheilverkündend dunkel, sein Grinsen beinahe drohend. Shigeru erschauderte von dem Blick des Älteren. „Dieses Jahr werdet ihr in die Nationalmeisterschaft kommen.“ Es war keine Bitte. Kein Vorschlag. Keine Hoffnung. Es war eine Drohung, und so beunruhigend das war, so sehr war es auch beruhigend. Oikawa war nicht dumm genug, etwas einzufordern, das sie nicht leisten könnten. Sein Grinsen wich einem Lächeln, das, wenn man ihn nicht näher kannte, wohl liebevoll ausgesehen hätte. Shigeru schluckte. Ein Blick in die Gesichter seiner Teamkollegen zeigte Entschlossenheit. Selbst Kogamis Grinsen war für den Moment verblasst und einer ernsten Miene gewichen. Shigeru ballte die Hände zu Fäusten.   Er war es Oikawa schuldig, dieses Team wirklich so weit zu bringen. Sie hatten ihn an diesem Wochenende vermutlich mindestens genauso enttäuscht wie bei den Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft im Vorjahr. Trotzdem stand er jetzt hier vor ihnen, völlig ungebrochen in seiner Überzeugung.   „Ich verlasse mich auf euch.“ Kapitel 7: ----------- Keine neue Nachricht. Kein Anruf. Iwa-Chan stand auch nicht plötzlich vor den Schultoren, als Tooru müde das Gelände verließ, Bokkun an seiner Seite, der aufgeregt plapperte und gerade davon erzählte, dass in seinem (ehemaligen) Team ein Typ war, der aussah wie ein Kind von ihm und seinem Lover. Tooru hatte Mühe, seiner hektischen und lauten Erzählung zu folgen, während er damit beschäftigt war, sein Handy mit Blicken zu erdolchen. Natürlich hatte Iwa-Chan sich nicht gemeldet. Es war ihm doch alles nicht wichtig gewesen. Wäre es so wichtig gewesen, er wäre schließlich vorbeigekommen, selbst wenn die Welt unterging! Er seufzte schwer, stopfte das Handy lieblos in seine Tasche zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und hob dann den Blick in den Himmel. Klar. Sonnenschein. Das Wetter war gut, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Regenzeit Einzug hielt und man vorlauter Grau und Grau keine Farben mehr sah. Eigentlich wäre Tooru das gerade sogar lieber gewesen – wie konnte das Wetter es wagen, so sonnig und fröhlich zu sein, wenn es ihm nicht gut ging?!   „Ich will nicht nach Hause!“   Eigentlich war der Ausruf an nichts und niemand bestimmten gerichtet. Für einen Augenblick hatte Tooru vergessen, dass da ein aufgeregt plappernder Eulerich neben ihm war, der tatsächlich das Plappern aufhörte und ihn verwirrt ansah, die Augen groß und weit aufgerissen. „Wie?“ „Na ja. Ich hab halt geplant, erst heute Abend zurückzufahren“, gab er verschnupft zurück. Es stimmte. Eigentlich hätte das Camp ja auch deutlich länger dauern sollen. Dass es jetzt ungeplant früher beendet war, warf Toorus Planung durcheinander, ganz zu schweigen, dass ihm die ganzen Abschiede und Abschiedsreden schwer im Magen lagen. Seijoh kam gut ohne ihn aus, besser, als er erwartet hatte, wenn er ehrlich war. Es freute ihn, aber gleichzeitig war da dieser gehässige kleine Teil in ihm, der sich eigentlich gewünscht hatte, dass sie ohne ihn völlig aufgeschmissen waren. In jedem Fall wusste er nun nicht mehr, was er mit seinem Sonntag anfangen sollte, nachdem er einfach nicht früher zurückfahren wollte. Primär aus dem Grund, dass er ganz genau wusste, dass er nur darauf warten würde, dass Iwa-Chan vor seiner Tür stehen würde, um sich endlich bei ihm zu entschuldigen dafür, dass er der schlechteste beste Freund der Welt gewesen war. Er wusste aber auch genau, dass Iwa-Chan es nicht tun würde. Er würde trotzdem auf Schritte im Hausflur horchen, würde bei jedem fremden Pieps und jedem Knacken der alten Möbel zusammenschrecken und unnötig auf etwas hoffen, das nicht kommen würde. Iwa-Chan war eigentlich noch nie so richtig gut darin gewesen, Toorus Erwartungen zu erfüllen. Immer dann, wenn Tooru nicht damit rechnete, wenn da Erwartungen waren, derer sich Tooru selbst nicht bewusst war, hatte er es doch getan. Aber in diesem Fall? – Keine Chance.   „Hey hey hey! Wir können noch etwas unternehmen!“, verkündete Bokkun grinsend. Er warf die Arme in die Luft und schien jetzt schon unglaublich begeistert von der Idee. Tooru hob die Augenbrauen und sah ihn skeptisch an. Er musste Bokkun nicht lange kennen, um zu wissen, dass er nicht mit ihm allein durch eine fremde Stadt laufen wollte. Bokkun hatte keinen Orientierungssinn. Das hatte Kurocchi mehr als einmal betont, und das hatte Tooru auch am eigenen Leib erfahren, als er schon auf dem Weg zur U-Bahn von der Schule aus mehrfach hatte falsch abbiegen wollen. Sich in Tokyo zu verlaufen klang trotzdem attraktiver, als jetzt nach Hause zu fahren und missmutig die Wohnungstür anzustarren, als sei sie schuld an allem Unrecht, das Tooru widerfuhr. „Und was?“ – „Hmmmmm…“ Offensichtlich hatte Bokkun keine Idee. Tooru hatte auch keine, aber er würde vermutlich allem einfach zustimmen, solange er nur auf andere Gedanken kam. Er schnaubte. „Wir können auf ein Date gehen“, spottete er grimmig. Ein Date. Wo er so drüber nachdachte, er war lange nicht mehr mit einem Mädchen ausgegangen. Das letzte Mal war noch im letzten Schuljahr gewesen, aber seit der Universität hatte er den Kopf zu voll mit anderen Dingen gehabt. Ushiwaka. Der Volleyballclub. Iwa-Chan, der einfach nicht mehr da war, eine Sache, an die sich Tooru überhaupt nicht gewöhnen konnte, obwohl er sie sich selbst ausgesucht hatte. Bokkun sah ihn einen Moment völlig entrückt an. In seinem Blick sah Tooru schon, was er sagen wollte – Aber wir können gar nicht auf ein Date gehen, ich bin doch mit Akaashi zusammen! Dann, ganz plötzlich, riss er die riesigen Glubschaugen auf und begann, geradezu manisch zu grinsen. „Hey hey hey! Wir können uns das Date von Konoha und Komi angucken!!!“ „Und warum sollten wir?“   Bokkun war so nett, es zu erklären. Konoha und Komi, zwei ehemalige Teamkameraden, waren laut Bokkuns Einschätzung wohl schon sehr lange damit beschäftigt, umeinander herumzuschleichen, und außerdem war Konoha übrigens unglaublich beziehungsuntauglich und hatte ganz bestimmt gar keine Ahnung davon, wie ein Date funktionierte. Deshalb wollte Bokkun seinem Date beiwohnen, damit er Konoha per Handy unauffällig Tipps geben konnte, damit er es nicht versemmelte und sich Komi am Ende auch klarmachen konnte. Es klang völlig bescheuert. Tooru fand es wundervoll. Es klang so absolut irrsinnig, dass es mit Sicherheit reichte, einfach gar nicht mehr über seine eigenen Probleme nachdenken zu müssen. „Bokkun~! Dann brauchen wir aber eine gute Tarnung!“ – „Tarnung?“ – „Ja! Stell dir vor, die erwischen uns!“ Bokkun hatte so weit offensichtlich nicht gedacht, denn er blinzelte, dreinschauend wie ein Auto kurz vor einem Unfall. Dann machte er „Oh“, wobei sein Mund sich zu einem kleinen Kreis formte. Die Erkenntnis war angekommen. Im nächsten Moment kam auch die Begeisterung an, und er riss begeistert die Augen und den Mund auf. „Wie Geheimagenten!“ Tooru nickte wild. „Genau so, Bokkun! Los, wir gehen zu dir! Da finden wir sicher alles, was wir zur Tarnung brauchen!“ Er hatte bestimmt irgendwelche Klamotten im Schrank. Und Sonnenbrillen. Bokkun wirkte wie jemand, der unglaublich viel unnützen Tinnef ansammelte, und darunter befand sich unter Garantie eine ganze Menge, das sie nutzen konnten, um sich zu verkleiden. Und wenn es nicht reichte, dann hatte Tooru schließlich auch noch ausreichend Klamotten in seiner Tasche, um ein bisschen nachzuhelfen.   Dass sie gar nicht wussten, wann und wo das ominöse Date war, vergaß er für den Moment vor Begeisterung genauso sehr wie seinen Kummer.     ***     „Drei Stunden. Glaubst du denn wirklich, ich habe den ganzen Tag Zeit, um zu warten, dass du deine Wettschulden einlöst?“   Tetsurous Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Grimasse. Er hasste diesen Kerl einfach. Er hätte es auch schlicht ganz verschieben können, aber nein, er war so großzügig gewesen, seinen Sonntag zu opfern, sogar das Trainingscamp früher zu verlassen, und natürlich bekam er keinen Blumentopf dafür. Hmpf. Er stieß die Luft aus, lächelte gehässig auf sein Gegenüber hinunter und hob in gespieltem Bedauern die Schultern. „Tut mir ja unglaublich Leid… es war einfach wichtiger als du.“ Alles war wichtiger als dieser Kerl. Daishou sah ihn einen Moment lang ungewohnt ernst an, dann schnaubte er und schüttelte nur den Kopf. „Wundert mich nicht“, gab er trocken zurück. Ohne sich noch einmal nach Tetsurou umzudrehen steuerte er einen der Tische an, die vor dem Restaurant standen, das er ausgesucht hatte, um seinen Wettgewinn zu bekommen – ein Essen, spendiert von Tetsurou, der gnadenlos verloren hatte. Er hasste es. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er diese verdammte Wette verloren hatte. Er konnte es nicht fassen, dass Daishou von allen Universitäten in Tokyo sich ausgerechnet die eine hatte aussuchen müssen, die Tetsurou für sich beansprucht hatte. Er konnte es nicht fassen, dass dieses verdammte, schmierige Schlangenvieh immer noch Volleyball spielte, und dass Tetsurou sich nun ernsthaft im gleichen Team befand. Er konnte überhaupt nichts fassen, was mit diesem Kerl zu tun hatte.   Daishou ignorierte ihn. Hatte die Speisekarte aufgeschlagen und studierte sie nun interessiert, während er Tetsurou gegenübersaß, die Beine lässig überschlagen. Er trug mehrere Ringe an den Fingern, die in der Nachmittagssonne glänzten und spiegelten. Genauso wie der Grund dafür, dass Tetsurou die Wette verloren hatte. Piercings. In Daishous Gesicht. Unterlippe. Nasenrücken. Ein Haufen unnötiger Schmuck, den sich kein normaler High-School-Schüler hätte leisten können, allein wegen der Schulordnung. Es war rückblickend kein Wunder, dass Daishou so überzeugt davon gewesen war, dass Tetsurou starren würde, wenn sie sich das nächste Mal nach dem Schulabschluss sahen. Er hatte nicht zu viel versprochen. Tetsurou hatte gestarrt. Tetsurou starrte immer noch. Die kleinen Metallkugeln fingen das Sonnenlicht ein und warfen es wieder zurück, funkelten bei jeder kleinen Bewegung von Daishous Kopf unnötig provokant. Als wollten sie Tetsurou dafür auslachen, dass er ihnen auf den Leim gegangen war. Wahrscheinlich taten sie es wirklich. Wahrscheinlich lachte ihr Besitzer sich innerlich gerade auch noch kringelig. Mit einem missmutigen Laut riss Tetsurou den Blick von Daishous Gesicht los und griff ebenfalls nach der Speisekarte. Im Gegensatz zu seiner unfreiwilligen Begleitung brauchte er nicht lange, um seine Bestellung zu finden, und so hatte er die Karte doch nach wenigen Minuten wieder aus der Hand gelegt und rastlos die Arme vor der Brust verschränkt. Schmale Schlangenaugen waren immer noch auf das Papier gerichtet, als gäbe es nichts Interessanteres. Tetsurous Blick wanderte, blieb wieder an den Piercings hängen, an Daishous Nasenrücken, wanderte schließlich doch tiefer, bis er an seinen Lippen hängenblieb. Er sah, wie sie sich beinahe in Zeitlupe zu einem breiten, unangenehmen Grinsen verzogen, sah die Bewegung der Metallkugeln dabei. „Du starrst immer noch. Bist du wirklich so schockiert?“ Daishous Blick war feixend. Er legte die Karte zur Seite, legte die Hände auf den Tisch und verflocht locker die Finger miteinander. In der Art, wie er sich leicht vorlehnte, Tetsurou entgegen, lag etwas so vertrauliches, dass es nur Spott sein konnte.   „Natürlich bin ich schockiert. Kaum zu fassen, dass du noch hässlicher werden konntest.“   Daishou lachte. Es war kein angenehmer Laut. Künstlich amüsiert, freudig, heuchlerisch harmlos. Verlogen. Wie alles an ihm. Es war das gleiche Gehabe, das Tetsurou auf dem Spielfeld schon immer so ankotzte. Provokant und pseudo-unschuldig. „Du warst noch nie ein guter Lügner.“ – „Du hast keine Ahnung.“ Der Blick der fast zu Schlitzen verengten Augen schien genau das Gegenteil behaupten zu wollen, aber Daishou sparte sich jedes weitere Wort immerhin. Ob das daran lag, dass die Diskussion für ihn beendet war, weil er sich ohnehin im Recht sah, oder daran, dass eine hübsche, junge Kellnerin kam, um ihre Bestellung aufzunehmen, sei allerdings einmal dahingestellt. Tetsurou war es egal – er war zufrieden damit, dass das Thema sein Ende fand. Er brauchte Daishou nicht unter die Nase zu reiben, dass es stimmte. Hässlich war er noch nie gewesen, wenn man nur von der Optik ausging. Und der verdammte Gesichtsschmuck stand ihm. Aber das brauchte Daishou nicht zu wissen. Ganz abgesehen davon, dass die miese Persönlichkeit, die sich hinter dem hübschen Gesicht mit den auffälligen Augen und dem jetzt noch auffälligeren Schmuck versteckte, das wirklich wieder mehr als wettmachte. Seufzend lehnte Tetsurou sich zurück, ließ den Kopf in den Nacken zu fallen. Der Himmel über ihm war grellblau und eine angenehme Abwechslung zu dem Anblick des gehässigen Grinsens ihm gegenüber. Er würde sich nie wieder auf eine Wette mit diesem Kerl einlassen. Und ganz im Ernst – was hatte er denn auch davon? Selbst die Genugtuung, wenn Daishou eine Niederlage einsteckte, war nichts Besonderes. Es gab keinen Wetteinsatz, den er wirklich von ihm haben wollte. Ein spendiertes Essen? Bedeutete nur, dass sie zwanghaft Zeit miteinander verbringen mussten. Tetsurou brauchte das nicht. „Du musst wirklich verzweifelt sein, wenn du sogar mit mir essen gehst“, murmelte er gedankenverloren, ließ es so klingen, als wäre es ein ganz nebensächlicher Gedanke, der ihm gerade erst gekommen war. Es war Blödsinn, und das wusste Daishou genauso gut wie er – das war von vornherein das Thema zwischen ihnen gewesen, kaum, dass der Wetteinsatz entschieden war.   „Du musst noch verzweifelter sein, dass du dich darauf einlässt, Tetsurou.“   „Du hast keine Ahnung, Sug–“   Tetsurou. Tetsurou hielt inne, ungläubig, nicht fähig, zu begreifen, was Daishou gerade gesagt hatte. Eine alte Erinnerung zupfte an den Rändern seines Bewusstseins, etwas, das er schon seit Jahren verdrängt hatte. Ein staubig-heißer Sommertag, ein kleiner Junge, der ihm hinterherlief, in seinem Alter. Wie alt waren sie gewesen? Zehn? Neun? Acht? Jung. Es war so lange her. „Tetsurou, warte!“ – „Beeil dich mal! Ich hab Kenma versprochen, dass ich gleich zu ihm komme!“ – „Tetsurouuuu!“ Es war, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Einem abgedrehten Paralleluniversum. Vielleicht hatte Tetsurou es deshalb verdrängt, weil es einfach so absolut abgrundtief unglaublich war. Weil die Schlange, die ihm gerade gegenübersaß und ihn aus nichtssagend verengten Augen beobachtete, nichts mehr gemein hatte mit dem Jungen mit dem braven Pottschnitt, der so lange nicht von seiner Seite gewichen war. Irgendwann hatte es aufgehört, ganz selbstverständlich. Sie hatten sich nicht mehr nachmittags im Park getroffen. Er hatte nicht mehr bei Tetsurou geklingelt, um zu fragen, ob er rauskommen wollte, genauso wenig, wie das umgekehrt noch passiert war. Es war ein schleichender Prozess gewesen, und irgendwie hatte Tetsurou es nie bewusst gemerkt. Irgendwann war er einfach aus seinem Leben verschwunden, und Tetsurou war so beschäftigt mit anderen Dingen gewesen, mit Kenma, mit Volleyball, dass er es nicht bemerkt hatte. Rückblickend vermisste er ihn aber auch nicht.   Sie waren einmal Freunde gewesen.   Die Erkenntnis traf Tetsurou härter als ein Schmetterball im Gesicht.     ***     Bokkuns Kleiderschrank enttäuschte nicht. Er hatte Hüte, er hatte Sonnenbrillen, er hatte bunte Halstücher und Shirts, die kein normaler Mensch freiwillig tragen würde. Kurzum: Er hatte alles, was sie brauchten, um sich in zwei völlig andere Menschen zu verwandeln. Es war perfekt. Ausgestattet mit einer Baseballkappe für Bokkun, sowie einer auffälligen Sonnenbrille, einem vergleichsweise erträglichen Hut für Tooru und der Brille, die er nahezu nie trug, weil er einfach nicht wollte, waren sie bestens gerüstet, um nicht erkannt zu werden. Dazu bekam Bokkun noch ein paar Klamotten von Tooru, die ihn ein bisschen aussehen ließen wie einen Promi, der versuchte, unauffällig zu sein und furchtbar darin scheiterte, während Tooru sich an den grellbunten Shirts bediente, die er normalerweise nicht einmal für Geld anziehen würde. So ausgestattet ließen sie Bokkuns kleine Chaosbude hinter sich – Tooru fand die Unordnung auf eine eklige Art liebenswert –, um das nächste Shoppinggebiet zu erreichen. Es war aber auch nur logisch – wenn diese beiden ein Date hatten, dann hatten sie es eindeutig dort. Wohin sollten sie auch sonst gehen? Gut, Tokyo hatte sicherlich viel zu viele Ecken, an denen man gut ein Date zelebrieren konnte, aber laut Bokkun lebte zumindest einer der beiden in der Nähe, also war es zumindest einen Versuch wert. Inzwischen war Tooru zwar bewusst, wie unglaublich albern ihr Plan war, aber es war eh zu spät, um noch einmal abzulehnen, und außerdem – es war lustig! Und es war eine großartige Gelegenheit, etwas von Tokyos Zentrum zu sehen, sich zu verlaufen, dann darüber zu jammern, dass sie sich verlaufen hatten, irgendwie zurück zu irren, und vor allem: Mehrere Stunden nicht an Iwa-Chan zu denken.   Während sie durch die Straßen spazierten, bewies Bokkun auf beeindruckendste Art, wieso es das Sprichwort das Glück ist mit den Dummen gab: Sie fanden tatsächlich etwas.   „Das sind nicht Komi und Konoha“, stellte Tooru heraus, als sie sich hinter einen aufdringlich großen Blumenkübel hockten. Bokkun neben ihm starrte völlig entgeistert auf die Szene vor seinen Augen, völlig fassungslos. Sprachlos. Was auch gar nicht so schlecht war, denn Tooru wollte nicht, dass er jetzt mit seinem Gebrüll schon ihre Tarnung ruinierte. „Bro“, murmelte er, schüttelte den Kopf. Wüsste Tooru es nicht wirklich besser, er würde fürchten, dass Bokkun gleich in Tränen ausbrach. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du ein Date has- mmmpf!“ – „Sssshhhhh! Bokkun! Sonst hören sie uns!“ Bokkun nickte hektisch hinter seiner Hand, die Augen erschrocken weit aufgerissen. Er schnappte unnötig dramatisch nach Luft, als Tooru ihn losließ, hustete leidend. Das Drama hielt genau so lange, bis sein Blick wieder auf die beiden Männer an dem Restauranttisch fiel. Augenblicklich kehrte er dazu zurück, entgeistert zu starren. Zugegeben, Tooru war auch sehr überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie statt ihrer eigentlichen Opfer völlig ohne Vorwarnung plötzlich Kurocchi finden würden, der mit irgendeinem Tooru völlig unbekannten Kerl abhing auf eine Art, die Date drei Meilen gegen den Wind blökte. „He. Bokkun. Kennst du den Typen?“ Bokkun nickte mechanisch. Er sah mit einem relativ dümmlichen, starren Blick zu Tooru hinüber, der nur irritiert die Augenbrauen hob. Die Erleuchtung kam nach ein paar weiteren Sekunden, die er Bokkuns starrem Blick ausgesetzt war, und er seufzte, schüttelte den Kopf. „Du darfst auch reden. Aber leise! Sehr leise.“ Was dann hoffentlich normal leise war, wenn Bokkun es umsetzte. Der Kerl nickte, dann sah er zurück zu dem Tisch. Eine Kellnerin brachte gerade das Essen. Kurocchis Begleitung bedankte sich mit einem Lächeln, das, soweit Tooru es auf die Entfernung sehen konnte, sehr charmant aussah. „Das ist Daishou. Kuroo hasst ihn“, informierte Bokkun vollkommen ernst. „Und jetzt hat mein Bro ein Date mit ihm. Ich glaube, er ist kaputtgegangen.“   Tooru prustete amüsiert. Dass bei Kurocchi so einiges kaputt war, unterschrieb er ohne Diskussion. Interessiert nahm er den fremden Kerl noch ein bisschen genauer in Augenschein. Gepflegte Frisur, ungewöhnliches, aber nicht hässliches Gesicht, eine gute Körperhaltung und modisches Gespür. Soweit Tooru das hinter seinem Blumenkübel beurteilen konnte, war er nicht übel.   „Vielleicht ist er auch einfach oberflächlich, Bokkun. Der Kerl ist hübsch.“   „Aber das ist Daishou!“, empörte Bokkun sich sofort – und zu laut. Tooru presste ihm die Hand auf den Mund und signalisierte ihm einmal wieder, leise zu sein. Er bekam ein hektisches Nicken zur Antwort. Er ließ Bokkun wieder los, aber sofort bereit, ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Man wusste ja nie! „Kuroo würde niemals–! Das ergibt gar keinen Sinn! Vielleicht hat der ihn erpresst oder so! Wir müssen näher ran, Oikawa! Wir müssen mitkriegen, was die reden!!!“ Weil Tooru neugierig war, widersprach er nicht. Sie waren gut genug getarnt. Solange sie leise waren, gab es keinen Grund dafür, dass sie sich nicht da in dieses Restaurant setzten und eine Kleinigkeit aßen, nicht wahr? Er grinste, stand aus der Hocke hinter dem Blumenkübel auf. Das hier versprach wirklich, wirklich lustig zu werden.   „Komm. Sehen wir uns das doch aus der Nähe an~“     ***     „Wie geht es Mika-Chan?“   Tetsurou wusste, dass die Frage unter die Gürtellinie zielte. Er lächelte engelsgleich, als Daishou mitten im Essen innehielt und das Gesicht für einen kurzen Augenblick verzog. Tetsurou wusste, wie es Mika-Chan ging. Er wusste, dass überhaupt nichts daraus geworden war, als die beiden Ende letzten Jahres noch einmal versucht hatten, sich anzunähern. Er wusste, dass Mika-Chan Daishou am Ende doch wieder einen Korb gegeben hatte, wenn auch nur aus dem Grund, dass sie für ihre Wunschuniversität ans andere Ende von Japan musste und keine Fernbeziehung wollte. Es war in die Brüche gegangen. Die Erwähnung des Mädchens brachte Daishou ganz wie erwartet für einen kurzen Moment aus der Fassung. Tetsurou fand das nur recht und billig, bedenkend, dass der Kerl ihn mit seiner bloßen Anwesenheit schon auf die Palme brachte. „Wir haben keinen Kontakt mehr“, erklärte er in einem Tonfall, der so unglaublich betont neutral war, als hätte er ihn vor dem Spiegel einstudiert. Bei Daishou wusste man nie; wahrscheinlich hatte er es wirklich getan. „Das tut mir aber Leid für dich…“ „Ich merk es. Aber behalt dein Mitleid lieber für dich. Du bekommst immerhin nicht einmal Mädchen ab.“ Tetsurou knurrte. Natürlich könnte er Mädchen abbekommen, wenn er wollte! Er hatte einfach andere Prioritäten und gerade überhaupt kein Bedürfnis nach einer Beziehung. Er hatte allerdings auch kein Bedürfnis danach, das Daishou zu erklären. Es war anstrengend genug, dass Bokuto das Thema nicht ruhen lassen konnte! Seufzend wollte er sich wieder seinem Essen zuwenden, aber so weit kam er gar nicht, bis sein Gegenüber wieder seine Aufmerksamkeit forderte. „Es wundert mich auch nicht“, fuhr er völlig unbekümmert fort. Er legte die Essstäbchen beiseite, lehnte sich entspannt zurück. Aus dem Augenwinkel sah Tetsurou, dass der Tisch neben ihnen inzwischen besetzt war, dann kam wieder Bewegung in Daishou. Er begann, an den Fingern aufzuzählen: „Mieser Charakter. Miese Prioritäten. Miese Frisur. Mieser Humor. An dir ist doch gar nichts Positives dran.“   „Schau mal in den Spiegel.“   Abgesehen von der Sache mit der Frisur, in der Tetsurou zugeben musste, dass er tatsächlich einfach Arschkarte hatte, sah er nicht, wo Daishou irgendetwas an sich hatte, das ihn zu einer positiveren Gesellschaft machte. Mieser, verlogener Charakter, unangenehmes Ego, kein Sportsgeist, kein Verständnis von Fairness, feige und hinterhältig… So betrachtet hatte Tetsurou es mit seiner Frisur eindeutig besser getroffen als Daishou mit seiner ganzen Existenz. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wann hatte der Kerl angefangen, so eine miese Persönlichkeit zu entwickeln? Tetsurous Erinnerungen gaukelten ihm vor, dass das bei weitem nicht immer so gewesen war. Tetsurous Erinnerungen gaukelten ihm vor, dass er den jungen Mann ihm gegenüber einmal wirklich gemocht hatte, dass er gern Zeit mit ihm verbracht hatte. Freiwillig sein Essen geteilt, im gleichen Bett geschlafen… hatten sie nicht sogar zusammen gebadet? Hatte Daishou ihn wirklich getröstet, als er nach einem blutigen Sturz heulend am Straßenrand gehockt hatte? Es klang wirklich surreal. „Ich fasse es nicht, dass wir mal Freunde waren.“ Die Worte entlockten Daishou ein Lachen, das unerwartet laut daherkam. Tetsurou sah ihn eine Sekunde entgeistert an, dann verfinsterte sein Blick sich unwillig. In Daishous Augen ließ sich rein gar nichts lesen. Tetsurou erkannte nicht, warum er gelacht hatte, aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es einfach nur Spott war. „Ich auch nicht, Tetsurou.“ „Nenn mich nicht so. Wir sind keine Freunde mehr.“ „Ich weiß.“ „Dann lass es.“ „Stört es dich?“ „Offensichtlich.“ Es machte Tetsurou rasend. Kaum jemand benutzte seinen Vornamen! „Warum?“ „Nicht einmal Kenma benutzt ihn, da hast du noch weniger ein Recht dazu.“   Die einzige Antwort, die er noch bekam, war ein Schnauben, das beinahe resigniert klang, ehe Daishous ganze Aufmerksamkeit zu seinem Essen zurückkehrte.     ***     Die Speisekarte war interessanter als das Gespräch am Nebentisch, zumindest für Bokkun. Tooru hatte ihn einige Sekunden mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet, doch offensichtlich war der Kerl viel zu beschäftigt damit, sich sein Mittagessen auszusuchen, als dass er Aufmerksamkeit übrig hätte für das, was da neben ihnen abging. Es war gut, denn sonst hätte er sich sicher lautstark eingemischt, trotzdem war Tooru ein bisschen fassungslos. Es war so interessant! Tooru glaubte nicht, dass Bokkun wusste, dass Kurocchi und der andere Kerl einmal Freunde gewesen waren. Er fragte sich, warum. Das Gespräch gab Aufschluss darüber, dass sie lange keine Freunde mehr waren oder sein wollten, aber wurde so etwas nicht doch einmal Thema? Vor allem, wenn es eine so enge Freundschaft gewesen war, wie die beiden sie offensichtlich gehabt hatten. Wenn sie einmal auf Vornamensbasis gewesen waren… Unwillkürlich verzog er das Gesicht. Er hatte vor vielen, vielen Jahren Iwa-Chan einmal angeboten, seinen Vornamen zu benutzen. Iwa-Chan hatte abgelehnt, mit der Erklärung, dass Tooru einfach nicht so schön zu verballhornen sei. Er hatte sich nie etwas dabei gedacht. Er hätte auch niemals angenommen, Iwa-Chan Hajime zu rufen, einfach nur, weil Iwa-Chan so viel vertrauter geworden war. Angewohnheit eben. Vielleicht bereute er es. Gerade hatte er den Eindruck, dass diese Entscheidung nur noch mehr unterstrich, wie sehr gerade alles zwischen ihnen schief lief. Er seufzte stumm. Wo er hier saß und unauffällig die beiden Männer an dem anderen Tisch musterte, fragte er sich, ob er irgendwann auch so enden würde. In ein paar Jahren. Nach dem Studium. Würden er und Iwa-Chan sich einmal genauso fremd werden? „Ich fass es nicht, dass ich mal mit dir befreundet war.“ Er konnte förmlich hören, wie Iwa-Chan es sagte. Er konnte es vor sich sehen. Iwa-Chan, einige Jahre älter als heute. Aber bestimmt hatte er immer noch die gleiche, schnöde Frisur, die er schon immer gehabt hatte. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen würde viel deutlicher geworden sein, und wahrscheinlich würde er die Augenbrauen zusammenziehen, während er es kommentierte, wodurch sie noch tiefer aussah. Der Tooru in fünf Jahren – oder wie vielen auch immer – würde lachen und unbekümmert tun, obwohl die Worte ihn verletzen würden. Er würde es bestätigen, und er würde irgendwelche Gemeinheiten hintendran hängen, weil es immer einfacher war, zu verletzen, als verletzt zu werden, und am Ende des Tages würden sie auseinandergehen, um sich nie wiederzusehen. Er würde vermutlich auch nie jemandem erzählen, dass er einmal mit Iwa-Chan befreundet gewesen war. Die Erinnerung würde viel zu schmerzhaft sein. War das das Schicksal, das ihnen bevorstand?   In dem jähen Bedürfnis, sich selbst zu beweisen, dass das niemals passieren würde, zog er das Handy aus der Tasche. Er erwartete fest, eine Nachricht von Iwa-Chan zu haben. Egal was. Nicht einmal eine Entschuldigung. Ein wütendes Zetern über ihr letztes Telefonat. Eine grimmige Nachricht darüber, dass Iwa-Chans Terminkalender wieder einmal platzte. Irgendetwas. Nichts. Keine Nachricht. Er starrte sein Handy vernichtend an, starrte auf den Chatverlauf, ohne ihn zu lesen. Die letzte Nachricht war immer noch Iwa-Chans Verkündung, dass er später kommen würde – eine Lüge, wie sich später herausgestellt hatte. Sein Daumen schwebte über dem Texteingabefeld. Er könnte Iwa-Chan selbst etwas schreiben. Er wusste nicht einmal, was. Bokkun sieht aus wie ein Idiot, wenn er die Haare nicht gestylt hat. Die Kappe stand ihm wirklich nicht! Aber was brachte ihm das? Warum sollte er es nötig haben, Iwa-Chan hinterherzulaufen, wo der es war, der ihn ständig hängen ließ?! Er schnaubte unwillig, ließ das Handy etwas härter als nötig auf dem Tisch aufkommen. Der jähe Laut ließ Bokkun von der Speisekarte aufsehen. Er sah zu Tooru, dann auf dessen Handy hinunter, hob die Augenbrauen, während sein dümmlicher Eulenblick noch ein bisschen dümmer wurde. Er dachte nach. Zu einer Erkenntnis kam er bald genug, dann zog er sein eigenes Mobiltelefon hervor, und begann, eifrig auf das Touchpad einzuhämmern. Es dauerte eine ganze Weile, bis er fertig war, und schließlich legte er das Handy hin.   „Hey hey hey!!!“, ertönte es just in diesem Moment gedämpft vom Nebentisch.     ***     Tetsurou fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl, als sein Handy klingelte. Hektisch griff er in seine Hosentasche und zog das kleine Gerät hervor, während ihm gegenüber Daishous Augenbrauen bedenklich nah an seinen Haaransatz gewandert waren. Er sah absolut ungläubig aus. „Das ist nicht dein Ernst.“ Natürlich war es Tetsurous Ernst. Er grinste, während er die Tastensperre löste. „Natürlich. So weiß ich immer, wer gerade schreibt.“ Es war doch außerdem witzig, wenn das Handy mitten in der Öffentlichkeit anfing zu brüllen. „Du tust geradezu so, als wärst du mit dem Kerl verheiratet.“ – „Bullshit. Kenma hat auch einen eigenen Klingelton.“ Und zugegeben – das waren auch die einzigen. Nicht einmal, weil die anderen es weniger wert waren, auch wenn Daishous Blick das suggerierte, sondern aus dem simplen Grund, dass er sonst unglaublich wenige Nachrichten bekam. Mit Kenma kommunizierte er oft auf diese Art, ausnutzend, dass Kenma eh ständig an seinem Handy klebte, und Bokuto war ebenfalls jemand, der eigentlich mindestens einmal täglich – stundenlang…  – schrieb. Zu wissen, wann es einer seiner häufigeren Kontakte war, der schrieb, machte es Tetsurou leichter, abzuwägen, wann er das Handy auch mal ruhig ignorieren konnte. (Kenma wurde aus Prinzip nie ignoriert.)   Abgelenkt von Daishou und seinen unnötigen Kommentaren brauchte Tetsurou geradezu lächerlich lange, bis er die Nachricht geöffnet hatte – die ihm komplett in Großbuchstaben vom Bildschirm entgegenschrie. BRO!!! WIESO HAST DU MIR NICHT GESAGT, DASS DU EIN DATE HAST?! WILLST DU DEN KERL ETWA KLARMACHEN?! Woher weiß der das?!, war Tetsurous erster Gedanke. Im zweiten wurde ihm wieder bewusst, dass er überhaupt kein Date hatte oder haben wollte, sondern nur seine Wettschulden beglich. Er schüttelte fassungslos den Kopf, während er eine Antwort formulierte. Nein, er hatte kein Date, das war nur eine verlorene Wette, er würde lieber Bleiche trinken, als diesen Typen klarzumachen. Die kommende Antwort machte irgendwie nicht viel besser. Aber Oikawa sagt, er ist hübsch!!! Oikawa ist auch in einen brutalen, furchtbar gemeinen Kerl verknallt, vergiss das nicht, Bro. Anhand der zahllosen Ausrufezeichen, die Tetsurou danach bekam, war recht offensichtlich, dass Bokuto es natürlich wieder vergessen hatte. Tetsurou hätte es wohl selbst wieder vergessen, hätte er nicht immer noch Mitleid mit dem dummen Kerl und seiner unglücklichen Liebe.   „Wenn du vorhast, jetzt nur noch mit deinem Handy zu flirten, hätten wir uns die ganze Sache sparen können. Das ist ganz schön unhöflich, Kuroo.“   Tetsurou hob den Blick von dem kleinen Bildschirm. Daishou sah unglaublich gelangweilt aus. Er hatte das Kinn auf die Handfläche gestützt und beobachtete Tetsurou aus Augen, die so weit geschlossen waren, dass Tetsurou zwischen den Wimpern kaum noch etwas erkannte. Er verzog unzufrieden das Gesicht, legte das Handy langsam auf dem Tisch ab. Die Bewegung wollte ihn nicht von seinen Gedanken ablenken. Nach dem letzten Gespräch klang sein eigener Nachname nun fremd aus Daishous Mund. Es war doch albern. In dem Bestreben, sich nichts anmerken zu lassen, grinste er Daishou unbekümmert an. „Wir haben kein Date. Wieso stört es dich also~? Hast du dir da etwa mehr erhofft, als du zugeben willst?“ „…nein.“ Mehr nicht. Tetsurou wartete einen Moment, ob er nicht doch noch zurückstänkern wollte, aber es kam nichts. Daishous Blick war nach wie vor wenig aufschlussgebend, er saß einfach da und beobachtete Tetsurou schweigend. Weil sonst nichts passierte, zuckte Tetsurou schließlich nur die Schultern und kehrte zu seinem Handy zurück. Ob er Bokutos eloquente Ausrufezeichenarmee beantworten sollte? Womit denn? Zugegeben, er wusste es nicht. Aber er konnte immer noch über die Wette jammern, oder? Jetzt war es sowieso egal.   „Du hast dich überhaupt nicht verändert, weißt du das eigentlich?“   Tetsurou schreckte aus der halbgeschriebenen Nachricht auf, die Bokuto darüber hätte informieren sollen, dass Daishou ein ätzendes Arschloch war und Tetsurou sich gerade überall hin wünschte, wenn er dafür nur von dem Kerl wegkam. Er würde sogar freiwillig in die Berge gehen! Daishou stand. Tetsurou hatte die Bewegung nicht bemerkt. Sein Blick wanderte von dem Kerl hinunter. Das Essen auf seinem Teller war nicht einmal halb gegessen. Langsam hob sich Tetsurous Augenbraue, während sein Blick zu dem inzwischen ausgesprochen abweisend aussehenden Gesicht zurückkehrte. Das Grinsen, das sich dafür auf Tetsurous Gesicht schlich, war im Grunde schon nur noch ein Reflex.  „Hah? Bist du jetzt beleidigt~?“ „Nein. Ich habe einfach bessere Verwendung für meine Freizeit.“ Daishous Lächeln wirkte geradezu eisig kalt. Er legte den Kopf ein Stück zur Seite. Er hätte freundlich aussehen können, hätte er es gewollt. „Danke für das Essen, Kuroo.“ Er machte Anstalten, zu gehen. Tetsurou hatte sicher nicht vor, ihn aufzuhalten, weil – ernsthaft, warum sollte er? Daishou war keine angenehme Gesellschaft, und er hatte seine Wettschulden eingelöst. Er hatte keine Verpflichtung mehr dem Kerl gegenüber. Fast erleichtert atmete er durch. Es hatte sich zwar überhaupt nicht gelohnt, das Trainingscamp hierfür früher zu beenden, aber dafür hatte er die ganze Sache nun beendet. „Man sieht si–“   „Bro!!! Ich dachte, du wolltest ihn klarmachen!!!“   Für einen Moment, der genauso gut bis zum Ende der Zeit hätte anhalten können, schien die Welt stillzustehen. Tetsurou verstand nicht, was passierte. Daishous Gesicht war in einer Mischung aus Verwirrung und Unglaube entgleist, während Tetsurou selbst sich fühlte, als wären seine Gesichtspartien einfach alle gar nicht mehr an ihrem Platz vorlauter Schreck. Er sprang von seinem Stuhl auf, sah sich ruckartig um auf der Suche nach der Lärmquelle. Sie waren nicht zu übersehen. Bokuto, mit der lächerlichen Sonnenbrille, die sie einmal gemeinsam gekauft hatten, und einer Baseballkappe auf dem Schädel, die er unbedingt hatte haben wollen, aus Gründen, die Tetsurou längst vergessen hatte. Oikawa saß ihm gegenüber und grinste unschuldig, während er zu ihnen hinüberwinkte. Tetsurou erkannte den Hut, den er trug, ebenfalls als Teil von Bokutos Spontaneinkäufen, während die Brille wohl eher Oikawa selbst gehörte. Das grauenhafte Shirt, das Oikawa trug, hatte er Bokuto sogar irgendwann einmal geschenkt, als sie eine Wette darüber abgeschlossen hatten, wer dem jeweils anderen das hässlichere Shirt schenken würde. „Yaho~ Überraschung!“   Tetsurou war völlig perplex. Starrte von Oikawa, der noch immer grinsend winkte, zu Bokuto, der völlig entsetzt aussah, zu Daishou, dessen Mimik immer noch in Unglaube eingefroren war. Das war doch ein schlechter Witz. „Was. Soll. Das?“ – „Brooo!!! Wir wollten eigentlich das Date von Konoha und Komi finden! Und dann haben wir stattdessen dein Date gefunden!!!“ – „Das ist kein Date!“   Langsam wurde es wirklich bescheuert. Tetsurou war ernsthaft überfordert mit der bescheuerten Situation. Resignierend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, rieb sich über den Nasenrücken. Er fühlte sich wie in einem lächerlichen Manga. Oder wahlweise einer schlechten amerikanischen Komödie. Mit dem Unterschied, dass er, im Gegensatz zu dem Protagonisten so einer stupiden Geschichte, tatsächlich rein gar nichts von Daishou wollte. Der stand immer noch völlig entgeistert und fassungslos da, regte sich kaum. Er schien überhaupt keine Ahnung zu haben, was er tun sollte. Es war beinahe befriedigend, jemanden, der gewöhnlicherweise ganz aalglatt durchs Leben kam, so absolut ratlos zu erleben. „Bro! Wieso hast du mir nichts erzählt!?“ Tetsurou seufzte. Er suchte nach den passenden Worten, damit Bokuto das Thema einfach ruhen ließ. Es gab passende Worte. Es gab sie immer. Sie waren nur nicht leicht zu finden. Er suchte zu lange. Er kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, da machte Bokuto den Mund schon wieder auf, die Augen karikativ weit aufgerissen: „Bro!!! Sag mir nicht, das ist der Typ, in den du verknallt bist!!!“ „Ich bin nicht–!“ Jetzt kam wieder Bewegung in Daishou. Er schnaubte, so beißend hasserfüllt, dass es Tetsurou beinahe auf den Magen schlug. „Bro! Natürlich bist du verknallt! Du wolltest mir das doch gestern nur nicht sagen wegen der Leute, die dabei waren! Aber jetzt kannst du es mir sagen! Du kannst ihm sogar gleich deine Liebe gestehen, hey hey hey!!!“ Es war eindeutig zu viel für Tetsurous Nerven. Oikawa versteckte ein Lachen hinter seiner vorgehaltenen Hand, Daishou sah aus, als würde er gleich kotzen, und Bokuto grinste verschwörerisch, als hätte er ein ganz tolles Geheimnis erraten, das Tetsurou eigentlich nicht hatte mit ihm teilen wollen.   Tetsurou seufzte tief, fuhr sich noch einmal mit der Hand durch das Haar. Dass er seine ohnehin nie besonders hübsche Frisur damit noch mehr ruinierte, ignorierte er, so gut es ging. Es war schwer, es ganz zu ignorieren, wo Oikawas kritischer Blick naserümpfend auf seinem Schopf lag. „Bro. Ich will nichts von dem. Schau ihn dir doch an!“ Bokuto sah ihn sich an. Große Augen, nachdenklich-dümmlicher Blick, abschätziges am Kinn kratzen. Als sein Blick zu Tetsurou zurückkehrte, sah er aus, als verstehe er überhaupt nicht, was der ihm hatte sagen wollen. „Bro. Der ist scharf.“ Tetsurou hätte am liebsten geheult und gelacht gleichzeitig vor Verzweiflung. „Ich hasse ihn. Ich würde lieber ne Kakerlake daten als den Kerl!“ Bokuto hob die Augenbrauen. Seine Augenlider senkten sich, bis sein Blick unglaublich träge aussah. Tetsurou ahnte, worüber er gerade nachdachte: Darüber, ob es ein Volleyballteam gab, das sich auf Kakerlaken heruntermünzen ließ. Er unterbrach den dummen Gedanken nicht, denn er bedeutete, dass Bokuto gerade besseres zu tun hatte, als das Thema weiter auszuwalzen. Es war genug. In der Hoffnung, dass Bokuto erst noch eine Weile still bleiben würde, wandte er sich von ihm ab. Oikawa sah aus wie die perfekte Unschuld vom Lande, wenn man einmal davon absah, dass in seinen Augen der Schalk blitzte – er war gut darin, es zu verstecken, aber Tetsurou war besser darin, es zu entdecken. Daishou hingegen sah alles andere als amüsiert aus. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als Tetsurous Blick auf ihn fiel. Einen Augenblick später erwiderte Daishou den Blickkontakt. Der schmale Mund verzog sich wider zu einem breiten Grinsen, das das ganze Gesicht bis zu den Augen hoch verzog, die dadurch nur noch schmaler zu werden schienen. Tetsurou bezweifelte eigentlich, dass Daishou durch die schmalen Schlitze überhaupt noch etwas mehr sah als verschwommene Schlieren.   „Für dieses lächerliche Theater wärest du mir eigentlich noch mindestens zwei Essen schuldig“, kommentierte er mit einer Stimme, die neben dem gesichtsverzerrend breiten Grinsen faszinierend tonlos klang. Tetsurou öffnete den Mund, um einen neuen Witz darüber zu machen, dass Daishou wohl echt dringend ein Date haben wollte, doch weil Bokuto in Hörweite war und es völlig falsch verstehen würde, schloss er den Mund wieder, bevor der Witz Gestalt annehmen konnte. Sein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf, und mit jeder Bewegung schien das Grinsen ein bisschen frostiger zu werden, bis es aussah, als wäre es auf seinem Gesicht eingefroren. Er öffnete die Augen ein bisschen weiter, und in ihnen brodelte unter einer Eisschicht etwas, das Tetsurou weder benennen konnte, noch wollte. „Aber ich kann dankend auf deine Gesellschaft verzichten.“ – „Keine Sorge, das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Tetsurou gab sich Mühe, sein nettestes, falschestes Lächeln zu lächeln, während er sprach. Daishou schnaubte, sah ihn noch einmal kurz an, ehe er seine Tasche schulterte und sich zum Gehen wandte. Das Sonnenlicht ließ die Ringe der Hand, die den Taschenriemen hielt, unruhig glänzen. Er blieb noch einmal stehen, nachdem er kaum einen Schritt getan hatte, sah zu Tetsurou zurück, und das breite Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden. Der Ausdruck, der nun darauf lag, war für Tetsurou unlesbar, der Blick der schmalen Schlangenaugen wirkte auf eine seltsam resignierte Art müde.   „Mach’s gut, Tetsurou.“   Selbst seine Stimme klang anders. Für den Bruchteil einer Sekunde war Tetsurou wieder acht Jahre alt und seine ganze kleine Welt bestand aus dem damals winzigen Freundeskreis, den er gehabt hatte, und er lief barfuß am Ufer eines Flusses entlang, einen Stock in der Hand und ein schiefes Wanderlied auf den Lippen, während neben ihm ein kleiner Junge im gleichen Alter mit funkelnden Schlangenaugen lachte, weil er wieder einmal den Text verdreht hatte.   „Bro. Aber es gibt gar keine Kakerlaken.“ Kapitel 8: ----------- „Wusstest du, dass Oikawa-Kun verliebt ist?“   Koushi schmunzelte, als Yudas erste Reaktion so große Verblüffung war, dass ihm fast die Essstäbchen aus der Hand fielen. Erst im letzten Moment bekam er sie wieder gepackt, bevor sie auf den Tisch in der Unimensa klirren konnten. „Er hat es zugegeben?!“ Jetzt war es an Koushi, verblüfft zu sein. Das war nicht die Reaktion, mit der er gerechnet hatte! Er lachte auf, schüttelte amüsiert den Kopf. Eigentlich aber machte es Sinn. Natürlich war das schon Thema gewesen. Yuda war viel zu aufdringlich, als dass er es nicht bemerkt hätte. „Gewissermaßen. Er hat es nicht direkt zugegeben, aber sein Verhalten spricht Bände. Ich glaube, er würde Kuroo-Kun gern umbringen dafür, dass er den Gedanken in den Raum geworfen hat.“ Yuda lachte herzlich auf. „Unfassbar! Das muss ich den anderen erzählen! Motomu hat die Wette verloren!“   Obwohl es noch gar nicht so lange her war, dass Koushi sich das erste Mal mit dem Wirrwarr von Yudas Freundeskreis hatte auseinandersetzen müssen, hatte er dank der Redseligkeit des anderen Studenten längst einen ausgesprochen guten Überblick darüber, wer von ihnen wer war. Es war liebenswert, die Selbstverständlichkeit, mit der jede von Yudas Geschichten mit seinen Freunden begann und wieder aufhörte, und Koushi hörte es sich unglaublich gerne an. Entsprechend war er auch furchtbar neugierig, was es mit der Wette auf sich hatte. Er lehnte sich mit blitzenden Augen zu Yuda vor. „Wette?“ Yuda lachte sanft. Er blinzelte gegen die sentimentale Feuchtigkeit in seinen Augen an. „Takahiro und Issei. Wie immer. Sie haben schon im zweiten Schuljahr gewettet, ob Tooru und Hajime Interesse aneinander haben oder nicht. Motomu war der Einzige, der vehement dafür gestimmt hat, dass da nie und nimmer etwas läuft! Sollte Tooru mal so weit kommen, ihm seine Liebe zu gestehen, hat Heisuke gewonnen. Wir waren uns eigentlich alle einig darin, dass Tooru zu stolz dafür ist.“   „Worum habt ihr gewettet?“ Koushi konnte sich die Frage nicht verkneifen – sie gehörte inzwischen einfach dazu. Er kannte die Antwort schon, bevor Yudas Gesicht zu einem schelmischen Grinsen verzog. „Nichts.“ Es war immer nichts, egal, wie oft er Geschichten über die Wettaktionen der Jungs hörte. Warum sie da überhaupt wetteten, war ihm immer noch schleierhaft. Yuda hatte versucht, es ihm zu erklären, irgendetwas von Stolz und Ehre, und irgendwie war es auch einfach nur ein Insider, der dazugehörte, aber Koushi verstand es immer noch nicht. Es war okay. Umgekehrt war es auch schwer, Yuda zu erklären, was die Besonderheit an seiner Freundschaft zu Daichi und Asahi war. Da, wo Koushi die Wetten nicht verstand, verstand Yuda einfach nicht, wieso sie Asahi ständig so sehr foppten und es sogar irgendwie positiv war.   So liebenswert und lustig die kleine Anekdote auch war, Koushis Miene wurde recht bald wieder ernst und er seufzte leise, unzufrieden. Er hätte gern lieber weiter über Oikawas Beziehungsleben gewitzelt, aber das war einerseits nicht der Grund gewesen, weshalb er Yuda davon erzählen wollte, statt wieder zu ihrem Ursprungsthema Trainingscamp zurückzukehren, und andererseits war es auch definitiv nicht in Ordnung, über etwas zu lachen, das gerade nur aus Problemen bestand. Er verzog unwillig das Gesicht, schob das Tablett mit dem Mensaessen von sich, das heute auch irgendwie nicht besonders gut war, und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Irgendwo in der Nähe kratzte ein Stuhl über den Boden. „Also was das angeht… Ich glaube, Oikawa-Kun ist ein ziemlicher Dummkopf.“ Yudas Grinsen, teils liebevoll, teils resigniert, ein bisschen schelmisch, sagte ganz klar und deutlich und das ist dir jetzt erst aufgefallen? Koushi hob die Schultern, zog die Nase unzufrieden kraus. Es reichte, damit Yudas Grinsen verblasste und von Sorge ersetzt wurde. Er packte seine Bentobox sorgfältig zurück in seine Tasche, imitierte dann Koushis Position und legte ebenfalls Arme und Kopf auf den Tisch. „Was hat Tooru jetzt wieder Dummes gemacht?“ Er zog die Augenbrauen zusammen, nachdenklich. „Wo du es erwähnst… es ist echt seltsam, dass er nach dem Trainingscamp nicht geschrieben hat, um zu prahlen, wie toll er doch ist.“ – „Iwaizumi war nicht da.“ „Oh.“ Yuda blinzelte. Blinzelte noch einmal. Hob die Augenbrauen, während bei ihm langsam Erkenntnis dämmerte. Dann stöhnte er und vergrub das Gesicht in den Armen, zusammen mit dem gedämpften Ausruf „Sag, dass das nicht wahr ist!“ Es war faszinierend für Koushi. Er hatte von Oikawa zu Schulzeiten nie allzu viel positives mitbekommen, und jetzt so hautnah zu erleben, dass der Kerl nicht nur Freunde hatte, sondern Freunde, die ihn und seine Macken viel zu gut kannten, war etwas, das er sich nie so recht hätte vorstellen können. Es war schön. Jeder Mensch hatte Freunde verdient, auch solche anstrengenden Persönlichkeiten wie Seijohs ehemaliger Captain.   „Sie haben gestritten“, begann er mit einem müden Seufzen. „Also, zumindest würde ich es so nennen.“ Vermutlich war Oikawa-Kun war ein Trampel eher eine Beschreibung des Geschehen, aber nun gut. Während Koushi erzählte, was er im Zuge des Flaschendrehens mitbekommen hatte, verzog sich Yudas Gesicht zu immer unglücklicheren Grimassen. Als sein kleiner Bericht schließlich endete – er gab sich alle Mühe dabei, möglichst viel von Oikawas Verhalten wiederzugeben –, sah Yuda aus, als wäre er hin– und hergerissen zwischen Empörung und Ärger, und dem Drang, zu helfen. „Tooru ist ein Idiot!“, schnaufte er schließlich, raufte sich in einer geradezu komisch verzweifelten Geste das Haar. „Ich fass es einfach nicht! Wie kann ein Mensch, der so intelligent ist, so unglaublich blöd sein?!“ Yuda zeterte minutenlang. Koushi konnte nicht anders, als zu grinsen, während er seinem neuesten Freund dabei zusah, wie er sich so sehr in Rage redete, dass sein ganzes Gesicht rot anlief. Ob er nicht heimlich ein Foto machen und es Oikawa schicken sollte? Aber wahrscheinlich würde der Kerl sich gerade nicht darüber freuen, dass seine Freunde sich offenkundig um ihn sorgten. Er verlor den Gedanken, als Yuda mitten im Zetern aufhörte, vermutlich, weil er endlich bemerkt hatte, dass Koushi grinste. Er sah ihn empört an, sah dadurch nur noch lustiger aus, und Koushi erstickte ein leises Lachen in seiner Handfläche. „Koushi!!! Das ist nicht lustig!“ Es war lustig, da konnte Yuda sagen, was er wollte. Und so schlimm konnte es gar nicht sein – kaum, dass Koushi sein Gelächter einfach herausließ, fiel Yuda selbst mit ein.   Erst Minuten später verklang das Lachen wieder, wich einem behaglichen Schweigen. Yuda seufzte leise. „Weißt du, eigentlich ist das ja ne Sache, in die wir uns nicht einmischen sollten. Aber andererseits, Tooru kriegt das niemals alleine hin. Hajime auch nicht. Meinst du, sie bringen mich um?“ – „Nein.“ Koushi lachte legte Yuda eine Hand auf die Schulter. „Also, vielleicht doch, aber im Nachhinein sind sie dankbar genug, dass sie dich auch wiederbeleben!“ – „Sehr beruhigend!“   Dass Koushi eigentlich noch etwas anderes hatte erzählen wollen, fiel ihm erst wieder ein, als Yuda sich zu seiner nächsten Vorlesung verabschiedete:   „Ach übrigens: Wir sehen uns heute Nachmittag beim Training.“     ***     Kaneo stolperte über seine eigenen Füße, als er versuchte, noch im Laufen die Straßenschuhe gegen Hausschuhe einzutauschen. Statt den Pantoffel anzuziehen, kickte er ihn durch den gesamten Flur. Er fluchte, kam schlitternd zum Stehen. Pfefferte die Tasche mit den Unisachen in die nächste Ecke, ehe er den Pantoffel einsammelte und anzog, und dann endlich in das kombinierte Wohn– und Schlafzimmer seiner winzigen Studentenbude stapfte. Viel langsamer, als er es gewesen wäre, wenn er einfach ganz normal angekommen wäre, aber er hatte sich ja beeilen wollen! Er seufzte empört, ließ sich auf den durchgesessenen Sessel fallen, den er seinen Eltern beim Auszug gemopst hatte und zog sein Handy hervor. Ausgerechnet an Tagen wie diesen musste alles unfassbar lange dauern! Erst die Uni, dann der Volleyballclub, und dann hatte er die U-Bahn verpasst, die er eigentlich sonst immer bekam. Aber jetzt. Entschlossen wählte er Toorus Nummer, drückte das Handy an sein Ohr. Es klingelte. Einmal. Zweimal. Hatte Tooru gerade überhaupt Zeit? War er selbst noch in der Uni? Oder beim Volleyball? Kaneo kannte seinen Stundenplan doch nicht! Hajime kannte ihn mit Sicherheit, aber Kaneo wollte den armen Kerl nicht unbedingt anrufen, um über Tooru zu plaudern. Nicht in dieser Situation zumindest. „Yudacchi?“ Kaneo schreckte mit einem Japsen aus seinen Gedanken. Tooru klang wie immer – eine Mischung aus erfreuter Überraschung und Skepsis in der Stimme, die so selbstverständlich leicht und fröhlich klang. Normalerweise hätte er sich nichts dabei gedacht. Es war immerhin Tooru. Tooru klang eben die meiste Zeit so. Dieses Mal aber war ihm viel zu deutlich bewusst, dass die Heiterkeit nur aufgesetzt war, und das machte ihn unglaublich wütend. Es war eine Sache, dass Tooru nicht gern über seine Probleme sprach, und grundlegend konnte Kaneo das respektieren. Aber es war überhaupt nicht okay, wenn er so tat, als wäre alles super, während er gleichzeitig mit seinem lebenslangen besten Freund stritt! „DU BIST EIN IDIOT, TOORU!!!“, brüllte er ins Handy, ohne darüber nachzudenken, was er tat. Seine eigene Lautstärke erschreckte Kaneo, und im nächsten Moment war er so überfordert, dass er gar nicht wusste, was er eigentlich noch sagen sollte.   Er legte auf, noch ehe Tooru hätte reagieren können.   Mit hämmerndem Herzen starrte Kaneo auf sein Handy. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. Eine tropfte auf das Display, das den gerade beendeten Anruf noch anzeigte. „Idiot“, murmelte er noch einmal, zog die Nase hoch, presste die Lippen zusammen. Vielleicht hätte er doch Hajime anrufen sollen. Aber was sollte Hajime denn tun, wenn Tooru sich wie ein Idiot verhielt? Auch wenn er im Grunde auch ein Idiot war! Er kannte Tooru doch gut genug, um zu wissen, dass der Kerl einfach zu stur war, um den ersten Schritt zu machen. Er war also genauso Schuld, weil er sich genauso wie ein Idiot benahm! Ein bisschen zumindest. Kaneo konnte sich nicht vorstellen, wie verletzt Hajime sein musste. Er hatte keinen Freund wie Tooru, der ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Gerade in diesem Moment beneidete er Hajime allerdings auch nicht darum. Bebend stieß er die Luft aus, wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. Schniefte noch ein letztes Mal, um dann erneut Toorus Nummer zu wählen. Diesmal dauerte es kein ganzes Klingeln, bis Tooru dranging. „Yudacchi, wenn du–“ – „Du bist ein Idiot“, wiederholte Kaneo noch einmal, Tooru einfach ins Wort fallend. Er schnaubte, spürte, wie Empörung ihm erneut Tränen in die Augen trieb. „Wieso machst du sowas?!“ „Wovon redest du?“ Tooru klang nicht mehr fröhlich und heiter. Er klang vielmehr so angepisst, dass Kaneo unwillkürlich zusammenzuckte und schuldbewusst blinzelte. Er wollte nicht streiten. Er wollte aber auch nicht kommentarlos zusehen, wie zwei seiner besten Freunde sich einfach nur idiotisch verhielten und ihre Freundschaft kaputtmachten. „Du weißt, wovon ich rede. Hajime.“ Stille. Kaneo verbuchte es im ersten Atemzug als positiv, denn ein stiller Tooru war in der Regel ein Tooru, der an seinen Gedanken knabberte. Er würde nicht daran knabbern, wenn es ihm nicht nahe ging, nicht wahr? Also gab es Chancen, dass er sich doch noch wieder einbekam!   Leider hatte Tooru andere Pläne, als Kaneo sein Herz auszuschütten. Seine Stimme klang gefährlich, kalkulierend kalt, als er wieder sprach: „Woher weißt du davon?“ Es war nicht, als würde Tooru das nicht auch alleine herausfinden. Zu lügen half also überhaupt nicht, verschweigen auch nicht. Tooru kannte seine Kontakte; er wusste, dass er seit kurzem mit Koushi bekannt war. Weil es also gar keinen Sinn machte, es zu verbergen, antwortete Kaneo ehrlich. Als Reaktion bekam er ein unzufriedenes Schnauben und ein Grummeln seitens Tooru, dass er Koushi einfach noch nie gemocht hatte. Das war nicht, worüber Kaneo hatte reden wollen. „Tooru“, begann er noch einmal, ein wenig vorsichtiger, aber drängend. „Es ist nicht meine Schuld. Er lässt mich ständig hängen!“ Das war unmöglich. Kaneo konnte und wollte das nicht glauben. Aber Toorus unglücklicher Wortschwall war eindeutig – Hajime hatte ihn schon mehrfach versetzt, und da war das Trainingscamp nur noch der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In die empörte, beleidigte Erzählung mischte sich etwas, das Kaneo irgendwie erst bemerkte, als Tooru es ihm beinahe ins Gesicht warf: Angst. Angst davor, diese lebenslange Freundschaft zu verlieren. Sich auseinander zu leben. In fünf Jahren nur noch ein paar Fremder zu sein. „Tooru…“ – „Sag nicht, du heulst.“ Kaneo lachte kläglich. Selbst seine Stimme klang tränennass. Dass Tooru ähnlich elend klang, machte gar nichts besser. Hätte er die Möglichkeit dazu, er würde sofort bei ihm vorbeifahren– Warum eigentlich nicht. Kaneo blinzelte die Tränen weg, sprang vom Sofa auf. „Tooru! Wir machen morgen blau! Ich komm zu dir!“ „Was?“ „Du hast  mich schon verstanden! Ich bin fast auf dem Weg. Holst du  mich vom Bahnhof ab?“ – „Yudacchi, du kannst nicht–“   „Doch. Ich kann und ich werde!“     ***     Das Café war klein und unauffällig. Kenjirou blieb kaum durch die Tür getreten stehen; sie fiel unter Glöckchenbimmeln hinter ihm wieder ins Schloss. Ein Blick aufs Handy zeigte, dass er fünf Minuten zu früh war und damit völlig im Rahmen einer höflichen Ankunftszeit. Zu einem Treffen, dessen Nutzen er von vorn bis hinten nicht sah. Er schüttelte den Kopf, schob das Handy in die Jackentasche und sah sich um. Seinen Gesprächspartner entdeckte er an einem Tisch in der hintersten Ecke des kleinen Ladenraums. Aoba Jousais Captain sah auf, als Kenjirou herantrat, hob nichtssagend zum Gruß die Hand. Er hatte bereits ein großes Glas mit Eistee vor sich stehen, in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit schwammen grobe Eiswürfel. „Du bist gekommen.“ – „Offensichtlich.“ Yahabas Mundwinkel zuckten kurz, während er zusah, wie Kenjirou sich ihm gegenüber niederließ. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du kommst.“ – „Ich habe nicht damit gerechnet, dass Kanoo dein Botenvogel ist.“ Sein Gegenüber zuckte unbekümmert die Schultern und erklärte nüchtern, dass er doch irgendwie an Kenjirou herankommen musste, wo er seine eigene Handynummer nicht hatte. An und für sich war es auch gar nicht dumm gewesen, einfach jemanden zu suchen, der die Handynummer von irgendjemandem aus Shiratorizawas Team hatte, um dann entsprechenden Kontakt zur Nachrichtenübermittlung auszunutzen. Trotzdem hatte Kenjirou ganz schön dumm aus der Wäsche geschaut, als Kanoo ihm am Morgen lachend sein Handy unter die Nase gehalten hatte. Es musste ja auch noch extra kurzfristig sein.   Eine Kellnerin, die herantrat, um seine Bestellung aufzunehmen, riss ihn aus der Erinnerung. Ohne die Karte auch nur angesehen zu haben bestellte er einen einfachen Cappuccino. Die Bedienung entfernte sich mit trippelnden Schritten wieder. „Also, was willst du, Yahaba?“ „Die Prügelei.“ Yahaba seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah nicht wirklich begeistert aus; ein bisschen so, als hätte er sich die Mühe, herzukommen, lieber auch gespart. „Als Captain ist es meine Pflicht, mich darum zu kümmern, dass dieser Idiot Kogami bestraft wird. Nachdem du im gleichen Boot sitzt, dachte ich mir – wieso überlegen wir uns nicht gemeinsam etwas?“ Er hob die Augenbrauen, abwartend, auffordernd. Kenjirou sah ihn einen langen Moment nur irritiert an. Das war es? Ernsthaft? Wegen dem lächerlichen Kindergartenkrieg von Sakase und Fukumine saß er nun hier? Ehe er eine passende Antwort darauf gefunden hätte, hatte die Kellnerin seinen Cappuccino gebracht und das Gespräch damit kurzzeitig unterbrochen.   „Ich hoffe, du hast mich nicht ganz ohne Plan hierher zitiert.“ Yahaba trank in aller Seelenruhe von seinem Eistee. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er das Glas schließlich wieder auf den Tisch stellte. „Sie können alle ein bisschen Nachhilfe in Teamwork und Respekt gebrauchen, oder? Eine gemeinsame Trainingssession könnte helfen.“ Kenjirou schüttelte den Kopf. Gegen seinen Willen musste er lachen. „Da reicht keine Trainingssession, da brauchst du ein ganzes Camp.“ Sakase und Fukumine waren anstrengend, schon jeder für sich. Gemeinsam waren sie beinahe unerträglich, und Kenjirou erinnerte sich leider noch zu gut daran, wie extrem rauflustig die beiden in Gegenwart von Seijohs Störenfried geworden waren. Wenn Yahaba wirklich glaubte, diese drei könnten lernen, in einem Raum zu sein, ohne sich beim ersten Blinzeln zu provozieren, dann war er schief gewickelt. Zumindest in einer so kurzen Zeitspanne. Gerade sah der andere Captain aus, als würde er intensiv über etwas nachdenken. Er rührte mit seinem Strohhalm in seinem Eistee herum, als gäbe es gerade nichts interessanteres, beobachtete die Bewegung der Flüssigkeit und Eiswürfel. „Weißt du“, sagte er schließlich nach einer ganzen Weile, „Die Idee ist gar nicht einmal so verkehrt. Und es ist definitiv eine Strafe.“ An sich war Kenjirou nicht abgeneigt, Yahaba einfach zuzustimmen. Sakase und Fukumine für ein Wochenende loszuwerden, ihnen dabei auch noch einen Dämpfer verpassen zu können, und mit ein bisschen Glück zogen sie auch noch so etwas wie eine Lehre aus der Sache – es klang attraktiv. Und wo er so darüber nachdachte, er brauchte ohnehin auch noch eine Strafe für Ninouchi und seine Arroganz. Passte das denn nicht perfekt? Die Sache hatte nur einen Haken. „Sie brauchen eine Aufsichtsperson.“ Yahaba blinzelte, als habe er darüber noch gar nicht nachgedacht. (Hatte er vermutlich auch nicht.) Nach einem Moment zuckte er unbekümmert die Schultern, sah Kenjirou an mit einem Blick, der klar ausdrückte, dass das doch ihr kleinstes Problem war. Seine Lippen verzogen sich kaum, aber das kaum merkliche Grinsen ließ ihn auf eine Art bedrohlich erscheinen, die Kenjirou beinahe sympathisch war.   „Ich weiß genau den Richtigen dafür.“     ***     Yudacchi hatte nicht gelogen. Nicht, dass Tooru ihm wirklich zutraute, lügen zu können, aber er traute ihm zu, eine Impulsentscheidung am Ende doch zu revidieren, wenn ihm bewusst wurde, wie dumm sie war. Er revidierte sie nicht. Nicht einmal zweieinhalb Stunden nach ihrem Telefonat stolperte Yudacchi aus dem Zug, einen alten, verbeulten Rucksack auf dem Rücken. Er sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, als Tooru ihn am Bahngleis in Empfang nahm. Er heulte nicht, sehr zu Toorus Erleichterung. Stattdessen plapperte er, kaum, dass sie losgingen, um den Weg zu Toorus Bude zurückzulegen. Er plapperte, weil er die Stille nicht mochte, und, wie Tooru vermutete, krampfhaft das Thema vermied, wegen dem er überhaupt hergekommen war. Suga war dem Volleyballclub beigetreten, erzählte er. Er sei ein guter Zuspieler, aber natürlich kam er nicht an Toorus Genialität heran. Das Team hatte ihn auf Anhieb ins Herz geschlossen, und auch wenn er erst mit erheblicher Verspätung dazugestoßen war, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er einen Platz in der Startaufstellung bekam. Insgesamt war das Team okay, sagte Yudacchi. Sie hatten einige echt gute Spieler, auch wenn Yudacchi vor der Uni noch keinen von ihnen persönlich gekannt hatte. Tooru verzog jedes Mal angewidert das Gesicht, wenn Sugas Name fiel – er mochte den Kerl wirklich nicht. Das gemeinsame Trainingscamp hatte da auch nur wenig geholfen. Er war einfach zu aufdringlich, zu gut darin, andere Menschen zu beobachten und zu durchschauen, und viel zu nett – der Typ Mensch, der es schaffte, einem noch ein schlechtes Gewissen zu machen damit, dass man sie nicht mochte. „Wir werden trotzdem gegen euch verkacken“, gab Yudacchi freimütig lachend zu, als er genug von den Menschen erzählt hatte, mit denen er inzwischen den Großteil seiner Zeit verbrachte. „Aber apropos – du erzählst immer nur so wenig von deinem Team! Wie läuft es? Habt ihr euch langsam eingespielt?“   Tooru verzog unwillig das Gesicht. Statt zu antworten, stieß er Yudacchi in die Rippen, weil der die grüne Ampel vor seiner Nase gar nicht bemerkte. So sehr er es zu schätzen wusste, nicht über Iwa-Chan zu sprechen, so wenig wollte er über sein Volleyballteam sprechen. Ushiwaka war kein besseres Thema. Nicht wirklich zumindest. Andererseits war der Kerl wenigstens zum Trainingscamp gekommen, obwohl er keinerlei Verpflichtung dazu gehabt hätte. „Es geht“, kommentierte er schließlich missmutig, blies schmollend die Wangen auf. „Die meisten von uns sind gut. Ushiwaka ist natürlich überragend. Erinnerst du dich an Tendou? Er geht auch auf unsere Uni, aber er hat mit dem Volleyball aufgehört. Kann nicht sagen, dass ich es bereue.“ Tooru hatte den Kerl noch nie gemocht, und das nicht nur, weil er ihnen auf dem Feld immer das Leben zur Hölle gemacht hatte. Er war einfach ein unsympathischer Charakter! So einen Kerl konnte man nicht mögen, wenn man nicht ein völliger emotionaler Baumstamm war. So wie Ushiwaka. „Der alte Zuspieler mag mich nicht besonders. Ist beleidigt, weil ich ihm seinen Platz weggeschnappt habe. Aber ehrlich, er ist selbst schuld! Hätte er härter trainiert, dann hätte er sich nicht ersetzen lassen müssen!“ – „Oh Tooru! Es kann nicht jeder so talentiert sein wie du!“ „Du weißt genau, dass das kein Talent ist, Yudacchi.“   Talent war, was Tobio hatte. Dieser absolute, selbstverständliche Instinkt, mit dem er genau wusste, was er zu tun hatte. Er hatte es selbst gerade erst wieder live gesehen. Tobio war überragend auf eine Art, die fast schon angsteinflößend war. Er war überragend, und er war besser geworden als bei ihrem letzten Zusammenstoß – und trotzdem war er immer noch Tobio, immer noch voller Fehler, immer noch weit davon entfernt, als Zuspieler wirklich sein volles Potential und das Potential seines Teams ausschöpfen zu können. Alles, was Tooru hatte, waren harte Arbeit und Fleiß, und er wusste, dass irgendwann der Punkt kommen würde, an dem er an seine Grenzen stieß mit harter Arbeit und Fleiß. Er war noch lange nicht bereit, diese Grenze anzunehmen. Er hatte noch Zeit. Konnte besser werden. Würde besser werden. Es war nicht zu spät, um es Tobio ein für alle Mal zu beweisen. Um Ushiwaka fertig zu machen, wie auch immer, jetzt, wo sie die gleiche Universität besuchten. Auf der gleichen Seite des Netzes standen. Er hasste es. „Aber natürlich steht außer Frage, dass wir gewinnen werden.“ – „Es kann in Miyagi gerade gar kein Team geben, das euch schlagen könnte, Tooru. Du und Ushiwaka? Ihr müsst unschlagbar sein!“ Was Tooru daran störte, war die Tatsache, dass es stimmte. Sie waren unschlagbar. Ushiwaka war ein Monster, und Tooru war immer noch dabei zu lernen, das Beste aus ihm herauszuholen. Er war schon unmenschlich stark, aber da ging noch mehr. Niemand konnte sie schlagen, egal, wie viel mehr Erfahrung er haben mochte. Ushiwaka konnte locker mit internationaler Konkurrenz mithalten. Es hatte Gründe, weshalb er Teil des japanischen Nationalteams war. Würde es nicht so sehr gegen seinen eigenen Sportlerstolz gehen, er würde Ushiwaka boykottieren. Je mehr er mit ihm trainierte, je mehr sie sich gegenseitig vorantrieben, desto kleiner wurde die Chance, dass Tooru jemals gegen ihn ankommen würde. Mit welchem Team denn auch?   „Tooru! Schau nicht so!“ – „Hah? Yudacchi~ ich glaube, du brauchst ne Brille!“ Tooru lachte fröhlich. Yudacchi sah nicht aus, als würde er ihm irgendetwas glauben. Er hob die Augenbrauen, verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem Seufzen stieß Tooru die Luft aus, ließ das Lächeln in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus in einem Windzug. „Nenn das Kind beim Namen. Es ist bescheuert, drumherum zu tanzen.“ Tooru wollte nicht reden. Aber gerade stand Iwa-Chan zwischen ihnen und der Aussicht auf einen entspannten Besuch. Wenn sie das Thema beendeten, konnte Tooru es wieder von sich schieben. „Du musst mit ihm reden, Tooru.“ „Er kann sich melden, wenn er etwas will“, gab Tooru patzig zurück. Er rümpfte die Nase und echote Yudacchis verschränkte Arme. „Du weißt genauso gut wie ich, dass er darin noch schlechter ist als du.“ „Es ist nicht mein Problem. Soll er es lernen! Er hat mich oft genug versetzt, Yudacchi!“ „Tooru! Willst du denn wirklich ewig mit ihm streiten, weil du zu stolz bist, den ersten Schritt zu machen?“ „Wir streiten nicht. Er ignoriert mich!“ „…er tut es zu recht, oder? Du wärest auch stinkwütend, hätte er dir an den Kopf geknallt, dass er dich nicht braucht.“   Objektiv wusste Tooru es. Er kannte Iwa-Chan schließlich. Er wusste auch, dass er diese Worte gezielt gesprochen hatte, um Iwa-Chan zu verletzen, weil sie effektiv waren und genau dort trafen, wo es wehtat. Im Nachhinein tat es ihm Leid. „Ich hab’s versucht“, gestand er, zögerlich. „Aber ich kann es nicht! Jedes Mal, wenn ich es versuche, erinnere ich mich wieder daran, wie oft er mich versetzt hat! Er versucht es doch nicht einmal mehr! Shibata und Sendai sind keine Welten voneinander entfernt, Yudacchi!“ Das Gesicht des Anderen verzog sich zu einer mitleidigen Grimasse. Tooru freute sich über seinen Besuch. Wirklich. Aber im gleichen Atemzug erinnerte es ihn nur daran, wie wenig Distanz im Grunde zwischen ihnen lag. Zweieinhalb Stunden. Wäre es Iwa-Chan wirklich so wichtig, er wäre vorbeigekommen, nicht wahr?   Wäre es Tooru so wichtig, er könnte zu ihm fahren. Die kleine Stimme in seinem Kopf hörte nicht auf, dieses Argument vorzubringen. Aber was sollte Tooru denn tun? Was sollte er vor Iwa-Chans Tür? „Tut mir leid, ich hab keine Zeit für dich.“ Für ihn stand fest, dass es so und nicht anders ablaufen würde. Gäbe es eine andere Alternative, dann wäre Iwa-Chan schon längst bei ihm gewesen. Tooru war offensichtlich nicht mehr wichtig genug. Warum sollte Iwa-Chan sich also Zeit für ihn nehmen, wenn er vor seiner Tür stand? „Geh zurück zu Ushiwaka.“ Ein bisschen hätte er sogar recht damit, solche Dinge zu sagen. Tooru schüttelte vehement den Kopf, fuhr sich mit einer Hand müde über das Gesicht. „Yudacchi. Können wir bitte einfach für die nächsten zwei Tage so tun, als gäbe es Iwa-Chan gar nicht?“ Zwei Tage ohne Iwa-Chan. Ohne Gedanken, ohne Ärger. Solange Tooru zurückdenken konnte, hatte er noch nie einen Tag ganz ohne Iwa-Chan verbracht, weil er spätestens in seinen Gedanken immer präsent gewesen war. Könnte er das überhaupt? Nicht an ihn denken? Mit genug Ablenkung bestimmt. „Tooru, du weißt selbst, dass das dumm ist.“ Tooru zuckte mit den Schultern. Aus Reflex heraus schlich sich Trotz auf sein Gesicht, seine Wangen blähten sich. Es war so viel leichter, als zuzugeben, wie verdammt müde und erschöpft er sich fühlte. Er hatte gar nicht gut geschlafen mit all dem Streit im Hinterkopf. Mit Kurocchis Worten. „Ja. Aber ich brauch das.“ „Tooru!“ Widerrede zwecklos. Entschieden schüttelte er den Kopf. „Ich will nichts von Iwa-Chan hören, solange du hier bist!“ Minutenlang sah Yudacchi aus, als suche er noch nach Argumenten, mit denen er Tooru umstimmen konnte, aber dann ließ er resigniert die Arme sinken und lenkte ein. Kein Iwa-Chan. Einfach nur ein Abend voller schlechter Sci-Fi-Filme – die Tooru so oft mit Iwa-Chan gesehen hatte, dass er trotzdem an ihn denken würde – und ein Tag, den sie mit Shopping oder irgendeiner anderen wenig anspruchsvollen Tätigkeit verbringen konnten, statt zur Uni zu gehen, wie es sich für gute Studenten gehörte. Du bist verknallt. Tooru schnaubte unzufrieden. Er zog ein Päckchen Taschentücher aus der Hosentasche und zog vorsorglich schon einmal eines heraus, um es Yudacchi zu reichen – er wusste genau, die alte Heulboje würde es gleich brauchen.   „Yudacchi. Verliebt sein ist scheiße!“     ***     „Ihr habt Schuleigentum entwendet.“   Shima lachte herzlich. Er sah überhaupt nicht reumütig aus, während er den Coach ansah, grinsende Unschuld auf dem Gesicht. Yamiji hatte streng die Arme vor der Brust verschränkt, seine Augenbrauen senkten sich unzufrieden. „Das hat der Captain auch gesagt“, erklärte der Junge glucksend. Yamijis Blick glitt kurz zu Keiji hinüber, doch er sagte nichts. Die Botschaft war trotzdem klar – Keiji war das Ausmaß der Dummheit bewusst gewesen, und er hatte sie trotzdem nicht verhindert. Natürlich war er nicht begeistert darüber. Es war genau, wie Keiji es vorhergeahnt hatte. Natürlich fiel das Fehlen der Volleybälle auf, und natürlich wurde es Thema. Dass sie sich nur vor ihrem Coach verantworten mussten, und nicht vor dem Direktor, war ein unglaubliches Glück. Ein Zusammenstoß mit dem Rektor hätte alles von Nachsitzen bis Clubverbot heißen können. „Coach, seien Sie nicht so streng! Es war für einen guten Zweck!“ Nishiame strahlte ihn an, ein bisschen kleinlaut, aber völlig überzeugt von seiner Ansicht. Yamiji seufzte nur und schüttelte den Kopf. „Natürlich habt ihr es gut gemeint, aber das ändert nichts daran, dass ihr Schuleigentum entwendet habt. Habt ihr darüber nachgedacht, wie ihr das ersetzen wollt?“   Natürlich nicht. Ratlose Blicke wurden gewechselt, dann begann das Getuschel. Keiji musste nicht hinhören, um zu wissen, was hinter vorgehaltenen Händen geflüstert wurde. Wie viel kostete eigentlich so ein Volleyball? Wie sollten sie sieben davon finanzieren? Hatte irgendjemand hier denn größere Ersparnisse, die er opfern konnte? Oder wie wäre es mit einem Nebenjob – der übrigens laut Schulordnung nicht gestattet war. Yamiji beobachtete schweigend, wie das Team sich in Diskussionen verlor. Keiji tat es ihm gleich und beobachtete nur, ohne sich einzumischen. Er wusste, wie viel ein Volleyball kostete, wenn auch nur, weil er sich aus aktuellem Anlass erst darüber informiert hatte; aus dem Stegreif hätte er es nicht gewusst. Billig war etwas anderes, und bedenkend, dass sie alle wohl besseres mit ihren Finanzen zu tun hatten, als einen Stapel Volleybälle zu kaufen, könnte es schwierig werden, Ersatz zu besorgen. Nach ein paar Minuten verstummte das unruhige Gespräch wieder. Es war Marei, der einen unauffälligen Schritt vortrat und sich dem möglichen Zorn des Coachs stellte. „Werden wir die Bälle beim Training wirklich vermissen?“ „Nein.“ Marei nickte langsam, als hätte er genau die Antwort erwartet. Er sah kurz zu Keiji hinüber, hob fragend eine Augenbraue. Keiji wusste nicht, was in Mareis Kopf vor sich ging; er wusste es selten. Allerdings kannte er den Anderen gut genug, um zu wissen, dass er vernünftig war und keinen Blödsinn vorschlagen würde. Er mochte Bokutos Platz auf dem Spielfeld eingenommen haben, aber er war eindeutig meilenweit von dessen exzentrischer Persönlichkeit entfernt. Völlig ruhig wandte er sich mit stummer Einverständnis von Keiji wieder dem Coach zu. „Dann ist es kein Problem. Wenn wir bis zum Schuljahresende eine Clubkasse einführen, in die regelmäßig jeder einzahlt, können wir die Bälle dann immer noch kaufen.“ So würde das nächstjährige Team nicht womöglich mit den fehlenden Bällen belastet, sie hatten keine drastischen Ausgaben, und wenn es für sie selbst im Grunde ohnehin keinen Unterschied machte, mussten sie auch nicht versuchen, sich zu beeilen. „Marin! Du bist großartig!“   „Es ist in der Tat eine gute Idee“, räumte Yamiji ein. Er sah zufriedener aus als noch vor einigen Minuten, doch die Strenge war noch nicht aus seinem Gesicht gewichen. „Allerdings habt ihr trotzdem eine Strafe für euer Handeln verdient. Ich hoffe, das ist euch bewusst.“ Einige Gesichter verzogen sich zu unzufriedenen Grimassen. Shima beteuerte wieder, dass sie es nur gut gemeint hatten. Er argumentierte, dass sie keine Strafe dafür verdient hatten, dass sie ein paar ehemalige High-School-Schüler sehr glücklich gemacht hatten. Nishiame schlug sich schnell auf seine Seite. „Bokuto-San war total begeistert“, erzählte Onaga mit einem Grinsen. Er hob die Schultern, machte eine vage Geste, „Ist das nicht das Wichtigste?“ Yamiji schüttelte den Kopf. Er erhob sich von seinem Platz auf der Bank, immer noch geschmeidig für sein Alter. Er legte Onaga und Shima beiden eine Hand auf die Schulter; er kam gerade hoch genug, um sie zu erreichen. „Teamgeist und Respekt sind wichtige Stützpfeiler des Mannschaftssports, das habt ihr gut erkannt.“ Die beiden tauschten ein Grinsen aus, hoffnungsvoll, erleichtert. Keiji war sich nicht sicher, ob die Gefahr damit wirklich gebannt war. Ein Blick zu Marei hinüber zeigte ein unauffälliges Kopfschütteln. Da kam trotzdem noch eine Strafe. „Aber“, fuhr Yamiji fort. Onagas Grinsen fiel in sich zusammen und wich einer verhaltenen Vorsicht, während Shima immer noch optimistisch seines Schicksals harrte. „Vernunft und Verantwortungsbewusstsein sind genauso wichtig. Und die habt ihr eindeutig aus den Augen gelassen bei euren Plänen. Ich kann euch das auch nicht beibringen. Ich kann euch natürlich bestrafen, euch Aufsätze schreiben lassen oder euch Einschränkungen auferlegen, die euch davon abhalten, unüberlegt zu handeln. Aber davon habe ich nichts, und davon habt ihr nichts. Was ich euch aber mit auf den Weg geben kann, sind Grundlagen, um ein noch besseres Team und noch stärker zu werden.“ Er nahm die Hände von den Schultern seiner Schüler, verschränkte sie stattdessen hinter dem Rücken. Er sah ernst in die Runde aus ratlosen, vorsichtig abwartenden Gesichtern. Niemand wagte es, ihn zu unterbrechen. „Eure Strafe ist ein erhöhtes Trainingspensum.“   Keiji erkannte, dass es, bei allem Nutzen, tatsächlich eine Strafe war. Das Training war ohnehin hart. Noch mehr hinzuzufügen würde auf Dauer unglaublich anstrengend werden, und erschöpfend, aber es war auch eine Chance. Ungläubige Stille breitete sich im Raum aus. „Im Ernst?“, fragte Shima fassungslos. Yamiji bejahte. Er musste noch zwei weitere Male bejahen, bis seine Botschaft wirklich überall angekommen war, dann brach Shima in fröhliches Jubeln aus, in das Nishiame schnell einstimmte. Onaga grinste hilflos. Er sah nicht ganz so glücklich aus. Keiji sah, wie Minamishima leidend das Gesicht verzog. Er kannte Yamiji gut genug, um zu wissen, was auf sie zukam.   Und bei allem Jubeln und Jammern um ihn herum musste Keiji kaum merklich grinsen, als er daran dachte, wie neidisch Bokuto auf ihre Strafe sein würde.     ***     Kyoutanis Blick brannte in Shigerus Rücken. Er war sich sicher, wäre das möglich, dann hätten die vernichtenden Blicke seines Vize-Captains ihn längst erdolcht. Ausnahmsweise konnte er es sogar verstehen. Natürlich war Kyoutani nicht begeistert über die Enthüllung, die er ihm zu Beginn des Trainings gemacht hatte. Wer babysittete schon gerne einen Haufen streitlustiger Dummköpfe, von denen obendrein der größte Teil zu einem fremden Team gehörte? Niemand. Kyoutani, der sowieso kein Gruppenmensch war, noch am Allerwenigsten. Trotzdem war das Gespräch überraschend gut verlaufen. Shigeru hatte erwartet, er würde stundenlang auf Kyoutani einreden müssen, und am Ende würden sie einander doch wieder tatsächlich an die Gurgel gehen, aber so weit war es nicht gekommen. „Du spinnst“, hatte Kyoutani verkündet, als Shigeru ihm den Plan unterbreitet hatte. Dass das Argument Iwaizumi-San hätte es getan so sehr zog, dass Kyoutani zähneknirschend einrenkte, hätte Shigeru nicht erwartet. Er war sicher nicht undankbar darum! Alles in allem war er sogar recht zufrieden, solange er das feindselige Starren ignorieren konnte, das ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Er fürchtete, dass Kyoutani eine Retourkutsche plante, mit der er nicht glücklich werden würde. Aber das war wohl eine Sache, um die er sich erst dann kümmern konnte, wenn es soweit war. Gerade hatte er ohnehin anderes zu tun.   „Kogami!“, rief er, kaum, dass er entsprechenden Kerl in die Sporthalle kommen sah. Mit einem trägen Grinsen joggte er zu ihm hinüber. „Shigeru-San.“ Er hatte eine Schramme an der Wange, die von der Prügelei am Wochenende herrührte. Am Unterarm war ein blauer Fleck, der sich sichtbar von der gebräunten Haut abhob, und am linken Handgelenk sah man noch Spuren von einer Hand, die es viel zu fest gepackt hatte. Spuren, die er komplett verdient hatte, wie Shigeru fand. Er hätte sich ja nicht prügeln müssen. „Du erinnerst dich daran, dass ich dir gesagt habe, du kriegst noch Ärger für den Mist?“ Er deutete vage auf die Prügelspuren auf Kogamis Arm. Er folgte Shigerus Blick, betrachtete unnötig lange die Flecken, ehe er den Blick wieder hob. Sein Grinsen hatte nicht einmal einen Augenblick geflackert. „Ich erinnere mich.“ „Deine Strafe. Du wirst mit den Sträflingen aus Shiratorizawa zusammen ein Wochenende beim Volleyballtraining verbringen.“   Shigeru war kein Oikawa. Er war nicht gut darin, in seinen Mitmenschen zu lesen, und die meiste Zeit war er dazu auch zu faul und zu desinteressiert. Seit Kyoutani und er die Verantwortung über das Team hatten, hatte Shigeru seine Haltung zumindest in Maßen überdacht, und besonders, was seinen Partner anbelangte, hatte er ein relativ gutes Gespür für seine Launen und Macken entwickelt, aber insgesamt war er immer noch niemand, der allzu gut darin war, sein Gegenüber vorherzusagen. Dass Kogami nur noch breiter grinste, seine Augen zu leuchten begannen vor Freude, kam allerdings überhaupt nicht unerwartet. „Wirklich?“, säuselte er sardonisch, „Ich darf ein ganzes Wochenende mit diesen reizenden Jungs verbringen?“ Shigeru sah vor sich, wie dieses Wochenende enden würde, wenn niemand die Meute in Schach hielt. Er sah Prügeleien und schmutzige Witze, die sich die Klinke in die Hand gaben, und noch bevor der Sonntag vorbei war, hätte irgendjemand die Hosen runtergelassen. So wie letztes Jahr, als Kogami das gesamte Team Seijoh dazu aufgestachelt hatte, sich zu einem Schwanzvergleich im Clubraum zusammenzufinden, um den sich schlussendlich kaum jemand gedrückt hatte – außer Kusachi, natürlich. Sehr zu seiner eigenen Schmach musste Shigeru eingestehen, dass er sich ebenfalls hatte provozieren lassen. Einmal und nie wieder. „Korrekt. Ein Wochenende mit allen, die Shiratorizawas Captain bestrafen will. Und mit Kyoutani.“   Kogamis Blick entgleiste vollkommen. Der Seifenblasentraum seines wunderbaren Wochenendes zerplatzte grausam direkt vor seinen Augen, und Shigeru fand überhaupt keinen Funken Mitleid in seinem Inneren. Eigentlich war es eher sogar angenehm befriedigend. „Das ist nicht dein Ernst. Nichts gegen Ken-San, aber–“ In Kyoutanis Gegenwart konnte man keinen Spaß haben. Shigeru wusste das selbst zur Genüge. Er wusste auch, dass Kogami es bisher nicht gewagt hatte, den grimmigen Kerl allzu sehr zu provozieren. Niemand wagte es. Niemand kam wirklich mit ihm aus, niemand hatte ihn unter Kontrolle. Kogami würde es gar nicht wagen, sich allzu idiotisch zu verhalten, wenn er die Strafe eines tollwütigen Hundes fürchten musste. Shigeru klopfte ihm auf die Schulter. Kyoutanis Blicke brannten immer noch in seinem Rücken, aber gerade konnte er sie relativ gut ignorieren. Bald hatte Kyoutani andere Opfer, um sie in Grund und Boden zu starren.   „Ich wünsche dir viel Spaß, Kogami.“ Kapitel 9: ----------- Es war eindeutig kein gutes Omen. Der Aushang, der die einzelnen Spielpaarungen präsentierte, ließ Koushi unzufrieden seufzen. Er hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass sie unglaublich leicht davonkommen würden, aber gleich im ersten Match… „Sie sind stark“, kommentierte Daichi neben ihm. Obwohl seine Stimme fest klang, schwang etwas darin mit, das Koushi das Gefühl gab, dass er mehr noch sich selbst als ihn überzeugen wollte. Er lächelte flüchtig, warf seinem Freund einen besorgten Blick zu. „Ich weiß.“ Es war nur deshalb nicht leichter. Entschlossen, sich nicht noch weiter zu beunruhigen, straffte er die Schultern, wandte sich von dem Aushang ab, bevor er sich unnötigerweise noch mehr Sorgen machte über etwas, auf das er gar keinen Einfluss mehr hatte. Um sich abzulenken, drehte er sich lieber zu seinen Begleitern um: „Glaubt ihr, wir erwischen sie noch?“ Er wollte sie gerne vor dem Match sehen. Shimizu lächelte, Asahi sah eher aus, als würde er mit den Tränen kämpfen. Daichi lachte, und dieses Mal klang er wirklich optimistisch, als er sprach: „Wir wissen es nur, wenn wir es versuchen!“   Es hatte einen Vorteil, dass Karasuno eines der lautesten Teams war. Sie mussten kaum durch den Eingangsbereich der städtischen Sporthalle irren, bis der vertraute Lärm an ihre Ohren drang. Koushi musste grinsen, als er Nishinoyas und Hinatas aufgeregtes Geschrei hörte. Neben sich hörte er Asahi leise, ein wenig verlegen lachen. Zwischen den Menschentrauben, die den ganzen Bereich ausfüllten, erhaschte er noch keinen Blick auf das Team, aber in der sicheren Gewissheit, die korrekte Richtung erwischt zu haben, stapfte Koushi trotzdem frohen Mutes durch das Gewühl. Die Jungs hockten in einer Ecke größtenteils auf dem Boden, ein paar wenige von ihnen standen. Ennoshita war in ein Gespräch mit dem Coach vertieft. Nishinoya und Hinata rangelten mit dem großen Zuspieler-Erstklässler. Koushi war sich nicht ganz sicher, ob Tanaka da gerade mitrangelte, oder ob er versuchte, die Jungs auseinander zu bringen. Bei ihm konnte man sich einfach nie so ganz sicher sein, Vize-Captainpflichten hin oder her. Sie waren alle irgendwie beschäftigt, und vermutlich sowieso schon mit den Gedanken beim kommenden Match. Es wunderte ihn nicht, dass niemand sie bemerkte. „Ihr wirkt munter für das, was euch bevorsteht.“ Daichis Gruß ließ das Team hochfahren. Mit einem freudigen Schrei stürzte sich Nishinoya auf ihn, nur um schon Halt zu machen, bevor er Daichi überhaupt erreichte – er hatte Asahi gesehen. Starrte ihn an, aus großen Augen, voller ungläubiger Begeisterung. „Asahi-San!!!“ Und stürzte sich dann stattdessen auf ihn. Koushi lachte, der Laut ging völlig unter in Nishinoyas hektischem, freudigen Geplapper, mit dem er Asahis Haar kommentierte, dass er heute nur zu einem losen Pferdeschwanz gebunden trug – Nishinoya fand es völlig absehbar super cool –, bevor er schließlich dazu überging, ihn in den buntesten Farben von ihrem Wochenendtrainingscamp zu erzählen. „Ich glaube“, kommentierte Daichi amüsiert, während er Ennoshita grinsend heranwinkte, „dass wir Asahi jetzt erstmal nicht mehr wiederkriegen.“ – „Das glaube ich auch…“ Koushi warf noch einen grinsenden Blick in die Richtung der Beiden. Asahi sah unglaublich glücklich und erleichtert aus. Es war ihm nahe gegangen, nicht mit zum Trainingscamp kommen zu können. Umso mehr freute Koushi sich, dass er nun hier war, und dass Nishinoya, ganz wie es eigentlich immer war, sofort nur noch Augen für ihn hatte. Asahi war auch nicht der einzige, der belagert wurde: Tanaka stürzte sich ähnlich begeistert wie Nishinoya ins Getümmel, mit einem lauten Ruf von „Kiyoko-Saaaaaaan!“ – wie immer wich sie seinen Avancen nonchalant aus. Koushi sah das kleine Lächeln, das in ihrem Mundwinkel zupfte, als Tanaka begann, hektisch auf sie einzureden.   Es war seltsam tröstlich, dass sich einige Dinge einfach nicht änderten.    „Ihr hättet nicht kommen müssen“, waren Ennoshitas erste Worte, als er herankam. Daichi schnaubte empört. Koushi hielt sich mit solchen netten Gesten gar nicht auf – er schlug mit der Handkante den Kopf des Jungen. „Ennoshita, sag sowas nicht! Natürlich mussten wir herkommen, das ist unser Job. Wir müssen euch doch anfeuern.“ Er grinste breit, während Ennoshitas Lächeln eher hilflos aussah. Und ein bisschen resigniert. Koushi ahnte zumindest, was in ihm vorging. Er war unter Garantie nervös wegen ihrer Gegner. Vermutlich rechnete er sich keine großen Siegeschancen aus. Aber sie hatten Chancen, solange sie nur vor sich selbst nicht zugaben, dass sie nicht gewinnen konnten. Koushi mochte Daichis Leitspruch wirklich gerne. „Es ist wirklich kein glückliches Match, hm?“, murmelte Daichi. Ennoshitas Lächeln verblasste. Wieder ernstgeworden schüttelte er den Kopf. „Gewissermaßen Worst-Case-Scenario? Wir haben Chancen, aber es wird hart werden.“ Jetzt, wo es für ihn selbst vorbei war, ertappte Koushi sich dabei, wie er daran dachte, dass sie sonst doch immer noch eine Chance hatten dieses Jahr. Die Frühjahrsmeisterschaft kam schließlich noch, noch war nicht alles verloren, selbst wenn sie hier scheiterten. Aber die Erinnerung an sein eigenes letztes Schuljahr war noch frisch; er hatte einen unglaublichen Zeitdruck verspürt, einen tiefen Drang, zu gewinnen, weiterzukommen, etwas zu erreichen, bevor es zu spät war. Selbst, wenn man es ihnen nicht zu sehr ansah, es musste Ennoshita und den anderen Drittklässlern auch so gehen. Narita sah nervös und angespannt aus, und selbst Kinoshita sah ungewöhnlich ernst aus, während er inzwischen mit dem Coach sprach. Erste taktische Überlegungen zu seinem möglichen Einsatz, vermutete Koushi. Dass Yamaguchi ebenfalls dabei stand, verstärkte die Annahme noch. „Ihr schafft es.“ Daichis ernstes Gesicht strahlte Zuversicht aus. Koushi wandte seine Aufmerksamkeit von den anderen wieder zu Ennoshita um und lächelte. Er hatte Vertrauen in dieses Team. Sie waren gut, er hatte es selbst gesehen. Ennoshita sah allerdings wenig überzeugt aus. Seinem Lächeln haftete immer noch dieser unsichere, eher pessimistische Zug an. „Nun zieh nicht so ein Gesicht, Ennoshita! Hab Vertrauen in dich und dein Team!“ Daichi klopfte ihm auf die Schulter, und obwohl die Geste aufmunternd gemeint war, wirkte es vielmehr so, als würde er einknicken unter dem Gewicht der fremden Hand. Wenn es etwas gab, das Koushi Sorgen bereitete, dann war es nicht der mögliche Sieg, sondern Ennoshitas Selbstvertrauen. Es war nicht besonders weit her damit… Er konnte nur hoffen, dass das Spiel selbst ihm Grund geben würde, seine Zweifel beiseite zu werfen. Einen Captain, der nicht an sich selbst glaubte, konnte das Team nicht gebrauchen. Wahrscheinlich machte Koushi sich umsonst Sorgen. Ennoshita war zuverlässig, wenn es hart auf hart kam. Das war seine große Stärke. Er ließ sich nicht einfach so kleinkriegen. Und er hatte Tanaka, um ihm notfalls den Kopf zurechtzurücken. „Ich hab Vertrauen“, protestierte Ennoshita schwach. Koushi schüttelte sanft den Kopf, als er an dem Jungen vorbeilief. Sanft stieß er ihm in den Rücken, zwang ihn damit, gerader zu stehen.   „Nur nicht in dich, huh?“     ***     „Wenn du auch nur eine halbe Sekunde zu spät bist, bring ich dich um, du Idiot!“ Kageyamas Drohung hallte noch lange nach, selbst nachdem Shouyou schon zwei Gänge weiter war. Es war aber auch wirklich übertrieben! Er konnte nichts dafür, wenn er auf die Toilette musste. Und er hatte das Team deswegen noch nie hängen gelassen! Er konnte sie gar nicht hängen lassen. Er wollte aufs Spielfeld! Am liebsten jetzt und nicht erst in wenigen Minuten, und noch lieber gleich noch früher. Sein ganzer Körper kribbelte in freudiger Erwartung. Er wusste, dass das Match hart werden würde. Richtig hart. Aber auf der anderen Seite hatte er nicht wirklich Angst davor – er wusste schließlich auch, wie verdammt gut Karasuno war. Sie hatten Kageyama. Kageyama war einfach unglaublich. Dem konnte niemand das Wasser reichen. Sie hatten Tsukishima. Der war zwar unglaublich ätzend, aber als Spieler leider auch viel besser, als Shouyou das manchmal gern hätte. Sie hatten Ennoshita, der einfach mega gut war, und vor allem so zuverlässig, dass Shouyou sich gar keine Sorgen darum machte, was in seinem Rücken passierte. Tanaka, der ein großartiges Ass abgab – noch! Bald würde Shouyou ihm den Platz geklaut haben, das stand außer Frage. Nishinoya, der sowieso einfach nur guwaaah war. Sie konnten gar nicht verlieren! …würde er gerne behaupten, trotzdem spürte er seinen Magen rumoren. Er war nervös, er konnte es nicht abstellen. Wenn sie verloren, war es vorbei. Ein einziges Spiel… Ein einziges Spiel, und sie konnten schon wieder dazu gezwungen sein, die Halle zu verlassen. Das Turnier wäre beendet. Einfach so. Nach maximal drei Sätzen. Er wollte nicht verlieren. Er wollte die Vorrunde überstehen, er wollte gegen Nekoma, oder Fukuroudani, oder Itachiyama, oder gleiche alle davon spielen! Vor allem gegen Nekoma. Nächstes Jahr war Kenma nicht mehr da, und Shouyou hatte immer noch nicht erreicht, was er sich so fest vorgenommen hatte. Kenma war immer noch nicht begeistert genug vom Volleyball!   Völlig in Gedanken vertieft achtete er nicht besonders darauf, was sich rings um ihn befand, als er in die Männertoilette spazierte. Hätte er es doch getan, dann wäre er nicht in seinen Vordermann gelaufen. „E-entschuldigung!“ Seijoh. Ausgerechnet. Er erkannte die Trainingsjacke. Mit einem panischen Quieken wich Shouyou ein paar Schritte zurück, doch – zu spät. Sein Gegenüber drehte sich um, fixierte ihn mit schmalen Augen und feixendem Grinsen. „Hey, der Winzling! Da sieh mal einer an~ Du kannst ja echt froh sein, dass du nur in mich reingerannt bist.“ Er hob vielsagend die Augenbrauen, bevor er einen Schritt zur Seite trat und hinter sich deutete. Shouyou wollte dem Blick nicht folgen, aber er tat es rein aus Reflex trotzdem, erblickte an einem der Waschbecken den hochgewachsenen Kerl mit der Narbe, der sich gerade die Hände wusch. Das Wasser im Waschbecken war voll rosiger Schlieren. „Oh oh~“ Grinsebacke klang ernsthaft besorgt, als er zuerst zu Narbengesicht zurückblickte, dann wieder Shouyou ins Auge fasste. Sein Grinsen hatte fast etwas Mitleidiges, Entschuldigendes. „Whoops. Das hättest du nicht sehen sollen, Kleiner… Sorry~“ Er klang beunruhigend. Shouyou schluckte, trat noch einen Schritt zurück. Sein Gegenüber kam näher. Shouyou mochte nichts daran – sein Magen auch nicht, der inzwischen schmerzhaft krampfte. Eine Hand landete auf seiner Schulter, der Griff fest und gnadenlos unnachgiebig, während Grinsebacke sich zu ihm hinabbeugte. Demonstrativ. In jeder anderen Situation hätte Shouyou getobt vor Empörung. Er war nicht so klein, der Kerl musste mal gar nicht so ein Theater veranstalten! Gerade fand er aber keine Worte, sondern konnte wieder nur nervös schlucken. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und er war sich beinahe sicher, dass er gleich noch vergessen würde, wie man eigentlich atmete. Vielleicht hatte er es schon vergessen. „Pass auf. Du solltest das, was du hier gesehen hast, ganz schnell vergessen. Also. Wirklich schnell. Und erzähl niemandem davon.“ Grinsebackes Stimme klang beunruhigend leise, ernsthaft. Drohend? Shouyou fand, er klang bedrohlich, jedes Wort jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Du könntest Glück haben, wenn du Kusachi-Samas Aufmerksamkeit so bald nicht  mehr erregst. Du willst ihn nicht daran erinnern, dass du das hier gesehen hast, oder? Du willst ihn auch ganz sicher nicht verärgern, sonst könnte er… nun. Du weißt, wie das ist.“ Jetzt lachte er wieder. Der heitere Laut klang völlig falsch in dieser Situation – es erschreckte Shouyou nur noch mehr. Die fremde Hand klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Vor lauter Panik war Shouyou längst das Bedürfnis nach einer Toilette vergangen.   „Also, Chibi-Chan~ auf ein gutes Spiel!“     ***     Die Tribüne war weit besser gefüllt, als Koushi sie in Erinnerung hatte. Neben den üblichen Verdächtigen des Nachbarschaftsverbands und diverser Geschwister fand er eine Menge Gesichter, die ihm unbekannt waren – und natürlich waren er, Daichi, Asahi und Shimizu auch eine neue Ergänzung, nicht wahr? „Ist schon seltsam, euch jetzt hier zu sehen“, kommentierte Shimada liebevoll grinsend, während er der Reihe nach Hände zur Begrüßung schüttelte. Daichi lachte. „Gewöhnen Sie sich an den Anblick. Wir kommen wieder.“ – „Haben wir nichts gegen! Nicht wahr, Tattsun? Wir freuen uns immer über Zuwachs zum Anfeuern. So im Vergleich ist und bleibt es mau…“ Er seufzte, stemmte die Hände in die Hüften. An einer anderen Ecke der Tribüne hatten sich die Fans von Karasunos Gegnern zusammengerottet: Wie immer war Seijohs Unterstützung überragend. Obwohl Koushi sich sicher war, dass er auch einige Schüler unter Karasunos Unterstützern fand, kam das kaum an Seijoh heran, die gefühlt ihre halbe Schule hinter sich stehen hatten. „Ah! Aber wo wir grad alle hier sind“, begann Shimada, womit er Koushis Aufmerksamkeit von den Zuschauerblöcken wegholte, „Azumane hat erzählt, dass ihr beiden letztens auf einem Trainingscamp mit Karasuno und Seijoh gewesen seid? Wie ist eure Einschätzung – wie gut sind unsere Chancen?“ Die Frage hatte natürlich kommen müssen, aber das machte sie nicht angenehmer. Koushi seufzte still. Er trat zum Geländer und lehnte sich darauf, sah hinunter auf das Spielfeld, auf dem gerade noch das letzte Match vor Karasunos sein Ende fand. „Schwer zu sagen“, begann Daichi neben ihm, „Man merkt, dass Oikawa weg ist. Seijohs neuer Zuspieler ist nicht halb so herausragend – aber man merkt auch, dass er Oikawas direkter Schüler war. Er hat genug von ihm gelernt, um gefährlich zu sein. Und der Rest des Teams ist wie gewohnt von hohem Kaliber. Karasuno ist selbst richtig gut dieses Jahr, aber…“ Er pausierte, hob die Augenbrauen. Schien Worte zu suchen. Koushi beschloss, dass er genauso gut übernehmen konnte, auch wenn er selbst nicht unbedingt bessere Worte haben mochte. „Wir sind Rohdiamanten, denen der Schliff fehlt. Seijoh sind… vielleicht nicht ganz so wertvolle Edelsteine, aber dafür umso geschliffener. Karasuno hat ein riesiges Waffenarsenal zur Verfügung, aber es sind alles zweischneidige Schwerter, weil keine einzige wirklich bis zur Perfektion poliert ist. Trotzdem glaube ich, dass sie dieses Jahr das bessere Team sind. Wir können – nein. Wir werden gewinnen!“   Koushi wollte fest daran glauben. Shimada grinste, er schien zufrieden mit der Antwort zu sein. „Ich bin auch sicher, dass sie gewinnen werden“, murmelte Shimizu leise. Koushi hatte gar nicht bemerkt, wie sie neben ihn getreten war. „Hitoka-Chan erzählt viel. Nur Gutes.“ Sie lächelte sanft, in ihrem Gesicht stand unglaublich großer Stolz geschrieben. Und Sehnsucht. Koushi grinste schief, weil er wusste, dass sie alle diese gleiche Sehnsucht verspürten, jetzt dort unten zu stehen, wo endlich das Feld geräumt wurde. Gleich würde das Team in die Halle hinausströmen, und es war das erste Mal seit drei Jahren, dass Koushi nicht dabei war. Es fühlte sich immer noch fremd an. Wenn er jemals noch ein ganz klares Signal dafür gebraucht hatte, dass seine Zeit vorüber war, dann hatte er es hiermit. Er war hier oben, in Privatkleidung, in der er niemals Volleyball spielen könnte, und da unten lief gerade sein ehemaliges Team auf, um sich zum Spiel vorzubereiten. Ohne ihn. An seiner Stelle war da nun ein anderer zweiter Zuspieler, ein Junge mit braunem Wuschelhaar und strahlendem Lachen. Eine neue Generation. „Es ist schwer“, murmelte Shimizu, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Ihre Augen schimmerten kaum merklich feucht in der grellen Hallenbeleuchtung. Sie schenkte Koushi ein flüchtiges, zaghaftes Lächeln, das sein Herz unwillkürlich zum Hüpfen brachte, ehe sie sich zurück nach unten wandte. „Aber ich bin froh, hier zu sein.“ Und dann tat sie etwas, das Koushi niemals erwartet hatte:   Sie rief hinunter.   „Tanaka!“ Es hätte Koushi gewundert, hätte er es nicht gehört. Vermutlich hätte er sogar ein Wispern seines Namens gehört, solange es nur von Shimizu kam. Er lachte amüsiert auf, als Tanakas Kopf zu ihnen herumruckte, fast zeitgleich mit Nishinoya. Im Chor riefen sie ihren üblichen Gruß, als sie angelaufen kamen. Tanaka blieb unter der Tribüne stehen, während Nishinoya aufgeregt um ihn herumsprang als hoffte er, hoch genug zu kommen, um Shimizu zu berühren. Vom Tumult angezogen kam auch Yachi heran, deren große, braune Augen sich mit Tränen füllten bei dem Anblick auf der Tribüne. Sie rief etwas zum Team hinüber, aber zu leise, als dass Koushi es verstand. Mit ihren Worten wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihnen zu. Das Stimmenpotpourri, das hinaufwehte, war kaum verständlich, aber die Freude auf allen Gesichtern kaum zu übersehen – Tsukishima zählte hier eindeutig wieder einmal nicht, wobei auch der Neuling Tatsuo ein verblüffend nichtssagendes Gesicht zeigte –, während sie plapperten und hüpften und durcheinanderwuselten, bis Ennoshita begann, sie an den Krägen zu ihrem Aufwärmen zurückzuschleifen. Es war genau, wie Koushi es sich gedacht hatte – sie hatten herkommen müssen. Es war gut, dass sie gekommen waren. „Viel Glück!“, ref Shimizu ihnen noch hinterher, ehe sie langsam einen Schritt vom Geländer zurücktrat. Sie bekam zur Antwort gerührte Rufe von Nishinoya und Tanaka, ein überwältigtes Winken von Hinata, ein paar letzte, glückliche Blicke, bevor das Team zur Routine zurückkehrte.   „Sie werden gewinnen.“   Koushi nickte, sein eigenes Vertrauen ins unermessliche gesteigert nach dem kurzen Austausch. Das war einfach die Wirkung, die Shimizu hatte, wenn sie einmal den Mund aufmachte. Wie konnten sie denn nach so einem besonderen Ereignis noch verlieren? Zufrieden trat auch er ein Stück zurück. Als er sich umwandte, um sich auf einem Platz in der ersten Reihe niederzulassen, den Daichi ihm freigehalten hatte, erblickte er einen relativ vertraut gewordenen Haarschopf in der Nähe. „Yuda-Kun!“ Angesprochener drehte sich fast augenblicklich um. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er Koushi mit beiden Armen winkte. „Koushi! Hey!“ Er war in Gesellschaft seiner Freunde. Zumindest einiger. Koushi erkannte Oikawa natürlich. Der große Kerl mit dem Schlafzimmerblick, genauso wie der mit dem kurzen, lachsbraunen Haar waren letztes Jahr Teil der Startaufstellung gewesen, da war er sich sicher. Nur der letzte im Bunde war ihm fremd. „Daichi. Ich bin kurz da drüben.“ – „Bei Oikawa? Okaaaaay.“ Koushi lachte nur über Daichis Skepsis. Er würde ihm später ausführlich erzählen, dass er sich mit Yuda angefreundet hatte. Eine Neuigkeit, die bisher irgendwie untergegangen war, wie es schien. Das passierte wohl manchmal. Yuda empfing ihn immer noch strahlend. Er sah unglaublich aufgeregt aus, rote Wangen und leuchtende Augen. Und natürlich vergingen keine paar Sekunden, bevor er das Plappern anfing. „Issei und Takahiro kennst du noch, ne? Das hier ist Motomu!“ „Ah! Der Wettenverlierer.“ Koushi grinste, als besagter Motomu sich sofort empörte. Schlafzimmerblick hielt ihn davon ab, Yuda zu vermöbeln, indem er lässig einen Arm in den Weg hielt. Es reichte, um den jungen Mann wieder von allen Dummheiten abzuhalten. Er sah grimmig drein, nickte Koushi aber trotzdem zum Gruß zu. „Sawauchi Motomu. Sehr erfreut.“ – „Sugawara Koushi. Gleichfalls. Ich bin ein Studienfreund von Yuda-Kun.“ Sawauchi nickte noch einmal. Er warf Yuda einen grimmigen Blick zu, ehe er verkündete: „Übrigens gewinne ich Wetten in der Regel.“ Yuda lachte laut von dem Kommentar. Einen Moment war sich Koushi sicher, dass er zurücksticheln würde, doch er tat es nicht. Mit ein paar hüpfenden Schritten hatte er sich von seinem kleinen Grüppchen getrennt und neben Koushi postiert.   „Jungs, ich darf kurz mit Koushi alleine plaudern?“   Sie spazierten ein paar Schritte auf Entfernung, bis sie ungefähr in der Mitte zwischen Seijohs kleiner Ehemaligenbande und Karasunos Anfeuerungstrupp stehen blieben. Jetzt, getrennt von seinen Freunden, war Yudas Strahlen deutlich blasser geworden. Er schob die Hände in die Hosentaschen und hob unwohl die Schultern. „Heisuke konnte nicht kommen, weil sein Bruder heiratet“, erzählte er, und erst jetzt wurde Koushi so richtig bewusst, dass die kleine Gruppe zu klein gewesen war. Da fehlten zwei. Er hob die Augenbrauen, wie auffordernd. Yuda seufzte schwer. „Hajime hat gar nichts gesagt. Ich weiß nicht, ob er paukt, oder ob er einfach wütend ist. Tooru wollte sich bisher nicht bei ihm melden.“ – „Hast du mit ihm gesprochen?“ Die Antwort war ein Kopfschütteln. Yuda erzählte, dass er vorhin angerufen habe, aber Iwaizumi sei nicht ans Handy gegangen. Die geschriebene Nachricht hatte er auch ignoriert, also hoffte er eigentlich, dass Iwaizumi gerade sehr, sehr beschäftigt war und nicht nur schmollte, denn normalerweise ignorierte er seine Freunde nicht. „Ich will ihn auch nicht bedrängen, eigentlich. Selbst wenn ich ihn dazu bekomme, mit Tooru zu reden… solange Tooru so ist, werden sie nur noch schlimmer streiten. Auch wenn er das jetzt sagt – am Ende ist es nicht getan damit, dass Hajime sich zuerst meldet. Oder entschuldigt, oder was auch immer. Das ist ne Sache, da muss Tooru jetzt drüberkommen. Und er will sich gar nicht helfen lassen.“ Er verzog unglücklich das Gesicht, zuckte mit den Schultern. Seufzte wieder schwer. „Ich hoffe ja, dass das Spiel ihn irgendwie dazu bewegt, sich einen Ruck zu geben. Es ist das erste Mal, dass Hajime gar nicht dabei ist, glaube ich.“ Koushi schwieg einen langen Moment. Er verstand Yudas Logik, aber er sah nicht, wie das funktionieren sollte, wenn sie nur aussaßen, bis Oikawa sich wieder beruhigt hatte. Vor allem, wenn dieses Spiel auch noch symbolischen Wert hatte. Vielleicht… „Ruf ihn an. So oft, bis er rangeht. Er wohnt doch auch hier in Sendai. Er soll vorbeikommen. Glaubst du nicht, es wäre für Oikawa-Kun ein absoluter Weltuntergang, wenn sein bester Freund nicht hier ist? Heute?“ Yudas beunruhigter Blick zeigte zur Genüge, dass er die Sorge tatsächlich teilte, selbst wenn ihm der Gedanke bisher nicht gekommen war. Er öffnete den Mund, wollte noch etwas sagen, doch der Anpfiff des Spiels unterbrach ihn. Er fluchte leise, raufte sich die Haare. Kurz sah er zu seinen Freunden hinüber, die ungeduldig nach ihm gestikulierten, schüttelte dann aber den Kopf und signalisierte mit einer Handbewegung, dass er noch ein paar Minuten brauchte.   „Ich sorg dafür, dass Hajime herkommt. Und wenn ich ihn selbst holen muss!“     ***     „Etwas stimmt nicht“, sprach Daichi aus, was Koushi schon eine ganze Weile dachte. Es hatte keine fünf Minuten gedauert, bis er diesen Eindruck gewann. Zuerst hatte er nicht den Finger darauf legen können, wo genau das Problem lag, aber inzwischen, nachdem der erste Satz schon zu mehr als der Hälfte gelaufen war, hatte er auch das erkannt: Es war Hinata. Hinata, dessen rasend gute Reflexe ihn eigentlich zu einer wertvollen Waffe hätten machen sollen, machte viel weniger Punkte, als sein Fähigkeitenlevel rechtfertigte. Seine Schmetterbälle wirkten, so aus der Ferne gesehen, auf eine seltsame Art halbherzig, fast so, als habe er Angst vor ihnen. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Karasuno hatte bereits einmal um ein Time-Out gebeten. Koushi hatte beobachtet, wie das Team sich um Coach Ukai zusammengerottet hatte. Die Diskussion sah hitzig aus, Kageyama besonders hatte sich Hinata grob vorgeknöpft. Die beiden schienen zu streiten, doch als sie aufs Feld zurückmarschierten, wirkten sie entschlossener als zuvor. Koushi hatte gehofft, dass damit das Problem beseitigt war. Es schien auch tatsächlich so. Hinatas nächster Schmetterball verfehlte sein Ziel nicht und holte einen Punkt. Der darauffolgende auch. Dann auch. Plötzlich kippte es wieder. Koushi erkannte nicht einmal, warum, aber auf einmal schien Hinata wieder den Mut zu verlieren. „Ich verstehe es nicht“, murmelte er, den Blick hinunter aufs Spielfeld gerichtet. Kageyama spielte immer weniger in Hinatas Richtung, nutzte lieber alle anderen Angreifer, die er zur Verfügung hatte. Einen guten Teil der Zeit klappte es, aber genauso oft scheiterte es. Niemand konnte das halsbrecherische Tempo aufbringen, in dem Hinata funktionierte. Diese Waffe nicht mehr zu haben, schlug sich sichtbar auf die Spielermoral nieder, und obendrein waren sie damit noch viel öfter Opfer des gegnerischen Blocks. Es war grausam mit anzusehen. Seijoh machte mehr und mehr Punkte. Karasuno holte kaum noch auf. Es war im Grunde schon absehbar, dass Seijoh den ersten Satz für sich entscheiden würden.   Um sie herum wurde hitzig über das Spielgeschehen diskutiert. Ob Hinata krank sei. Ob es irgendeinen Grund gebe dafür, dass er so seltsam schlecht spielte. Wieso wurde er eigentlich nicht ausgewechselt? Wollte man wohl noch abwarten, ob er sich wieder fing, in der Hoffnung, ihn im zweiten Satz wieder effektiv einsetzen zu können? Wollte man ihm diese Chance geben, weil der erste Satz ohnehin verloren war? Konnten sie denn überhaupt noch gewinnen, wenn sie den ersten Satz verschenkten? Koushi fühlte sich unwohl, wie er da auf der Tribüne stand und zusah. Ihm klingelten die Anfeuerungsrufe der Anderen in den Ohren. Tanakas Schwester war ganz besonders laut. Ausgerechnet Tsukishimas Bruder auch. Daichi neben ihm hatte die Arme krampfhaft verschränkt. Asahi kaute auf seinem Daumennagel herum, sichtlich nervös und beunruhigt. Wenn er so weitermachte, würde er sich blutig beißen. Der Punktezähler bewegte sich wieder. Einundzwanzig zu sechzehn. Es war gar keine gute Bilanz. Zweiundzwanzig. Koushi schluckte hart. Daichis Stimme murmelte leise Flüche, wie ein Mantra. Asahi gab keinen Ton von sich. Die Anfeuerungsrufe auf ihren Plätzen explodierten, als könnten sie das Ruder noch herumreißen, indem sie einfach lauter und lauter wurden. Lauter. Dreiundzwanzig. Lauter. Vierundzwanzig. Als der Ball das nächste Mal übers Netz flog, von Seijohs Libero beinahe mühelos angenommen wurde, um zum Zuspieler zurückgespielt zu werden, schloss Koushi die Augen. Defensiv gesehen war es gerade Karasunos schwächste Aufstellung, die sich auf dem Feld befand. Genau diese Aufstellung hatte sie schon einige Punkte gekostet. Seijohs Zuschauerbereich brach in lauten Jubel aus, der das Pfeifen des Schiedsrichters bei weitem übertönte.   Der erste Satz war vorbei.     ***     Chikara war übel. Das war nicht, wie dieses Spiel hatte laufen sollen. Sein Blick glitt zitternd über die Gesichter seiner Kameraden. Alle waren still. Der Coach hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sein Blick war verkniffen, verärgert. Takeda sah in erster Linie besorgt und verständnislos aus. Yachi schien kurz vor dem Heulen zu sein. Yamaguchi war an Tsukishimas Seite getreten, kaum, dass sie sich nach dem Satz zusammengefunden hatten, Kinoshita und Narita standen beide verkrampft schweigend da. Die Zwillinge saßen nebeneinander, die Blicke auf ihre im Schoß verkrallten Hände gesenkt. Kageyama sah aus, als hätte ihn jemand geschlagen. Isshiki sah überfordert aus, die hellen, farblosen Augen weit aufgerissen, fast schockiert. Nishinoya war still. Er regte sich nicht, aber sein ganzer kleiner Körper vibrierte vor angestauter, höchstwahrscheinlich aggressiver Energie. Tanaka stand neben ihm, bei allem eigenen Unglück scheinbar stets bereit, seinen kleinen Freund im Zaum zu halten, wenn es nötig wurde. Chikaras Sorgenkind war Hinata. Den Kopf gesenkt, die Hände zu Fäusten geballt stand er da, zitternd, die Schultern hochgezogen. Obwohl absehbar war, dass Kageyama kein nettes Wort für ihn übrig haben würde, stand er direkt neben ihm. Fast als warte er nur darauf, dass Kageyama explodierte und seinen Ärger über ihm entlud. Ein bisschen war Chikara auch nach Wüten. Das da draußen war eindeutig nicht die Leistung gewesen, die Hinata normalerweise erbrachte. Er verstand es nicht. Niemand verstand es, das sah er in den Gesichtern der anderen. Selbst der Coach musste ratlos sein, sonst hätte er sich längst eingemischt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand den Mund aufmachte. Und dann würde die Hölle losbrechen.   „Hört mal–“ Takeda war es, der den Bann brach. Kageyama fuhr auf, wirbelte herum, bis er Hinata am Kragen packen konnte. „Was zur Hölle war das?!“, brüllte er, laut genug, dass auch Chikara davon zusammenschrak, obwohl er nicht im Geringsten gemeint war. Alle Augen richteten sich auf das ungleiche Paar. Hinata sah winzig aus in Kageyamas Griff, das Gesicht des Rotschopfs war zu einer unglücklichen, gequälten Grimasse verzogen. Weniger Wut, als… Schuldbewusstsein. Etwas übles, bitteres stieg in Chikara auf, während er sich fragte, ob Hinata wirklich bewusst war, was er da getan hatte. „Ich mach das nicht mit Absicht!“, fauchte der Junge, aber es klang ertappt und defensiv, nicht nach jemandem, der sich tatsächlich keiner Schuld bewusst war. Kageyama gab einen aggressiven Laut von sich, ehe er Hinata von sich stieß. „Dann erklär mir, was das sollte!“ „Das Narbengesicht–“ – „Was?!“, blaffte Kageyama, trat nun doch wieder einen verärgerten Schritt vor. Er bebte vor Zorn. „Was hat dieser Typ damit zu tun?!“ Hinatas Mund öffnete und schloss sich ohne einen Ton. Öffnete sich noch einmal. Um ihn herum wurden ratlose Blicke getauscht. Er kam gar nicht zum Reden. „Kageyama.“ Tsukishimas Stimme war leise. So leise, so kalt, dass sie Chikara einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Blick huschte zu dem Jungen hinüber. Hinter der Brille glühten Tsukishimas Augen wie Eis. Yamaguchis verängstigter Blick war beinahe noch besorgniserregender – Tsukishima war wütend. Allein, dass er Kageyamas Namen benutzte, war schon beunruhigend genug. „Erinnerst du dich ans Trainingscamp? Bei unserem ersten Spiel gegen Seijoh?“ Zuerst sah es aus, als erinnere Kageyama sich nicht. Dann, ganz langsam, erhellte Erkenntnis sein Gesicht. Er sah Tsukishima ungläubig an. Der Blondschopf zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Eben auch. Nachdem der Grinsetyp einen Kommentar gemacht hat, hat der kleine Scheißer hier wieder angefangen, hinzurotzen.“   Chikara verstand nicht, worum es ging. Kageyama verstand es. Seine Augen, lodernd vor Wut und Ärger, blickten von Tsukishima zu Hinata hinüber, der bleich geworden war und ihn aus riesig weit aufgerissenen Augen ansah. „WILLST DU MICH VERARSCHEN?!?!“ Hinata schüttelte den Kopf. Er trat einen Schritt zu Kageyama hin, machte damit den Fehler, in seine Reichweite zu gelangen und wurde sofort wieder am Kragen gepackt und näher gezogen. „Bist du völlig verblödet?!“ Hinata schüttelte wild, verzweifelt den Kopf. Er sah völlig überfordert aus. Ein Teil von Chikara hatte Mitleid mit ihm, ein anderer Teil hoffte einfach nur, dass Kageyamas schroffe Behandlung noch einmal helfen würde, damit sie das Ruder noch herumreißen konnten. „Völlig egal, ob er verblödet ist oder nicht“, mischte Tsukishima sich wieder ein. Seine Stimme klang scharf wie eine Spiegelscherbe, „Aber er ist ein Klotz am Bein, wenn er so weitermacht. Willst du überhaupt spielen?“ „Natürlich will ich spielen!!!“ Kageyama und Tsukishima tauschten Blicke. Chikara sah sprachlos zu, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass er es unglaublich verstörend fand, wenn die beiden friedlich miteinander waren. Am Ende ihres kurzen, stummen Austausches ließ Kageyama Hinata so abrupt los, als wäre er vom Blitz getroffen worden. „Nein.“ – „Was–?“ „Du willst nicht spielen“, erklärte er eisig. „Würdest du spielen wollen, würdest du es tun.“ Er wandte sich ruckartig ab. Hinata protestierte, doch seine Worte fielen bei Kageyama auf taube Ohren. Er stapfte zum Coach hinüber, blieb steif vor ihm stehen. „Wechseln Sie Hinata aus! Wir brauchen keinen Spieler, der das Spiel nicht ernstnimmt. Ich werde nicht mehr zu ihm spielen.“ Hinata sah aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen; pures Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Niemand sonst war wirklich verwundert, aber glücklich war genauso wenig jemand. Es erstaunte Chikara nicht, dass der Coach kommentarlos zustimmte. Er stieß unzufrieden die Luft aus, überbrückte die kurze Distanz bis zu Tsukishima, dessen Worte schlussendlich das ganze Drama angetreten hatten. „Tsukishima. Ich will eine Erklärung.“   Als die Erklärung kam, wurde Chikara wirklich wütend.     ***     Der Gedanke tat Koushi leid, aber in dem Moment, in dem Narita statt Hinata aufs Spielfeld trat, war er fest überzeugt davon, dass es vorbei war. Er starrte hinunter, weigerte sich, auch nur zu blinzeln, denn er könnte doch den einen Moment verpassen, der schlussendlich doch zeigte, dass Karasuno noch nicht verloren hatten. Seine Augen brannten. Er wusste nicht, was da unten passiert war, doch er hatte Kageyamas Brüllen gehört, hatte zumindest an der Körpersprache der Jungs erkannt, dass sie alle angespannt und aufgebracht waren. Nicht helfen zu können war eine Qual. Hilflos umklammerte er das Geländer, schüttelte den Kopf. Es konnte doch nicht so schnell vorbei sein! Das war nicht fair! Sie hatten so hart trainiert, dessen war Koushi überzeugt, ohne dabei gewesen zu sein. Es schien, als würde selbst das härteste Training hier nicht reichen.   Sie wurden allerdings tatsächlich besser. Ohne Hinata in ihrer Mitte, der offenbar nur Unruhe mit sich gebracht hatte, funktionierte das Team besser, stabiler. Es half ein bisschen. Es verlangsamte Seijohs Tempo, aber es hinderte sie nicht daran, weiter und weiter zu punkten. Der Vorsprung wurde nie kleiner. Wurde größer, je länger der Satz anhielt. Koushi traute sich nicht einmal, sich nach seinen Freunden umzusehen. Die Blicke auf ihren Gesichtern, die zweifelsohne inzwischen von Enttäuschung überschattet waren, wären zwar nicht an ihn gerichtet, aber er konnte sich ihnen trotzdem nicht stellen. Er wollte auch nicht, dass sie sahen, wie enttäuscht er selbst war. Koushi wusste, dass es gemein war. Dass er kaum wusste, was da unten passierte und passiert war. Dass er sich kein Urteil bilden durfte über das Geschehene, denn er war nicht Teil davon und konnte es nicht beurteilen. Er wusste es, aber das änderte nichts daran, dass er sich unglaublich und zutiefst verraten fühlte. Wären wir dabei, wäre das nicht passiert. Die Worte waren eine ewige Dauerschleife in seinem Kopf. Daichi hätte es nicht so weit kommen lassen. Asahi wäre stark genug gewesen, um dem Druck standzuhalten und das Team zu stützen. Koushi hätte früh erkannt, wo das Problem lag, und helfen können, es zu beheben. Es war wirklich ungerecht. Ennoshita war genauso gut wie Daichi, und er hatte auch ein Talent dafür, die Stimmungen seiner Kameraden zu lesen. Tanaka hatte sich den Titel Ass wirklich redlich verdient. In Koushis Augen waren sie gerade trotzdem alle – nicht gut. Nicht so gut, wie sie hätten sein können. Sein müssen. Sollte das das Team sein, das sie hinterlassen hatten? Streit und Schwächeleien bei der ersten Hürde? War es das, wofür sie das ganze letzte Jahr über mit Schweiß und Tränen gekämpft hatten? War das ihr Erbe? Was er da vor sich sah waren nicht die Krähen, die letztes Jahr mühselig das Fliegen gelernt hatten, um empor zu steigen und nie wieder zu Boden zu stürzen. Diesen hier hatte man die Flügel gerupft.   Sie verloren das Spiel, ohne einen einzigen Satz für sich entschieden zu haben.     ***     Ein Teil des Teams hatte verkündet, dass sie zurückbleiben und den Rest des Turniertages sehen wollten. Osamu hatte seinen Bruder mit sich geschleift, Isshiki war hinterhergetrottet. Kinoshita. Narita. Yamaguchi, ohne Tsukishima, der geblieben war, genau wie Kageyama und Hinata. Tanaka. Nishinoya. Chikara war bewusst, dass die, die gegangen waren, einfach nur jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg gehen wollten. Niemand wollte die enttäuschten Gesichter ihrer ehemaligen Senpai sehen. Chikara wollte es auch nicht. Aber als Captain war es seine Pflicht, sich dem zu stellen. Als Captain. Ohne, dass irgendjemand es ihm sagen musste, war ihm bewusst, dass er versagt hatte. Weder hatte er überhaupt gemerkt, was Hinatas Problem war, noch hatte er rechtzeitig gehandelt, um größerem Schaden vorzubeugen. Wenn man jemandem alleinig die Schuld an der Niederlage geben wollte, dann war eindeutig Chikara der Schuldige. Nicht Hinata, selbst wenn der den sichtbaren Fehler gemacht hatte. Chikara hatte es nicht einmal geschafft, sein Team irgendwie wieder aufzubauen, ihnen Mut zuzusprechen. Er hatte auf dem Feld gestanden, hatte sich dabei ertappt, wie er daran dachte, wie viel einfacher es wäre, wegzulaufen. Er hatte es schon einmal getan. Wieso also nicht? Auch jetzt wollte er weglaufen. Es war nicht, als wäre er ein guter Captain für das Team. Er konnte sich aber auch nicht vorstellen, wer seine Nachfolge antreten sollte. Kageyama vielleicht? Tsukishima? Eigentlich sah er niemanden, der gerade Captain sein zu können. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, dass er auf diesem Platz gut aufgehoben war, oder dass er im Team wirklich einen Platz hatte. Sie würden das Team auch ohne ihn effektiv auffüllen können. Vielleicht waren sie sogar besser dran ohne die letzten Überbleibsel der Generation Hoffnungslos.   Daichi, Suga, Asahi und Shimizu erwarteten sie in der Eingangshalle nahe dem Ausgang. Shimizus Gesicht war unlesbar, Asahi sah enttäuscht und bedrückt aus, Suga besorgt und unglücklich, und Daichi einfach nur streng. Vielleicht wütend? „Das war–“, begann Daichi. Weiter kam er nicht, bis Tanaka ihn unterbrach – „Beschissen. Wir wissen es.“ Es war so unangenehm. Chikara konnte keinem von ihnen in die Augen sehen. Er wollte ihnen nicht zuhören, hatte Angst vor ihrem Urteil, das vernichtend ausfallen musste, denn etwas anderes hatten sie gar nicht verdient. „Ja. Das war es.“ Sugas Stimme war so leise, dass sie tonlos klang. Chikara vermutete, dass das primär daran lag, dass er seine Emotionen bewusst verbergen wollte. Rücksicht, noch in dieser Situation. Er wollte sie nicht hören lassen, wie abgrundtief enttäuscht er war. „Ihr habt eine Chance verspielt. Ich hoffe, ihr hattet einen guten Grund dafür.“ Er konnte noch so tonlos klingen, wie er wollte. Die Enttäuschung war beinahe greifbar. Ein Teil von Chikara wollte, einfach nur, weil es einfacher war, bejahen, dass sie einen guten Grund gehabt hatten, die ganze Geschichte so hindrehen, dass ihr Scheitern nicht ganz so erbärmlich und lächerlich wirkte. Weglaufen. Die absolute Stille um ihn herum, die sich beschämt ausbreitete, gab ihm das Gefühl, dass er da nicht der einzige war. Er spürte Blicke auf sich. Er war der Captain. Er hatte die Verantwortung. Es war seine Entscheidung. Es würde vermutlich nicht auffallen. Suga hoffte, etwas zu hören, das ihm ein bisschen die Enttäuschung nehmen konnte. Wenn es nicht an den Haaren herbeigezogen war, würde er es glauben. Im Vergleich zur Wahrheit konnte es nicht einmal an den Haaren herbeigezogen wirken. Er ballte zitternd die Hände zu Fäusten.   „Nein.“   Nishinoya klang rau und auf eine völlig fremde Art verwundbar. Trotzdem hatte er den Mut zur Wahrheit aufgebracht, hatte den Mut, vor Suga zu stehen, ihm in die Augen zu sehen, mit gestrafften Schultern. „Wir haben keinen guten Grund.“ Er klang so bitter. „Noya-San–“ – „Ryuu! Es ist so! Wir haben auf dümmste Art verkackt! Wir alle!“ Nishinoya wirbelte herum, klein und überlebensgroß zugleich, breitete die Arme aus. Es kümmerte ihn nicht, dass sie mitten im Weg standen. Oder dass einige Leute sich schon nach ihnen umgedreht hatten. Vermutlich sah er das alles einfach nicht. Chikara sah es, und es war ihm unangenehm, und trotzdem konnte und wollte er den Jungen nicht unterbrechen. „Das hier war nicht Shouyous Schuld alleine. Oder Chikaras! Wir sind ein Team! Wir hätten alle etwas tun müssen! Kei! Du hättest früher etwas sagen können, du hast es doch gemerkt! Tobio! Du bist klüger, als einfach hinzunehmen, wenn dein Partner sich bescheuert benimmt! Shouyou! Du musst doch über deine Probleme reden, verdammt! Chikara!“ Die großen, bernsteinfarbenen Augen glühten, schienen durch Chikara hindurchzusehen. Es gab ihm das unangenehme Gefühl, dass Nishinoya viel zu genau wusste, was in seinem Kopf vor sich ging. „Vergiss nicht, dass du zurückgekommen bist!“ Lauf nicht wieder weg. Niemand sagte etwas. Niemand wagte zu widersprechen. Chikara wusste überhaupt nichts zu sagen. Wie sollte er Nishinoya auch davon überzeugen, dass es manchmal womöglich besser war, nicht zurückzukommen? „Ich bin genauso Schuld wie jeder andere hier! Ich hab ja auch nichts gemacht! Wir haben verkackt.“ Nishinoya schnaufte. Noch ein Blick glitt über den Rest seines Teams, ehe er ihnen wieder den Rücken kehrte. Er stand völlig gerade, das Kinn vorgereckt da – und dann, völlig abrupt, verbeugte er sich tief. „Entschuldigt bitte, dass wir euch enttäuscht haben! Nochmal wird das nicht vorkommen!“   Chikara lagen tausend Worte auf der Zunge und doch gar keines. In seinen Augen prickelten Tränen. Er war nicht der einzige, zeigte ein verstohlener Blick zur Seite. Hinata heulte schon, den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen. Tanaka war kurz davor, sich ihm anzuschließen. Er war nach jeder ergreifenden Nishinoya-Rede kurz davor. Lauf nicht weg. Entschlossen trat er neben Nishinoya, legt eine Hand auf seine Schulter. Er war immer noch vorgebeugt. Chikara tat es ihm gleich. „Entschuldigt bitte unser Versagen!“ Was die anderen taten, sah er nicht. Aber schnell genug hörte er die nächste Entschuldigung, dann die nächste. Am Ende endete die Welle in Tsukishimas leisem Murmeln. Selbst Tsukishima entschuldigte sich. Es war surreal.   „Werdet ihr draus lernen?“ Suga klang immer noch tonlos. Chikara holte tief Luft. Nishinoyas Schulter unter seiner Hand fühlte sich klein an, aber gleichzeitig stark. Er war sich sicher, das Team war besser ohne ihn dran. Er war kein guter Captain. Unwillkürlich packte er fester zu. „Chikara“, murmelte der Junge neben ihm. Er sah nicht auf, regte sich kaum. „Captain.“ Chikara holte tief Luft. Ruckartig richtete er sich wieder auf. Sugas Blick war genauso nichtssagend wie seine Stimme, aber Chikara war sich immer noch sicher, dass hinter der Fassade unglaubliche Enttäuschung brodelte. Es war ein grausamer Blick. „Werden wir“, versprach er. Er schaffte einen viel festeren Tonfall, als er erwartet hätte. Auch wenn er fest davon überzeugt war, dass das Team ohne ihn besser dran war, solange sie ihn als Captain wollten, konnte er sie nicht alleine lassen. Er konnte Nishinoya nicht hängen lassen, nachdem er gerade die ganze Bürde der Wahrheit für das Team geschultert hatte. Er wollte sie auch nicht hängen lassen. Es war leichter, wegzulaufen. Es war verlockend. Aber es würde ihm so viel wegnehmen. Suga nickte. Immer noch ernst. Dann entspannte sich sein Gesicht und er lächelte, auch wenn er traurig dabei aussah. Seine Hand landete auf Chikaras Schulter, die andere auf Nishinoyas, der sich unter der Berührung wieder gerade aufrichtete.   „Beim nächsten Mal – macht uns stolz.“     ***     Das Match lief seit einer gefühlten Ewigkeit. Es war schon zu Beginn des vorherigen Spiels gewesen, dass Yudacchi verkündet hatte, er müsse mal dringend für kleine Heulbojen. Seitdem war er nicht wiedergekommen. Tooru machte sich nicht wirklich viel daraus – es war Yudacchis Sache, wenn er alles verpassen wollte. Später würde er angepisst sein, aber gerade war er zu sehr auf das Spiel fixiert. Karasuno war entgegen aller Erwartungen ein absoluter Witz gewesen. Tooru begriff nicht, warum das Team sein Potential so sehr verschwendete, und obwohl Seijoh gewann, zog er wenig Befriedigung daraus. Es sollte nicht so einfach sein, Tobio zu besiegen. Es sollte nicht so einfach sein, jemanden zu besiegen, der seinerseits Tooru geschlagen hatte. Er fühlte sich persönlich beleidigt davon! Dagegen war Seijohs zweites Match, gegen Shiratorizawa, um einiges interessanter anzusehen. Shiratorizawa war weit stärker als Karasuno sich präsentiert hatte, das Spiel eine Herausforderung. Und obwohl Tooru eigentlich wusste, wie sein altes Team sich entwickelt hatte, es war etwas ganz anderes, sie jetzt hier in einem ernsthaften Spiel auf Leben und Tod zu erleben. Kyouken-Chan war viel besser geworden. Kontrollierter. Yahaba harmonierte überraschend gut mit ihm. Tooru hatte auch noch nach dem Trainingscamp daran gezweifelt, dass Yahaba wirklich in der Lage war, das Beste aus seinem Vize zu holen, aber hier stand er nun und belehrte Tooru eines Besseren – dabei war es wirklich unglaublich anstrengend, mit jemandem wie Kyouken-Chan auszukommen. Auch die anderen Spieler wusste Yahaba gut zu nutzen. Er war weit von Toorus Level entfernt, aber er war zufrieden mit seinem Erben. Es war mehr als deutlich spürbar, dass beide Teams ungefähr wussten, was sie voneinander erwarten konnten. Es ging nicht mehr darum, den  Gegner zu überraschen oder aus der Reserve zu locken, es ging nur darum, zu versuchen, bekannte Schwächen auszunutzen und irgendwie einen Vorteil zu erkämpfen, während man schon unzählige Schritte vorausplante, weil man doch genau wusste, wozu der Gegner fähig war. Es war spannend. Voraussetzungen, unter denen Tooru selbst gern auf dem Feld gestanden hätte. Das war kein Volleyball. Das war Schach.   „Shiratorizawa hat sich völlig verändert ohne Ushiwaka.“   Toorus Herz setzte einen Schlag lang aus. Er verkrampfte sich auf seinem Platz, doch er weigerte sich, nach hinten zu sehen, in die Richtung der Stimme. Er konzentrierte sich lieber auf ihre Worte, blendete alles andere aus. Es stimmte; Shiratorizawa war ein ganz neues Team geworden. Ohne Ushiwaka als Dreh– und Angelpunkt ihrer Offensive hatten sie einen viel ausgeglicheneren Stil entwickelt. Sie hatten aufgehört, völlig auf eine Person konzentriert zu existieren, hatten ein besseres Kräftegleichgewicht hervorgebracht. Inzwischen hatten sie nicht mehr einfach nur eine Kampfmaschine, sondern eine Vielzahl an herausragenden Spielern, die alle in gleichem Maße genutzt wurden. Es machte sie weniger vorhersehbar, weniger linear. Die Tatsache, dass sie kein absolut durchschlagendes Ass mehr hatten, machte sie auf einer anderen Ebene wiederum schwächer. „Yooo. Iwaizumi, du bist spät.“ Makkis Stimme ließ Toorus Herz erneut einen unangenehmen Stunt vollführen. Er hörte Iwa-Chans Stimme antworten – eine barsche, knappe Antwort, dass er noch etwas zu erledigen gehabt hatte. Andere Stimmen mischten sich ins Gespräch, dem er krampfhaft nicht zuzuhören versuchte. Ucchi. Yudacchi. Yudacchi. Hatte er–? Der Gedanke konnte keine Form annehmen, Toorus ganze Aufmerksamkeit mit einem Mal zerschlagen, als Iwa-Chan sich neben ihn auf einen leeren Sitz warf, als wäre es die normalste Sache der Welt. Es war die normalste Sache der Welt, es war schließlich Iwa-Chans Platz, aber genau deshalb brachte es Tooru aus der Fassung. Es war nichts mehr normal zwischen ihnen. „Du hättest wenigstens fragen können, ob hier frei ist~“, neckte er in einem Tonfall, der viel leichtherziger war, als er sich fühlte. Es war eine gewöhnliche Neckerei, augenscheinlich, aber versteckt war es vor allem eine Kritik an Iwa-Chans Verhalten. Iwa-Chan würde verstehen, vermutete Tooru. Die Tatsache, dass seine Antwort zuerst nur ein verstimmtes Schnauben war, bestätigte seine Annahme. „Was? Hab ich gerade Ushiwaka seinen Platz geklaut?“   Tooru war versucht, es einfach zu bejahen. Er war eigentlich sogar schon dabei, den Mund aufzumachen, um genau das zu tun, als ihn ein Stoß im Rücken traf. Er musste nicht zurückgucken, um zu wissen, dass es Yudacchi war, der ihn da belästigte. Er musste auch kein Genie sein, um die Botschaft darin zu lesen. Iwa-Chan, egal, ob aus eigenem Antrieb, oder geführt von Yudacchi, war hier. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, und egal, wie wütend und verletzt Tooru noch war, das sah selbst er. Iwa-Chan ließ sich nicht herumschubsen, wenn ihm die Sache, um die es ging, nicht auch wichtig war. Es war ihm wichtig. Volleyball. Das Team. Seine Freunde. Es war ihm wichtig, deshalb war er hier. Tooru war ihm wichtig, deshalb saß er hier auf seinem altangestammten Platz. Mit ein paar Worten konnte Tooru das wortlose Signal annehmen, oder völlig zerschlagen. Yudacchi stieß ihm noch einmal in den Rücken, diesmal weniger mahnend als auffordernd. Langsam stieß er die Luft aus, lehnte sich dann zurück und legte betont entspannt einen Arm auf die Rückenlehne von Iwa-Chans Sitz.   „Ushiwaka hat hier keinen Platz, Iwa-Chan.“     ***     Obwohl Yahaba aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, streckte er Kenjirou eine Hand hin und grinste flüchtig. „Gut gespielt.“ Einen langen Moment sah er auf die Hand hinunter. Sie zitterte leicht, vermutlich der Preis dafür, dass Yahaba es noch schaffte, die Tränen zu unterdrücken. Kenjirou ergriff sie schließlich, drückte einmal fest zu. „Ihr auch.“ Aber sie hatten gewonnen. Sie hatten gewonnen, trotz der schlechten Performance beim Trainingscamp. Trotz Ushijimas Vorhersagen, dass sie dieses Jahr keine großen Chancen hatten. Sie hatten gewonnen. Unwillkürlich ging sein Blick hinauf zur Tribüne. Ushijima war längst gegangen. Es reichte Kenjirou, dass er wusste, dass der Andere es gesehen hatte. Mit einem letzten Blick auf Seijoh, auf frustrierte Tränen und unglückliche Gesichter, wandte er sich ab und machte sich ebenfalls daran, den Sporthallenbereich zu verlassen. Für heute hatten sie Feierabend. Morgen würde es weitergehen, in einem Finale gegen ein Team, das vermutlich überhaupt keine Herausforderung sein würde. Ob es Losglück oder –Pech war, war wohl diskutabel.   Das Team um ihn herum war viel zu laut. Im Siegestaumel konnte Kenjirou es ihnen nicht einmal übel nehmen, trotzdem nervte ihn Goshikis Gebrüll, genauso sehr wie das schon wieder eingetretene Gezänk zwischen Sakase und Fukumine. Keine fünf Minuten Ruhe… Eine Hand landete schweigend auf seiner Schulter. Kenjirou schnaubte amüsiert. Lass dich nicht ärgern war die Botschaft, die hinter der Geste stand. Natürlich ließ er sich nicht ärgern. Genervt zu sein war schließlich etwas anderes, nicht wahr? „Du kannst wieder loslassen, Taichi.“ Taichi gehorchte, aber nicht, ohne ihm dabei einen unnötigen Stoß zu verpassen, der ihn beinahe gegen einen fremden Spieler stolpern ließ, der gerade mit seinem Team den Sporthallenbereich betreten wollte. Kenjirou für seinen Teil war froh, wenn sie hinaus waren. Er war erschöpft.   „Yoooo! Tsutomu! Du und dein Pottschnitt wart ja richtig cool!“   Kenjirou verkniff sich ein Stöhnen, als sie, kaum draußen auf dem Gang, über Tendou stolperten. Er verkniff es sich auch nur, weil Ushijima bei ihm war und der Anblick des Älteren ihn von Tendous nerviger Existenz und Goshikis überenthusiastischem Gebrüll ablenkte. Er würde nie verstehen, wie Ushijima so völlig ignorant all dem Tumult gegenüber sein konnte. Es war bewundernswert und etwas, das Kenjirou sich nur zu gerne aneignen würde. Ushijimas Blick, der gerade noch auf Tendou und Goshiki geruht hatte, wandte sich ihm zu. Er nickte kaum merklich. „Ihr habt gewonnen.“ – „Ja. Wir werden dich nicht enttäuschen, Ushijima-San.“ Nicht noch einmal. Nicht nach der Pleite Trainingscamp. Kenijrou würde es nicht zulassen, dass das Team noch einmal so vergleichsweise schlecht abschnitt. Er würde nicht zulassen, dass Ushijima jemals wieder Grund fand, ihnen ein Scheitern zu prophezeien. Er sah zufrieden aus, soweit man in dem stoischen Gesicht überhaupt lesen konnte. „Tendou, wir gehen.“ – „Waaas? Wakatoshi-Kun! Wir sind doch gerade erst angekommen~!“ – „Wir gehen.“ Es war so typisch Ushijima, dass Kenjirou sich bei aller Enttäuschung nicht dazu bringen konnte, es ihm übel zu nehmen. Er lächelte müde, nur für einen kurzen Moment. Goshiki machte seiner Enttäuschung dafür umso lauter Luft. Das halbe Team plapperte. Ushijima ignorierte sie. Kenjirou hätte sie auch gerne ignoriert. Er sah zu, wie Ushijima sich zum Gehen umwandte. Er sprach noch einmal, als er ihnen schon den Rücken zugekehrt hatte. Im allgemeinen Tumult hörte Kenjirou ihn kaum.   „Du hast sie gut geführt.“ Kapitel 10: ------------ Sie lachten und schwatzten, als sie das Schulgebäude hinter sich ließen. Winkten, wünschten ein schönes Wochenende, viel Spaß noch – die übliche Leier. Eigentlich. Tatsache war allerdings, dass Shou sich gehörig verarscht fühlte von den feixenden Gesichtern einiger Teamkollegen, während er mit Koharu und Ninouchi – ausgerechnet der! – zurückblieb, die Arme vor der Brust verschränkt. Shirabu war auch noch da, vermutlich, um aufzupassen, dass sie auch ja nicht wegliefen und versuchten, ihrer Strafe zu entgehen. Es war ein schlechter Witz. Es war eine einvernehmliche Prügelei gewesen! Niemand war zu Schaden gekommen, der nicht hatte zu Schaden kommen wollen, und sie hatten niemanden belästigt. Mit welchem Recht wurden sie nun also bestraft? Es war eine Argumentation, die Shirabu völlig kalt ließ. Seijohs Captain auch, denn der unterstützte die ganze Idee schließlich. Sie standen nur ein paar Minuten dumm auf dem Schulhof herum, bis er in Begleitung von zwei anderen Spielern kam. Da war Schmiergesicht-Kun, dessen Grinsen heute noch aufgesetzter wirkte als sonst – ein bisschen so, als habe er selbst Mühe, es aufrecht zu erhalten. Ein Stück hinter ihm und dem Captain ging ein Kerl mit grimmiger Miene und geradezu hasserfüllt aggressivem Blick. Vize-Captain, wenn Shou sich recht erinnerte, aber ehrlich, so interessant war es ihm auch einfach nicht. Er wusste, der Kerl würde ihr Aufpasser sein, und dummerweise war auf den ersten Blick sichtbar, dass mit dem nicht gut Kirschen essen war. Zwei Tage. Den Rest des Freitags, den gesamten Samstag, und den halben Sonntag. Zwei Tage, die sie gute Miene zum bösen Spiel machen mussten, damit sie danach wieder Ruhe hatten von allem lächerlichen Theater.   Mit verschränkten Armen beobachtete er, wie die beiden Captains sich kurz unterhielten. Es war ihm schon bei ihrem letzten Match aufgefallen, aber Shirabu und die Schmalzlocke schienen sich ziemlich gut zu verstehen. Schien ja fast so, als hätten die zwei aus ihren gemeinsamen Strafplänen noch eine schöne Möglichkeit gemacht, sich anzufreunden. Bah. Das war doch widerlich. Ein schiefer Seitenblick zu Koharu zeigte, dass er ähnlich begeistert war. Shou war überrascht, wie ruhig er war; im Vorfeld hatte er gespuckt und gezetert, als er von der Idee gehört hatte. Scheinbar hatte der Winzling sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wäre wirklich neugierig, wieso er so unglaublich große Probleme mit Schmiergesicht hatte. Gut, es war Koharu, das allein war eine Erklärung, er kam mit kaum jemandem aus, weil er einfach zu zickig war – aber trotzdem. Es war selbst für Koharu-Verhältnisse extrem. „Also dann.“ Shirabu riss ihn aus seinen Gedanken. Ein kaum sichtbares, süffisantes Grinsen lag auf seinem Gesicht. „Ich wünsche euch viel Spaß.“ Er klang ungefähr so ehrlich, wie Schmiergesichts Grinsen aussah. Zusammen mit Seijohs Captain verließ er das Schulgelände. Zurück blieben Schmiergesicht und der grimmige Vize-Captain, dessen auffällig tiefliegend dunkle Augen Shou an irgendwelche lächerlichen Emo– oder Gothictypen erinnerte. Oder glitzernde Vampire. Er presste die Lippen zusammen, um nicht gleich laut loszulachen; dass er sich amüsierte, schien der Kerl dennoch zu sehen, denn seine Augen verengten sich kaum merklich, aber besorgniserregend bedrohlich. Eindeutig kein gut Kirschen essen mit dem. Aber es war nicht, als könnte Shou aus seiner Haut raus. Lässig verschränkte er die Hände hinterm Kopf. „Hey, Twilight Sparkle~ Kriegen wir ne Vorstellungsrunde? Glaube nicht, dass sich irgendjemand hier deinen Namen gemerkt hat.“ Koharu erstickte sein Lachen hinter seiner Faust. Dass Ninouchi nicht lachte, danach brauchte Shou gar nicht zu sehen. Dass Schmiergesicht lachte, störte ihn hingegen immens. Tse. Den wollte er nicht zum Lachen bringen! Der Boss fürs Wochenende schien überhaupt nicht amüsiert zu sein. Er trat zu Shou, packte ihn grob am Kragen. Er war kleiner, wenn auch nicht viel, aber allein deshalb konnte Shou ihn nur schwer ernstnehmen. Sein Blick, der ziemlich klar aussagte, dass er auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschreckte, machte ihn aber doch wieder ernstzunehmender. Er nahm es zum Anlass, sich zumindest nicht noch weiter aus dem Fenster zu lehnen. „Kyoutani Kentarou. Merk es dir, beim nächsten Mal setzt’s Prügel.“   „Charmant“, murmelte Koharu spöttisch. Er hob die Augenbrauen. Die nächsten Worte sprach er lauter: „Passt zum Rest seines Teams.“ Es sah nicht wirklich so aus, als ob Schmiergesicht es als Beleidigung nähme. Eher im Gegenteil, er lachte gackernd. „Koharu, sei nicht so frustriert~ Es ist nicht Ken-Sans Schuld, dass die einzigen Typen in deinem Team, die halbwegs gut gebaut sind, hässlich wie die Nacht sind.“ „Halt die Klappe, Kogami! Niemand fragt nach deiner Meinung!“ „Och… doch. Ich frage“, mischte Shou sich grinsend ein. Er überbrückte die kurze Distanz, bis er direkt vor Schmiergesicht stand. „Erzähl mal. Fall ich unter hässlich oder schlecht gebaut?“ So wie das klang, schlug sich Koharu gerade die Hand gegen die Stirn. Für einen Moment sah Kogami verblüfft aus, dann lachte er, und Shou war sich sicher, dass es das erste ehrliche Lachen war, das er von dem Jungen hörte. Seine Augen blitzten amüsiert, während er eine Show daraus machte, sich übertrieben vorzubeugen, um den kleinen Größenunterschied zwischen ihnen wettzumachen. Wäre Shou auch nur ein paar Zentimeter kleiner, es hätte ihn wohl gestört. So aber erwiderte er Schmiergesichts grinsenden Blick nur ähnlich breit grinsend. „Ich glaube, darüber müssen wir noch einmal reden, Leberfleck-Kun~“ „Shou reicht, Schmiergesicht-Kun.“ – „Teruo bitte. Oder Teru.“   „Hört auf zu flirten, oder ich kotze!“ – „Awww. Koharu, keine Sorge, zwischen uns ist immer Platz für dich~“     ***     Das erste, das Shou während des abendlichen Trainings unter Twilight Sparkle lernte, war die Tatsache, dass der verdammte Dreckskerl verflucht gut war. Das zweite, das ihm auffiel, war die Tatsache, dass ihre Captains, ob absichtlich oder nicht, eine verblüffend gute Trainingssituation geschaffen hatten. Sie waren alle Außenangreifer, außer Libero Koharu. Ihr unfreiwilliger Lehrer war geradezu brillant – es wäre unmöglich, nichts von ihm zu lernen. Für Koharu war es ebenfalls ein gutes Training, die übers Netz geschmetterten Bälle anzunehmen. Oder es zumindest zu versuchen. Es war verstörend, wie oft er an Kyoutanis Schmetterbällen scheiterte. Kurzum: Das war sogar ein Punkt, hinter dem Shou stehen konnte. Das Training war produktiver, als er es ursprünglich erwartet hatte, und er hatte das Gefühl, dass er das Wochenende nicht ganz vergeuden würde. Auch wenn die Trainingsmethoden nicht gerade die besten waren, und ihr Trainer auch nicht gerade die charmanteste Art hatte, seine übertriebenen Forderungen an den Mann zu bringen, so war es, alles in allem, etwas, womit Shou gut leben konnte.   Womit er nicht leben konnte, war alles, was danach kam.   Es fing an mit dem Abendessen. „Ich kann nicht kochen“, verkündete Twilight Sparkle völlig unbekümmert und desinteressiert. Mit den Worten „Ihr macht das Essen“ marschierte er zur Dusche ab und ließ sie allein in der Küche. Shou konnte nicht kochen. Er bekam es hin, Cupnudeln zuzubereiten, wobei er immer unnötig viel Sojasauce hineinkippte, und er schaffte mit ein bisschen Liebe noch ein Rührei oder ein Sandwich, was nun auch wirklich keine Meisterleistung war, aber schon beim Reiskocher fing es an aufzuhören. Er wusste, dass Koharu ähnlich gut mit allem umgehen konnte, was Kücheninventar war. Es war zufällig einmal Thema geworden. Hätte er keine Eltern, die für ihn kochten, würde Koharu sich wohl auch nur von Instantnudeln und Tiefkühlpizza ernähren. „Ich glaube“, kommentierte Shou schließlich grinsend, lehnte sich lässig zurück gegen die Arbeitsplatte in seinem Rücken, „Die große Frage ist, wer kann hier überhaupt kochen?“ Koharu schüttelte ganz wie erwartet den Kopf. Ninouchi schob gewichtig die Brille auf die Nase. „Es ist auch nur eine andere Form von Chemie. Wenn wir ein Rezept haben, kann es nicht so schwer sein.“ – „Dann macht ihr mal~“, singsangte Schmiergesicht amüsiert, „Das einzige, was ich zum Kochen bringe, ist das Blut meiner Mitmenschen.“ Er grinste dreckig, die Augenbrauen eindeutig erhoben, während Koharu einen Laut von sich gab, der verdächtig nach Kotzerei klang, ehe er murmelte: „Aber auch nur vor Wut.“ „Ganz egal, warum, Haru. Dein Blut kocht~“   „Ihr könnt später weiterkochen“, unterbrach Shou, beschließend, dass er nicht riskieren wollte, dass ihr emoglitzernder Trainingscampvorsitz sie alle vermöbelte dafür, dass kein Essen auf dem Tisch stand, wenn er es wollte, „Sobald wir unser Abendessen haben. Ninouchi, nachdem du glaubst, das läuft so gut – würdest du bitte?“ So wenig Shou den Kerl auch wirklich leiden mochte, er hatte so seine positiven Seiten. Er gehorchte. Er tat, was man ihm sagte. Er machte sich vergleichsweise nützlich. Nach nicht einmal zehn Minuten hatte er ein Rezept gefunden, das sie mit den Zutaten, die sich hier befanden, kochen konnten. Weil Ninouchi ein weitsichtiger, vernünftiger Mann war, hatte er sogar direkt eines gesucht, für das ihre Zutatenmengen reichten, um eine extrem große Portion zu kochen, die sie über das ganze Wochenende bringen würde. Gut, Frühstück würden sie wohl trotzdem noch machen müssen, aber irgendwer würde es schon schaffen, den Reiskocher sinnvoll zu bedienen und ein bisschen Gemüse dazu zu braten oder so. Mit ein paar Kochschürzen ausgestattet – Schmiergesicht kommentierte feixend, dass sie doch viel attraktiver wären, wenn sie nichts drunter trügen –, machten sie sich daran, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch für das geplante Curry zu zerteilen, während Ninouchi ihr Handeln mit seiner trockenen, monotonen Stimme dirigierte. „Das ist doch lächerlich!“, zeterte Koharu unwillig. Er hackte auf eine Karotte ein, als hätte sie ihm persönlich etwas angetan und warf die wenig uniformen Stücke dann in die Schüssel vor seiner Nase. „Wir sind Volleyballspieler! Keine– keine Küchenmägde!“ „Ach, aber so ein Kleidchen würde dir stehen, Koharu. Sicher, dass du es nicht mal ausprobieren willst?“ Die Karotte, die er gerade hatte zerhacken wollen, flog in Schmiergesichts Richtung. Shou grinste amüsiert. „Natürlich würde es Koharu nicht stehen“, stimmte er dem wütenden Fluchen des kleinen Jungen bei. Er sah verblüffte Dankbarkeit in Koharus Blick, die ihn nur noch breiter grinsen ließ. „Sein Hintern ist viel zu klein, um so ein Kleid hübsch auszufüllen.“   Shou wusste, dafür würde es eine bittere Rache geben, die noch weit über die Zwiebel hinaus ging, die ihm gegen den Kopf geworfen wurde, aber das war es absolut wert. Es machte einfach zu viel Spaß, Koharus Gesicht zum Entgleisen zu bringen. „Halt dein Maul, du verdammter Vollidiot!“ „Ihr solltet aufhören, mit dem Gemüse zu werfen. Das ist nicht hygienisch.“ „Oh Gott“, stöhnte Schmiergesicht lachend, „Könnt ihr diesem Typen mal den Stock aus dem Arsch ziehen?“ – „Unmöglich. Der Stock ist festgewachsen.“ Ninouchi sah gar nicht amüsiert aus über das Gespräch, doch er schwieg, während er nur mit missbilligend verschränken Armen dastand. Erst jetzt fiel Shou auf, dass der Kerl sich irgendwann noch ein Kopftuch umgebunden hatte. Er sah aus wie ein Cafeteria-Helfer. Absolut lächerlich. Um sich weitere Predigten zu sparen, hob er die Zwiebel vom Boden auf. Selbst Schmiergesicht war brav und wusch die Karotte inzwischen ab, die Koharu ihm entgegengepfeffert hatte. Die Art, wie er sie wusch, erinnerte Shou an ganz andere Dinge. Koharu auch, so angewidert, wie er zusah, und so angewidert, wie er immer noch war, als er sie wieder entgegennahm. „Weißt du, du solltest etwas sanfter mit dem Zeug umgehen. Oder bist du beim Masturbieren etwa genauso grob?“ „Halt dein Maul, verdammt!!!“ Er machte Anstalten, wieder etwas zu werfen, aber diesmal hielt Shou ihn davon ab. Ehrlich, Ninouchi war schon nervig genug, wenn er den Mund hielt. Koharu warf ihm ein missgelauntes Funkeln zu, schnaubte dann etwas, das verdächtig nach Verräter klang und machte sich daran, die gerade zurückbekommene Karotte in genauso ungleichmäßige Stücke wie die letzte zu zerhacken. Er schien es nur dieses Mal mit noch viel mehr Enthusiasmus zu tun. Immer wieder warf er einen Blick zu Schmiergesicht hinüber, der bei dem Anblick tatsächlich schmerzvoll das Gesicht verzog. Scheinbar war eine lebhafte Fantasie manchmal auch ein echter Nachteil.   Irgendwie kam das Gemüse ohne weitere Zwischenfälle in den Kochtopf, und ab dem Punkt gaben sie alle Arbeit an Ninouchi ab. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen, dass das Essen nicht schmeckte, und außerdem war die Brillenschlange doch fest davon überzeugt, dass er mit seinem Rezept ein schmackhaftes Gericht zustande bekam, also bitte, sollte er nur. Shou saß sowieso lieber am Küchentisch und entspannte sich. Schmiergesicht saß ihm gegenüber, rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf die Lehne gestützt. Koharu saß auf der Arbeitsplatte in der Nähe, als könnte er damit seine geringe Körpergröße kompensieren. „Hey“, sagte er plötzlich. Ein Blick in Koharus Gesicht zeigte einen ungewöhnlichen Anblick – das kleine Babyface war mal nicht zu einer griesgrämigen Fratze verzerrt, oder zu einem gemeinen Grinsen, sondern er sah ernsthaft arglos aus, unschuldig beinahe. Wie es sich für einen Jungen mit einem solchen Gesicht auch gehörte. Für Shou war das ein Anlass, dass bei ihm alle Alarmglocken losschrillten. Er warf einen kurzen Blick zu Schmiergesicht hinüber. In seinen Augen lag ein wahnsinniges Funkeln, das Shou ziemlich sicher glauben ließ, dass auch er genau wusste, was dieses Gesicht bedeutete. Ärger. „Ihr geht gleich nicht sofort ins Bett, oder?“ Schmiergesicht verneinte. Shou verneinte nach einem kurzen Augenblick ebenfalls. Selbst wenn er die nächsten Stunden damit zubrachte, mit seinem Handy im Internet zu surfen, würde es ihm zu langweilig sein, allein auf seinem Futon herumzulümmeln. Koharus kleiner Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln, das viel zu fröhlich und viel zu wenig unheilverkündend aussah, um nicht unheilverkündend zu sein. So langsam ahnte Shou, dass hier die Retourkutsche kam.   „Wer spielt mit mir Kokkuri-San?“     ***     „Shou, sei keine Memme.“   Koharu grinste so breit, dass es seine Augen zu Schlitzen verengte. Er hatte ein Blatt Papier vor sich liegen und kritzelte gerade eifrig einen Zeichensatz darauf. Eine Zehn-Yen-Münze lag unschuldig neben dem weißen Papier. „Sogar Kyoutani-San spielt mit.“ Die eine Sache, die Shou wirklich nicht verstand. Dass Ninouchi, die Spaßbremse, mitmachte, nur, um dann zwischendurch langweilig spaßbremsend darüber zu lamentieren, wieso das alles ausgemachter Humbug war, verstand er sogar. Aber Twilight Sparkle? Passte einfach nicht ins Bild. Vielleicht war das Curry doch nicht so gut gewesen, wie es auf den ersten Eindruck geschmeckt hatte, und irgendetwas Verdorbenes hatte seinen Verstand angegriffen. Andererseits… Shou seufzte schwer, als er daran dachte, wie er am Morgen beinahe über eine schwarze Katze gestolpert wäre. Der Tag hatte schon mit Pech angefangen. Wieso hatte er das hier nicht vorhergesehen? Er konnte immer noch einfach ablehnen. Es war nicht, als könnte ihn jemand daran hindern, aber andererseits – wollte er wirklich zum Gespött der Leute werden? Jeder wusste, dass Kokkuri-San absolut ungefährlich war. Kinderkram.   „Heeey, Leberfleck-Kun~ Machst du bitte das Fenster auf?“   Schmiergesichts Stimme ließ Shou missgelaunt aus seinen Gedanken auftauchen. Während er aufstand, um zum Fenster zu laufen, rief der Kerl ihm noch hinterher, dass er bitte auch das Licht ausmachen solle – so fürs richtige Ambiente. Immerhin hatten sie keine Kerzen. Nur ein paar Handytaschenlampen, die sie mit orangeroten Tüchern aus dem Bestand des Theaterclubs abgedeckt hatten, um für ein schummriges, warmes Licht zu sorgen. Es war natürlich Koharus Idee gewesen. Shou nahm sich fest vor, dass der kleine Bastard hierfür ordentlich Ärger bekommen würde. Er gab ihm genug Vorlagen, er würde etwas finden. Und wenn er ihn versehentlich mit Schmiergesicht auf dem Klo einschließen musste. Wieder zurück an seinem Platz ging das Spiel los: Jeder von ihnen platzierte seinen Zeigefinger auf der Münze, auch wenn Koharu ein unglaubliches Theater darum machte, bloß so zu sitzen, dass er Schmiergesichts Finger nicht berührte. Einige Sekunden verharrten sie so. Koharus braune Augen glühten im Licht der Handylampen, als stünden sie in Flammen. „Bereit?“ Shou war nicht bereit. Er nickte trotzdem, denn er wusste, dass er keine Chance hatte, hier noch einmal herauszukommen. Und es hinauszuzögern machte einfach auch nichts besser. Koharu grinste ihn an, fast, als wolle er sagen hab doch keine Angst~, dann begann er in einem viel zu freudigen Singsang, das kleine Ritual abzuspulen: „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wenn du hier bist, bewege bitte diese Münze.“ Stille. Für einen langen Moment regte sich rein gar nichts. Shou schluckte, hatte das Gefühl, er müsste dabei an seinem Herzen vorbeiwürgen, das ihm bis in den Hals hineinschlug. Von draußen wehte flüsternder Wind herein.   Die Münze bewegte sich.   „Wer von euch war das?“, fragte Ninouchi sofort. Nicht alarmiert oder besorgt, einfach nur missbilligend, dass irgendjemand wirklich solche billigen Späße spielte, „Sakase?“ – „Was? Nein! Das war Kokkuri-San! Ganz bestimmt!“ Shou hasste es, dass er ihm recht gab, und deshalb schluckte er jeden Kommentar mühselig runter. Ninouchi schüttelte nur den Kopf. „Ausgeschlossen. Es ist erwiesen, dass es keine Geister gibt. Jede Art von paranormaler Aktivität kann mit wissenschaftlichen Mitteln erklärt und zumeist als Trickbetrug enttarnt werden. Es ist ganz klar, dass jemand hier die Münze führt.“ – „Und selbst wenn“, patzte Koharu zurück, „Lass uns unseren Spaß, du Lahmarsch.“ Sehr zu Shous Leidwesen tat Ninouchi genau das und ließ ihnen ihren Spaß. Er zuckte nur noch die Schultern, rückte seine Brille mit einem Schnauben zurecht, schwieg ansonsten aber. Koharu grinste triumphal in die Runde, hob die Augenbrauen, die durch die Lichter von unten beleuchtet wurden. „Also? Wer hat ne Frage? Und wer traut sich, sie auch zu stellen?“ „Ich mach das“, verkündete Schmiergesicht lachend. Zum ersten Mal war Shou so richtig auf seiner Seite, weil er Koharus Fröhlichkeit damit zum Bröckeln brachte. Er räusperte sich gewichtig. „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wer hier im Raum hat den Kleinsten?“ Koharus Gesicht entgleiste. Shou, gegen seinen Willen, lachte, doch der Laut blieb ihm schnell im Hals stecken, als die Münze sich zu bewegen begann. Es war nur so lange lustig, wie er nicht daran dachte, dass sie hier gerade mit einem Geist spielten. Sa-Ka-Se. Schmiergesicht lachte laut. „Wusst ich’s doch~“ – „Du weißt gar nichts, du schummelnder Bastard! Hör auf, die Münze zu manipulieren!!!“ – „Hah? Ich tu gar nichts~ Bedank dich bei den Geistern dafür, dass es nun offiziell ist, Kleiner.“   Koharu ließ das natürlich nicht auf sich sitzen. Mit der freien Hand langte er in Schmiergesichts Richtung, aber so richtig helfen wollte das nicht – er kam kaum an ihn heran, und auch seine wüsten Beschimpfungen schienen an seinem Grinsen abzuprallen.   Ein paar Minuten vergingen mit dem Zank der beiden, bis Twilight Sparkle sich knurrend einmischte und sie dazu anhielt, entweder weiter zu machen oder das saudumme Spiel abzubrechen. Wenn sie streiten wollten, konnten sie das auch ohne lächerliche Okkultshow tun. Shou stimmte ihm darin aus vollem Herzen zu. Leider schien Koharu seine Rache über seinen Streit zu stellen, also ging es weiter. Die Fragen waren harmlos. Ob aus Respekt vor der Antwort, oder weil ihnen nichts Besseres einfiel, das wusste Shou nicht, und er wollte auch nicht so genau darüber nachdenken. Nach ein paar lächerlich simplen Fragen über Dinge wie Lieblingsessen und schlechteste Schulfächer der Anwesenden wurde es Schmiergesicht offensichtlich wieder zu langweilig, denn seine nächste Frage schlug genau in die gleiche Richtung wie seine Letzte: „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wer hier im Raum hat den Größten?“ Die Münze bewegte sich. Inzwischen hatte sich Shou fast an das seltsame Gefühl gewöhnt, mit dem sein Finger von der Münze über das Papier geführt wurde, doch es wurde nicht weniger beunruhigend. Ki-Yo-U-Ta-Ni. „Nicht wahr“, murmelte Schmiergesicht mit Augen so groß wie Unterteller. Er sah zu benanntem Kerl hinüber, dann zu Ninouchi, dann zurück. Schüttelte den Kopf und sah einfach nur fassungslos aus. „Das kann nicht stimmen“, wiederholte er noch einmal. „Aber, aber, Teru. Nimm die Wahrheit hin~“ „Es stimmt natürlich nicht“, mischte Ninouchi sich ein. „Da die Antwort niemand hier kennen kann, ist das nur eine hanebüchene Spekulation von einem der Anwesenden, der die Münze manipuliert.“   Shou ahnte, dass das nicht klug gewesen war. Das Gesicht von Seijohs Unheilstifter bestätigte seine Ahnung viel zu schnell. „Er hat Recht. Wir können gar nicht wissen, ob es stimmt, oder ob der Geist uns belogen hat. Und wisst ihr, was wir deshalb tun sollten?“ Schmiergesicht grinste. Koharu schlug seine Hand so fest gegen die Stirn, dass Shou schon vom Zuhören Kopfweh bekam. „Nein. Wir machen keinen Schwanzvergleich!“ – „Du hast nur Angst vor der Wahrheit~“ – „Hab ich nicht!“ – „Dann können wir es ja tun?“ Mit einem empörten Schnauben schüttelte Koharu den Kopf. „Warum sollte ich?! Niemand will dir seinen Schwanz zeigen, du perverser Idiot!!!“ – „Aber dann sehen wir, ob hier wirklich ein Geist am Werk war, oder doch nur ein gelangweilter Troll.“ – „Oder jemand, der sehr gut im Raten ist“, unterbrach Ninouchi, aber niemand schien ihm so recht zuhören zu wollen. Die Wahrscheinlichkeit, beide Male richtig zu liegen, war nicht besonders hoch. Shou würde auch nicht an Zufall glauben. Er schluckte hart – und vielleicht ein bisschen zu laut. Koharu blickte zu ihm hinüber, seine Augen funkelten immer noch angriffslustig, doch nach einem langen Moment verzogen seine Lippen sich trotzdem zu einem Lächeln, das eher aussah wie die Fratze einer winzigen, wütenden Furie. „Schön“, schnaufte er, „Beenden wir das hier. Und dann tun wir’s.“ „Ich glaube, Leberfleck-Kun, dass ich dir danken muss~“ – „Spar’s dir, Schmiergesicht-Kun.“ Koharu verabschiedete den Geist, und nachdem er scheinbar ganz sicher verschwunden war, zerriss er das Papier in fünf etwa gleichgroße Stücke und reichte jedes einem der Spieler, um es in winzigste Schnipsel zu zerlegen. Es war eine seltsam beruhigende Tätigkeit, fand Shou  zumindest, trotzdem konnte er die Nervosität nicht abschütteln, die schon eine Weile an ihm hing, genauso wenig wie das kribbelnde Gefühl im Nacken. Als würde ihn jemand beobachten…   Es wurde nicht besser, als ihre folgende Tätigkeit herausstellte, dass der Geist in beiden Fällen richtig gelegen hatte.     ***     Samstag war eine Katastrophe. Shou war todmüde, weil er viel zu schlecht und zu wenig geschlafen hatte. Koharu war kratzbürstiger denn je, während Schmiergesicht so fröhlich durch die Schule hüpfte, als wäre er auf Wolke Sieben. Sie kamen ungefähr zehn Minuten ins Training hinein, bis Koharu sich fauchend auf ihn stürzte, offenbar in der Absicht, ihm die Augen auszukratzen. Ninouchi ging dazwischen, weil er zufällig danebenstand und hielt ihm eine Predigt über Teamwork und alle die schönen Dinge, die eindeutig im einen Ohr hinein– und im anderen wieder hinausging. „Spar dir deine blöden Geschichten! Dieser Wichser fragt es sich doch!“ – „Aber Ha-ru-Chan~ ich sage nur die Wahrheit! Wir haben es alle gesehen~!“ Bevor er noch einmal auf den grinsenden Mistkerl losgehen konnte, war Twilight Sparkle angekommen, um ganz heroisch den Streit zu beenden, indem er Koharu aus der Sporthalle warf und Schmiergesicht ein Straftraining aufdrückte. Weil Shou wenig Motivation hatte, gerade hier zu bleiben, folgte er Koharu hinaus. Er saß auf der Treppe vor der Eingangstür, missmutig in die Ferne starrend. Obwohl er kaum aufsah, als Shou sich schweigend neben ihn setzte, wusste er, dass er bemerkt worden war. „Ich hasse diesen Typen“, schnaubte der Winzling nach einigen Minuten bitter.   „Wieso eigentlich? Ich meine–“ Shou zuckte die Schultern. Entspannt stützte er sich auf seine Hände und lehnte sich ein Stück zurück. „So bis auf die perversen Neigungen ist er doch total dein Typ?“ Nicht im Sinne von Typ, aber freundschaftlich. Er war nicht wirklich anders als Shou selbst. Oder Koharu. Sie waren alle drei nicht besonders nett, waren ausfallend, spöttisch, und hackten gerne auf anderen herum. So betrachtet war Schmiergesicht eigentlich die perfekte Ergänzung ihrer kleinen Gruppe. Koharu schüttelte nur den Kopf. Er war still, starrte immer noch hinaus. Von drinnen ertönte immer wieder das Geräusch eines vom Boden abprallenden Volleyballs. An der Lautstärke konnte Shou erkennen, ob es Ninouchi oder Twilight Sparkle war, der gerade den Ball schmetterte. Weil sich kein dritter Ton mit hineinmischte, ging er davon aus, dass Schmiergesicht noch mit seiner Strafe beschäftigt war. Oder dass seine neue Strafe das Zuspielen war. Ein paar Minuten saßen sie so da. Schweigend nebeneinander, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren. Dann stand Koharu abrupt auf, klopfte sich den Treppenstaub vom Hosenboden. „Das ist ja das Problem“, war alles, was er noch sagte, ehe er sich abwendete und in die Halle zurücklief. „Heeey! Seijoh-Vize-Captain-San! Ich bin wieder abgeregt, können wir jetzt weitermachen?“ Mit einem Seufzen raffte auch Shou sich wieder auf, trottete ebenfalls zurück. Es war nicht sein Problem. Koharu mochte sein Freund sein, aber das hieß nicht, dass sie beieinander ihr Herz ausschütteten und sich durch Lebenskrisen halfen. Es hieß eigentlich nur, dass sie die meiste Zeit einer Meinung waren, den gleichen, boshaften Humor teilten und die gleiche Leidenschaft dafür, ihren Mitmenschen das Leben schwer zu machen.   Wenn er nicht reden wollte, sollte er es lassen. Das Wochenende überlebten sie hoffentlich auch, wenn der kleine Idiot weiter versuchte, seinem schmiergesichtigen Erzfeind an die Gurgel zu gehen.     ***     Karasuno sind raus.   Kenmas Nachricht hatte Tetsurou tatsächlich leidgetan. Er erfragte sich Details, bekam aber nicht sonderlich viel aus Kenma herausgequetscht. Shouyou war sehr wortkarg, erklärte er. Auch wenn es aus den Buchstaben natürlich nicht herauszulesen war, die auf seinem Display waren, hätte Tetsurou schwören können, dass die Nachricht für Kenma-Verhältnisse überdurchschnittlich besorgt klang. Er versuchte es beim Ex-Captain der Krähen, doch der wusste auch nicht allzu viel zu berichten. Sie hatten verloren, schon im ersten Spiel, das sie gespielt hatten. Gegen Seijoh, wobei Tetsurou gewettet hätte, Karasuno würden gewinnen. Ohne Erklärung, warum eigentlich, aber scheinbar ein Fehler, der aus dem Team selbst herauskam. Sawamura klang enttäuscht und frustriert. Tetsurou wäre es auch, wäre das sein Team gewesen.   Das ganze Theater war inzwischen einige Tage her. Er hatte Bokuto versprochen, ihn über die Miyagi-Vorrunden zu informieren, aber über allem Unikrempel war er doch nicht dazu gekommen – zumal Bokuto auch anderes zu tun hatte. Also hatten sie ihr Treffen auf ein Wochenende geschoben, und hier waren sie nun, in Tetsurous Bude, lümmelten auf dem Sofa und knabberten Chips, während sie einen billigen Actionfilm ansahen, in dem sich Explosion an Explosion reihte, ohne dass noch irgendetwas anderes passierte. „Hab gehört, die Krähen sind raus?“, fragte Bokuto schließlich irgendwann knuspernd. Tetsurou nickte. „Jo. Ziemlich erbärmlich sogar. Erstes Spiel. Sawamura sagt, es war Selbstverschulden. Kenma weiß auch nichts Genaues. Krass oder? Beim Camp waren sie gut.“ Bokuto brummte unwillig. „Lahm“, konstatierte er naserümpfend, „Die waren doch mal cool! Der Chibi hätte das Spiel gewinnen müssen!“ Tetsurou sparte es sich, Bokuto darauf hinzuweisen, dass Karasuno nicht nur aus Chibi bestand. „Bro. Du weißt, dass sie wegen dem Chibi verloren haben?“ – „Im Ernst?!“ – „Jo.“ Zumindest, wenn es stimmte was Sawamura so halb in einem Nebensatz erwähnt hatte. Wäre Hinatas Leistung besser gewesen… Die Enthüllung ging damit einher, dass Bokuto ungewöhnlich still wurde. Er knusperte schweigend Chips in sich hinein, während er den Explosionen auf dem Bildschirm folgte. „Bro. Ich bin enttäuscht“, verkündete er schließlich irgendwann. Tetsurou lachte bitter, während er nach einer neuen Chipstüte angelte. „Sag das dem Chibi.“ – „Aber ich hab seine Nummer nicht!!!“ – „Ich richte es Kenma aus.“ So, wie er Kenma kannte, würde er es gnadenlos weiterleiten. War vielleicht auch ganz gut, von dem, was Tetsurou so mitbekommen hatte. Er packte sich sein Handy, tippte eine kurze Nachricht an Kenma ab und warf es dann wieder in die letzte freie Sofaecke. Botschaft übermittelt, damit konnte er sich wieder auf den Film konzentrieren.   Zumindest solange, bis Bokuto ihn wieder unterbrach.   „Bro. Was war das eigentlich mit der Schlange?“ Es war das gefühlt fünfzigste Mal seit dem Trainingscamp, dass diese Frage kam. Tetsurou seufzte genervt, ließ sich gegen die Sofalehne fallen. „Ich hab’s dir schon gesagt. Nichts. Wettschulden. Ich hab ne Wette verloren, ich hab dem Kerl ein Essen geschuldet, und das war’s.“ – „Aber ich dachte, du wollest ihn klarmachen?!“ – „Wollte ich nicht!“ Aber egal, wie oft er das sagte, Bokuto verstand es nicht. Dabei war es nun wirklich nicht kompliziert! Tetsurou konnte diesen Typen einfach nicht leiden, hatte ihn noch nie– Okay. Das war gelogen. An irgendeinem Punkt in seinem Leben hatte er ihn offensichtlich gemocht, immerhin waren sie Freunde gewesen. Aber er mochte ihn jedenfalls nicht mehr, und da konnte Bokuto noch so oft nachfragen, das würde sich nicht ändern. Daishou war der letzte Mensch auf Erden, mit dem Tetsurou etwas zu tun haben wollte. Für ihn war das Thema damit wieder gegessen – er wollte Daishou nicht. Daishou wollte ihn nicht, immerhin eine Sache, in der sie sich mal einig waren. Bokuto konnte sich also einen neuen Aufhänger suchen. Tat er aber natürlich nicht. „…hey.“ – „Mh?“ – „Bro! Du bist ein schlechter Verlierer!!!“ „Was?“ Bokuto sah ihn an, ein paar Chips zwischen die Lippen geklemmt. Seine Augen waren weit aufgerissen und entsetzt, so als hätte Tetsurou gerade irgendetwas ganz furchtbares getan. Eine Babyeule getreten oder so. Er hatte allerdings keine Babyeule getreten, also fühlte er sich an und für sich ziemlich gut und überhaupt nicht in einer Position, in der so ein Blick angemessen war. Ein schlechter Verlierer war er schließlich auch nicht. „Ja Mann!!! Du hast gesagt, du schuldest der Schlange ein Essen wegen der Wette, aber du hast ihm maximal ein halbes Essen ausgegeben! Der hat doch kaum was gegessen!“ – „Und das ist sein Problem.“ Tetsurou verschränkte die Arme vor der Brust. Bokuto sah ihn an, stirnrunzelnd und missbilligend und schüttelte dann ernsthaft den Kopf. „Nein, Bro. Das ist dein Problem! Das ist deine Ehre, um die es hier geht! Er beschmutzt deine Ehre, wenn du diese Wettschulden nicht ordentlich einlöst! Bro! Die Schlange beschmutzt dich!“   Tetsurou wollte sich nicht vorstellen, wie Daishou ihn beschmutzte. Nein. (Unwillkürlich fragte er sich trotzdem, ob da wohl noch mehr Piercings waren, von denen er schlicht nicht wusste, weil sie verborgen lagen.)   Er schnaufte unwillig. Themenwechsel. Themenwechsel war gut. Und das schnell, denn die Bilder im Kopf brauchte er wirklich nicht. „Wo hast du eigentlich Akaashi gelassen?“ „Der hat keine Zeit.“ Bokutos lebhafte Laune war mit einem Mal verflogen. Er verzog das Gesicht zu einer beleidigten Schnute. „Ich hab dir doch davon erzählt, dass die jetzt noch mehr trainieren als Strafe wegen der Volleybälle, ne?“ Tetsurou erinnerte sich lebhaft. Bokuto hatte ihm tagelang in den Ohren gelegen damit, wie gemein und unfair das war, und wie sehr er es auch wollte, wie beneidenswert das war. Jeder wollte doch trainieren, bis er tot umfiel, das war doch überhaupt keine Strafe! (Hey hey hey!!!) Tetsurou hätte es definitiv als Strafe empfunden, denn ehrlich, irgendwo waren einfach Grenzen erreicht. Inzwischen hatte auch Bokuto den strafenden Charakter der Strafe erkannt – nicht etwa, weil ihm aufgegangen war, wie grauenhaft anstrengend so ein Mordstraining auf Dauer war, sondern aus dem banalen Grund, dass das Training bedeutete, dass Akaashi und er sich noch viel seltener sahen als bisher. Jetzt tat es Tetsurou glatt wieder leid, dass er das Thema angesprochen hatte. Er legte Bokuto freundschaftlich einen Arm um die Schultern. „Müsst ihr eben öfter telefonieren, huh?“ Bokuto brummte unzufrieden. Aber Akaashi mag keinen Telefonsex! hing ungesagt in der Luft und Tetsurou grinste amüsiert. Er tätschelte verständnisvoll Bokutos Schulter. Das Schuljahr war erst zwei Monate alt. Tetsurou hoffte ehrlich, dass die beiden ihr Zeitmanagement noch einmal besser auf die Reihe bekamen.   Eine Beziehung, ohne genug Zeit füreinander zu haben, konnte hässlich enden.     ***     Das Handy in Shouyous Hand zitterte, als er auf die Nachricht hinunter sah, die er vorhin bekommen hatte. Bokuto sagt, er ist enttäuscht von dir. … Ich bin es auch. Es war nicht, als Kenma der erste, der ihm so etwas sagte. Von Ennoshita hatte er sich eine richtig lange Predigt anhören müssten, die darin geendet hatte, dass der sonst so gelassene Drittklässler laut geworden war. Der Coach, ganz im Gegensatz dazu, war unglaublich leise gewesen, und das war sogar noch gruseliger gewesen. Takedas Schimpftirade hatte Shouyou kaum noch gehört, weil ihm der Kopf eh schon so schwirrte. Kageyama weigerte sich immer noch, mit ihm zu spielen – oder auch nur mit ihm zu reden. Tsukishima war noch gemeiner als sonst. Er hatte das Gefühl, das halbe Team ging ihm aus dem Weg. Er war selbst schuld. Shouyou wusste das. Das machte nur nichts einfacher! Es war nicht fair. Er wollte spielen! Er wollte– Es wieder gut machen. Er hatte nur keine Ahnung, wie.   Völlig in Gedanken verloren schwebte sein Finger über der Antworttaste, doch er wusste nicht einmal, was er schreiben sollte. Eine Entschuldigung? Half auch nicht mehr. Dass es besser werden würde? Dass es nie wieder passierte? Natürlich passierte es nicht, wenn er nicht spielen durfte. Das Team trainierte gerade, und es war irgendwie ganz selbstverständlich hingenommen worden, dass Narita Shouyous Platz einnehmen würde. Er fragte sich, ob sein Fehlen überhaupt auffiel. Vermutlich nicht wirklich. Also doch, aber es war wohl nicht, als würde es jemanden stören. Er hatte das Handy ohnehin nur hervorgeholt, weil er gedacht hatte, es sei einer seiner Teamkameraden, um ihn dafür zusammenzupfeifen, dass er nach der Schule abgehauen war, statt zum Training zu kommen. „Was machst du denn hier?“ Shouyou wirbelte erschrocken herum, ließ beinahe sein Handy fallen und steckte es hektisch in seine Tasche zurück, fast wie ertappt. „Coach Ukai!!!“ Der alte Mann sah noch genauso fidel aus wie beim letzten Mal, dass Shouyou ihn gesehen hatte. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sein Grundschülerteam scharte sich neugierig um ihn und Shouyou fühlte sich viel mehr nach weglaufen als hierbleiben. Aber das war immerhin etwas, das er wirklich tun konnte. Er ballte die Hände zu Fäusten, dann verbeugte er sich hektisch.   „Bitte erlauben Sie mir, mit Ihnen zu trainieren!!!“ Kapitel 11: ------------ Das letzte Mal, dass Tetsurou ein Spiel aus den Zuschauertribünen heraus angesehen hatte, fühlte sich an, als wäre es Ewigkeiten her. Gut, das stimmte überhaupt nicht, aber es war einfach ein immenser Unterschied, ob er als Teil eines Turniers die Zeit, in der er nicht selbst spielte, unter den Zuschauern verbrachte, oder ob er wirklich nur kam, um zuzusehen und nichts anderes zu tun. Es war seltsam. „Wären wir nicht zu spät gekommen, hätten wir noch mit ihnen reden können“, brummte Yaku unzufrieden. Er hing über dem Geländer, das sie von einem sicheren Sturz in die Notaufnahme trennte und hatte unzufrieden das Gesicht verzogen. Er sah aus wie ein schmollender Grundschüler – auch wenn Tetsurou sich hütete, das auch nur allzu laut zu denken. Yaku hatte einfach einen sechsten Sinn dafür, wenn jemand es wagte, seine Größe auch nur mental zu beleidigen. „Ist nicht meine Schuld, dass die Bahn gesponnen hat“, gab er trocken zurück, „Sei froh, dass wir überhaupt pünktlich sind.“ Zur Antwort bekam er einen bösen Blick. Er hörte, wie Kai hinter ihnen lachte. „Ihr verändert euch nie, oder?“ Obwohl der Gedanke schon einen etwas erbärmlichen Beigeschmack hatte, grinste Tetsurou nur. Ihm gefiel es. Sich nicht verändern. Gleichbleibende Freundschaft. Besser, als wenn sie sich auseinanderleben würden.   (Er dachte nicht an Daishou.)   Gedankenverloren sah er zu, wie Nekoma auf den Platz hinaustraten. Das Team, gegen das sie spielten, war letztes Jahr unglaublich schwach gewesen. Es dürfte also kein Problem sein, es zu schlagen. Insgesamt allerdings war das Losglück nicht auf ihrer Seite. Itachiyama in ihrem Block, und Fukuroudani im nächsten. Selbst wenn sie sich irgendwie an den Wieseln vorbeimogeln konnten, dann standen ihnen die Eulen in Richtung Finale im Weg. Tetsurou hatte keine Ahnung, wie Itachiyama dieses Jahr draufwaren, allerdings standen die Chancen gut, dass sie nur noch stärker als im Vorjahr waren. Viel stärker. Sie hatten ihr Ass noch, und ehrlich, wieso sollte Sakusa auf einmal schlechter werden? Solange dieser unmenschliche Kerl dabei war, würde es abartig schwierig werden, an seinem Team vorbeizukommen. Tetsurou war nicht der Einzige, dem es aufgefallen war; Yamamotos Schwester brütete schon seit sie angekommen war über dem Infoflyer, in dem die Spielreihenfolgen ebenfalls abgedruckt waren, immer wieder murmelte sie besorgt in sich hinein. Levs Schwester war bei ihr, und auch wenn sie nichts verstand, hörte sie aufmerksam zu und sah gebührend besorgt aus. Ehrlich, es war deprimierend unfair. Wäre Tetsurou jetzt da unten bei dem Team, könnte er sich wenigstens einreden, dass sie eine Chance hatten, dass er Einfluss nehmen konnte auf den Ausgang des Spiels. Als objektiver Zuschauer war es schwieriger, sich in so einer Illusion zu zerstreuen. Und nicht einmal Bokuto war hier, um ihn abzulenken! Weil Fukuroudani in einer anderen Halle spielten, war er logischerweise entsprechend auch in einer anderen Halle unterwegs. Zwar hatte er sein Handy dabei, und er würde unter Garantie nicht zögern, es zu benutzen, aber das war einfach etwas anderes.   „Wir schaffen das.“ Yaku neben ihm richtete sich ruckartig aus seiner lümmelnden Position auf, nur um sich noch weiter über das Geländer zu lehnen. „Hey! Wenn ihr verkackt, dann trete ich euch der Reihe nach in den Hintern!!!“ – „Yaku-San!“ Lev sah viel zu erfreut aus, wenn man die Drohung bedachte, die er gerade bekommen hatte. Insgesamt sah das Team zu erfreut aus, dafür, dass sie bedroht worden waren – es war gut. Sie brauchten etwas, um sich abzulenken vor der Bedrohung, die da vor ihnen lag. Wenn sie sich jetzt schon an Itachiyama aufhängten, dann würden sie am Ende noch verlieren, bevor sie das Team überhaupt erreichten. Nekoma war nicht schwach. Tetsurou wollte sich zu gerne einreden, dass sie durchaus eine Chance hatten.     ***     Die ersten Level waren ein leichtes Spiel. Kenma hatte nichts anderes erwartet, als er die Spielverteilung gesehen hatte. Aber natürlich musste die Sache einen Haken haben – sie hatten ihren Endboss schon nach der Hälfte des Storyverlaufs vor sich, etwas, das von vorn bis hinten unfair war. Itachiyama waren gut. Kenma hatte dieses Jahr zwar noch kein Spiel von ihnen gesehen, abgesehen von ein paar Aufzeichnungen, die Nekomata besorgt hatte, aber allein die kurzen Eindrücke hatten gereicht, um ihm deutlich zu machen, auf was für einem immensen Niveau das Team spielte. Es gab keinen unbesiegbaren Endboss, keine Frage. Kenma glaubte nicht, dass sie zwingend verlieren würden, aber was sie vor sich hatten, war ein immenses Monster, das mindestens zwanzig Level mehr hatte als sie selbst, und das sie obendrein auf höchster Schwierigkeitsstufe bekämpften. Was sie brauchten, waren eine gute Taktik, schnelle Reflexe, makelloses Spiel und genug Glück, dass sie die Attacken des Gegners abwenden konnten – es waren One-Hit-Kills. Sie würden sich kaum davon erholen können, wenn Itachiyama erst richtig in Fahrt kam. Der Plan war alles andere als wasserdicht, aber es war die beste Lösung, die Kenma überhaupt einfiel. Nach wenigen Spielminuten würden sie sich vermutlich zu einem Time-Out entschließen, würden ihre Pläne noch einmal überarbeiten und anpassen an die tatsächliche Feuerkraft, die ihnen entgegenschlug, aber für den Moment hatten sie nichts, woran sie sich festhalten konnten. Sie standen einem weitgehend unbekannten Ungetüm gegenüber, dessen Schwachstellen ihnen völlig fremd waren, und dessen Stärken sie auch nur erahnen konnten. Sakusa. Natürlich. Aber darüber hinaus… Das Team hatte sich tatsächlich seit dem letzten Jahr verändert. Die wenigen Drittklässler, die zur Startaufstellung gehört hatten, waren ersetzt worden durch Spieler, die Kenma gänzlich unbekannt waren. Einer von ihnen war ein Erstklässler. In einem Team wie Itachiyama so schnell Fuß zu fassen sagte beunruhigend viel über seine Fähigkeiten aus.   Als sie sich auf dem Spielfeld aufstellten, bereit, das Match zu beginnen, legte sich eine seltsame Ruhe über Kenmas aufgepeitschte Nerven. Jetzt war es ohnehin zu spät, um noch etwas ändern zu wollen. Keine Zeit mehr, um zu speichern. Er holte tief Luft.   Die Schlacht konnte beginnen.   Schon die ersten paar Minuten machten deutlich, wie immens groß der Kraftunterschied der beiden Teams war. Itachiyama waren übermächtig. Auf allen Ebenen. Nekoma hatte keinen einzigen Aspekt, in dem sie besser waren. Die Annahmen der Wiesel waren hervorragend, ihr Libero war eine absolute Pest, wurde nur noch schlimmer dadurch, wie groß er war – seine Reichweite machte ihn geradezu ultimativ gefährlich, und es erschien Kenma beinahe so, als wäre er überall und nirgendwo zugleich. Er konnte nicht anders als erleichtert aufzuatmen, als der Junge mit dem breiten Grinsen und den auffallend buschigen Augenbrauen vom Spielfeld huschte. Ohne Komori auf der gegnerischen Seite war es wirklich einfacher. Viele der Bälle, die er noch gehalten hatte, gingen nun durch die winzigen Lücken in der Verteidigung. Es reichte kaum, um aufzuholen, und in Führung würden sie so auch nicht gehen, aber noch war nichts verloren – es war erst der erste Satz. Es war völlig legitim, dass sie sich noch nicht akklimatisiert hatten. Je mehr sie jetzt noch von ihren Gegnern sahen, desto besser. Desto leichter würde es Kenma fallen, eine Gegenstrategie zu entwickeln, um dieses Team zu kontern. Es war möglich. Es war immer möglich. Sie hatten schon gegen unzählige Teams gespielt, und vor allem auch gegen solche, die viel schlechter zu berechnen und vorherzusagen waren. Sie hatten gegen das völlig unvorhersehbare Karasuno gewonnen. Sie konnten es schaffen. So konzentriert, wie er auf das Spiel war, hörte Kenma kaum den Lärm von den Tribünen. Itachiyamas Cheerleading-Truppe war riesig und unmenschlich laut, trotzdem schafften sie es nicht, Nekomas Unterstützung völlig zu übertünchen. Manchmal, ganz selten, glaubte Kenma die vertraute Stimme von Yaku über allen Lärm hinweg brüllen zu hören. Einmal sah er, wie Lev sich zu ihm umdrehte. Er verpasste seinen Einsatz, und ein Ball, den er locker hätte blocken können, selbst mit seinen mickrigen Fähigkeiten, rauschte ungehindert an ihm vorbei. Shibayama erwischte ihn zwar noch gerade so, aber die Annahme war so schlecht, dass der Ball einfach wieder übers Netz flog und sie kaum etwas damit gewonnen hatten. Schlussendlich kam der Ball doch wieder zurück – und diesmal prallte er auf dem Boden auf.   Es war nicht viel später, dass der erste Satz endete.     ***     Nekoma hatten sich in der Pause zwischen den beiden Sätzen zusammengerottet. Tetsurou sah Kenma inmitten der kleinen Menschentraube stehen, das Team um ihn herum ganz still. Selbst solche unruhigen Persönlichkeiten wie Lev oder Inuoka rissen sich am Riemen. „Kenma hat einen Plan, oder?“ Yaku stand immer noch neben ihm ans Geländer gelehnt. Seine Stimme kratzte kaum hörbar, wenn er sprach, eindeutig eine Quittung seiner lauten Anfeuerungsrufe. Tetsurou grinste vage und nickte. „Es ist Zeit für den Gegenangriff.“ – „Ich hoffe es.“ Wirklich überzeugt sah Yaku nicht aus. Es lag nicht daran, dass er Kenma nicht vertraute. Tetsurou vermutete, dass es vielmehr damit zu tun hatte, dass er sich immer noch viel zu sehr über Levs Unzulänglichkeiten ärgerte. Er hatte wirklich seine Schwächen. Er war deutlich besser geworden, und inzwischen fand Tetsurou keinen Grund mehr, ihn in Grund und Boden zu kritisieren, aber nachdem er gerade in Yakus Paradedisziplin schwächelte, wunderte es ihn nicht im Geringsten, dass der kleine Libero sich immer noch viel zu sehr an allem aufhängte, was er tat. Zugegeben, Tetsurou fand es liebenswert. Es war auch eine Art, Zuneigung zu zeigen, nicht wahr?   Der Anpfiff des zweiten Satzes ließ seine Aufmerksamkeit zum Spiel zurückkehren. Man merkte beinahe augenblicklich, wie sich die Stimmung verändert hatte. Nekoma wirkten selbstbewusster als vorhin noch, bewegten sich noch gezielter, geplanter. Was auch immer genau Kenma sich ausgedacht hatte, es wurde schnell ersichtlich, dass es half. Sie bekamen weit mehr Schmetterbälle auf den Boden auf Itachiyamas Seite, auch wenn sie ihrerseits nicht wirklich mehr Bälle davon abhalten konnten, zu punkten. Aber es wurde deutlich besser. Ich wusste, du bist ein guter Captain. Dass Nekoma vorne lagen und als erste zwanzig Punkte erreichten, hatte wohl kaum jemand erwartet. Yaku war inzwischen wirklich heiser, aber das hinderte ihn nicht daran, das Team weiter so lautstark anzufeuern, wie seine Stimmbänder es zuließen. Wahrscheinlich war nach diesem Spiel die Hälfte des Nekoma-Zuschauerblocks heiser. Tetsurou für seinen Teil schonte lieber seine Stimme und sah schweigender zu, rief nur gelegentlich etwas hinunter, wenn es seiner Meinung nach wirklich nötig war. Schlussendlich reichte es. Der zweite Satz ging an Nekoma, wenn auch nur knapp. Aber sie hatten es geschafft.   „Mein Herz“, krächzte Yaku mit einem hilflosen Lachen. Sein Kopf war vornüber auf seine auf dem Geländer verschränkten Arme gesackt. Tetsurou lachte amüsiert, klopfte ihm auf den kleinen Rücken. „Frag mich mal. Ich ergraue hier vorzeitig bei so viel Stress!“ – „Macht dich auch nicht hässlicher.“ – „Hey!“ „…schaffen wir’s?“ Tetsurou seufzte tief. Er ließ die Hand müde auf Yakus Rücken liegen, solange der Pimpf nicht protestierte. Kenmas Strategie hatte funktioniert, aber je weiter der zweite Satz vorangeschritten war, desto mehr hatte man gemerkt, wie sich Erschöpfung einstellte. Nicht nur bei Nekoma, keine Frage, aber Itachiyama kamen noch weit besser damit aus. Nach den neuesten Entwicklungen stand der Ausgang des Matches schon fest. Er schüttelte vage den Kopf, klopfte noch einmal auf Yakus Rücken.   „Ich weiß es nicht.“     ***     Eine Niederlage wurde nicht leichter, nur weil sie absehbar war. Zumindest für Yuuki war es so, und er kämpfte immer noch mit den Tränen, die bis vor wenigen Minuten frei über sein Gesicht gekullert waren, als er schließlich draußen in der Eingangshalle stand, ihnen gegenüber ihre alten Senpai, die der Reihe weg – nicht enttäuscht aussahen. Sie lächelten, ein bisschen müde, aber stolz. „Ihr habt euch echt gut geschlagen gegen die Wiesel“, kommentierte Kuroo, wobei seine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Er kratzte sich am Hinterkopf. Seine Frisur stand so wirr zu Berge, dass Yuuki vermutete, dass es nicht das erste Mal war. „Und ihr habt doch noch eine Chance.“ Noch eine Chance. Yuuki schluckte hart. Die Vorrunden zur Frühlingsmeisterschaft würden kommen. Wenn sie noch etwas erreichen wollten in diesem Jahr, mit diesem Team, dann musste es dort sein. Es machte ihm Angst. Es hatte ihm schon im letzten Jahr Angst gemacht, und am Ende hatte er den Eindruck gehabt, dass sie bei allen Erfolgen einfach nicht weit genug gekommen waren, um ihren Senpai gerecht zu werden. Wie würde es dieses Jahr sein? Würden sie weit genug kommen? Konnten sie überhaupt weit genug kommen, um ihren Schulabschließern einen würdigen Abgang zu ermöglichen? Was war mit nächstem Jahr? Yuuki konnte sich gar nicht vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn die Zeit ihm so sehr im Nacken saß. Sie hatten nicht mehr endlos viele Chancen, etwas zu erreichen. Er sah, dass es Taketora belastete; er war auch immer noch kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Fukunaga war unlesbar, genau wie Kenma, aber trotzdem war es nur wahrscheinlich, dass sie sich beide auch ihre eigenen Gedanken zum Thema machten. Nächstes Jahr würden das Yuukis Gedanken sein. Und Sous. Und Levs. Es war so angsteinflößend, dass ihm übel wurde.   „Nächstes Mal werden wir besser abschneiden!“, versprach Lev großspurig. Er grinste. Vor ein paar Minuten hatte er nicht gegrinst. Yuuki fand es immer gruselig, wenn Lev nicht grinste, nicht fröhlich war, und er war froh, dass das Grinsen zurück war, auch wenn es schwach wirkte im Gegensatz zu sonst. Er hoffte, dass es sich wieder auf dem Weg der Besserung befand und nicht gleich erneut in sich zusammenstürzte. „Komm jetzt nicht wieder mit deiner Ass-Rede“, blaffte Yaku. Er klang so böse, dass Yuuki erschrocken zusammenzuckte – er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es nur daran lag, dass er heiser war. Die Erkenntnis zauberte ihm nun selbst ein flüchtiges Lächeln auf die Lippen. Es war beruhigend, zu wissen, dass sie ihre ehemaligen Teamkollegen immer noch hinter sich stehen hatten. „Aber Yaku-San! Genau darum geht es. Beim nächsten Mal bin ich das Ass, und dann werden wir gewinnen.“ Lev grinste, unbeirrbar. Das Gesprächsthema schien ihm zu helfen, seine gute Laune wieder zu finden. Und nicht nur ihm. „Du wirst kein Ass, solange ich noch hier bin, Bohnenstange!“, zeterte Taketora wie auf Kommando los. Sou lachte. Yuuki lachte, weil er so erleichtert war, und weil er so erleichtert war, fielen die Tränen einfach, die er bisher zurückgehalten hatte. So war es besser. „Wenn du Ass wirst, fress ich einen Besen!“ – „Yaku-San, das ist gemein von dir!“ Lev klang aber nicht so, als würde es ihn wirklich stören. Als Yuuki zu ihm aufsah, sah er, wie sich gerade ein zufriedenes Grinsen auf Levs Gesicht bildete, als sei ihm eine wunderbar gute Idee gekommen. „Yaku-San! Gehst du mit mir aus, wenn ich das Ass werde?!“ – „NEIN!“   Alle lachten über Levs bedröppeltes Gesicht. Es tat Yuuki zwar leid, aber er konnte selbst nicht  mit dem Kichern aufhören. Lev würde das schaffen. Er glaubte fest daran, dass Lev seine Chancen hatte. Sei das nun, Yakus Freund zu werden, oder Ass. Beides. Vielleicht nicht von heute auf morgen, aber es würde passieren! Yuuki würde ihm helfen, wo er konnte. Sou auch. Er sah seinen Freund grinsend an, bekam ein breites Grinsen zur Antwort. So abgelenkt bemerkte er gar nicht, wie Kenma vortrat, reagierte erst auf seinen Captain, als der sich leise räusperte.   „Ich höre auf.“     ***     Bokuto hörte und hörte das Plappern nicht auf. Tetsurou hatte Mühe, seiner Geschichte zu folgen, während er Fukuroudanis glorreiche Siege in den buntesten Farben neu erzählte. Nicht einmal den Sieg über Nohebi konnte er so recht würdigen, weil er in Gedanken meilenweit entfernt war. Eigentlich war die Ansage nicht unerwartet gekommen, trotzdem hatte sie Tetsurou getroffen wie einen Schlag ins Gesicht. Er hatte niemals wirklich damit gerechnet, dass Kenma so früh mit dem Volleyballspielen aufhören würde. Ein völlig unrealistischer Teil von ihm hatte sogar erwartet, dass Kenma nach der High School weitermachen würde, egal, auf welche Uni es ihn am Ende verschlug. Es war natürlich zur Diskussion geworden. Tetsurou hatte Kenma mit zur Seite genommen und mit ihm geredet, geredet, und noch mehr geredet. Und geredet. Zwischendurch hatte er den Eindruck gehabt, Kenma hörte ihm überhaupt nicht zu, schlicht, weil er sich längst entschieden hatte, dass es für ihn vorbei war. Letzten Endes hatte Tetsurou ihn hinter sich gelassen mit der Mahnung, dass Kenma es sich noch einmal überlegen solle, zumindest die Sommertrainingscamps abwarten sollte, bevor er irgendeine endgültige Entscheidung traf. Er hoffte, dass irgendetwas oder –jemand Kenma umstimmen konnte. Er ahnte, dass seine Hoffnung ziemlich vergebens war.   „Bro? Hey, du ignorierst mich!!!“ – „Was?“ Tetsurou sah mit einem verlegenen, schiefen Grinsen auf. Er lachte, kratzte sich am Hinterkopf. „Sorry, sorry~ Ich war grad damit beschäftigt, Akaashis Schönheit zu bewundern!“ Weder lachte Bokuto, noch verlor er sich in einer lauten Lobeshymne an seinen ehemaligen Zuspieler. Er sah Tetsurou nur stirnrunzelnd an, ehrlich besorgt. Es war ermüdend, dass Bokuto ausgerechnet dann unglaublich scharfsinnig wurde, wenn man es nicht gebrauchen konnte. „Was ist los?“ Mit einem Seufzen lehnte Tetsurou sich über das Geländer, um dem starrenden Eulenblick ausweichen zu können. Das Spiel, das gerade unter ihnen stattfand, nahm er kaum wahr. „Kenma sagt, er hört auf.“ – „WAS?!“ „Ja. Er war ja noch nie so der große Sportfan, aber irgendwie… bin ich trotzdem davon ausgegangen, dass er weitermacht bis zum Schluss.“ Er lachte kläglich auf, fühlte sich unglaublich dämlich mit der ganzen Sache. Konnte es ihm nicht egal sein? Es war Kenmas Leben! Aber es war Tetsurous (ehemaliges) Team, um das es hier ging, und so, wie er das sah, hatte gerade niemand außer Kenma die Kompetenzen, der Captain zu sein. Ganz unabhängig von allen anderen Argumenten, Kenma würde das Team gewissermaßen ans Messer liefern, wenn er wirklich schon aufhörte. Nekoma würde drastisch an Zusammenhalt verlieren. Nicht für immer, aber für den Rest des Jahres, und wer konnte schon abschätzen, wie die Langzeitfolgen davon aussehen würden? „Du musst ihn überzeugen, nicht aufzuhören!“ – „Hab ich versucht. Scheitert.“ – „Dann muss das jemand anders tun!!!“ Es gab niemanden. Tetsurou seufzte, schüttelte den Kopf. „Gibt’s nicht.“ „Der Chibi?“ „Kenma sagt, sie haben seit Wochen nicht mehr geschrieben.“ Es hatte zweifelsohne mit Karasunos Niederlage zu tun. Er wusste nicht, ob Kenma Hinata ignorierte, oder ob Hinata einfach nicht mehr schrieb, aus welchen Gründen auch immer. In jedem Fall herrschte Funkstille zwischen den beiden. Es war auch Tetsurous erster Gedanke gewesen. Hinata, warum auch immer, war unglaublich gut darin, den unbeweglichen Kenma zu bewegen. Aber das war eine völlig vergebene Hoffnung.   „Du solltest es dem Chibi trotzdem sagen.“ „Und das bringt was?“ „Na, dann kann er mit Kenma reden, wenn er will! Oder glaubst du, Kenma erzählt es ihm sowieso?“ Tetsurou glaubte es nicht. Er glaubte aber auch nicht, dass es noch einen Unterschied machte. Vielleicht war er auch einfach nur zu pessimistisch. Auf der anderen Seite war es eine Hoffnung, also… Versuchen.   „Warte kurz, ich schreib Sawamura, dass ich die Nummer vom Chibi brauche.“     ***     Das Halbfinale ging an Itachiyama. Es erstaunte Keiji nicht, dass sie verloren hatten. Es frustrierte ihn, ganz ohne Diskussion, aber es wunderte ihn nicht. Sie hatten noch nie gegen Itachiyama gewonnen, und wahrscheinlich würde es noch lange dauern – bis zum nächsten Jahr –, bis sie dieses Ziel erreichten. Trotzdem war er enttäuscht, genau, wie der Rest des Teams enttäuscht war. Es gab zwar keinen Bokuto unter ihnen, der in einen Emo-Modus verfallen konnte, aber die spindknallenden Aggressionsbewältigungen von Kurowa waren auch nicht wenig anstrengend. Minamishima war noch stiller als sonst. Shima seufzte in einer Tour. Immer wieder gesellte Onaga sich zu ihm, um ebenfalls schwer zu seufzen. Während man im Gegenzug dazu Marei überhaupt nicht ansah, was in ihm vorging, war Nishiame durchweg am Plappern und versuchte, irgendetwas positives an der Sache zu finden – sie hatten sich gut gehalten, sie hatten zumindest einen Satz gewonnen, sie hatten viel dabei gelernt, sie würden noch stärker werden bis zu ihrer nächsten Begegnung, sie konnten immer noch gewinnen. Er spulte es wieder und wieder unablässig ab wie eine CD, die einen Kratzer hatte. Zumindest solange, bis Kurowa wütend von der Bank aufsprang, auf der er gesessen hatte. „Halt endlich deine verdammte Schnauze, du zwangsoptimistischer Vollidiot! Mach die Augen auf! Niemand hier will dein Gewäsch hören!“ Keiji sah, wie einige Gesichter sich abwandten, irgendwo zwischen peinlich berührt und ertappt. Nishiame bekam den Wink mit dem Zaunpfahl; er war still für den Rest der Zeit, obwohl er aussah, als würde er sehr schwer daran knabbern.   Im Eingangsbereich der Sporthalle wartete Bokuto auf sie. Er hatte Kuroo im Schlepptau, wie eigentlich immer. Die Enttäuschung war so deutlich auf sein Gesicht geschrieben, dass es Keijis Herz krampfen ließ. „Bokuto-San.“ „Akaashi…“ Kein Emo-Modus. Noch nicht? Keiji konnte es gerade nicht abschätzen. Er hatte Bokuto noch nie so gesehen. So ehrlich, aufrichtig und kompromisslos enttäuscht. Er sah aus, als hätte man ihm etwas weggenommen, das ihm unglaublich wichtig war, ihm etwas anderes Großes dafür versprochen und am Ende überhaupt nichts abgeliefert. Verraten war ein passendes Wort dafür. Er sah verraten aus. „Wenn du was zu sagen hast, dann spuck’s aus“, zischte Kurowa eisig. Er trat vor, bis er sich vor Bokuto aufbauen konnte. Obwohl er bedeutend größer und breiter war, schaffte Bokuto es in diesem Moment, wie der kleinere von beiden auszusehen. Es war kein Anblick, an den Keiji sich gewöhnen wollte. Unwillig presste er die Lippen zusammen, machte sich dazu bereit, Kurowa zurückzuziehen, wenn es nötig wurde. „Ihr habt verloren.“ – „Bist nicht grade helle, huh? Das weiß ich selber!“ „Aber ihr habt so viel trainiert.“ Bokuto klang hilflos. Überfordert. Verwirrt. Langsam begann Keiji zu begreifen, und es machte überhaupt nichts besser. Er fing Kuroos Blick auf, der ein wenig hilflos die Schultern hob. Er sah aus, als wäre ihm die ganze Sache furchtbar unangenehm, und er sah aus, als hätte er obendrauf auch seine eigene Portion Sorgen.   „Und das ist ja so sehr ein Argument“, höhnte Kurowa frostig, „Glaubst du denn, die anderen Teams trainieren gar nicht?! Krieg dich wieder ein! Du hast kein Recht, auch nur einen Mucks zu sagen! Du hast’s doch selbst nie geschafft, gegen das Scheißteam zu gewinnen, du Versager!“ Es war genug. Keiji trat vor, packte Kurowa grob an der Schulter und zog ihn zurück. Der Junge funkelte ihn an, als wollte er ihn mit Blicken erdolchen, dann riss er sich grob aus Keijis Griff los. „Ihr seid doch genauso gestört wie der Typ“, spuckte er noch abfällig aus, ehe er davonstapfte. Nishiame rief ihm hilflos hinterher, aber nicht einmal er war gerade noch motiviert, ihm nachzulaufen. Keiji war der Unruhestifter völlig egal für den Moment. „Bokuto-San–“ Bokuto sah ihn an, immer noch verständnislos, immer noch verraten. Es war, als wäre alles, was Kurowa gesagt hatte, an ihm abgeprallt, weil eine andere Sache ihn viel mehr belastete. Er streckte die Hände aus. Keiji ergriff sie instinktiv.   „Akaashi, wieso hast du so viel trainiert, wenn es keinen Unterschied macht? Wir haben uns fast gar nicht mehr gesehen…!“   Für nichts. Keijis Mundwinkel zuckten. Er presste angestrengt die Lippen aufeinander. Es stimmte nicht. Das Team war stärker geworden. Bedeutend stärker. Aber Itachiyama waren schon immer auf einem deutlich höheren Level gewesen. In gewissem Maße waren Bokutos Unterstellungen unfair. Aber Keiji verstand sie. Er hatte all die Zeit trainiert, trainiert, und Bokuto versetzt, und das Resultat daraus war, dass sie keinen Schritt weiter als sonst gekommen waren. Es würde so weitergehen. Wochenenden voller Training, keine Zeit für spontane Treffen, und das, obwohl sie in der gleichen Stadt wohnten. Konnte er es denn deshalb ändern? Er konnte nicht kontrollieren, wie lange Yamiji seine Strafen durchzog. Er konnte nicht für das ganze Team bestimmen, was gut für sie war, nur weil er selbst Bedürfnisse hatte, die sich womöglich mit den Teaminteressen bissen. Und, was schlussendlich das wichtigste Argument von allen war: Bokuto würde enttäuscht sein, wenn er wirklich etwas änderte. Für Bokuto stand Volleyball über allem. Wenn Keiji den Sport schleifen ließ, und er es irgendwann realisierte, würde er bitter enttäuscht sein. Keiji wollte das nicht. Keiji wollte nicht, dass Bokuto ihn jemals ansah und feststellte, dass Keiji zu schlecht geworden war, um mit ihm mitzuhalten. Er wollte im nächsten Jahr wieder an Bokutos Seite spielen, Teil des Vereins werden, den Bokuto sich ausgesucht hatte, kaum, dass er die High School beendet hatte. Er konnte das nicht, wenn er jetzt nicht sein Bestes gab. Er würde Bokuto nicht einmal mehr ins Gesicht sehen können, wenn er es nicht tat. Er atmete langsam ein. Schloss für einen Moment die Augen. „Akaashi…?“ Als er wieder aufsah, lag eine Vorsicht in Bokutos Blick, die ihn glauben ließ, dass sein Freund ausnahmsweise einmal mehr verstand, als es Keiji lieb gewesen wäre. Er drückte die großen, rauen Hände, die seine eigenen hielten, kurz, ehe er sie Bokuto sanft, aber bestimmt entzog.   „Es tut mir Leid, Bokuto-San.“     ***     Nachdem sein Team abgezogen war, wollte Bokuto alleine sein. Tetsurou ließ ihm seinen Willen, vor allem, weil er das Gefühl hatte, gerade auch nur alles schlimmer machen zu können. Es war, als wäre der ganze, beschissene Tag verflucht. Erst Nekoma. Dann Fukuroudani. „Und was kommt als nächstes?“   Er hätte nicht fragen sollen. Er hätte einfach nicht fragen sollen, dann wäre er vielleicht nicht in ausgerechnet Daishou von allen Menschen hineingelaufen. Der Kerl sah ihn angewidert an, hob die Augenbrauen. Tetsurou ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Haben sie mit deinen Schlangen nicht schon vor ewig den Boden gewischt? Was machst du denn noch hier?“ – „Die Frage könnte ich zurückgeben…“ Er schüttelte den Kopf; er sah aus, wie Tetsurou sich fühlte – nicht glücklich. Auf eine seltsame Art fühlte Tetsurou sich ihm gerade abartig verbunden. Es war widerlich, und es war definitiv der einzige Grund, weshalb er völlig gedankenlos herausplatzte: „Willst du was trinken gehen?“ Daishou sah ihn an, als hätte er gerade verkündet, dass der Mars aus Tomatenmark bestand und der Mond aus Käse. Und Pluto war übrigens kein Zwergplanet, sondern nur ein Cartoonhund.   Die Einladung nahm er trotzdem an.   Zehn Minuten später saßen sie in einem Café unweit der Sporthalle. Daishou hatte irgendeine Form von Kaffee bestellt, während Tetsurou an einer klebrig süßen Cola nippte. Eigentlich mochte er die Pampe nicht besonders, aber gerade stand ihm der Sinn nach Zucker. Es war still. Er beobachtete, wie schlanke Finger den Löffel durch die Kaffeetasse rühren ließen, beobachtete die Ringe, die sich im warmen Licht des Ladens spiegelten. Jetzt, wo sie hier saßen, wusste er gar nicht, was er überhaupt sagen sollte. Es war nicht, als hätte er Daishou allzu viel zu sagen. Der ihm offensichtlich auch nicht, sonst würde er schließlich sprechen. Eigentlich war die Stille aber auch gar nicht übel. Nachdenklich griff Tetsurou nach seinem Handy, warf einen prüfenden Blick darauf. Er hatte es für die Zeit des Turnieres lautlos geschaltet, weil er nicht riskieren wollte, irgendjemanden damit zu belästigen. Er stellte die Lautstärke wieder hoch. Eine neue Nachricht hatte er nicht. Sawamura hatte ihm die Nummer vom Chibi tatsächlich gegeben, und Tetsurou hatte ihm eine sehr wortkarge Nachricht über Kenmas Ausstieg geschrieben. Er hatte keine Antwort bekommen. Er wusste nicht, ob der Winzling ihn eiskalt ignorierte, oder ob er die Nachricht noch nicht gelesen hatte. Als er wieder aufblickte, lag Daishous Blick in einer Art nichtssagender Resignation auf ihm. „Ich warte auf eine Nachricht“, erklärte Tetsurou patzig, ehe er das Handy weglegte und stattdessen nach seiner Cola griff. Als müsste er sich vor dem Kerl überhaupt rechtfertigen! Daishou verdrehte die Augen. „Ich weiß, ich weiß. Kozume ist dein Leben.“ – „Es geht nicht–“ Natürlich ging es um Kenma. Wieso versuchte er überhaupt, Daishou etwas anderes weiszumachen? Es war doch eh egal. Seufzend trank er einen Schluck des Süßgetränks, stellte das Glas dann zurück. Wischte über das Kondenswasser an der Außenseite.   „Er hat gesagt, dass er aufhört.“   Er wusste nicht, was er für eine Reaktion von seinem Gegenüber erwartete. Erst einmal reagierte Daishou gar nicht allerdings. Rührte in seinem Kaffee, als wäre das das Wichtigste der Welt, legte schließlich den Löffel penibel zur Seite. Sah erst dann wieder zu Tetsurou auf, die Augenbrauen hochgezogen. Unwillkürlich blieb Tetsurous Blick an den Piercings an Daishous Lippe hängen. Er sah, wie er den Mund zum Sprechen öffnete. „Und? Deshalb geht deine Welt unter? Lass den Jungen seine eigenen Entscheidungen treffen. Du bist nicht sein Babysitter.“ – „Ich bin sein Freund!“, protestierte er empört. Daishou schien das überhaupt nicht als Argument zu nehmen und zuckte nur mit den Schultern. Er sah gelangweilt aus, wie er das Kinn auf die Hand stützte. Als würde er Tetsurous inneren Tumult überhaupt nicht begreifen – oder unglaublich lächerlich finden. „Wirklich? Dann solltest du dich wie ein guter Freund benehmen, und ihn seinen Weg gehen lassen. Wieso willst du überhaupt, dass Kozume weitermacht?“ Tetsurou hob die Schultern, unsicher, was zu antworten. Es gehörte dazu. Für ihn gehörten Kenma und Volleyball zusammen, genauso, wie er und Kenma zusammengehörten. Es war Zeit ihrer Freundschaft etwas gewesen, das sie unfehlbar miteinander verband. Ein roter Faden. Eine Tradition. Eine Gemeinsamkeit in einem Leben der Unterschiede. Daishou seufzte, schüttelte den Kopf. „Du vergraulst auf kurz oder lang all deine Freunde, oder? Entweder zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit, aber du kennst kein Mittelmaß, Tetsurou.“ Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Daishou brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Weißt du, es ist mir egal. Vergraul Kozume, wenn es dich glücklich macht. Aber ganz ehrlich? Der Junge tut mir Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sich wohl damit fühlen kann, so von dir bemuttert zu werden. Du lässt ihn doch keinen Schritt alleine machen. Und wenn er kein Volleyball mehr spielen will. Ist das deine Sache? Ist das dein Leben? Hast du Angst, dass er keinen Bock mehr auf dich hat, sobald ihr keine gemeinsamen Interessen mehr habt? Bist du echt so arm, dass du glaubst, Freundschaft kann nur bestehen, wenn man irgendetwas Offensichtliches hat, das einen verbindet?“, er schnaubte, schüttelte den Kopf, „Sei kein Baby und werd endlich erwachsen. Kozume braucht keinen Babysitter. Finde dich schon mal mit dem Gedanken ab, dass er irgendwann jemanden findet, der ihm wichtiger ist als du.“   Tetsurou war sprachlos. Es war weniger deshalb, weil Daishous Worte tatsächlich in gewissem Maße dem Nagel auf den Kopf trafen, sondern vielmehr, weil er völlig fassungslos darüber war, dass der Kerl überhaupt so viel vernünftigen Menschenverstand hatte. Da war kein spöttelndes Schlangengrinsen, kein unterschwelliger Streit und Hass, stattdessen wirkte Daishou zur Abwechslung einmal… menschlich. Er konnte es nicht fassen. „Was zur Hölle ist mit dir passiert?“ Die Frage platzte aus ihm heraus, ehe er es hätte verhindern können. Daishou lächelte milde, freundlich, aber ohne jeden Funken Wärme. Es war ein grausames Lächeln. „Du wärest der letzte, dem ich davon erzähle, Tetsurou. Es interessiert dich doch am Ende überhaupt nicht.“ Er hatte eindeutig etwas Falsches gesagt. Daishou widmete sich seinem Kaffee, jeden empörten Protest komplett ignorierend. Er schwieg Tetsurou aus. Nach dem dritten Versuch, ein Gespräch zu beginnen, gab Tetsurou frustriert auf und ließ ihm sein Schweigen, bis ihre Getränke leer waren und sie nach dem Bezahlen – Tetsurou zahlte, immerhin war der Scheiß seine Idee gewesen – das Café verließen. Kaum draußen angekommen, machten sie sich daran, getrennte Wege zu gehen. „Danke für den Kaffee“, sagte Daishou beinahe sanft. Es klang oberflächlich; eine hohle Floskel. Tetsurou zuckte nur mit den Schultern, „Nichts zu danken“, erwiderte er genauso nichtssagend. Es war sein seltsam beklemmendes Gefühl, hier zu stehen und sich schlussendlich doch wieder nichts von Substanz zu sagen zu haben. „Man sieht sich.“ Zwangsweise, fügte Daishous kurzer Blick Tetsurous Worten hinzu. Er rückte die Tasche auf seiner Schulter zurecht, brachte Tetsurous Blick damit einmal mehr dazu, an den Ringen an seiner Hand hängen zu bleiben. Einen langen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. „Ich habe das übrigens ernst gemeint. Für die lächerliche Farce letztens schuldest du mir mindestens zwei Essen.“ Kapitel 12: ------------ Der Juli und das Ende der frühsommerlichen Regenzeit kamen mit einem ersten Wochenendtrainingscamp der Fukuroudani-Gruppe. Chikara staunte nicht schlecht, als er die Sporthalle in Begleitung seines Teams betrat und dort neben den üblichen Verdächtigen Nekoma und Fukuroudani auch Seijoh und Shiratorizawa erblickte. Dafür fehlte von Shinzen und Ubugawa jede Spur. „Hey, Karasuno!“ Es war Fukuroudanis Libero, der sie rief und lachend angelaufen kam. Er tauschte einen herzlichen Gruß mit Nishinoya aus, klopfte Tatsuo zur Begrüßung auf die Schulter, ehe er sich an Chikara wandte. „Überraschung! Wir haben umgeräumt. Shinzen und Ubugawa haben ihre Mitgliedschaft gekündigt, weil sie sich dieses Jahr auf ein paar andere Kontakte konzentrieren wollen. Darf ich präsentieren? Die neue Fukuroudani-Trainingsgruppe!“ Er deutete stolz grinsend in die Sporthalle, sah fröhlich in die Runde. Chikara war sprachlos – und er hatte keine Ahnung, wie er das finden sollte. Er hatte nichts gegen Shiratorizawa, aber womöglich hatte er aus nachvollziehbaren Gründen ein winziges Problem mit Seijoh. Zumindest mit einigen ihrer Spieler. Dass die jetzt ausgerechnet hier waren… Er warf einen unauffälligen Blick in Hinatas Richtung. Der kleine Rotschopf sah verbissen zu Boden. Seit ihrer Niederlage gegen Seijoh hatte Chikara kaum noch etwas von dem Zwerg gesehen. Es war recht bald klar geworden, dass Hinata nur noch für die Bank taugte. Kageyama weigerte sich strikt, mit ihm zu spielen, und so wenig Chikara grundlegend hinter so einer Einstellung stehen konnte, so wenig hatte er das Bedürfnis, Hinata in Schutz zu nehmen. Nishinoya versuchte es ein, zwei Mal, doch auch er gab recht bald auf, weil er gegen Kageyamas Sturkopf überhaupt nicht ankam. Es war ausgerechnet Tsukishima, der Kageyamas Entscheidung dann auch noch vehement bestärkte. Zwar hatte Chikara gewollt, dass die beiden sich zusammenrauften, aber das sicherlich nicht so. Schlussendlich hatte das alles dafür gesorgt, dass Hinata ziemlich bald aufgehört hatte, zum Training zu kommen, das für ihn ohnehin nur noch wenig Sinn machte, wo Kageyama seine ganze Existenz ignorierte. Vom Coach hatte Chikara gehört, dass der Junge mit dem ehemaligen Coach Ukai trainierte und dass er sein Training nicht schleifen ließ, sondern sich ganz im Gegenteil reinhängte wie ein Wahnsinniger. Es war der einzige Grund, weshalb er noch nicht mit ihm geredet hatte, ihm angedroht hatte, aus dem Club zu fliegen, wenn er nicht wieder zum Training kam. Es war offensichtlich, dass Hinata nicht aufgab. Chikara wusste nicht, was Hinata genau vorhatte, aber er vertraute darauf, dass der Junge irgendeinen Plan hatte, egal wie schlecht, wie er Kageyama wieder von seinem Nutzen überzeugen konnte. Auch wenn Narita kein schlechter Spieler war. Sie brauchten Hinata.   Aber schlussendlich lag es in dieser Situation allein an Hinata selbst, ob sie ihn wirklich noch einmal nutzen konnten oder nicht. Er hatte alles Vertrauen verspielt, er musste es sich jetzt alleine wieder verdienen.   „Iiiihr seht nicht begeistert aus“, kommentierte Nishiame mit hochgezogenen Augenbrauen besorgt. Sein Kopf lag schief – er sah mehr denn je wie ein kleiner Kauz aus. Chikara grinste schief, hob entschuldigend die Schultern, ein bisschen schuldbewusst, ein bisschen beunruhigt. Die ganze Hinata-Sache bereitete ihm Bauchschmerzen, und jetzt noch mehr Gelegenheiten zu haben, um es noch mehr ausarten zu sehen, war besorgniserregend. „Sorry. Wahrscheinlich ist die neue Aufstellung sogar richtig gut. Aber wir müssen noch warm mit den anderen Teams werden?“ Der kleine Libero nickte verstehend, dann grinste er schon wieder sein kleines Grinsen. Der unbeirrbare Optimismus tat gut, auch wenn Chikara sich nicht anstecken ließ. „Keine Sorge, das wird werden! Und wenn’s nicht warm genug wird ohne Hilfe, kommt zu mir, ich mache großartige heiße Schokolade!“ – „Aber bitte nicht im Sommer!“, rief Tanaka empört aus. Nishiame lachte nur, und auch Chikara konnte nicht anders, als leise aufzulachen. Die Vorstellung war tatsächlich nicht sehr appetitlich, aber wenn es half, Probleme zu lösen, würde er auch heiße Schokolade im Sommer trinken. Vielleicht würde er es drauf ankommen lassen.   Zumindest dem Wochenende aber wollte er die Chance geben, sich alleine zu entwickeln. Er half seinem Team nicht, wenn er es an die Hand nahm in Dingen, in denen sie kein Händchenhalten brauchten. Er musste darauf vertrauen, dass seine Jungs ihre Probleme auch alleine lösen konnten. So wie Daichi es getan hatte, als er das erste Mal mit Hinatas und Kageyamas Drama konfrontiert gewesen war. Oder Tsukishimas schwieriger Persönlichkeit. Oder all den anderen Dingen, in denen Daichi geschickt bewiesen hatte, was für ein gutes Gespür er dafür hatte, wann sein Team Führung brauchte und wann eigentlich nur Freiraum, um sich zu entwickeln.   Chikaras größte Angst war nur, dass er es genau falsch machte, weil ihm dieses Gespür doch fehlte.     ***     Shouyou war sicher, dass es seinetwegen war. Ennoshita verkündete vor dem Training, dass sie sich in zwei Teams aufteilen würden, damit sie alle Praxiserfahrung bekommen konnten. Zwar waren sie mit einer insgesamten Mannschaftsstärke von Zwölf eigentlich zu wenige für so eine Aktion, aber nachdem es nur ein Trainingscamp war und kein ernsthaftes Spiel, war ihnen erlaubt worden, dauerhaft mit Libero zu spielen, solange der in der Rotation nach vorne eben automatisch zum Außenangreifer wurde. Natürlich landete er in dem Team, in dem nicht Kageyama war. Oder Tsukishima. Oder… irgendjemand, mit dem Shouyou eigentlich spielte. Es war ein klares Signal, das sogar er verstand. Er gehörte zur Ersatzbank. Den ganzen Tag konnte er kaum an etwas anderes denken, so sehr er den Gedanken auch abzuschütteln versuchte – es ging nicht. Er blieb hängen, er lenkte Shouyou ab. Sorgte dafür, dass er Bälle nicht traf, die er im Training mit dem alten Coach Ukai inzwischen mühelos managen konnte, sorgte dafür, dass er Annahmen verpatzte, die er eigentlich im Schlaf können sollte. Zwischen allem anderen bemerkte Shouyou dabei vor allem eines – Kenma, dessen Blick er sonst immer wieder einmal aufgefangen hatte in den letzten Trainingscamps, hatte keinen einzigen Blick für ihn übrig. Es war fast so schlimm wie Kageyama. Vielleicht war es schlimmer. Shouyou wusste es selbst nicht. Mit der Erkenntnis kam aber noch eine andere Erinnerung wieder hoch – Kenma wollte aufhören. Shouyou hatte ihm, kaum, dass er es erfahren hatte, eine ewig lange Nachricht geschrieben, in der er versucht hatte, ihn davon abzuhalten. Kenma hatte nicht geantwortet. Er hatte angerufen. Kenma war nicht drangegangen. Jetzt waren sie hier, zusammen, und Kenma ignorierte ihn. Trotzdem war es einfacher so. Shouyou konnte immerhin mit ihm reden, selbst wenn er keine Antwort bekam! Und sicher sein, dass Kenma es auch mitbekam.   Kaum, dass das Training vorbei war, stolperte Shouyou aus der Sporthalle, rannte zu Nekomas Schlafraum, den er jetzt das zweite Jahr in Folge sogar fand, ohne sich zu verlaufen. Schlitternd kam er vor der Tür zum Stehen, riss sie schwungvoll auf und stolperte dann in den großen Raum hinein. Ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung, aber er ignorierte sie, seine ganze Aufmerksamkeit auf Kenma gerichtet. „Kenmaaaaaa!!!“ Er saß auf seinem Futon, spielte irgendein Spiel auf seiner Konsole. Sah nicht auf, als Shouyou eintrat und nach ihm rief. Unbeirrt davon stolperte er weiter, ließ sich vor Kenma auf die Knie fallen. Zumindest das musste er jetzt hinkriegen! „Kenma! Kenma, du kannst nicht aufhören!!!“ Kurz regte sich etwas. Kenmas Augenbrauen zogen sich zusammen, aber es war nur ein Bruchteil einer Sekunde, bevor sein Gesicht sich wieder glättete. Er sagte immer noch nichts. Shouyou verstand nicht einmal, was los war. „Kenma! Sprich mit mir! Du kannst nicht einfach so aufhören! Wir müssen doch noch ganz oft gegeneinander spielen!!!“ Ganz oft. Bis Kenma eingesehen hatte, dass Volleyball Spaß machte und woah war und es viel mehr war als einfach nur eine Freizeitbeschäftigung, weil man gerade nichts Besseres zu tun hatte! Jetzt sah Kenma auf. Nur ganz kurz. Seine Augen zuckten kaum lang genug zu Shouyous Gesicht hoch, dass er die Bewegung registrieren konnte, aber es war zweifelsohne da gewesen.   „Du spielst doch gar nicht mehr.“   „Kenma–“ Shouyou öffnete hilflos den Mund. Schloss ihn wieder. Öffnete ihn. Schloss ihn. Schüttelte dann entschlossen den Kopf. „Das stimmt nicht!“, rief er aus, „Ich werde spielen! Kageyama ist super wütend auf mich und er ist es zu Recht, aber ich werde ihm beweisen, dass ich es immer noch wert bin, dass er mir zuspielt!“ Keine Reaktion. Glaubte Kenma ihm nicht? Shouyous Magen krampfte. Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, dass er gerade auf der Toilette besser aufgehoben war, dann schob er ihn aber rigoros beiseite, so gut es ging. Seinem Magen half es zwar nicht, aber es gab gerade eben wichtigeres! Verzweifelt sah er in das Gesicht seines Freundes, suchte nach Anzeichen für irgendetwas, aber er fand nichts. „Warum habt ihr verloren?“ Er musste nicht einmal nachfragen, was Kenma meinte. Shouyou schluckte, senkte den Blick. Er spürte, wie Schamesröte ihm die Wangen hinaufkroch. Übelkeit seine Zunge lähmte, genauso wie die Scham. Nur zögernd kamen die Worte über seine Lippen, und er unterbrach mehrmals, weil die Geschichte ihm einfach peinlich war. Er hatte immer noch Angst vor dem Kerl, und das würde sich nicht so einfach ändern – und das aus gutem Grund! –, aber er schämte sich trotzdem viel zu sehr, dass er damit alles ruiniert hatte. Seinetwegen hatten sie verloren. Hatten nicht noch mehr Spiele bestreiten können. Er hatte seinen eigenen Traum ruiniert. Kenma sah ihn an, als er fertig war. Ungläubig. Fassungslos. Shouyou hatte noch nie so viel Emotion auf seinem Gesicht gesehen, und mit einem schmerzlichen Stich wurde ihm bewusst, dass das genau das Gegenteil von dem war, das er eigentlich hatte erreichen wollen. Er wollte Freude und Aufregung bei Kenma sehen! Nicht… sowas. Er war beinahe dankbar, dass Kenma den Blick nicht lange aufrecht hielt, sondern ihn mit einem Kopfschütteln schnell wieder senkte. „Du bist ein Feigling, Shouyou.“ Es tat weh, das zu hören. Er ballte die Hände zu Fäusten, hielt den Blick entschlossen auf sein Gegenüber gerichtet. „Ich weiß. Aber es wird nicht wieder passieren!“ – „Es wird wieder passieren“, widersprach Kenma, „Und das weißt du genauso gut wie ich. Du redest dir das doch nur schön. Was passiert das nächste Mal, dass du gegen den Typen spielen sollst? Doch das Gleiche. Ich würde auch nicht mehr mit dir spielen wollen, ich verstehe Kageyama.“   „Er wird wieder zu mir spielen!“, rief Shouyou verzweifelt aus, mehr aus Reflex als alles andere – in seinem Kopf hallten Kenmas Worte wider, während er gegen Wut und Frustration und Enttäuschung und tausend andere Gefühle ankämpfen musste, die es unmöglich machten, noch klar zu denken. Er wusste nicht, wie er es bewerkstelligen sollte, Kageyama zu überzeugen. Er wusste auch nicht, wie er seine Angst vor dem Narbengesicht überwinden sollte. Insgeheim wusste er nicht einmal, ob er das wollte. Aber er würde es erreichen. Er musste es erreichen, denn er wollte auf dem Spielfeld stehen, er wollte Bälle schmettern und Punkte machen, und er wollte, dass Kenma wieder mit ihm trainierte, und seien es nur fünf Würfe lang! Kurzentschlossen packte er nach Kenmas Händen, hielt sie fest samt der Konsole, die in ihnen ruhte. Er spürte, wie sie zurückzuckten und sich verspannten, sah für einen kurzen Augenblick in Kenmas aufgerissene Augen, bevor der Blick des Anderen sich wieder senkte. Er ließ nicht los.   „Und wenn Kageyama wieder zu mir spielt, dann wirst du bleiben! Ich habe mein Versprechen noch nicht eingelöst!“   Viel zu lange regte Kenma sich nicht. Verunsichert davon ließ Shouyou doch wieder von ihm ab, ließ die Hände senken, sah ihn hilflos an, abwartend. Die Anspannung aus seinen Schultern wich, und dann, ganz langsam, hob er den Kopf.  Seinen Augen waren geweitet, als er Shouyou unverwandt ansah, reglos, und er hatte keine Ahnung, was der Blick bedeuten sollte. Er sah nur, dass er viel intensiver war als alles, was er von Kenma kannte und es jagte ihm einen unruhigen, hoffnungsvollen Schauer über den Rücken. Kenma sagte nur ein Wort, aber für Shouyou war es die Welt:   „Okay.“     ***     Ihre neue Basis wurde Sporthalle zwei, nachdem dort niemand mehr trainierte. Eigentlich hätten sie im Schlafraum bleiben können, das war Yuuki auch bewusst, aber andererseits wollten sie nicht unbedingt private Themen besprechen, während eines ihrer Teams dabei so problemlos zuhören konnte. Also saßen sie stattdessen in der Sporthalle, hatten sich eine der dicken, schweren Matten geholt, die für Hochsprung und sonstige Aktionen gedacht waren, und hatten sich daraufgelümmelt. „Er hat dich also wieder abblitzen lassen“, fasste Takuya zusammen, was sie gerade zu dritt geschildert hatten: Ihren letzten Zusammenstoß mit Yaku bei den Vorrunden. Sie hatten insgesamt über die Vorrunden berichtet, aber nachdem alles andere im Grunde einfach vergangen und damit auch beendet war, stürzte Takuya sich natürlich auf das eine Thema, das gerade wirklich noch von Relevanz war. Und es war auch weniger deprimierend als ihre Niederlage, schlussendlich. Er seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat er dir nen Grund gesagt?“ Lev schüttelte den Kopf. Er grinste sein typisches Lev-Grinsen. Yuuki ahnte schon, dass das, was er jetzt sagen würde, nicht unbedingt hilfreich sein würde. „Nein. Aber er war auch sehr heiser. Wahrscheinlich hätte ich ihn nichtmal verstanden.“ „Hmmm…“, machte Takuya zur Antwort. Er sah nachdenklich in die Runde, dann zu Lev hinüber, den er von oben bis unten musterte, ehe er nickte. „Ehrlich. Ich bin immer noch dafür, dass die Frisur Schuld ist.“ Eigentlich waren sie sich längst darin einig gewesen, dass Lev vorteilhaftere Haarschnitte haben könnte, und sie waren sich auch einig darin gewesen, dass es Zeit für einen Frisörbesuch war, aber irgendwie hatten sie das bisher noch nicht weiter verfolgt. Jetzt sah Lev das erste Mal so aus, als würde er es wirklich in Erwägung ziehen, auch wenn daraus eine neue Diskussion entbrannte: Die Frage danach, was für eine Frisur es denn eigentlich werden sollte, denn die hatten sie beim letzten Mal einfach noch nicht geklärt. Wirklich sinnvoll war es womöglich nicht wie sie es angingen, aber trotzdem grinste Yuuki nur amüsiert. Er warf Sou einen Blick zu, den der mit einem herzlichen Grinsen beantwortete, ehe er unbekümmert die Schultern zuckte – lass die beiden halt diskutieren, wenn es sie glücklich macht.   Yuuki ließ sie diskutieren. Eine halbe Stunde, zumindest laut der Sporthallenuhr, diskutierten sie darüber, was im Rahmen des Möglichen war und was nicht – Färben war ein No-Go! –, und natürlich darüber, ob und wie sehr die neue Frisur Einfluss nehmen würde auf Yakus Entscheidung. Während Takuya ganz überzeugt war, dass Yaku sich davon umhauen lassen würde, war Lev nur mäßig überzeugt, aber am Ende machten sie dennoch einen Tag aus, um zum Frisör zu gehen.   „Sollten wir nicht trotzdem noch überlegen, was es sonst sein könnte?“, unterbrach Sou die große Planung schließlich, als die Diskussion sich ihrem Ende zuneigte und absehbar wurde, dass da nichts neues mehr passierte. Lev und Takuya tauschten einen kurzen Blick. „Und was?“, hakte Lev mit hochgezogenen Augenbrauen nach, „Ihr wolltet ja nicht, dass Yaku-San sich Plateauschuhe gegen die Größensache kauft.“ – „Weil das nicht funktionieren wird.“ Yuuki grinste hilflos. Allein die Vorstellung war schmerzhaft! Wollte er nicht erleben, nein. Und Lev wollte das auch nicht, da war er sich sicher. Mit einem nachdenklichen Seufzen lehnte er sich vor, stützte die Hände zwischen den lose verschränkten Beinen auf. „Aber na ja. Ich hab mal überlegt. Wie wäre es denn, wenn du dir ein bisschen Hilfe bei Yaku-Sans Freunden holst? Mal in Erfahrung bringst, was er mag, was er nicht mag, oder was große Fettnäpfchen sind, die du vermeiden solltest.“ – „Außer seiner Größe“, fügte Sou grinsend hinzu. Yuuki stieß ihm mahnend in die Rippen, aber sein Freund lachte nur herzlich auf. Lev sah eher ratlos zu ihnen hinüber. „Wen soll ich fragen?“ „Kai-San“, erklärte Sou sofort, „Oder Kuroo-San. Die beiden kennen Yaku-San immerhin am besten! Vielleicht auch Kenma-San, aber ich glaube nicht, dass der so motiviert wäre, sich damit auseinanderzusetzen. Geht ja nicht mal darum, dass die dir irgendwelche Patentrezepte geben müssen, aber es hilft doch, wenn du weißt, wohin du Yaku-San zu einem Date einladen kannst, damit es möglichst attraktiv für ihn ist, oder?“   Lev rieb sich nachdenklich über das Kinn. Ganz überzeugt sah er nicht aus. „Ich glaube ja, dass ich das auch alleine schaffe“, erklärte er großspurig, „Aber ich kann es natürlich mal versuchen. Es schadet ja nicht. Wenn es sonst nicht klappt eben. Aber das löst ja alles das Größenproblem auch nicht.“ Yuuki seufzte. Eigentlich hatten sie sich ja schon geeinigt, das Größenproblem genau deshalb zu ignorieren, aber natürlich kam es wieder. War ja auch das größte Problem, zumindest vermutete er das recht sicher. Er verzog nachdenklich das Gesicht – er war genauso klein wie Yaku, aber er nahm es nicht so empfindlich. Manchmal nervte es zwar, aber die meiste Zeit…? „Ich hätte keine Probleme mit einem Partner, der viel größer ist als ich“, sagte er achselzuckend, verlegen. Er grinste, kratzte sich errötend an der Wange, „Ich meine, es kommt ja auf die Persönlichkeit an, ne? Und das hat ja auch Vorteile! Ist mir lieber, als immer auf nen Stuhl zu steigen, um oben an die Schränke ranzukommen. Aber Yaku-San sieht das ja anders. Und zugegeben, manchmal ist es schon unbequem, so sehr aufsehen zu müssen.“ – „Oder runter!“, unterbrach Sou lachend, „Davon kriegt man auch echt Nackenschmerzen! Wenn ich mir vorstelle, Yuuki und ich würden knutschen oder so, dann wäre das auf Dauer voll die Qual.“ Lev sah neugierig-interessiert zwischen ihnen hin und her, während Yuuki krampfhaft versuchte, nicht darüber nachzudenken. Falsches Thema! „Und wie würdet ihr das lösen?“ Yuuki blinzelte. Er wollte es sich eigentlich wirklich nicht vorstellen! Sou zu küssen. Lev zuliebe tat er es trotzdem. Der Gedanke trieb ihm Hitze ins Gesicht; bald sah er sicherlich aus wie eine Tomate. Das war so peinlich! Aber wie wäre es denn? Sou war viel größer als er. Er würde sich auf Zehenspitzen stellen müssen, um das ein bisschen auszugleichen, und selbst dann war es womöglich noch unbequem. Sou auf der anderen Seite musste sich sicher auch trotzdem noch weit herunterbeugen, was auch unbequem war. Er hatte Mühe, nicht darüber nachzudenken, wie es sich anfühlen würde. Sous Lippen sahen immer ein bisschen spröde aus. Spürte man das? Er schüttelte den Kopf, konzentrierte sich auf das Problem vor ihrer Nase. Größenunterschied. Wie konnte man das ausgleichen? Ein Tritthocker? Half da auch nicht wirklich, nicht, wenn man noch halbwegs spontan dabei bleiben wollte. Und das würde selbst Yuuki entwürdigend finden. Yaku würde es hassen. Einfach hochspringen ging auch nicht. „Das ist einfach“, unterbrach Sou seine Gedanken. Grinsend. Unbekümmert. So vollkommen locker, als wäre das eine Sache, über die man gar nicht nachdenken musste. Er stand von der Matte auf und bedeutete Yuuki, es ihm gleichzutun. Er gehorchte, stellte sich vor seinen Freund und sah zu ihm auf. Es war wirklich unbequem, und das lag nicht nur daran, wie heiß sein Gesicht immer noch war. Probehalber stellte er sich wirklich mal auf Zehenspitzen. Viel zu klein, immer noch. Sou grinste, beugte sich zu ihm hinunter. Er wollte aber nicht–? Wollte er nicht. Sous Gesicht blieb auf Entfernung, dafür schlangen sich seine Arme um Yuukis Hüften. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Yuuki gab ein erschrockenes Kieksen von sich, schlang reflexartig die Arme um Sous Hals. Er blinzelte, als er realisierte, dass er tatsächlich auf einer Augenhöhe mit ihm war und so direkt in Sous lachendes Gesicht sehen konnte. Ohne Nackenschmerzen. Die braunen Augen seines Freundes blitzten voll liebevollem Übermut, und weil Sous Grinsen schon immer ansteckend gewesen war für Yuuki, grinste er im nächsten Moment auch, alles rote Gesicht und alles Herzrasen vergessen.   „Ich würde ihn hochheben.“     ***     „Akaashiiiiiiiiiii…!!! Ich kann auch vorbeikommen!!!“   Keiji stieß in einem resignierten Seufzen die Luft aus. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Minamishimas und Nishiames Blicke in seine Richtung zuckten; ersterer relativ nichtssagend, während er einer kleinen Gruppe Erstklässler dabei half, ihr Schlafzeug auszurollen, zweiterer sah sichtbar besorgt aus. Er hob nur vage die Schultern zur Antwort, ehe er seine Aufmerksamkeit zurück auf sein Handy wendete. „Du weißt, dass das nicht geht, Bokuto-San“, erinnerte er ihn nicht zum ersten Mal. Das war einer dieser Sätze, die er schon viel zu oft gesagt hatte. „Aber Akaashi, ich hab Zeit!!!“ „Bokuto-San, Fremden ist das Betreten des Schulgeländes nur mit ausdrücklicher Erlaubnis gestattet.“ Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Keiji wusste ohne Zweifel, was gerade in Bokutos Kopf vor sich ging – er hatte auch nach bald drei Monaten noch nicht so ganz begriffen, dass er kein Schüler mehr war und entsprechend keinen Platz an einer High School mehr hatte. „Aber ich bin doch kein–“ – „Du bist kein Schüler mehr. Musst du nicht außerdem lernen?“ Schweigen. Unzufriedenes Brummeln, dann hörte er, wie Bokuto ganz besonders leidend ausseufzte. „Akaashi will mich gar nicht mehr sehen!!!“   „Natürlich will ich dich sehen.“   Mehr, als Keiji in Worte fassen wollte. Es war schlicht nicht möglich, dass sie sich so oft sahen, wie sie es gerne hätten. Mit dem hohen Trainingspensum, das sie immer noch hatten, hatte Keijis Freizeit sich drastisch minimiert. Und auch, wenn er schon seit einer Weile alle Universitätspläne aufgegeben hatte, konnte er es sich nicht leisten, dass seine Noten in den Keller sackten, also fraß das Lernen zusätzlich Zeit. „Akaashi, aber du hast nie Zeit! Wenn du mich sehen wollen würdest, hättest du Zeit!“ Es war überhaupt kein Argument, folgte keiner Logik, und genau deshalb konnte Keiji es nicht einmal entkräften. Wie auch? Bokuto hatte ein ganz anderes Weltverständnis. Für Bokuto war es so simpel – er machte sich die Zeit, selbst wenn er sie nicht hatte. Manchmal war es geradezu beneidenswert. „Nächstes Wochenende habe ich Zeit.“ Dass das kein Trost war, wusste er, schon bevor Bokuto losplärrte – das dauerte viel zu lange, es war ja noch so weit hin bis zum nächsten Wochenende, und außerdem wollte er Keiji doch jetzt sehen und nicht in einer Woche. Bokuto war beleidigt, und vermutlich war er es nicht einmal wirklich zu Unrecht, aber Keiji schaffte es trotzdem nicht, Mitleid mit ihm zu haben. „Bokuto-San.“ – „Akaashiiii!!!“ „Ich muss auflegen. Ich habe noch zu tun.“ – „Aber das Training ist doch schon vorbei!!!“ – „Wir müssen gleich zum Abendessen.“ – „…“ Wieder ein Seufzen. Schwer und todtraurig. „Akaashi mag mich nicht mehr… Aber ich versteh schon. Geh ruhig. Es gibt eben wichtigeres für dich.“ „Bokuto-San–“   Aufgelegt.   Müde ließ er das Handy sinken, schloss für einen Moment die Augen. Eine Hand landete auf seiner Schulter, drückte sie aufmunternd, kurz darauf saß Minamishima neben ihm. Er war nicht der einzige – Nishiame hockte einen Augenblick später ebenfalls auf Keijis Futon und grinste sanft.  „Ist Bokupon wieder dramatisch?“ Keiji konnte sich die Antwort sparen. Nishiame lachte leise, halb mitleidig, halb amüsiert. „Der fängt sich. Er wird lernen müssen, dass nicht alles nach seiner Nase geht, das ist schon ganz gut so! Ihr seid doch auch nicht aus der Welt, und nächstes Woche ist bald genug für ein Wiedersehen!“ Objektiv betrachtet stimmte es. Subjektiv wusste Keiji aber, dass Bokuto jetzt trotzdem unnötig beleidigt sein würde und sich in Dinge hineinsteigerte, in die er sich nicht hineinsteigern sollte. Bisher war es noch kein Problem gewesen, aber das Schuljahr war auch noch jung. Wer wusste schon, auf was für Ideen ein vernachlässigter Bokuto kommen würde? Nicht einmal Keiji war sich sicher, was er zu erwarten hatte; er hatte zwei Jahre an Bokutos Seite verbracht, war es selbst nicht wirklich gewöhnt, von ihm getrennt zu sein – auch wenn er es deutlich besser verkraftete. Eigentlich war es noch die harmlosere Variante, wenn Bokuto bald ungefragt vor dem Schultor stand. „Wieso kümmert euch dieser Kindergarten eigentlich?“ Kurowas Stimme klang beinahe angewidert. Sein Gesicht sah auch nicht freundlicher aus. Keijis Blick wurde eisig, als er zu dem Erstklässler hinübersah, dessen Einmischung er gerade wirklich nicht brauchte. „Der Kerl ist ne Witzfigur. Wieso tanzt hier immer noch jeder nach seiner Pfeife?“ „Kurorin, hör auf! Gib ihm eine Chance und lern ihn richtig kennen, ehe du solche Dinge sagst!“ „Denkst du nicht, ich hab genug gesehen und gehört?“, gab er trocken zurück, abfällig, kein bisschen beeindruckt von der empörten Strenge des Liberos. Er ging vor Nishiame in die Hocke und sah ihn ohne jede Gefühlsregung herablassend an. „Er ist launisch, aufdringlich, anstrengend, dumm wie Brot und unfähig, irgendetwas alleine hinzukriegen. Oh klar, ich hab gesehen, dass er extrem gute Schmetterbälle drauf hat, aber ernsthaft? Für die fünf Punkte, die er gerissen kriegt, wenn er mal gerade nicht lächerliches Theater veranstaltet, müsst ihr ihm so hinterherkriechen?“ Er lachte trocken, boshaft. Keiji biss die Zähne zusammen, während er spürte, wie Minamishimas Hand auf seiner Schulter fester zudrückte, als wollte sie ihn davon abhalten, eine Dummheit zu begehen. Wenn er ehrlich war, dann wollte Keiji nicht davon abgehalten werden. Er hatte gerade wirklich keine Geduld für solche Dinge übrig.   „Das ganze Team sollte froh sein, dass dieser nutzlose Typ weg ist.“   Es passierte, noch bevor Keiji recht darüber nachgedacht hätte – seine Hand kollidierte mit einem lauten Klatschen mit Kurowas Wange, hinterließ einen tiefroten Abdruck und geschockte Gesichter im ganzen Raum. Für einen ewig langen Moment war es so still, dass Keiji das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Er spürte Minamishimas Hand, die inzwischen schmerzhaft fest zudrückte, sah Nishiames entgeistertes Gesicht, während er von Kurowa zu Keiji und wieder zurück blickte, als wäre er nicht ganz fähig, zu begreifen, was hier passiert war. „Akapon…“ Kurowas Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze. Er machte den Mund auf, zweifelsohne, um noch mehr Gemeinheiten loszuwerden, doch ehe er irgendetwas hervorbekam, wurde er von Nishiame unterbrochen. „Genug. Das hast du dir gefragt, Kurorin! Geh raus und deinen Kopf abkühlen. Und dann sagst du nie wieder solche Dinge, hast du das verstanden?! Du kannst deine bescheidene Meinung haben, schön, aber glaub nicht, dass du bestimmen kannst, was das Team tun sollte oder nicht! Hier teilt niemand deine Meinung, also versuch es gar nicht erst.“ Der kleine Libero bebte geradezu vor Empörung. Er sah aus, als würde ihm selbst beim nächsten falschen Ton die Hand ausrutschen. Etwas, das nicht nur Keiji bemerkte, sondern auch Minamishima, dessen zweite Hand inzwischen vorsorglich auf Nishiames Schulter lag. Alles war still. Nur nebenbei nahm Keiji den Rest des Teams wahr, der schweigend im Raum verteilt saß, beobachtend, vorsichtig. Vermutlich ernsthaft geschockt, denn kaum einer von ihnen dürfte damit gerechnet haben, dass so etwas passieren konnte. Selbst Shima war still. Obwohl er nichts getan hatte, sah er schuldbewusst aus wie ein gescholtenes Kleinkind. Wenn Nishiame einmal wütend wurde, hatte er diesen Effekt. Kurowa erhob sich plötzlich, immer noch pure Ablehnung im Blick. „Ihr seid doch alle bescheuert“, spuckte er wütend aus, ehe er sich umwandte und aus dem Raum stapfte. Erst, als die Tür hinter ihm zuknallte, entspannte sich die schwere Stimmung wieder ein bisschen. Mit einem lauten, erleichterten Seufzen ließ Nishiame sich rücklings zurückfallen, bis er halb auf dem Boden, halb auf dem Futon ausgestreckt dalag. Es war ungewöhnlich, ihn ohne ein Grinsen im Gesicht zu sehen. Stattdessen sah er unglaublich bedrückt aus. Minamishimas Hand streckte sich nach ihm aus, er stupste ihm sanft gegen die Stirn. „Er wird es lernen.“ „Jaaah“, lachte Nishiame kläglich, „Hoffentlich. Er ist kein schlechter Spieler, aber die Persönlichkeit…“ Minamishimas Finger klopften noch einmal sanft auf seine Stirn, ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Müde, klein, aber zuversichtlich.   „Er hat auch gute Seiten, irgendwo.“ – „Wetten, wir finden sie nicht?“ – „Wetten doch?“     ***     Das Trainingscamp war eine Katastrophe gewesen. Nicht einmal nur, weil er nur auf der Ersatzbank hatte sitzen können, sondern vor allem, weil Shouyou das Gefühl hatte, dass es einfach immer schlimmer wurde. Das Narbengesicht sehen zu müssen, machte es auch nicht besser, und natürlich ging er dem Kerl aus dem Weg! – Es schien Kageyama noch mehr anzupissen. Es pisste Shouyou auch an, aber er fand nicht den Mut, sich dem Kerl entgegenzustellen. Er wollte nicht im Waschbecken eines öffentlichen Klos enden! Also. Seine Überreste. Es waren Gedanken, denen er zu sehr nachhing. Er merkte es selbst! Eigentlich war er besser, aber jetzt war da schon der zweite Ball hintereinander, den er einfach nicht erwischte. Frustriert sah er zu, wie der Volleyball über den Boden rollte und schließlich bequem zum Stehen kam, völlig unberührt von ihm. Er verkniff sich ein Seufzen, murmelte eine leise Entschuldigung und lief los, um den Ball einzusammeln. Konzentrier dich! „He, Winzling.“ Die Stimme des alten Ukai ließ ihn innehalten, gerade, als er den Ball vom Boden auflas. Langsam richtete Shouyou sich wieder auf und drehte sich um. Der alte Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn streng. Ohne ein weiteres Wort signalisierte er Shouyou, mitzukommen, und Shouyou folgte nach einem kurzen Ruf an die Frauen, mit denen er trainiert hatte. Er spürte ihre Blicke im Rücken, hörte ihr Tuscheln. Es war nicht angenehm, aber er konnte es ihnen kaum verübeln, dass sie über ihn redeten. Machte sein schlechtes Gewissen aber nur noch größer. Ukai führte ihn bis zu einer kleinen Sitzgruppe auf der Veranda des Hauses, wo er sich ächzend auf einem Stuhl niederließ. „Setz dich.“ Shouyou gehorchte. Er schluckte nervös, drückte den Volleyball an sich, als könne er sich daran festhalten. Er hatte keine Ahnung, was jetzt auf ihn zukommen würde, aber er wollte es eigentlich auch nicht wissen. Es war eine Neuheit, dass Ukai ihn wegen irgendetwas zur Seite nahm, statt ihn direkt an Ort und Stelle zu maßregeln, wenn es denn nötig war. Immer wieder huschte Shouyous Blick zu seinem Gesprächspartner hinüber, doch Ukai blieb still, entspannt ausgestreckt auf seinem Stuhl, den Blick hinaus in den klaren Sommerhimmel gerichtet.   „Eigentlich habe ich mir vorgenommen, nicht nachzufragen“, begann er schließlich. Shouyous Magen krampfte. Er senkte den Blick, als könnte er damit verbergen, wie ertappt er sich fühlte – es war überflüssig, denn der Alte sah ihn immer noch nicht an. „Ich hab’s auch Keishin gesagt – ich will gar nichts hören. Ist dein Ding, was du für Probleme hast, und solange du dran arbeitest, ist’s noch weniger meine Sache. Aber das da eben? Ich glaube, es wird Zeit, dass ich doch mal nachhake.“ Er lehnte sich vor, legte seine knochigen Hände und Unterarme auf dem Tisch ab, die langen Finger miteinander verschränkt. Shouyou fixierte den Blick auf die faltigen Fingerknöchel. „Was ist los, Junge?“ Shouyous Schultern sackten ab. Hilfesuchend sah er hinaus, doch außerhalb der Terrasse fand er nichts als blauen Himmel und Gesträuch, das ihm auch nicht bei seinem Kummer half. Er wollte nicht darüber reden. Bisher hatte niemand Verständnis für ihn gehabt, und auch wenn Shouyou das auf einer rationalen Ebene verstand, konnte er ganz und gar nicht rational einfach nicht damit arbeiten. Das Narbengesicht machte ihm einfach Angst! Wer würde auch keine Angst vor der Yakuza haben?! Als er zurück zu Ukai sah, lag dessen aufmerksamer Blick ruhig und abwartend auf ihm. Shouyou holte tief Luft. „Also…“ Und dann begann er zu erzählen. Erzählte, alles, angefangen von Grinsebackes Erzählung über seinen Zusammenstoß im Bad mit Narbengesicht, über das verlorene Spiel, bis hin zu all dem Ärger, den er seitdem bekommen hatte, weil er einfach völlig verkackt hatte. Ukai hörte ihm schweigend zu, unterbrach seine zögerliche Erzählung kein einziges Mal für irgendeinen Kommentar, und je länger Shouyou erzählte, desto mehr schöpfte er Hoffnung, dass er hier auf ein gewisses Maß an Verständnis stoßen würde. Als er schließlich fertig war, stieß Ukai langsam seufzend die Luft aus.   „Dein Team hat Recht“, erklärte er schließlich. Shouyous Herz krampfte unglücklich und er senkte den Blick. Ein bisschen war er enttäuscht, doch er konnte selbst nicht sagen, ob von Ukai, oder am Ende von sich selbst. „Dir sollte selbst bewusst sein, dass du dich wie ein Idiot verhalten hast. Solange du auf dem Volleyballfeld stehst, gibt es auch nur das Volleyballfeld, merk dir das. Was außerhalb ist? Ist außerhalb, das kann dir völlig egal sein!“ – „Aber–!“ Ukai schnaubte. „Und ehrlich. Yakuza? Glaubst du denn jedes Gerücht, solange dein Gegenüber einschüchternd genug aussieht?“ Gerade sah Shouyous Gegenüber auch sehr einschüchternd aus! Er schluckte nervös, schüttelte ängstlich den Kopf, ohne sich selbst allzu glaubhaft zu finden. „N-nein, nur… er ist wirklich gruselig!“ – „Hast du das nicht auch einmal über Kageyama gesagt?“ Kageyama war immer noch gruselig. Shouyou war schon kurz davor, entsprechendes zu bemerken, als er doch noch einmal innehielt. Kageyama war gruselig, aber schlussendlich auf eine ganz andere Art, als Shouyou zuerst geglaubt hatte. Was ursprünglich ein bösartiger Tyrann gewesen war, hatte sich als ziemlich normaler, volleyballvernarrter Junge herausgestellt. Gut. Er hatte ein leichtes Aggressionsproblem. Und er hatte ein gruseliges Gesicht und war unfähig, nett zu gucken. Aber die meiste Zeit war Kageyama sogar ein richtig erträglicher Typ, und Shouyou, wenn er ehrlich zu sich selbst war, mochte ihn. Er mochte Kageyama. Seinen Zuspieler. Immer beschämter starrte er auf den Tisch vor sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Narbengesicht irgendwie eine ähnlich positive Position haben könnte, aber in diesem Moment war ihm Narbengesicht auch völlig egal und alles, was ihm in den Kopf kam war die Erkenntnis, wie sehr er sich dafür schämte, seinen Partner enttäuscht zu haben. Und seine Freunde. Sein Team. Kenma. „Jeder hat Ängste“, fuhr Ukai unbekümmert fort. Er stand wieder von seinem Stuhl auf. Shouyou tat es ihm nach und folgte ihm, während er langsam zurück zum Volleyballfeld ging, „Das ist völlig in Ordnung. Aber du musst lernen, sie zu überwinden. Hast du bisher auch immer getan. Auf dem Spielfeld. Tu es auch außerhalb.“ Das war so leicht gesagt! Shouyou blieb frustriert stehen. „Wie denn?“   Es war einfach, auf dem Spielfeld mit seinen Ängsten umzugehen, solange sie nur auf dem Spielfeld stattfanden. Einen starken Block konnte Shouyou überwinden. Ein gegnerischer Außenangreifer war gruselig, wenn er besonders stark war, aber man konnte ihn kontern. Solange er sich nur genug anstrengte, konnte er mit Kageyama an seiner Seite alles erreichen. Aber das war eben auch nur auf dem Spielfeld so. Außerhalb davon… Ukais barsches Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Als er sich zu Shouyou umwandte, um ihn anzusehen, hatte er ein warmes Grinsen auf dem sonnengegerbten Gesicht.   „Lern ihn kennen, diesen Yakuza. Ne andere Wahl hast du gar nicht.“     ***     Obwohl es erst eine Woche her war, dass sie Takuya das letzte Mal gesehen hatten, kam es Yuuki wie eine Ewigkeit vor. Er fehlte, wenn er nicht da war! Er gehörte inzwischen einfach total dazu, genau wie Sou, genau wie Lev. Entsprechend freute er sich riesig, als der hochgewachsene Kerl mit dem Löwenzahnkopf aus seiner U-Bahn stieg und zu ihrer kleinen Gruppe aufschloss. „Yo~! Ich hoffe, ihr musstet nicht wartet?“ – „Nah. Sind auch grad erst gekommen“, erwiderte Sou lachend, „Also, wie ist der Plan?“ „Der Plan! Wir marschieren jetzt zu meinem Frisör, damit unser großer Freund hier mal eine ordentliche Frisur bekommt, die ihn älter als fünf aussehen lässt.“ Yuuki lachte herzlich. Lev protestierte mindestens genauso herzlich, was nur irgendwie niemanden auch nur ansatzweise kümmerte. Ein bisschen stimmte es doch auch – der brave Haarschnitt passte nicht wirklich zu Lev. Yuuki war bewusst, dass er selbst kaum besser war, aber er fühlte sich wohl, wie es war, und er sah keinen Grund, es zu ändern. Er wollte niemanden beeindrucken. Oder sich verändern. Das würde irgendwann kommen, wenn er sich eben danach fühlte. „Und danach essen wir was!“, fügte Sou hinzu, nachdem Levs Proteste endlich abebbten – „Du isst ganz schön viel, pass auf, dass du nicht dick wirst“, kommentierte der Kerl grinsend. Die Sorge wischte Sou mit einem unbekümmerten Lachen weg. Er aß immer viel, Yuuki kannte es von ihm nicht anders, aber er nahm nie zu davon. Wie denn auch, so wild und lebhaft, wie er war?   Es war, wo er so darüber nachdachte, das erste Mal, dass er sich außerhalb der Schule mit jemand anderem als Sou traf. Dass sie ständig beieinander abhängten, war inzwischen schon ein Standard geworden, aber Lev und Takuya dabei zu haben, war neu und irgendwie aufregend. Und sie sahen so anders aus ohne die Schuluniformen und Trainingsklamotten! Yuuki würde sich vermutlich nie so recht daran gewöhnen können, wie extrem die Veränderung zwischen Pflicht– und Privatkleidung bei einigen Leuten war. Takuya hatte auch noch einen wirklich auffälligen Stil! Hübsch, aber auffällig. Yuuki fand es gleichermaßen bewundernswert wie gruselig. Er würde sich nicht trauen, Sachen anzuziehen, die ihn so sehr auffallen ließen. Er war zufrieden mit einem schlichten, aufdrucklosen T-Shirt und einer ebenso schlichten, knielangen Hose. Mehr wäre bei der Sommerhitze aber auch Mord gewesen. Die Gegend, in die Takuya sie zitiert hatte, war belebt und voller junger Leute, die häufig in kleinen Gruppen unterwegs waren. Auch die Schaufensterauslagen der Läden ringsum sahen irgendwie jung aus. Modisch. Trendy. Es passte zu Takuya. Yuuki fühlte sich ein bisschen fehl am Platz, aber damit schien er eindeutig der Einzige zu sein: Sou sah sich neugierig um, um hier und dort einmal eine Auslage zu kommentieren, die ihn besonders interessierte, während Lev einfach nur grinsend seines Weges lief, blind für seine Umwelt, und in Gedanken sicherlich dabei, sich auszumalen, wie er Yaku beeindrucken würde mit dem neuen Haarschnitt. Auf den Yuuki übrigens echt gespannt war. Obwohl er alle Diskussion darum mitbekommen hatte, konnte er sich nichts unter den Plänen von Lev und Takuya vorstellen. Beide hatten allerdings groß getönt, dass es sie absolut umhauen würde. „Wisst ihr“, kommentierte Takuya grinsend, während sie einer kichernden Gruppe Schulmädchen auswichen, „Ich finde ja, ihr beide könntet auch eine neue Frisur gebrauchen.“ „Joa“, stimmte Sou lachend zu, „Aber nicht heute! Heute geht’s um Lev!“ Yuuki nickte bestätigend. Er würde es nicht zugeben, aber er hatte auch ein kleines bisschen Angst davor, sich groß zu verändern. Er war noch nicht bereit dazu! Takuya grinste sie nur beide breit an. „Ich nagel euch drauf fest, Jungs!“   Er freute sich nicht darauf. Noch nicht. Aber ein Blick in Sous grinsendes Gesicht ließ ihm den Gedanken kommen, dass eine neue Frisur eigentlich gar nicht so schlimm war, solange sie das gemeinsam in Angriff nahmen.   Der Frisörsalon, vor dem sie schließlich stehen blieben, war bunt, schrill, und genau das Gegenteil von dem beschaulichen kleinen Laden, in dem Yuuki regelmäßig seine Frisur richten ließ. Die Frisöre im Inneren hatten allesamt auffällige und aufwändige Frisuren, teilweise auch bunte Haare. Es sah unglaublich beeindruckend aus, und befremdlich, und gruselig, und gar nicht nach Yuukis Welt. „Da gehen wir jetzt rein“, erklärte Takuya grinsend, „Beziehungsweise, Lev und ich gehen da rein. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns so lange was zu essen besorgen? Da drüben die Straße runter das Take-Out ist extrem gut!“ Er wies auf einen kleinen Laden, vor dessen Tür sich eine besorgniserregend lange Schlange befand. „Wenn wir uns jetzt anstellen, sind wir vielleicht fertig, bis ihr wiederkommt“, murmelte Yuuki resigniert – „Bingo!“, gab Takuya lachend zurück, „Also hopp! Ihr holt uns was zu futtern, und Lev kriegt jetzt einen Sidecut!“ „Einen was?“ Sous Frage blieb unbeantwortet, natürlich. Es wunderte Yuuki nicht. Viel darunter vorstellen konnte er sich aber auch nicht. Es war ein englisches Wort, okay, und er verstand es sogar, aber darüber hinaus? Nur einseitig die Haare zu schneiden klang ausgesprochen seltsam! Ratlos warf er einen Blick zu Lev hinüber, der nur unbekümmert grinsend die Schultern zuckte. Offensichtlich wollte er auch nichts verraten. „Takuya weiß schon, was er tut!“ – „Ich weiß! Ich bin trotzdem neugierig.“ – „Sei in der Schlange neugierig, Shibayama!“   Also stellten sie sich an. Yuuki war unglaublich ungeduldig. Immer wieder sah er über die breite Straße hinüber in der Hoffnung, irgendeinen Blick in den Frisörsalon zu erhaschen, doch zwischen den Menschenmengen, die hier entlangströmten, sah er kaum etwas. Zusätzlich reflektierte das Sonnenlicht im Schaufenster. Es war unmöglich. „Es ist das erste Mal, dass jemand aus dem Team ne neue Frisur hat, seit wir da sind, ne?“ Sou sprach seine Gedanken aus. Yuuki wusste zwar, dass Kenma im ersten Jahr noch ganz schwarzhaarig gewesen war, und er wusste auch, dass Taketora einmal normaler ausgesehen hatte als mit seinem Irokesenschnitt, aber nichts davon hatte er mitbekommen. Er konnte es sich auch kaum vorstellen! Die Frisuren der Jungs gehörten einfach so untrennbar zu ihnen. Würde Kenma sich die Haare irgendwann wieder färben? Oder hatten sie bald doch einen schwarzhaarigen Kenma vor sich? Und Taketora! Es war unmöglich, ihm gedanklich eine bravere Frisur zu verpassen. „Wird ungewohnt“, murmelte er sanft. „Aber cool! Yaku-San findet das sicher auch.“ Yuuki lachte leise, hilflos. Er war sich da weniger sicher. Das war Yaku, von dem sie sprachen! Aber einen Versuch war es wert, ganz bestimmt.   Im Schneckentempo schrumpfte die Schlange vor dem kleinen Laden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie nah genug waren, um den Aushang mit den Angeboten lesen zu können. Immerhin konnten sie sich danach die Zeit damit vertreiben, darüber zu diskutieren, was sie essen wollten. Als sie endlich ihre Bestellung aufgeben konnten, waren sie sich sogar einig geworden. Yuuki hoffte, dass Lev und Takuya mit dem Ergebnis zufrieden sein würden, aber nachdem sie nicht gesagt hatten, was sie haben wollten, war es am Ende auch einfach ihre eigene Schuld! Einmal wieder raus aus dem Getümmel, bepackt mit einer Plastiktüte voll verpacktem Fastfood, machten sie sich langsam auf den Weg zurück zum Frisör. Ob sie noch lange warten mussten? Mussten sie nicht. Takuya winkte ihnen schon von weitem. Lev stand neben ihm, und Yuuki wusste, dass es Lev war, trotzdem erkannte er ihn mehrere Minuten lang nicht. „Woah“, war Sous ausgesprochen eloquenter Kommentar auf den fremden Anblick, „Lev, du siehst so krass aus! Total anders!!“ Lev grinste breit, zufrieden. Yuuki fand, dieses Grinsen sah nicht mehr halb so harmlos aus wie vor einer Stunde noch; inzwischen wirkte es fast gefährlich. Er war sprachlos. Lev sah richtig gut aus. Besser, als Yuuki erwartet hätte, einfach weil – ihm war nicht bewusst gewesen, dass Lev attraktiv war. Es war eine sehr seltsame Erkenntnis, und irgendwie hätte er sie auch gar nicht ganz gebraucht. „Meint ihr, es gefällt Yaku-San?“ „Also mir gefällt‘s“, verkündete Sou grinsend. Yuuki nickte wild, fand endlich seine Sprache wieder: „Mir auch!“ – „Und mir.“ Takuya grinste breit in die Runde, klopfte Lev auf den Rücken.   „Los. Zeit fürs Essen. Und wenn der Kerl nicht völlig sprachlos vor Begeisterung ist, dann ist dem auch nicht mehr zu helfen.“ Kapitel 13: ------------ Yuutarou wäre bei jedem anderen fest überzeugt gewesen, dass es nur ein schlechter Witz war. Dummerweise stand hier aber Hinata vor ihm und nicht jeder andere, und obendrein hatte er selbst gut genug beobachten können, wie mies die Leistung von dem Gör gewesen war – er hatte gar keine andere Wahl, als ihm zu glauben. „Bitte!“, rief der Junge gerade zum fünften Mal. Yuutarou warf einen hilflosen Blick in Richtung Kunimi. Der blieb aber natürlich schön auf Distanz, hob nur flüchtig die Schultern, als wäre alles andere zu anstrengend. Yuutarou war sich sicher, dass er grinste. Seufzend kratzte er sich am Hinterkopf. „Na gut. Aber was auch immer du zu tun hast, du beeilst dich gefälligst, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!“ Er würde ehrlich gesagt noch gern zum Training kommen. Hinata strahlte ihn an, viel zu dankbar und viel zu freudig. Yuutarou fühlte sich unangemessener Weise wie ein Superheld unter diesem Blick. Furchtbar. Schmeichelnd. Noch schlimmer. „Kunimi. Sagst du dem Captain, dass Kusachi und ich später kommen?“ Er nickte knapp. Yuutarou war sich wirklich sicher, dass er grinste. Hmpf. Grimmig führte den Chibi an seiner Seite aus dem Raum hinaus und rüber in die Küche. Er hatte noch mitbekommen, wie Kusachi sich bereit erklärt hatte, die Einkäufe zu verräumen, damit die wenigen anwesenden Mädels das nicht allein machen mussten. Als Yuutarou den Kopf zur Tür hereinsteckte, begrüßte ihn das gleiche Bild wie immer: Obwohl Kusachi rein gar nichts tat, das das rechtfertigte, wurde er von allen Seiten her geradezu verängstigt gemustert. Er seufzte schwer.   Vielleicht war er durch Kageyama einfach abgehärtet, aber Kusachi hatte ihn nie erschreckt.   „Oi! Kusachi, komm mal raus!“ Kusachi kam raus. Yuutarou versuchte, ihn nicht allzu genervt anzufunkeln, aber es war schwierig, nicht genervt zu sein, nachdem Hinata sich hinter seinem Rücken versteckte und an seinen Arm klammerte wie ein kleines Kind. Kleines Kind – die Beschreibung hatte selten besser auf den dummen Jungen gepasst als gerade in diesem Moment. „Was gibt’s?“ Yuutarou packte grob eine der klammernden Hände und zog Hinata daran wieder nach vorn. Er protestierte panisch und wehrte sich, war aber viel zu schwach, gegen seinen Griff anzukommen. „K-Kindaichi…!“ – „Du wolltest mit ihm reden, also red mit ihm, du Schisshase! Sei froh, dass ich überhaupt mitgekommen bin!!!“ Kusachi verfolgte das Theater schweigend. Er sah nicht aus, als würde es ihm viel ausmachen – eher, als wäre er resigniert. Yuutarou konnte ihm das kaum verübeln bei allem Theater, das er auf täglicher Basis mitmachen musste. Hinata stand steif neben ihm, schaffte es inzwischen immerhin, Kusachi anzusehen, aber irgendwie bekam Yuutarou das dumpfe Gefühl, dass der Junge dafür nun vor Angst erstarrt war. Großartig. „Er hat Angst vor dir“, erklärte er trocken. Er erntete dafür ein empörtes Geräusch aus Hinatas Richtung, aber immerhin sparte der Kerl sich jeden Widerspruch. Kusachi verzog kurz das Gesicht zu einer unglücklichen Grimasse. Yuutarou zuckte mit den Schultern. Es war nicht seine Schuld! Er seufzte, fügte dann noch erklärend hinzu: „Kogami.“ „Ah.“ Das Übliche, sagte Kusachis müder Blick. Er versuchte ein Lächeln, das ihn nur noch müder und älter aussehen ließ, als er tatsächlich war. „Hinata-Kun, nicht wahr?“ – „J-jawohl!!!“   Yuutarou verdrehte die Augen. Das konnte ja noch heiter werden hier. Er hatte ehrlich wenig Lust auf das ganze Theater. „Hey. Kommt mit raus?“   Es war von Vorteil, mehrere Sporthallen an einer Schule zu haben – ohne das Training zu stören, dass in der anderen Sporthalle inzwischen schon seinen Anfang nahm, konnte Yuutarou in Frieden die zweite Sporthalle blockieren. Er scheuchte Hinata und Kusachi hinein, holte aus dem Geräteraum einen Volleyball. Er warf ihn Hinata zu, der den Ball mit einem ratlosen Blick auffing. „Passübung“, erklärte er, ohne damit wirklich viel zu erklären. Kurz darauf standen sie im Dreieck zueinander und konzentrierten sich darauf, den Ball in der Luft zu halten, während sie ihn ohne jede feste Reihenfolge hin und her spielten. Ganz wie Yuutarou erwartet hatte, lenkte es Hinata ab. Es dauerte nicht lange, bis er ruhiger wurde, die zuerst noch hektischen und panischen Bewegungen und Entschuldigungsrufe abebbten und schließlich ganz verschwanden. Was das anging, war er einfach – Volleyball über alles. Er war Kageyama wirklich ähnlich… und trotzdem völlig anders. Yuutarou schüttelte den Gedanken ab. „Also, nochmal von vorne.“ Nachdem es offensichtlich kein guter Plan gewesen war, den Kern des Problems einfach anzusprechen, musste ein neuer Plan her. Yuutarou war egal, wie bescheuert es war – bescheuerte Situationen erforderten eben bescheuerte Maßnahmen. „Ich bin Kindaichi Yuutarou – und ihr?“ Seine Worte wurden mit verwirrter Stille erwidert. Hinata sah ihn einen Moment entgeistert an – der Ball, der gerade zu ihm flog, hatte beste Chancen, an ihm abzuprallen und auf dem Boden zu landen. In letzter Sekunde bemerkte er ihn noch und spielte ihn mit verblüffender Genauigkeit an Kusachi zurück. Der immerhin schien verstanden zu haben, was Yuutarou wollte. Er lächelte flüchtig. „Kusachi Mikio. Sehr erfreut!“ Hinata verstand immer noch nicht. Sein Blick blieb ratlos, aber der Volleyball schien ihn weit genug abzulenken, dass er nicht weiter darüber nachdachte und einfach mit dem Strom schwamm. „Hinata Shouyou. Mein größtes Ziel ist es, das Ass von Karasuno zu werden! Wie der kleine Gigant!“   Kein Stottern. Kein Stammeln. Keine panischen Schweißausbrüche oder Angstattacken. Das war ein guter Anfang, oder? Yuutarou seufzte erleichtert. Das bedeutete, das Theater konnte doch noch ein Ende finden. „Es passt zu dir“, kommentierte Kusachi behutsam – „Auch wenn dein Stil sehr anders ist als seiner.“ Jetzt war es vorbei mit dem Volleyballspielen. Hinata fing den Volleyball mit beiden Händen auf, überwand die Distanz zu Kusachi mit wenigen schnellen Schritten und sah aus riesigen, ungläubigen Augen zu ihm auf. Jetzt war es auch vorbei mit der Angst. Unfassbar. „Du kennst ihn?!?!?“ Wie sich herausstellte, hatte Kusachi vor Jahren einmal ein High-School-Spiel live gesehen, weil sein Bruder in der Mannschaft gewesen war, die damals Karasunos Gegner waren. Es war ein Spiel, in dem der kleine Gigant, von dem Yuutarou gerade einmal so viel gehört hatte, dass er wusste, dass er existierte, gespielt hatte, und weil ihn das Spiel des kleinen Außenangreifers fasziniert hatte, hatte Kusachi sich eben weiter damit auseinandergesetzt. Es war nichts Besonderes. Für Yuutarou war es sogar ziemlich langweilig, aber Hinata war aus der Begeisterung gar nicht mehr herauszubekommen – er plapperte am laufenden Band, über den kleinen Giganten, über Volleyball, über seinen speziellen Stil. Über Kageyama. Yuutarou würde es niemals jemandem sagen, aber der Grund, weshalb er blieb, war genau dieser. Es machte ihn gleichzeitig rasend wütend und unglaublich erleichtert, zu hören, dass es Kageyama gut ging, dass er Zugang zu seinem Team hatte und einen Partner, mit dem er tatsächlich arbeiten konnte. Wenn der sich nicht aus kindischer Angst vor einem Gegner einschiss, der nicht im Geringsten gruselig war.   Irgendwann kehrten sie bei allem Plappern zu ihrem Spiel zurück. Yuutarou hätte seine Zeit wirklich besser nutzen können, aber er bereute es trotzdem nicht wirklich. Ein bisschen mochte er Hinata ja. „Hey. Warum habt ihr eigentlich mit dem Volleyball angefangen?“ Hinatas Frage kam unerwartet. Yuutarou passte den Ball zu ihm, nutzte die Gelegenheit, um ihn anzusehen. Er grinste breit und ausgelassen, jede Angst scheinbar völlig vergessen für den Moment. „Mein Bruder“, erklärte Kusachi sanft, „Es liegt in der Familie? Ich wollte schon immer Sport machen, und weil ich immer schon groß gewesen bin, war für mich klar, ich mache etwas, wofür man diese Größe nutzen kann. Und ehrlich… Basketball war mir zu brutal!“ Er lachte verlegen. „Ehrlich?!“ Hinata schien völlig fassungslos zu sein. Dann lachte er und verkündete, dass das ja irgendwie doch passte. Und es erinnere ihn an Karasunos ehemaliges Ass Azumane. Yuutarou hatte sich nie näher mit dem Kerl beschäftigt, aber er erinnerte sich vage, dass er einiges an Getuschel über ihn gehört hatte. Kaum zu fassen, dass Hinata dem ganzen Schwachsinn trotzdem auf den Leim gegangen war. „Und du, Schalottenkopf?“ „Nenn mich nicht so, Winzling.“ – „Ich bin kein Winzling!!! Ich bin einen Zentimeter gewachsen seit dem letzten Camp!!!“ „Macht dich nicht größer.“ Er grinste, während Hinata vor sich hin zeterte. Weil er sich nicht wieder beruhigen wollte, redete ihm Yuutarou knallhart dazwischen: „Ein paar meiner Grundschulfreunde haben gespielt. Ich hab mitgemacht, weil ich nichts Besseres gewusst habe. Sie sind irgendwann wieder gegangen; ich bin geblieben.“ „Wie gut“, kommentierte Hinata völlig unbekümmert. Er grinste blöde vor sich hin, fing den Volleyball wieder auf, als er das nächste Mal bei ihm landete. Sein Lachen war beinahe blendend, und Yuutarou hatte das dringende Bedürfnis, wieder wegzusehen. „Es würde was fehlen, wenn du nicht dabei wärest!“     ***     Hinata kam zu spät zum Training. Das für sich war nicht einmal besonders schockierend, gemessen, wie sein aktueller Stand im Team war. Chikara hatte trotzdem das Gefühl, ihm würden die Augen aus dem Kopf fallen müssen, als er sah, wie der kleine Rotschopf in die Halle marschiert kam, in Begleitung von Seijohs Kindaichi und dem Narbengesicht, vor dem er solche Panik gehabt hatte. Sie unterhielten sich. Lachten miteinander. Scherzten. Kindaichi boxte Hinata gegen die Schulter, als sie sich trennten, um zu ihren Teams aufzuschließen. Er rief den beiden irgendetwas hinterher, das von Kindaichi mit einem barschen Lachen und von Kusachi mit einem Winken beantwortet wurde. Chikara hätte sicherlich wütend sein können, dass das Problem sich plötzlich so einfach löste, aber er fühlte nichts anderes als bodenlose Erleichterung. Hinata… war zurück? Wirklich? Er konnte es noch nicht so ganz fassen. Aber es sah eindeutig so aus. „Captain!“ Er klang auch wieder um einiges besser als zuvor. Entschlossen, selbstbewusst, typischer Hinata-Tonfall. Straff stand er vor Chikara, ehe er sich tief vor ihm verbeugte. „Entschuldige bitte all den Ärger, den ich gemacht habe! Gib mir eine Chance, mich noch einmal zu beweisen!“   Chikara hätte sofort zugestimmt. Hinata war ein viel zu starker Spieler, um ihn nicht anzunehmen. Und es war offensichtlich, dass seine Probleme beseitigt waren. Ganz egal, wie, oder warum, oder weshalb. Er hatte es geschafft. Und, was viel wertvoller war: Er hatte seine Probleme alleine überwunden. Es war ohne Drängen und Schubsen von außen passiert, etwas, auf das Chikara seit Beginn dieses Zoffs gehofft hatte. Es war trotzdem nicht so einfach. Chikara seufzte stumm, sah Hinata beinahe entschuldigend lächelnd an. „Das ist etwas, das du mit Kageyama klären musst. Für heute wirst du noch in Osamus Team mitspielen, Hinata. Ich möchte sehen, dass du wirklich wieder auf dem Damm bist. Wenn das funktioniert, sprich mit ihm.“ Glücklich sah er nicht aus. Sein Blick zuckte zu Kageyama hinüber, der aus frostigen Augen zu ihnen hinüberblickte. Er schluckte, presste die Lippen zusammen. Chikara an seiner Stelle hätte auch Angst vor dem unausweichlichen Gespräch, aber das Gespräch musste stattfinden, ohne jede Diskussion. Sie konnten ihr Freak-Duo nicht gebrauchen, wenn es nicht miteinander reden konnte, selbst wenn Kageyama sich wieder zur Zusammenarbeit herabließ, ohne diese Sache komplett geklärt zu haben. Für den Moment lief Hinata noch folgsam zu dem anderen Team hinüber. Osamu begrüßte ihn fröhlich, zerzauste ihm das Haar. Kinoshita suchte kurz Chikaras Blick; als er nickte, breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus.   Am Ende waren sie doch alle erleichtert, dass Hinata zurück war. Und auch, wenn es nicht so aussah, Chikara war sich sicher, dass es Kageyama insgeheim genauso ging.   Es war, als hätte er nie Probleme gehabt. Hinatas Level war immer noch genauso hoch wie vor dem Seijoh-Zwischenfall, wenn nicht sogar noch deutlich gestiegen – sein Training mit Ukai Senior machte sich offensichtlich bezahlt. Vielleicht war es Einbildung, aber Chikara glaubte, dass der Junge inzwischen auch deutlich besser mit Osamus Zuspiel zurechtkam. Bisher war er immer noch ein bisschen zu sehr auf Kageyama gepolt gewesen, als dass er wirklich gut mit anderen Zuspielern gespielt hatte. Es hatte immer erzwungen gewirkt. Heute wirkte es um einiges flüssiger. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass Chikara längst nicht mehr so direkt vor Augen hatte, wie Hinata und Kageyama harmonierten, nachdem die beiden schon seit über einem Monat nicht mehr miteinander spielten. Fast zwei Monate. Sie hatten viel Zeit vergeudet. Chikara wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Hätte er sich aktiv eingemischt, er hätte Hinatas Probleme schon nach einigen Tagen lösen können – aber der Lerneffekt wäre wohl deutlich geringer gewesen. „Chikara!“ Nishinoyas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der kleine Kerl stand neben ihm, mit ernstem Blick auf das Spiel sehend, das Karasuno Zwei gerade gegen Fukuroudani bestritt. Es war absehbar, dass sie verlieren würden, aber es war jetzt schon genauso absehbar, dass die Niederlage nicht so vernichtend werden würde wie die des letzten Trainingscamps. „Shouyou ist besser geworden.“ Also war es keine Einbildung. Auf Nishinoyas Vogelaugen war Verlass. Der kleine Kerl lachte herzlich, Erleichterung und Freude deutlich in seiner Stimme hörbar, klopfte Chikara dann auf den Rücken. „Es ist gut. Shouyou hat gefehlt! Tobio wird sich auch freuen.“ Ein Blick zu Kageyama zeigte aber alles andere als Freude. Er war immer noch sichtlich verärgert, und er schien nur noch verärgerter zu sein, je länger er dem laufenden Spiel zusah.   Chikara fürchtete wirklich, dass es bis zur Freude noch ein langer Weg sein würde.   Aber da mussten sie durch. Als Team. „Tsukishima!“, rief er zu dem Jungen hinüber. Tsukishima sah einen Moment lang so aus, als überlegte er, den Ruf einfach zu ignorieren, dann kam er träge angelaufen, desinteressiert, mit nichtssagendem Blick. Chikara führte ihn ein Stück vom Tumult weg in eine Ecke der Halle, wo er schließlich vor dem Riesen stehenblieb und ihn offen ansah. „Du hast es gesehen, oder?“ Er nickte schweigend. „Du wirst dafür sorgen, dass er und Kageyama sich wieder vertragen.“ Jetzt wanderten Tsukishimas Augenbrauen. Ungläubig. Fast fassungslos. Chikara hingegen lächelte. Es war gewagt, aber wenn es klappte, wie er sich das vorstellte, dann war das die Gelegenheit, um noch diverse andere Baustellen in diesem Team endlich zu beseitigen. Oder zumindest ein bisschen schrumpfen zu lassen.   „Du bist schließlich für Kageyamas Sozialkompetenzen zuständig. Es ist eine perfekte Gelegenheit.“     ***     Kei fand das ganze Theater absolut lächerlich. Weil er außerdem am Abend besseres zu tun hatte, als Eheberatung für zwei Idioten zu spielen, verschob er jedes Gespräch mit Kageyama und Hinata eiskalt auf den nächsten Morgen. Er hätte es noch länger verschoben, wäre es nach ihm gegangen. „Tsukki! Du solltest mit ihm reden!“ Aber Yamaguchi hing ihm in den Ohren, seit er spitzgekriegt hatte, dass es Keis Aufgabe war, das tragische Liebespaar – pardon. Freak-Duo – wieder zu vereinen. Was auch immer Ennoshita sich dabei gedacht hatte, es konnte nichts allzu kluges sein. „Halt die Klappe, Yamaguchi.“ Yamaguchi lachte nur sanft. Er sprang von seinem Platz am Boden auf und eilte zu den Zwillingen hinüber, die neben Kageyama die einzigen waren, die gerade auch noch im Schlafraum waren. Ein kurzes Gespräch später stand auch Osamu und zog umständlich seinen Bruder auf die Beine. Die beiden trotteten in Yamaguchis Begleitung aus dem Raum, und bevor der Kerl die Tür hinter ihnen schloss, grinste er Kei unnötig breit an.   Ehrlich gesagt wusste Kei nicht einmal, wie er diesem hirnlosen Idioten irgendetwas begreiflich machen sollte. So wenig er Hinata mochte, er stand auf Ennoshitas Seite, was die Sache betraf, dass der Junge wieder ordentlich spielen sollte. Ganz persönlich betrachtet allerdings fand er, dass das Gör noch einiges mehr an Strafe verdient hatte für sein dummes Verhalten, also war es schwierig, überhaupt aufrichtig – oder unaufrichtig – Partei für ihn zu ergreifen. Und er mochte Hinata nicht. Das machte es nicht einfacher. Sozialkompetenztraining… Pff. Seufzend erhob er sich von seinem Futon, strich seine Kleidung glatt und rollte die Schlafunterlage mit geübten Handgriffen auf. Kageyama brütete immer noch in seiner Ecke, als er fertig war. Ein gutes Zeichen, dass er noch länger da sein würde. Vermutlich ging er Hinata aus dem Weg, der vorhin erst zum Frühstück gelaufen war. Leider hatte er längst wieder zu seinem munteren Selbst zurückgefunden. „Euer Majestät sollte bei Gelegenheit Ihr Bettzeug wegräumen“, säuselte er betont freundlich in Kageyamas Richtung. Er erntete einen wütenden Blick zur Antwort und die übliche geblaffte Aufforderung, dass er aufhören sollte. Was er, wie immer, natürlich nicht tat. „Man hätte glauben können, du freust dich, deinen Lieblingshofnarren zurückzuhaben. Wo ist das Problem?“ Keine Antwort. Kageyama beließ es bei einem weiteren hasserfüllten Blick, ehe er sich abrupt abwandte und aufstand. Nun, zumindest das Aufräumen erledigte er jetzt schon einmal, auch wenn das nicht Keis primäres Ziel gewesen war. Er könnte es dabei belassen. Ennoshita sagen, dass Kageyama nicht mit ihm reden wollte, dass er seine blöden Botschaften doch selbst vermitteln sollte. Er war kurz davor, es zu tun. Dumm nur, dass er zu stolz war, um einfach so hinzunehmen, dass er gegen Kageyama unterlag. Im Volleyball, okay. Da erwartete er nichts anderes. Aber außerhalb des Spielfelds stand er meilenweit über dem arroganten König.   „Aber natürlich verstehe ich, dass dein Stolz zu groß ist, um ihn runter zu schlucken“, fuhr er unbekümmert fort. Er blinzelte nicht einmal, als sich Kageyamas Gesicht zu einer wütenden Fratze verzog. „Hm?“, Kei lächelte, betont freundlich, legte den Kopf leicht schief. „Es ist doch so. Ah. Lass mich raten… hat der kleine Hofnarr ein Trauma wieder aufgeweckt, als er deine Bälle nicht mehr getroffen hat?“ Das war es – Kageyama explodierte. Er fuhr herum, packte Kei grob am Kragen, sah ihn an, als würde er ihn lieber kurz und klein schlagen. „Du hast keine Ahnung!!!“, schrie er, während der fast verzweifelt wütende Blick in seinen Augen Kei genau das Gegenteil sagte – er hatte völlig ins Schwarze getroffen. Kei konnte nicht anders als zu grinsen, während er auf Kageyama und sein wütendes Gesicht hinuntersah. Fast spöttisch sanft legte er eine Hand auf die Wange des Anderen, als würde er unsichtbare Tränen wegstreichen wollen. „Wollt Ihr euch ausweinen, mein König?“ Wollte Kageyama natürlich nicht. Der erzielte Effekt war aber auch nicht schlecht – er ließ Kei abrupt los und ging einen Schritt auf Abstand, wütend und schwer atmend. Kei war bewusst, dass er dieses Spiel noch stundenlang spielen konnte. Kageyama verspotten, provozieren, ihn gleichzeitig dazu zwingen, sich mit seinen idiotischen Problemen auseinander zu setzen und schlussendlich einzuknicken. Es klang ausgesprochen reizvoll. Gleichzeitig aber ahnte er, dass Ennoshita das gar nicht gutheißen würde, und auf großen Stress mit seinem Captain – wegen Kageyama von allen Menschen – konnte er dann auch wieder verzichten. Langsam stieß er die Luft aus, verschränkte die Arme vor der Brust. Sah Kageyama abwägend an, wartend, dass der sich wieder zumindest ansatzweise beruhigte. Es dauerte nicht lange, bis zumindest seine Atmung wieder leichter wurde und der angespannte Körper sich kaum merklich entspannte. „Was?!“   „Wenn du ihn weiter ignorierst, bist du der Böse, das ist dir bewusst, oder?“ Kageyama schnaubte unzufrieden. Ja, es war ihm offensichtlich bewusst. „Niemand ist noch auf deiner Seite. Ich gehe nicht so weit, zu spekulieren, dass sie dich ersetzen für Hinata, aber…“ Er zuckte mit den Schultern. Fakt war, dass Hinata bei all seinen (besonders charakterlichen) Schwächen inzwischen gelernt hatte, nicht nur nützlich, sondern extrem nützlich zu sein. Seine Geschwindigkeit, seine Reflexe, sein absoluter Instinkt. Kei gab es selbst nicht gern zu, aber er war einer ihrer stärksten Spieler. Dass er noch nicht den Titel Ass trug, lag vermutlich zu gut fünfzig Prozent daran, dass er einfach immer noch auf der falschen Position dafür spielte. „Kein aber“, knurrte Kageyama leise, „Es macht keinen Unterschied. Wenn ich nicht will, dass Hinata spielt, spielt Hinata auch nicht.“ „Und du glaubst, ein Team, das dich völlig zum Kotzen findet, will noch mit dir arbeiten? So viel Potential wegzuwerfen ist dumm, selbst für deine Standards.“ Auch wenn Kageyama nicht so aussah, als wollte er das einsehen, sein verstockter, fast trotziger Blick zeigte zur Genüge, dass es ihm bewusst war. Kei zuckte langsam mit den Schultern, löste die verschränkten Arme und schob die Hände in die Taschen seiner Trainingshose. „Ich hab dir alles gesagt, was ich zu sagen habe. Der Rest liegt an dir. Wenn du wieder zur Diktatur zurückkehren willst, viel Vergnügen. Wenn du zur Abwechslung mal etwas Hirn beweisen willst…“ Er zuckte noch einmal mit den Schultern. „Das ganze Team steht hinter seinem König.“   Einen langen Moment sah Kageyama ihn vollkommen entgeistert an, so als hätte Kei verkündet, dass er dringend mit ihm ausgehen wollte, dann schnaubte er und wandte sich demonstrativ ab. Kei grinste zufrieden, als er sich abwandte.   Botschaft angekommen. Jetzt konnte er sich wohl wieder aus dem idiotischen Theater rausnehmen.     ***     Es war unübersehbar, dass Shouyou überwunden hatte, was sein Problem gewesen war. Karasuno spielte wieder in ihrer üblichen Aufstellung, hatten Narita gegen Shouyou getauscht, und sie waren plötzlich so extrem viel besser, dass es Kenma die Sprache verschlug. „Waren die schon immer so stark?!“, brüllte Tora empört neben ihm. Nein. Waren sie nicht gewesen. Shouyou hatte jetzt über einen Monat nicht gespielt, aber er hatte eindeutig noch trainiert, und das nicht zu knapp. Er hatte es schon wieder geschafft, Kenma mit seinen Fähigkeiten zu überwältigen. Das war es. Ein Endboss, für den es sich zu spielen lohnte. „Wir gewinnen trotzdem“, gab er leise zurück. Noch. Karasuno waren nicht mehr gut genug aufeinander eingespielt. Es würde dauern, bis sie zu ihrem alten Rhythmus zurückfanden. Kaum auszudenken, wie überwältigend sie dann sein würden, aber bis dahin behielten sie die Oberhand. Womöglich für den Rest des Trainingscamps. Aber danach – in zwei Wochen war ein Trainingsspiel zwischen ihren Mannschaften angesetzt. Kenmas persönliche Deadline für seine Entscheidung, ob er nun bleiben würde oder nicht. Bis dahin würde Karasuno seinen Rhythmus wiedergefunden haben. Auch wenn er sich sicher war, dass es das anstrengendste Spiel werden würde, das sie dieses Jahr bisher gespielt hatten, ein Teil von ihm freute sich auf die Herausforderung. Es hatte etwas von einem Videospiel, das man nicht mehr aus der Hand legen konnte.   Vielleicht hatte Shouyou recht gehabt. Kenma war noch nicht wirklich bereit, ihm zuzustimmen, was das Volleyballspielen und seine Intensität anbelangte.   Ihr Sieg fiel weit knapper aus, als sie es vom letzten Camp gewohnt waren, aber es schien niemanden zu stören. Statt sich zu ärgern, stürzte Inuoka sich sofort auf Shouyou, packte ihn, wirbelte ihn lachend durch die Luft und verkündete der ganzen Welt, wie froh er war, dass er zurück war. „Es war langweilig ohne dich!“, erklärte er lachend, als er den Kleineren endlich wieder am Boden absetzte, „Es hat so viel gefehlt! Alles gwah und bämm war weg!“ Sie verloren sich in einem Gespräch, das niemand außer ihnen jemals verstehen würde, während Shibayama lachend zusah. Es war befremdlich, wie das ganze Team sich für ihre Gegner freute, aber gleichzeitig war es ganz nett – es vermittelte eine weit angenehmere Stimmung als Kenmas erste Volleyballerfahrungen gewesen waren. Ursprünglich hatten sie es nicht einmal in einem einzigen Team geschafft, wirklich Zusammenhalt aufzubauen, und jetzt funktionierte es teamübergreifend. Zumindest zu Teilen. Er hatte das seltsame Best-of-Team nicht vergessen.   Er war nicht der Einzige.   Fukuroudanis Shima kam auf die Idee – „Hey! Jetzt, wo wieder alles gut ist, sagt mal, wieso machen wir’s nicht nochmal? Wir müssen irgendwann Revanche gegen die Ehemaligen spielen! Zurück zu unserem Best-of-Team! Wir können das Trainingscamp ausnutzen und lernen, miteinander zu spielen. Wenn Karasuno sich zusammenraufen kann, dann können wir das alle!“ Shouyou war natürlich sofort Feuer und Flamme. Nishinoya stimmte ebenfalls sofort zu. Tora auch. Etwas anderes hätte Kenma von ihm auch gar nicht erwartet. Dass Lev viel zu begeistert war, wunderte ihn noch weniger. Trotzdem musste Kenma zugeben, dass die neue Frisur und das damit einhergehende Image es sogar fast einfacher machten, Lev und seine große Klappe zumindest in einigen Dingen ernst zu nehmen. Auch wenn er immer noch einen langen, langen Weg vor sich hatte, bis er ein Ass sein würde. Einen sehr langen. „Wir können jeden Abend eine Stunde zum Training abzwacken?“, schlug Shima grinsend vor, nachdem sich allgemein darauf geeinigt war, dass ja, sie diese Sache wieder aufleben lassen wollten. Niemand hatte etwas dagegen. „Das sollte erst einmal genügen, um zusammenzufinden. Wir spielen dann in unseren Standardteams gegen die Best-Ofs und müssen dann eben sehen, dass wir etwaige Lücken anderweitig auffüllen. Das ist dann sogar doppelt lehrreich!“ „Und wann wollen wir uns unsere Revanche holen?“, fragte Lev neugierig nach. Dass er es nur darauf abzielte, Yaku zu imponieren, war offensichtlich. Zumindest für Kenma.   „Irgendwann! Das Jahr ist doch noch lang!“     ***     „So funktioniert das  nicht.“   Mareis Worte unterbrachen das Training. Sie hatten sich nach dem regulären Training noch zusammengetan, um weiter zu üben – Blocken, Schmettern, alles, aber bisher war kaum eine Viertelstunde vergangen. Yamamoto sammelte den Volleyball ein, der ihnen gerade davonkullerte, ehe er sich mit einem missmutigen Blick nach dem Anderen umwandte. „Was soll das heißen?“ Marei hob die Augenbrauen. „Goshiki, das hier ist kein Konkurrenzkampf. Krieg deinen Wettbewerbsdrang unter Kontrolle, mit deiner Attitüde machst du es dem ganzen Team schwer. Du bist nicht das alleinige Nonplusultra, sondern einer von vielen.“ Der Angesprochene starrte Marei völlig entgeistert an. Entgeistert und ertappt. Yuutarou verkniff sich ein Grinsen, als er zusah, wie Goshiki vor Scham tomatenrot anlief, ehe er eine laute Entschuldigung bellte, die er womöglich sogar ernst meinte. (Mit Sicherheit meinte er sie ernst. Goshiki war so.) „Kindaichi.“ Prompt verging Yuutarou jedes Grinsen. „Was auch immer dein Problem mit Kageyama ist – komm drüber hinweg.“ Auf eine seltsame Art war Yuutarou erleichtert. Er hatte schlimmeres gefürchtet, eine Predigt, die tatsächlich handfester war als das. Damit, dass Marei das Offensichtliche noch einmal herausstellte, konnte er leben. Er nickte mechanisch, ohne auch nur daran zu glauben, dass er es so einfach ändern könnte. Es ging nicht. Er versuchte es doch! Trotzdem sträubte sich alles in ihm dagegen, mit Kageyama zu spielen. Ihm zu vertrauen. Das war das Problem. Er konnte und wollte Kageyama einfach nicht vertrauen.   Mareis Predigt ging weiter. Haiba, der zu viel Selbstbewusstsein und zu wenig brauchbare Technik hatte, der gefälligst lernen sollte, seine unnötige Kraft und seine mörderisch langen Gliedmaßen besser einzusetzen. Nishinoya, der seine Grenzen lernen sollte, statt übers ganze Spielfeld zu wuseln, wenn dafür kein Grund bestand – hier war außer Haiba niemand, der so schlecht in Annahmen war, dass er wirklich einen Babysitter brauchte, also sollte er nicht babysitten. Kageyama, weil er Yuutarou mied. Es war schockierend, aber ausgerechnet Hinata und Nekomas Ass waren die einzigen, die davonkamen, ohne dass Marei irgendein größeres Gemecker fand. „Ich gehe“, verkündete er, als er fertig war. „Wir machen morgen weiter, wenn ihr an euren Problemen gearbeitet habt.“ Und wenn ihr es nicht tut, trainieren wir auch nicht. Niemand hielt ihn auf. Stattdessen zerstreute sich die Gruppe bald. Nishinoya und Yamamoto verkrümelten sich mit der Verkündung, sie würden sich den anderen Spättrainierern anschließen. Goshiki stapfte ebenfalls davon. Haiba folgte, nachdem er nichts Besseres zu tun fand.   Es waren nur noch Kageyama, Hinata und er selbst in der Sporthalle.   Yuutarou wusste nicht, was er sagen sollte. Marei hatte angesprochen, was sie alle wussten, und er tat es in der Erwartung, dass sie etwas an der Situation änderten. Er wusste nicht, wie. Dass er Kageyama nicht vertraute, ließ sich nicht ändern. Dass Kageyama womöglich ein Problem mit ihm hatte, auch nicht. Wobei – nein. Vermutlich hatte er keines, weil ihm Yuutarou nicht einmal für einen vergangenen Groll wichtig genug war. Er war doch nur ein Lakai gewesen, den Kageyama weggeworfen hatte, als er unbrauchbar wurde. „Kindaichi, Kageyama!“ Ein Volleyball flog in Yuutarous Hände. Hinata grinste ihn breit an und ließ ihn für einen Moment den Groll vergessen. „Passübungen!“ Diesmal war Kageyama derjenige, dessen Gesicht in Unglauben entgleiste. Yuutarou begriff auch nicht, wieso er trotzdem mitmachte, aber er tat es, und so standen sie bald schon im Dreieck zueinander und es wurde still bis auf das beinahe rhythmische Aufprallen des Volleyballs auf ihren Unterarmen. Er war nicht Hinata. Der Volleyball löste nicht auf einmal magisch seine Blockaden und ließ ihn seine Gedanken vergessen. Etwas zu tun zu haben entspannte zwar tatsächlich in Maßen, aber es half ihm nicht darüber hinweg, dass er keine Worte und keine Gedanken für all das hier hatte. „Nee, Kageyama! Findest du nicht, dass Kindaichi echt bämm ist?“ Yuutarou zuckte zusammen. Beinahe ließ er den Volleyball fallen vor Schreck über das plötzlich aufkommende Thema. Sehr zu seiner Erleichterung schien niemand seinen Patzer zu bemerken. Hinata nahm den Ball problemlos an und spielte ihn an Kageyama weiter, dessen Blick unleserlich und nichtssagend war – und uninteressiert. „Er ist gut.“ – „Dann solltest du das nutzen, Bakageyama!“ Der Ball flog zwischen Hinata und Kageyama her, Yuutarou völlig vergessen. Es war, als müssten sie ihre Meinungsverschiedenheit unbedingt auf allen möglichen Ebenen austragen. Er war nicht traurig darum, wenn er ehrlich war; kein Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein war angenehm in diesem Moment. „Kann ich nicht, du Idiot!“ – „Haaaah? Hat der große Kageyama gerade gesagt, er kann etwas nicht~?“ „Hi-na-taaaaaaaaaaaaaa…!“   Der Volleyball war vergessen, stattdessen jagte Kageyama Hinata quer durch die Sporthalle. Der Rotschopf lief lachend vor ihm davon, provozierte ihn nur noch weiter, indem er ihm noch mehr Dummheiten entgegenrief. Yuutarou konnte nur zusehen, sprachlos und nicht ganz sicher, ob er nicht halluzinierte. Das war etwas ganz neues. Er hatte Kageyama noch nie so gesehen. Er hatte ihn in klein und unschuldig und harmlos und übereifrig erlebt, hatte erlebt, wie er sich von diesem kleinen, arglosen Balg in einen arroganten, egozentrischen König verwandelt hatte, aber nie hatte er dabei erlebt, dass Kageyama so normal gewesen war. Er könnte das Bild vor seinen Augen gegen jedes andere Pärchen austauschen, und es würde sich immer noch natürlich anfühlen. Selbstverständlich. Dazugehörig. Nichts, das Kageyama je getan hatte, hatte diesen Beigeschmack von Normalität und Gewöhnlichkeit. Gerade war er kein Genie. Er war einfach nur Kageyama. Die Erkenntnis ließ Yuutarou sprachlos und verunsichert zurück. Er kannte diesen Jungen nicht. Er kannte diesen Kageyama nicht, der fluchend und zeternd durch die Sporthalle lief, einem kleinen Kobold hinterher, der ihm immer wieder entschlüpfte, wenn er ihn beinahe gepackt hatte. Zu behaupten, Kageyama hätte sich verändert, war eine drastische Untertreibung.   Wie konnte Yuutarou jemandem misstrauen, den er nicht kannte?   Kageyama bekam Hinata endlich zu fassen. Der Kleinere wand sich lachend in seinem Griff, zeterte und meckerte, konnte sich aber nicht befreien. Als sein Blick Yuutarou streifte, strahlte er plötzlich breit und hell wie die Sonne persönlich. Yuutarou schnaubte leise, gegen seinen Willen erheitert. Hinata grinste nur noch mehr. Selbst Kageyama bemerkte den Stimmungsumschwung. Er ließ den Knirps los, der sich schnell außer Reichweite brachte. Yuutarou holte tief Luft. Trat auf Kageyama zu. Vom Hinata-Jagen waren seine Wangen gerötet. Er sah fröhlich aus, wenn man ganz genau hinsah – auf den ersten Blick war sein Gesicht vertraut grimmig. Vor dem Kerl angekommen blieb Yuutarou stehen. Langsam streckte er ihm die Hand hin, versuchte, gar nicht so genau hinzusehen, als Kageyamas Blick hinunterwanderte und dann mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch zu ihm zurückkehrte. Das war nicht mehr der Kageyama, den er einmal gekannt hatte. Er konnte immer noch so wütend auf ihn sein, wie er wollte, aber er konnte es nicht auf diesen Jungen abstrahieren, weil – es ging nicht. Dafür hatten sie viel zu wenig miteinander gemein. Und irgendwo, zwischen allem Misstrauen, allen Vorwürfen und allem Schlechten, das er mit Kageyama verband, irgendwo hatte er immer gehofft, dass sie doch noch eine gemeinsame Basis fanden. Auch wenn es dafür eigentlich schon zu spät war – die Möglichkeit war trotzdem da. „Kindaichi Yuutarou. Auf gute Zusammenarbeit.“ Kageyamas Blick wurde nur noch skeptischer. Sein Blick senkte sich auf Yuutarous Hand, blieb sehr lange dort verharren, ehe er den Kopf wieder hob. Inzwischen war sein Ausdruck unlesbar. Yuutarou blieb beinahe das Herz stehen, als der Andere grinste.   „Kageyama Tobio. Ich erwarte, dass du dein Bestes gibst!“     ***     Keiji hatte mit dem Gedanken gespielt, sein Handy auszuschalten. Er hatte Bokuto im Vorfeld informiert, dass er die ganze Woche wegen des Trainingscamps weg sein würde; zuerst hatte er sich verständnisvoll gezeigt, aber schon am ersten Abend hatte er begonnen, zu quengeln. Er schrieb. Rief an. Jammerte und klagte: Keiji habe zu wenig Zeit, melde sich nicht oft genug, und wenn Bokuto ihn dann anrief, dann erzählte er auch nur so wenig! Aber Bokuto wollte doch wissen, was bei ihm abging, was das Team machte, wie das Training lief, ob sie stärker wurden. Keiji war einfach kein großer Geschichtenerzähler. Jeden Abend erzählte er, aber er füllte keine fünf Minuten mit den teilweise doch turbulenten Trainingsgeschichten. Ihr Best-of-Team nahm wirklich Gestalt an; es fing an, deutlich stärker zu werden, tatsächlich eine Bedrohung, und mit jedem Tag konnten sie mehr Siege verzeichnen. Die Spieler harmonierten viel besser, und angespornt von dieser Truppe fanden sich zum freien Training immer mehr bunt gemischte Gruppen zusammen. Es war etwas, das Bokuto unglaublich gut gefallen hätte. Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb Keiji nie sehr ins Detail ging. Er wollte Bokuto nicht neidisch machen mit seiner Erzählung, wollte nicht, dass er noch mehr den Eindruck gewann, dass er viel lieber beim Trainingscamp sein wollte als wo auch immer er gerade war. Aber er war dadurch zu einsilbig.   „Akaashiiii… Du erzählst mir gar nichts“, klagte Bokuto wie jeden Abend. Keiji seufzte müde. „Ich habe dir alles erzählt, Bokuto-San.“ – „Aber das war ja fast gar nichts! Akaashi, das war nicht spannend!“ Das war Keiji auch bewusst, ohne, dass Bokuto es ihm sagte. „Ich habe bald Prüfungen“, erzählte er das nächste, das ihm in den Sinn kam. Er hatte schon zu Beginn des Schuljahres klar gemacht, dass er kein Bedürfnis an Universitätsaufnahmeexamen hatte, also ließen die Lehrer ihn weitgehend in Ruhe, trotzdem war es stressig, weil er seine eigenen Ansprüche erfüllen wollte. Wenigstens musste er sich keine Sorgen darum machen, dass man ihm den Club verbieten würde. „Akaashiiii! Heißt das, du hast noch weniger Zeit?“ – „Nein. Nicht noch weniger.“ Noch weniger war gewissermaßen unmöglich. Nein, natürlich nicht, aber es wäre für Keiji emotional unmöglich. „Ich vermisse dich, Bokuto-San.“ Auf der anderen Seite der Leitung wurde es still. Keiji runzelte beunruhigt die Stirn. Er hatte nicht mit Stille gerechnet. Bokuto war von Natur aus laut. Wenn er etwas hörte, das ihm in irgendeiner Form gefiel, reagierte er laut. Wenn er etwas hörte, das ihm nicht gefiel, reagierte er laut. Es gab beinahe keine Variante, in der Bokuto nicht laut wurde. Nervosität setzte sich als schwerer Klumpen in Keijis Magen, während er darauf lauschte, dass noch irgendetwas passierte. Es schien eine schiere Ewigkeit zu dauern, bis endlich wirklich noch einmal Regung in Bokuto kam.   „Tust du nicht, Akaashi.“   Bokuto klang anders. Keiji konnte nicht einmal den Finger darauf legen, was es war. Seine Stimme klang tiefer. Unglücklich. Verletzt. Verletzt. Beinahe schockiert starrte er sein Handy an, presste es dann wieder ans Ohr, um einen hektischen Abschied zu murmeln, von dem er schon Sekunden später nicht mehr wusste, was er eigentlich gesagt hatte. Er kannte viele Facetten von Bokuto. Er kannte seine Hochs, er kannte seine Tiefs. Er kannte ihn nicht in verletzt. Nicht so. Nicht, weil Keiji Schuld war. „Geh.“ Nishiame stand vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. Er sah streng aus, hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Schräg hinter ihm ragte Minamishima in die Höhe. Als Keiji nicht schnell genug reagierte, schnaubte Nishiame und stampfte mit dem Fuß auf. „Akaashi Keiji! Du wirst jetzt sofort deine Sachen packen und verschwinden, oder ich jage dich eigenhändig hinaus! Na los! Du weißt doch wohl noch, wo Bokupon wohnt!“ Natürlich wusste Keiji das. Aber– Er öffnete den Mund zu einem irritierten Protest, wurde aber wieder unterbrochen. Nishiames tragisches Seufzen war so laut, dass er da gar nicht hätte drüberreden wollen. (Und insgeheim war das genau, was er gewollt hatte. Zu Bokuto gehen. Jetzt.) „Minamin!“ Minamishima gehorchte. Packte Keiji, zog ihn auf die Füße. Drückte ihm seine Tasche in die Hand, ignorierend, dass die Hälfte seiner Sachen noch hier verstreut lag. Es war prinzipiell nichts Wichtiges dabei, deshalb ließ Keiji es unkommentiert – und weil er immer noch ein wenig sprachlos war. Nishiame baute sich vor ihm auf, piekste ihm mit einem kleinen Finger in die Brust. „Du gehst jetzt. Bokupon will dich sehen, und du willst ihn sehen. Mach es dir nicht so kompliziert! Wir kommen einen Tag auch ohne dich aus! Verantwortungsbewusstsein in Ehren, aber es gibt Wichtigeres. Na los. Weg mit dir!“   Keiji wollte protestieren – abgesehen davon, dass er überhaupt nicht protestieren wollte. Seine Mundwinkel zuckten flüchtig zu einem Lächeln. „Danke.“ Als er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, verpasste ihm Minamishima einen sanften Stoß in den Rücken, als wollte er ihn zusätzlich antreiben.   Als würde Keiji das brauchen.     ***     „Ich bin hier, Bokuto-San.“ Kapitel 14: ------------ Es waren Tage wie diese, an denen Tooru am liebsten alles hingeschmissen hätte. Weil das nicht ging, er aber zumindest ein Zeichen setzen wollte, schmiss er seine Tasche frustriert in die Ecke, kaum, dass er nach Hause kam. Aus dem Kühlschrank angelte er einen Joghurt mit Schokostücken, ehe er sich an den Küchentisch plumpsen ließ. Wirklich gut war es immer noch nicht. Die Sache mit Iwa-Chan. Sie hatten sich vertragen, irgendwie, ohne sich auszusprechen, und Tooru empfand es gleichermaßen als Erleichterung und als Belastung, dass sie das Thema totschwiegen. Aber es funktionierte wieder. Sie konnten immerhin wieder miteinander reden! Es war mehr, als Tooru nach seinem Ausraster noch erwartet hatte. Manchmal meldete sich Iwa-Chan sogar von sich aus. Er vermutete ja, dass Yudacchi da nachgeholfen hatte. Er konnte ihm nicht einmal böse sein dafür. Und weil Iwa-Chan sich sogar manchmal freiwillig meldete, weil Tooru gerade jemanden zum Reden brauchte, und weil sein erster Ansprechpartner immer Iwa-Chan war, zog er sein Handy aus der Hosentasche und rief ihn an, ganz ignorierend, dass Iwa-Chan vielleicht wichtigeres zu tun haben könnte. „Was willst du?“ Er hatte doch auch offensichtlich nichts anderes zu tun. Tooru grinste flüchtig, aber die Freude hielt nicht lange und fiel wieder in müder Resignation zusammen. Er fühlte sich wirklich erschöpft. „Hey~“, singsangte er trotzdem fröhlich, „Ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht, Iwa-Chan!“ „Wir haben gestern erst telefoniert.“ „Aber Iwa-Chan! Ich will doch immer wissen, wie es dir geht!“   Iwa-Chan seufzte tief. Tooru konnte geradezu vor sich sehen, wie der Andere sich über die Nasenwurzel rieb und versuchte, seiner Genervtheit Abhilfe zu schaffen. Die Falte zwischen Iwa-Chans Augenbrauen war zweifelsohne deutlich sichtbar gerade. Er grinste schief, ein bisschen verloren. „Gut. Mir geht es gut. Und jetzt erzähl mir, was du wirklich willst.“ Es war gemein, dass Iwa-Chan ihn durchschaute, aber gleichzeitig war genau das es, worauf Tooru gepokert hatte. Es war leichter so. Beinahe war er sogar froh darum, dass sie nur über ein Telefonat miteinander sprechen konnten. In diesem Moment wollte er Iwa-Chan nicht bei sich haben. Nicht direkt. Behutsam streckte er die Beine aus, verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als sein rechtes Knie dabei deutlich protestierte. Verdammtes Elend. „Die Vorrunden. Sind ja doch relativ bald.“ Er seufzte, blies dann beleidigt die Wangen auf. „Wir sind nicht gut genug.“ Iwa-Chan lachte bellend am anderen Ende der Leitung. Der Laut, gepaart mit der Erinnerung an das dazugehörige lachende Gesicht, ließ Toorus Herz für einen Moment freudig hüpfen. „Im Ernst? Ihr seid nicht gut genug? Oikawa, ich bitte dich! Es ist unmöglich, dass ein Team mit dir und Ushiwaka geschlagen werden kann!“ Natürlich stimmte es. Natürlich würden sie nicht geschlagen werden, aber das war auch nicht komplett Toorus Problem. Sein Problem war, dass die Stimmung in seinem Team einfach grauenhaft schlecht war. Ushiwakas extreme Art war anstrengend, ermüdend, und – es setzte unter Druck. Tooru hatte noch nie so oft an einem Stück gehört, dass er nicht gut genug war. Und immer mit den gleichen Argumenten. „Wärest du nach Shiratorizawa gekommen. Aoba Jousai war eine schlechte Entscheidung. Du wirst es noch bereuen. Sentimentalität gegen Können aufzuwiegen ist etwas, das nur ein Schwächling tut. Was hast du jetzt davon? Iwaizumi ist nicht mehr da, und du leidest unter deiner Fehlentscheidung.“   „Du solltest es selbst wissen“, tadelte er, statt zu erzählen, was ihn eigentlich störte, „dass ein starkes Team nicht stark ist, weil es ein oder zwei starke Spieler hat. Ein Team besteht aus sechs Leuten, Iwa-Chan. Aus sieben, wenn man den Libero mitzählt. Selbst wenn Ushiwaka und ich noch so gut sind.“ „Der Rest kann gar nicht so schlecht sein.“ War er auch nicht. „Ushiwakas Meinung nach ist das ganze Team beschissen“, gab er dumpf zurück, zu angefressen, um noch sichtbar zu schmollen. Auf die Entfernung bemerkte Iwa-Chan den Bruch in seinem Tonfall womöglich nicht einmal. Womöglich war das sogar besser. „Ushiwaka ist dümmer als er aussieht, wenn er das wirklich glaubt“, grollte Iwa-Chan. Etwas in seinem Tonfall sagte Tooru, dass er die Implikation seiner Worte doch verstanden hatte, und aus ganz unsinnigen Gründen machte ihn das unsinnig glücklich. Es war so dumm gewesen, auf verschiedene Universitäten zu gehen. Wieso hatte Tooru geglaubt, dass er dazu bereit wäre?   „Ich fahr am Wochenende Yudacchi besuchen.“ Es war eine Lüge. Yudacchi hatte keine Ahnung von einem kommenden Besuch; Tooru wusste aber, dass er niemals nein sagen würde, wenn er fragen würde, also konnte er es genauso gut ungefragt behaupten. Hast du Zeit? Er traute sich nicht, die Frage auszusprechen. Es war immer noch ein Problem zwischen ihnen, dass Iwa-Chan zu wenig Zeit hatte, es war immer noch ein Problem, dass Tooru sich vernachlässigt und ungeliebt – platonisch! – fühlte. Er fragte Iwa-Chan, wenn es sich vermeiden ließ, nie, ob er Zeit hatte. Er ließ die Frage ungesagt im Raum stehen, weil eine Verneinung dann so viel weniger schmerzhaft war. Es war viel zu lange still in der Leitung. Iwa-Chan formulierte gerade vermutlich nur sein Nein. Tooru seufzte unglücklich, schob missmutig an seinem Joghurtbecher herum, den er noch nicht angerührt hatte.   „Samstagabend, aber nicht lange. Ich muss später noch zur Arbeit.“     ***     Die Zeit verging wie im Flug – das Trainingscamp war gewissermaßen gerade erst zu Ende, als das Trainingsmatch zwischen Karasuno und Nekoma schon vor der Tür stand. Dieses Mal würde es ein Heimspiel für die Katzen. In der knappen Woche Zeit, die sie nach dem Camp noch zum Training gehabt hatten, hatten sie trainiert wie die Berserker. Es hatte sich gelohnt. Drei Sätze. Zwei zu eins gewonnen. Im ersten Trainingsmatch zumindest. Weil es damit nicht genug war, spielten sie weiter, bis sie alle kaum noch auf den Beinen stehen konnten und nur noch Hinata nach einer Zugabe krähte. Chikara hatte nicht mitgezählt – er vertraute auf Yachis Dokumentation –, aber er glaubte, dass sie am Ende die größere Anzahl Siege davongetragen hatten. Eigentlich müssten sie längst nach Hause fahren. Aber es war Samstagabend, sie konnten doch die ganze Nacht über fahren, und niemand wollte sich so recht schon auf den Weg machen. Coach und Takeda hatten sich mit Nekomas Coaches zusammengetan und würden sich jetzt vermutlich erst einmal ein bisschen Alkohol zum Feierabend gönnen, während die beiden Teams noch in der Sporthalle und drum herum verteilt waren. Er hörte Nishinoya, Tanaka und Yamamoto aus irgendeiner Ecke brüllen.   Chikara selbst hatte sich hinter die Sporthalle verzogen, auf die Treppenstufen vom Hintereingang. Er genoss den Frieden nach dem tumultreichen Tag. Eine ganze Weile saß er einfach nur da und sah der Sonne beim Sinken zu, ehe er Schritte hinter sich hörte. Zu leise, um zu Wildfang Nishinoya oder Tanaka zu gehören, deshalb machte er sich kaum die Mühe, sich nach ihnen umzudrehen. Es war Shida, der sich grinsend neben ihn hockte und ihm eine Dose mit einem Sportgetränk reichte. „Du siehst müde aus.“ Chikara lachte leise. Shida stimmte mit ein und schüttelte den Kopf. „Ich meine wirklich!“ – „Bin auch müde“, erwiderte er, während er die Dose öffnete. Sie zischte leise. „Karasuno ist ein unglaublich anstrengender Sauhaufen. Daichi-San, mein Vorgänger, hat das ein ganzes Schuljahr durchgezogen. Ich hab nicht einmal ein halbes hinter mir und fühl mich schon nach Rente.“ Es war nicht, dass Chikara sich drücken wollte. Es war ihm einfach zu viel. Er hatte nicht den Eindruck, ein guter Captain zu sein. War zu schwach. Machte zu viele Fehler. Nicht einmal auf dem Spielfeld – in dem Punkt hatte er sein Selbstvertrauen wiedergefunden. Es war außerhalb, was ihm Kummer bereitete. Das Hinata-Drama hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, er hatte den Eindruck, dass Tsukishima und Kageyama darüber tatsächlich auch zu einer Kommunikationsbasis gefunden hatten, aber wäre das nicht auch anders gegangen? Besser? Daichi hatte einige Konflikte auch ausgesessen, aber sie hatten sich immer weit schneller gelöst. War Chikara im Endeffekt also nicht nur weggelaufen?   Shidas Schulter kollidierte sanft mit seiner und unterbrach damit die schwermütigen Gedanken in seinem Kopf. „So geht es jedem Captain, wetten? Kenma hat auch schon mit dem Gedanken gespielt, aufzuhören! Aber ehrlich! Wenn ihr so ungeeignet für euren Job wäret, ihr würdet das merken!“ Er lachte herzlich, sprang auf die Beine und platzierte sich vor Chikara. Während er sprach, gestikulierte er lebhaft genug, dass ein wenig Flüssigkeit aus seiner Getränkedose schwappte. „Revolte! Aufstände! Boykott! Wenn das Team dich nicht schätzen würde, würden sie dir nicht gehorchen! Und solange sie dir gehorchen – wieso in Rente gehen? Nutz es aus, dass du eine Armee williger Sklaven hast!“ Chikara lachte unwillkürlich. Er schüttelte den Kopf. „Willige Sklaven sehen anders aus. Und ehrlich, willige Sklaven sind auch nützlicher. Mit denen könnte ich nicht einmal ein Baby überfallen.“ – „Umso besser! Sie sind eben noch formbar – du musst sie nur besser dressieren!“ „Ich weiß nicht.“ Mit einem Seufzen ließ Chikara den Kopf in den Nacken fallen. Shidas Silhouette in der Abendsonne wirkte unnatürlich dunkel. „Daichi-San – und da sind wir uns alle einig – ist mit Abstand der beste Captain, den Karasuno seit Jahren hatte. Seine Fußstapfen auszufüllen ist so ziemlich unmöglich. Ich versuch es, aber – ich hab nicht das Gefühl, dass es funktioniert? Wir sind stark. Ein gutes Team. Aber bei jeder Entscheidung und jedem Konflikt habe ich den Eindruck, Daichi-San würde es besser lösen. Dass ich nicht genug bin. In meinem ersten Jahr hab ich das Team für eine Zeit verlassen, weil mir alles zu anstrengend war. Ich bin zurückgekommen. Aber wer sagt, dass ich nicht immer noch weglaufe? Ob nun damit, bleiben zu wollen, oder damit, gehen zu wollen, sei mal dahingestellt.“   Sein Gesprächspartner schwieg für eine Weile. Shida ging in die Hocke, beobachtete Chikara schließlich von dort aus lange, ehe er wieder zu grinsen begann. „He, was hältst du von einer kleinen Reise, Ennoshita?“ „Einer Reise.“ Er hob die Augenbrauen, skeptisch, aber irgendwie amüsiert. „Dir ist klar, dass ich später nach Hause fahren muss?“ Shida lachte nur. Sprang wieder auf, streckte beide Hände nach ihm aus. „Klar weiß ich das! Aber ich entführe dich jetzt trotzdem! Komm mit. Wir kommen vermutlich nicht nach Oz, und einen großen Zauberer finden wir auch nicht, aber vielleicht reicht es, damit dieser Löwe hier seinen Mut findet.“ „Ich bin kein Löwe.“ „Dann eben Krähe! Auch Krähen haben sicher irgendwo einen Mut, den sie finden können!“ Chikara lachte, weil ihm nichts Besseres einfiel, und ergriff Shidas ausgestreckte Hände. Er ließ sich hochhelfen, nur um Shida dann schwungvoll näher zu ziehen, bis sie kollidierten und beinahe wieder zu Boden fielen.   „Deal. Aber nur, wenn wir auf dem Weg auch den Verstand dieser Vogelscheuche hier suchen.“     ***     Shouyou stand vor ihm. Reglos, unbeweglich, die großen Augen weit aufgerissen und starr, voll beunruhigender Intensität. Es war der Blick, den er üblicherweise für alles, was mit Volleyball zu tun hatte, reservierte – aber schlussendlich hatte auch das hier mit Volleyball zu tun, nicht wahr? „Du hast es versprochen.“ Es waren die einzigen Worte, die er sagte. Der starre Blick blieb. Kenma musste ihn nicht einmal ansehen, um ihn zu spüren, und er wurde mit jedem Augenblick unangenehmer, ließ seinen Magen krampfen und sein Herz härter schlagen als notwendig. Es machte ihn nervös. Einziges Ziel von Shouyous übertriebener, intensiver Aufmerksamkeit zu sein war nichts, das Kenma je in seinem Leben hatte haben wollen. Es war viel zu anstrengend. Zu erschreckend. Es stimmte. Er hatte es versprochen. Zugegeben, in dem Moment, in dem er es versprochen hatte, hatte er nicht völlig daran geglaubt, dass Shouyou es schaffen würde, aber er hatte es gehofft. Shouyou gehörte aufs Spielfeld, so sehr, wie Kenma eigentlich nicht dorthin gehörte. Trotzdem wollte er noch nicht zurücktreten, nicht jetzt. Er nickte langsam, vermeidend, Shouyou dabei anzusehen. „Ich weiß.“ Shouyous Hände zuckten. Er ballte sie zu Fäusten, sein ganzer Körper war angespannt. Kenma verstand nicht, wieso es ihm so wichtig war, und das war noch eine Sache, die in erster Linie unangenehm war und nichts anderes. Kuro würde es vermutlich lustig finden. Witze darüber machen, dass Shouyou einer der wenigen Menschen war, die Kenma aus der Reserve locken konnten. Er war froh, dass Kuro nicht hier war.   „Ich halte meine Versprechen.“   Mit einem Schlag änderte sich Shouyous Stimmung. Die Anspannung verflog so rasch, als wäre sie nie da gewesen, und im nächsten Moment regte er sich. Kenma begriff nicht, was er tat, bis es längst zu spät war. Shouyou umarmte ihn. Er spürte das Gewicht von fremden Armen auf den Schultern, spürte einen fremden Körper, der sich an seinen drückte und dabei sein Handy gegen seine Brust presste, spürte Shouyous Haare an seinem Gesicht kitzeln. Sein Lachen war so nah, dass es in Kenmas Kopf widerhallte, fast schmerzhaft laut. Er war unfähig, irgendetwas anderes zu tun als da zu stehen, die Augen weit aufgerissen vor Schreck, und zuzulassen, was auch immer Shouyou da gerade tat. Kenma hörte über das Rauschen seines eigenen Bluts hinweg nicht, was Shouyou plapperte, aber so, wie er Shouyou kannte, war es kaum wirklich wichtig. Er konnte nicht zuhören. Nicht denken. Sein Hals war wie verknotet, und sein Herz schmerzte bei jedem harten Schlag. Atmen war schwierig so.   Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er sich löste. Kenmas Herz schlug immer noch unangenehm schnell. Er riskierte einen Blick in Shouyous Gesicht und bereute es beinahe augenblicklich – seine Augen glühten, schimmerten feucht, sein Mund zu einem breiten Grinsen verzogen und seine Wangen waren gerötet vor Freude. Es war viel zu viel, geradezu lächerlich in Anbetracht der Banalität, über die Shouyou sich gerade freute. „Kenma!!!“ Die laute Stimme war immer noch zu nah, ließ ihn zusammenzucken. Kenma machte nicht mehr den Fehler, aufzusehen. Shouyou schien es nicht zu stören; er packte Kenmas Hand, die nicht das Handy hielt, als könnte er sich so seine Aufmerksamkeit erschleichen. (Konnte er.) „Kenma! Wir sehen uns bei der Frühlingsmeisterschaft! Versprochen!!!“ Kenmas Mundwinkel zuckten. Als er den Blick wieder hob, war Shouyou immer noch viel zu grell, aber zumindest für kurz würde es ertragbar sein.   „Ich freue mich darauf, euch zu besiegen.“     ***     Wie aus einem simplen Abendessen so etwas hatte werden können, konnte Tetsurou nicht rekonstruieren. Sie hatten zu Abend gegessen, ja. Aber dann hatten sie sich nicht getrennt, um zu ihren jeweiligen U-Bahn-Stationen zu laufen und nach Hause zu fahren. Seit fast einer Stunde liefen sie ziellos durch die Innenstadt, nicht einmal besonders gesprächig miteinander, einfach nur um des Laufens Willen. Wenn er es sich recht überlegte, dann hatte er heute kaum ein paar Worte mit Daishou gewechselt. Er war ungewöhnlich still gewesen, und Tetsurou hatte nicht ganz das Bedürfnis gehabt, die Stille mit Sticheleien zu durchbrechen. Ihm fielen nicht einmal viele ein. Also war es still geblieben, war es immer noch still. Es war inzwischen dunkel, die Sonne abgelöst durch gelbliche Straßenlaternen und Leuchtstoffröhren und Neonreklamen, die die breiten Einkaufsstraßen in ein beinahe unfreundlich grelles Licht tauchten. Es spiegelte sich in den Piercings, die Tetsurou sah, wenn er zur Seite blickte. Irgendwann, als er zur Seite sah, fing er Daishous Blick auf, statt dem Funkeln seiner Piercings. „Du starrst“, konstatierte er trocken, hob eine schmale Augenbraue, „Ist es so interessant?“ Tetsurou lachte. „Ich bin immer noch schockiert, dass du jetzt ein Schweizer Käse bist.“ Etwas in Daishous Grinsen sagte Tetsurou, dass er kein Wort glaubte. Er blieb stehen, Tetsurou tat es ihm automatisch gleich. Mitten in einer Einkaufsstraße, rings um sie herum Menschen, die einfach weiterliefen, und Daishou lehnte sich vor, bis er eindeutig zu weit in Tetsurous persönlichen Raum eingedrungen war.   „Es gefällt dir.“   Tetsurou war stolz auf sein Pokerface. In diesem Moment aber verließ es ihn und sein Gesicht entgleiste völlig. In erster Linie war er schockiert, und er wusste nicht einmal, wovon mehr – davon, dass er sich ehrlich ertappt fühlte, oder eher davon, dass Daishou überhaupt arrogant genug war, auf so eine dumme Idee zu kommen. Es war ein Klingeln seines Handys, das ihn davor rettete, eine schlagfertige Antwort finden zu müssen. Der Ton verriet, dass es Kenma war, und weil Kenma immer Priorität hatte, zog er das Handy aus der Tasche und wandte sich dem kleinen, leuchtenden Display zu. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass Daishou wieder auf Abstand ging, dann war die Nachricht interessanter und seine Gesellschaft für den Moment vergessen. Ich bleibe. Zwei Worte, die Tetsurou einen riesigen Stein vom Herzen fallen ließen. Er lachte erleichtert auf, fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. Er hatte es gewusst. Kenma musste bleiben! Er hatte zwar keine Ahnung, woher der Sinneswandel kam, aber er ahnte, dass es mit Karasuno und ihrem Trainingsmatch zu tun hatte, das, wenn er sich recht erinnerte, heute gewesen war. Er schickte dem Chibi einen kurzen Dank per Nachricht, schickte auch Kenma nur ein paar Worte, die ausdrücken sollten, dass er froh über seine Entscheidung war, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass er jede andere Entscheidung nicht akzeptiert hätte, und steckte das Handy wieder weg. Daishou sah ihn an, so ruhig und regungslos, als hätte er ihn schon die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. „Kozume?“ – „Ja. Er hat Bescheid gegeben, dass er weiter spielt.“ Tetsurou konnte nicht verhindern, dass grinste, als er es erzählte. Daishou verdrehte nur die Augen. „Ich hoffe, du bist nicht der Grund.“ Es klang nicht einmal halb so bissig, wie Tetsurou erwartet hatte – wahrscheinlich filterte sein Kopf gerade vor Erleichterung einen großen Teil der negativen Töne einfach. Er zuckte unbekümmert die Schultern. „Ganz egal. Das Resultat zählt.“ „Und lass mich raten. Du wirst jetzt sowieso den ganzen Abend an nichts anderes mehr denken können?“   Selbst, wenn das nicht stimmte – was es nicht tat, übrigens! –, es war spät genug, dass Tetsurou trotzdem nach Hause wollte. Er hatte lang genug mit Daishou abgehangen, wenn man ihn fragte. Zu lange. „Müssen kleine Schlangen nicht langsam ins Bett?“ „Sag doch gleich, dass du mich loswerden willst. Muss deprimierend sein, so lange mit einem heißen Typen rumzuhängen, huh?“ Der Widerspruch, der Tetsurou auf der Zunge lag, schmeckte schon so lahm, dass er ihn wieder hinunterschluckte, während er versuchte, nicht zu auffällig auf die Piercings an Daishous Unterlippe zu starren. Objektiv betrachtet war er immer noch verdammt attraktiv. Subjektiv betrachtet war da diese miese Persönlichkeit.   Die in letzter Zeit immer weniger mies wurde.   Verwirrt schüttelte Tetsurou den Kopf. Es half, um die Gedanken wieder zu klären. „Ich schulde dir noch ein Essen, huh?“ – „Wow. Du kannst zählen.“ Tetsurou schnaubte nur. Er wollte grinsen, doch es fiel schiefer aus als geplant und so ließ er es letztlich doch lieber wieder bleiben, als er Daishou auffordernd eine Hand entgegenstreckte. „Gib mir deine Handynummer. Ich hab keinen Bock, dich immer in der Uni suchen zu müssen, wenn ich etwas von dir will.“ Ignorierend, dass sie im gleichen Sportclub waren. Und dass er nichts von Daishou wollte. Die Details waren aber nun auch wirklich nicht wichtig. Daishou sah ehrlich erstaunt aus von den Worten. Ungläubig. Sein Mundwinkel zuckte – Tetsurou sah es nur, weil sein Blick wieder von den Piercings abgelenkt war –, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. Mühsam riss Tetsurou den Blick von seinem Mund los, um seinen Augen zu begegnen, deren Blick viel zu weich und menschlich war, um wirklich ehrlich sein zu können. Es war immerhin Daishou. „Krieg ich dann auch meinen eigenen Klingelton?“     ***     Das Getuschel war geradezu beunruhigend. Da war eine Traube von jungen Studentinnen, die alle miteinander tuschelten, während Morisuke genervt versuchte, sich an ihnen vorbeizuschieben, um das verdammte Unigelände zu verlassen und zur U-Bahn zu kommen. „So hübsch!“, tuschelte ein Mädchen neben ihm gerade. Ein paar Schritte weiter schnappte er den nächsten Gesprächsfetzen auf: „So groß! Ob er Model ist?“ Was auch immer die Mädchen daran hinderte, sich weiter zu bewegen, Morisuke hoffte, dass es ihm gar nicht erst unter die Augen trat, denn er hätte gehörig ein Hühnchen mit dem unverschämten Kerl zu rupfen, der sämtlichen Fußgängerverkehr im Universitätsgeländeeingangsbereich blockierte. Er hatte wirklich besseres mit seinem Tag zu tun, als sich durch eine Horde schwerparfümierter junger Frauen zu schlagen, die obendrein mit ihren Absätzen auch noch allesamt mindestens an seine Größe heranreichten! Einmal dem Pulk an Mädchen entkommen, konnte er trotz allem Nicht-sehen-wollen einen Blick auf die Ursache des Tumults werfen. Groß. Schlank. Modische Frisur. Breiter Mund, ratlos verzogen. Er sah sich suchend um. Sein Blick blieb auf Morisuke hängen und das fremde Gesicht erhellte sich in einem grausig breiten Grinsen, noch ehe er ganz begriffen hatte, was er da vor sich sah. „Yaku-San!“   Das war Lev. Lev, der immer ausgesehen hatte, als wären seine Haare von einer Kuh geleckt worden, stand hier vor ihm, zum ersten Mal, dass es Morisuke bewusst war, nicht in seiner Schuluniform, mit einer Frisur, die so un-lev war, dass es unmöglich war, ihn auf den ersten Blick zu erkennen. Oder ihn überhaupt zu erkennen. Er sah aus wie ein anderer Mensch! Mühsam schüttelte er seine Überraschung ab, stapfte auf den dummen Kerl zu, der fröhlich grinsend da stand und sich seines Lebens freute. „Was machst du hier?!“ – „Ich wollte dich sehen, Yaku-San. Gefällt dir meine neue Frisur?“ Morisuke antwortete nicht. Er spürte, wie sein Nacken heiß wurde und wandte sich abrupt ab, um schlimmeres zu verhindern. „Beweg dich gefälligst, du Wolkenkratzer, du hältst den gesamten Verkehr auf!“ Er wollte nicht nachher schuld sein daran, dass irgendjemand irgendeinen dringenden Termin verpasste, weil Morisuke nicht in der Lage war, seinen ungewollten Gast davon abzuhalten, unnötig viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kurzentschlossen packte er Lev am Ärmel, weil er zu langsam reagierte, zerrte ihn grob mit sich. „Wohin gehen wir, Yaku-San?“ Er hörte das verdammte Grinsen auf Levs Gesicht. „Zu mir.“   Es war keine gute Idee. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, und er wollte dringend einen Kaffee.   Viel konnte er Lev nicht zugutehalten, als sie schließlich in der kleinen Bude saßen. Er stierte ungeniert neugierig durch die Gegend, als wolle er sich noch jedes nicht existente Staubkorn merken, und allein dafür hätte Morisuke ihm gern dezent gegen das Schienbein getreten, aber er ließ es bleiben. Die Kaffeetasse landete trotzdem mit einem unnötig lauten Knall vor Levs Nase auf dem kleinen Esstisch. „Warum zum Henker bist du zur Uni gekommen?!“ Sicher nicht, um sie zu besichtigen. Lev war dafür noch zu jung! Der Kerl grinste vergnügt. Die Kaffeetasse verschwand in seinen riesigen Pranken. „Ich wollte dich sehen“, wiederholte er noch einmal. Er legte den Kopf kaum merklich schief, „Und du hast mir noch nicht gesagt, wie du meine neue Frisur findest.“ „Könnte schlimmer sein“, brummte Morisuke, ertränkte jeden weiteren Gedanken in einem großen Schluck heißem Kaffee. Er hätte Lev in die nächste U-Bahn setzen sollen, statt ihn mit nach Hause zu nehmen. Jetzt saß der Kerl hier wie eine zu groß geratene Straßenkatze und schien schon zu planen, wie er sich am besten häuslich einrichten konnte – gar nicht, wenn es nach Morisuke ging, und das ging es in diesem Fall schließlich.   Sie verloren sich in Smalltalk. Lev berichtete von ihrem letzten Trainingscamp, von ihrem letzten Match gegen Karasuno. So, wie das klang, hatten sie in jedem Fall viel gelernt, und das war so beruhigend, dass Morisuke nicht einmal mehr genervt von dem unablässigen Geschwätz war. Nach ein paar Minuten des Geplappers stand er wieder auf, um sich eine Portion Instantnudeln fertig zu machen. Er war hungrig. Lev verfolgte jede Bewegung mit unnötig großem Interesse – es war schwer zu ignorieren, auch wenn er es versuchte. Den Raum zu verlassen half aber immerhin temporär. Als Morisuke wieder aus der Küche kam, stand Lev ebenfalls, und er grinste erwartungsvoll. „Was?“ – „Ich muss dich was fragen, Yaku-San.“ Morisuke ahnte, dass es nichts Gutes werden würde. Er hob die Augenbrauen. „Was?“ – „Gehst du mit mir aus?“ „Nein.“ „Warum?“ Musste er einen Grund angeben? Nein. Würde Lev aufhören zu nerven, wenn er es nicht tat? Nein. Möglichst ruhig stellte Morisuke sein Abendessen auf dem Tisch ab, dann baute er sich vor Lev auf. Er musste viel zu weit zu ihm aufsehen. „Du bist mir zu groß.“ Es war nicht einmal eine Lüge. Lev war zu groß! Neben allen anderen tausend guten Gründen, nicht darüber nachzudenken, ob Haiba Lev ein möglicher Beziehungspartner war oder nicht, war dieser vermutlich einer der gravierendsten. Morisuke brauchte es nicht, jeden Tag neben diesem Wolkenkratzer zu verbringen und damit gewissermaßen dauerhaft unter die Nase gerieben zu kriegen, wie klein er im Vergleich war. Ganz zu schweigen davon, dass es für eine Beziehung einfach unpraktisch war. Dummerweise sah Lev nicht aus, als ob ihn das stören würde. „Ah. Das ist gar kein Problem!“, verkündete er völlig unbekümmert. Morisuke war sich sicher, dass da jetzt irgendeine furchtbare Dummheit kommen würde, irgendetwas, das in ihm das dringende Bedürfnis wecken würde, Lev gehörig in den Arsch zu treten und dann aus seiner Bude zu werfen, aber der Kerl machte nicht einmal den Mund auf. Er beugte sich vor. Morisuke erwartete halb, dass Lev gleich verkünden würde, dass ihm das gar nichts ausmachte, sich immer so hinab zu beugen – es müsste eine Lüge sein, ernsthaft –, aber er lag wieder falsch. Lev sagte nichts. Lev packte ihn. Keine Sekunde später verlor er den Boden unter den Füßen. „L-Lev!!!“   „Hm. Aber so passt es doch, Yaku-San.“   Morisuke öffnete den Mund zum Protest. Seine Füße hingen in der Luft, sein Herz raste vor Schreck, und sobald er den Blick hob, starrte er in Levs grüne Katzenaugen. Was daran passte bitte?! „Das kannst du auch nicht länger als ein paar Sekunden durchziehen!“, patzte er, weil ihm nichts Klügeres einfiel. Lev blinzelte nur unbekümmert, verkündete, dass er das ja trainieren könnte. Morisuke glaubte ihm nicht, so wie er Lev nie glaubte, wenn der irgendeinen neuen großen Plan fasste. Der Kerl grinste viel zu breit, viel zu nah, und Morisuke konnte sich nicht entscheiden, ob es ihm entsetzlich unangenehm war, auf Augenhöhe zu sein, oder ob es ein Segen war, dass dieses Grinsen immerhin nicht  mehr nach unten gerichtet war. „Du kannst also doch mit mir ausgehen?“ – „Nein!“ – „Aber Yaku-San!“ „Kein aber! Ich geh nicht mit dir aus!“ Lev verzog das Gesicht zu einer jämmerlichen Schnute. Morisuke knurrte, unfähig, mehr zu tun, weil er immer noch in der Luft hing und es ihn furchtbar aus dem Takt brachte. Er konnte kaum irgendwo anders hinsehen als in Levs Gesicht, seine Hände lagen auf den Schultern des Kerls, weil sie reflexartig dort gelandet waren, als er den Boden unter den Füßen verloren hatte, und sich noch nicht wegbewegt hatten. Einen langen Moment spielte er mit dem Gedanken die Hände in Levs Haar zu vergraben, das mit seinem wuscheligen, unruhigen Styling geradezu dazu einzuladen schien. Dann nahm die Vernunft wieder überhand und er schüttelte wild den Kopf. „Lass mich runter.“ – „Nur wenn du mit mir ausgehst.“ Lev grinste breit. Er lehnte sich vor, und Morisuke wurde mit Entsetzen bewusst, dass er keinerlei Fluchtweg hatte. Panik ließ sein Herz erst stocken und dann unnötig schnell weiterrasen. Er packte nun doch in Levs Haar, nur zur Sicherheit, um den Kerl auf Abstand zu halten. Der Kontrast der langen, weichen Strähnen und der raspelkurzen Haare auf der linken Kopfseite machte etwas mit Morisukes Magen, dem er gar keinen Namen geben wollte. Er schluckte. Verzog den Mund zu einem unwilligen Strich, gab sich alle Mühe, sich einzureden, dass die Hitze in seinem Gesicht nur Einbildung war.   „Unter einer Bedingung“, murmelte er atemlos. Levs Augen weiteten sich überrascht, und vorlauter Überraschung vergaß er für einen Moment sogar das Grinsen – Morisuke gefiel der Gesichtsausdruck.   „Ich gehe mit dir aus, wenn ihr durch die Vorrunden kommt und du wirklich das Ass wirst.“ Kapitel 15: ------------ Dass Yaku gleich auf der anderen Seite des Spielfelds stehen würde, war surreal. Jetzt saß er noch hier, neben Tetsurou auf einer Bank im Eingangsbereich der großen städtischen Sporthalle, in der die Vorrunden der Intercollegiate stattfanden. „Die Jungs kommen nicht?“, fragte er wie beiläufig. Er klang trotzdem bedrückt, ähnlich wie Tetsurou sich fühlte. Er seufzte leise. „Die stecken grad selbst Hals über Kopf im Training. Im aktuellsten Trainingscamp letzten Monat haben sie nicht gut abgeschnitten, hat Kenma mir erzählt, deshalb ziehen sie die Wochenenden jetzt komplett durch. Hast du schon gehört, dass Lev sich ernsthaft anstrengt?“ Yaku schnaubte, als wolle er dahinter sein Grinsen verstecken – es gelang ihm nicht. Tetsurou grinste selbst amüsiert, lehnte sich entspannt zurück. Sie wurden groß, ihre kleinen Kouhai. Dass Kenma geblieben war, und dass Kenma doch so viel Ehrgeiz zeigte, war unglaublich beruhigend. Selbst wenn er nach der Schule aufhören würde – auch wenn Tetsurou daran nach wie vor nicht denken wollte. Kopfschüttelnd schob er den Gedanken beiseite. „Wir haben unsere Senpai auch nie besucht. Ob die sich auch so mies gefühlt haben?“ – „Hat von denen überhaupt jemand weitergemacht?“ „Hm. Auch wieder wahr.“   Es war doch auch gar nicht, dass sich ihre Jungs nicht kümmerten. Sie hatten Nachrichten geschickt, allesamt. Lev, Inuoka und Shibayama hatten ein Foto mit einem nicht gerade hübschen, bunten, gebastelten Schild geschickt, das wohl anfeuernd sein sollte. Tetsurou hatte es so lange liebenswert gefunden, bis er begriffen hatte, dass der Staubwedel mit dem Grinsegesicht darauf er sein sollte. Die Geste war trotzdem nett, irgendwie. Es wäre dennoch schöner gewesen, wären sie hier. Immerhin war Bokuto da. Natürlich war Bokuto da. Tetsurou hatte ihn vorhin gesprochen, als er angekommen war und Bokuto bereits lärmend durch den Eingangsbereich walzte. Akaashi war bei ihm, und es war absolut unübersehbar, wie sehr der Idiot sich darüber freute. Er erzählte bestimmt fünf Mal stolz, dass er Akaashi vom Training entführt hatte, weil das hier ja so viel wichtiger war. War es nicht. Tetsurou schätzte es gerade deshalb ungemein, dass Akaashi sich wirklich hatte abschleppen lassen, auch wenn das zu mindestens neunzig Prozent sowieso nur daran lag, dass er bei Bokuto sein wollte – aber zumindest die verbliebenen maximal zehn Prozent wünschte er Tetsurou Glück. Das war mehr, als er manchmal für all den Unfug verdient hatte, zu dem er Bokuto anstiftete. „Wir gehen trotzdem zum Frühlingsturnier, oder?“, fragte er, eigentlich völlig überflüssigerweise. Er kannte die Antwort, noch ehe Yaku auflachte, „Natürlich! Ich hab noch ein Hühnchen mit den Jungs zu rupfen!“ „Du meinst wohl eher mit Lev?“ „Irgendwer muss es ja tun!“ Tetsurou lachte. Er widerstand gerade so dem Drang, Yaku durch das unruhige, kurze Haar zu wuscheln, um ihn noch ein bisschen mehr zu ärgern. „Gib doch wenigstens zu, dass du ihn magst.“ Der Winzling schnaubte amüsiert. Er grinste zu Tetsurou hinauf, große Augen warm und voller Liebe. Ein seltener Anblick, der automatisch auch an Tetsurous Mundwinkel zupfte und ihn ebenso grinsen ließ. Yaku hatte schon immer ein ansteckendes Lachen gehabt, man vergaß es nur schnell, so oft, wie er eine grimmige Miene ziehen konnte. Das nächste Mal, dass er Yaku so erwischte, würde er ein Foto für Lev machen. Einfach, weil er es konnte.   „Nicht vor ihm!“   „Man könnte glatt neidisch werden.“ Tetsurou seufzte amüsiert. Er sah sich im Eingangsbereich um. Selbst hier fand er sie, die verliebten Tölpel. Einige Jungs hatten ihre Freundinnen mitgebracht und turtelten jetzt vor ihren großen Spielen noch fleißig. „Überall verliebte Vollidioten.“ Eine Faust kollidierte mit seiner Schulter, nicht wirklich schmerzhaft, aber mahnend – der nächste Hieb würde wehtun. Tetsurou rieb sich schnaufend über die nicht schmerzende Stelle und warf Yaku einen beleidigten Blick zu. Er sagte nur die Wahrheit! „Niemand hindert dich daran, dich zu verlieben.“ – „Doch. Es gibt einfach niemanden, der meiner würdig ist!“ Er fasste sich theatralisch an die Brust. Neben ihm lachte Yaku nur schadenfroh und rein gar nicht mitleidig. Tetsurou wollte auch kein Mitleid! Oder dass sein Gegenüber glaubte, er brauchte dringend eine Beziehung, nur, weil er keine hatte. Es reichte, dass Bokuto so tickte. Vielleicht war das überhaupt auch der Grund, weshalb er mit Yaku das Thema anriss – er wusste haargenau, dass der kleine Libero selbst so unglaublich unromantisch war, dass er niemals auf die Idee käme, eine Beziehung wäre Pflichtprogramm. Eigentlich war es überhaupt unglaublich, dass Yaku verknallt war – und sich das auch noch eingestand. Es war so abstrus, dass Tetsurou einfach nachfragen musste: „Wie verliebt man sich in Lev von allen Menschen?“ Er rechnete halb damit, dass Yaku ihn allein für die Frage vermöbeln würde, doch es passierte nichts. Als er zur Seite blickte, sah er, dass der Blick des Anderen unbestimmt in die Ferne ging. Er schien eine Gruppe von Studenten zu beobachten, ihren Trainingsklamotten nach zu einem Team gehörend, die sich eifrig unterhielten. Tetsurou war sich recht sicher, dass er im Endeffekt nur durch sie hindurchblickte. „Er kann überraschend liebenswert sein“, gab er schließlich nachdenklich zurück, „charmant. Und… keine Ahnung. Ich hab nie behauptet, guten Geschmack zu haben!“ Tetsurou lachte amüsiert. Jetzt ließ er es sich doch  nicht mehr nehmen, Yaku durch das Haar zu wuscheln. „Das hast du auch nicht!“ „Deiner wäre nicht besser, Kuroo!“   „Wir müssen los!“   Daishous Stimme unterbrach Tetsurous Gedanken, noch ehe sie wirklich bildliche Form annehmen konnten. Insgeheim wusste er, was sein Kopf ihm da ausspucken wollte, und er war froh, dass es so weit gar nicht gekommen war. Beinahe erleichtert stand er von der Bank auf, winkte abwesend zu ihm hinüber, ehe er sich noch einmal grinsend zu Yaku drehte. Der Pimpf stand inzwischen auch und war immer noch viel zu winzig. „Mein Geschmack ist großartig“, konstatierte er breit grinsend. Es war Zufall, dass sein Blick just in diesem Moment noch einmal in Daishous Richtung zuckte. Der Kerl stand mit verschränkten Armen abwartend da, die Augenbrauen hochgezogen. Selbst auf die Entfernung sah Tetsurou die verdammten Piercings in seinem Gesicht viel zu deutlich. Yakus Augenbrauen wanderten, als Tetsurou zurück zu ihm sah. Er sah ihn forschend an, sah dann an ihm vorbei in die Richtung, in der die Schlange stand, zuckte dann mit einem spöttelnden Lächeln die Schultern. „Könnte schlimmer sein.“ – „Der hat nichts damit zu tun!!!“ „Natürlich nicht. Kuroo, wirst du rot?“ Tetsurou wurde nicht rot – und wenn doch, dann rein vor Empörung über Yakus dreiste Dummheit! Er schnaubte beleidigt, verschränkte die Arme vor der Brust. „Kümmer dich um deinen Wolkenkratzer, statt mich zu nerven, Yakkun.“ – „Der hat sich selbst zu kümmern. Ich bin noch lange nicht so weit, einfach mit ihm auszugehen!“ Einerseits hätte Tetsurou das Thema gern festgehalten, weil es leicht und irgendwie erheiternd war, aber auf der anderen Seite wusste er ganz genau, dass das einfach nicht funktionierte. Sie konnten nicht ewig das Offensichtliche vor sich herschieben. Letztlich war es auch genug – wenn er Yaku noch zu viel mobbte, würde der Kerl ihn doch noch verprügeln; auf blaue Flecken vor dem Spiel konnte er verzichten. Und es wurde Zeit, dass sie zu ihren neuen Teams zurückkehrten, huh? Und irgendwie… freute er sich darauf. Er streckte Yaku die Hand hin. „Viel Erfolg.“ – „Dir auch.“ Yakus Händedruck war immer noch viel fester, als seine kleine Gestalt vermuten lassen würde. Es war vertraut, weil alles an Yaku stärker und harscher war, als man vermuten würde, gleichzeitig war es fremd, denn das letzte Mal, dass sie Hände geschüttelt hatten, war in der Mittelschule gewesen. Das letzte Mal, dass sie gegeneinander gespielt hatten. Rivalen gewesen waren. Das Leben war ein Bastard, dass es Tetsurou stattdessen ausgerechnet Daishou an die Seite gestellt hatte. Besagter Daishou rief noch einmal nach ihm – „Tetsurou, beweg dich!“ – und brachte Yaku damit, amüsiert die Augenbrauen zu heben, doch er sagte nichts. Tetsurou war froh darum. Bald wich das Amüsement wieder aus seinem Blick und machte Platz für fast feierliche Ernsthaftigkeit.   „Wir sehen uns auf dem Spielfeld.“     ***     Trainingsspiele waren eine Sache. Jetzt hier auf dem Feld zu stehen und ein offizielles Match zu bestreiten, bei dem es kein Zurück mehr gab, war etwas völlig anderes. Tetsurou hatte gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, dass er Daishou eigentlich auf den Tod nicht ausstehen wollte – es aber inzwischen doch tat… – , und er hatte keine Zeit mehr, darüber zu sinnieren, wie ein Team funktionieren sollte, in dem sie beide aufgestellt waren. Es funktionierte einfach. Es funktionierte. Es wurde Tetsurou erst so richtig bewusst, als sie sich zum ersten Timeout einfanden und er völlig selbstverständlich und ohne darüber nachzudenken eine Wasserflasche an Daishou reichte, nachdem er sich selbst eine genommen hatte.   Irgendwann im zweiten Satz wurde aus Daishou Suguru, und als es Tetsurou endlich wirklich auffiel, war es schon viel zu spät, als dass er noch etwas ändern könnte. Eigentlich wollte er es auch gar nicht. Es erinnerte ihn an die vagen Überbleibsel seiner Kindheit, in der sie beide noch keine Idioten gewesen waren.   Schon im zweiten Match standen sie Yakus Team gegenüber. Von allem, was Tetsurou wusste, war das Team alles andere als schlecht, aber gut, das war ihres genauso wenig. Wirklich Sorgen machte er sich keine. Er kannte Yaku. Er wusste ganz genau, wozu der Kerl fähig war, und er wusste, dass Yaku nicht allmächtig war. Auch der beste Libero hatte seine Grenzen, ganz zu schweigen davon, dass auch der beste Libero  nicht dauerhaft auf dem Spielfeld sein würde. „Ich hoffe sehr für dich, dass du nicht aus Sentimentalität heraus patzt“, zischte Suguru ihm mahnend entgegen, als sie ihre Plätze auf dem Feld einnahmen. Tetsurou lachte, nur ein winziges bisschen ertappt. „Nein. Yakkun würde mich umbringen, wenn ich ihn nicht ernstnehme.“ „Es würde für ihn gar nichts mehr zum Umbringen übrig bleiben, Tetsurou.“ – „Hah? Du drohst mir? Wo ist denn der liebe Junge hin, der sonst immer auf dem Feld steht, Suguru~?“ Suguru grinste. Kein boshaftes, spöttisches, schleimiges Schlangengrinsen, sondern – anders. Breit, selbstbewusst, aufgeregt. Ein Sportlergrinsen, das Tetsurou ganz automatisch dazu brachte, es zu erwidern. „Sag nicht, du vermisst ihn.“ Nein. Tetsurou vermisste die schmierige Schlange nicht. Er schüttelte vehement den Kopf, boxte Suguru gegen die Schulter. Er hatte sich so sehr verändert, dass Tetsurou ehrlich Mühe hatte, den jungen Mann, der gerade vor ihm stand und ihn anlachte, noch mit dem Kerl übereinzubringen, den er letztes Jahr noch mit vollster Leidenschaft gehasst hatte – und der umgekehrt auch ihn gehasst hatte. Das hier war der Junge mit dem braven Pottschnitt, den er vor Jahren einmal gekannt hatte; nur, dass er einfach älter geworden war. So wie Tetsurou selbst auch. Er hatte keine Ahnung, weshalb sie irgendwann den Kontakt verloren hatten, aber gerade in diesem Moment, in dem ihm bewusst wurde, wie viel er eigentlich verpasst und verloren hatte dadurch, wünschte er sich, er könnte es verändern. „Natürlich nicht.“ Suguru schüttelte den Kopf, amüsiert. Seine Augen blitzten. „Dann kann ich ja gehen?“   „Bullshit. Du bleibst. Nur das Schmierentheater lässt du sein!“     ***     Nach dem letzten High-School-Jahr war es seltsam tröstend, zu wissen, dass er sein gesamtes Universitätsleben noch vor sich hatte. Morisuke war zwar trotzdem danach, irgendetwas kurz und klein zu schlagen und vor Frust zu heulen, aber das Wissen, dass er wirklich noch ein nächstes Mal hatte, dass es ein nächstes Jahr gab, ein nächstes Turnier, machte es leichter. Trotzdem fühlte er sich verloren, als er vor dem Netz stand, Hände schüttelnd, Fassung wahrend. Kuroo grinste zu ihm hinunter, ein perfektes Sinnbild von Arroganz und Selbstüberzeugung. Er erinnerte Morisuke unangenehm an den Kotzbrocken, der er zu Beginn ihrer Bekanntschaft gewesen war. „Das war die Rache für die Mittelschule, Yakkun~ Jetzt sind wir quitt“, singsangte der Mistkerl fröhlich. Morisuke überlegte, ob er es riskieren konnte, ihm auf den Fuß zu treten, beschied dann aber, dass er das eigentlich nicht wert war und beließ es bei einem extra harten Händedruck und einem verkrampften Lächeln. „Das heißt, nächstes Jahr bin ich wieder dran, huh?“ – „Niemals.“   Es war ein komisches Gefühl, das Spielfeld auf der anderen Seite als Kuroo zu verlassen. Zuzusehen, wie er mit einem anderen Team zusammen abzog, lachend, scherzend, wie ihm ein Haufen Fremder auf die Schultern klopften und sich auf die Schultern klopfen ließen. Nächstes Jahr würden sie auf diese Art vielleicht noch mehr ihrer alten Teamkameraden wiedersehen. Es war ein einsamer Gedanke. Gleichzeitig hatte Morisuke nun auch sein eigenes Team, das nicht Kuroos war, und er hatte längst Anschluss und lose Freundschaften gefunden. In ein paar Jahren würde er wieder ein neues Team haben, wenn er noch spielte. Sich auf neue Leute einstellen. Es gehörte zum Teamsport einfach dazu. Und obwohl er das wusste, war er immer noch verblüfft davon, was für ein gutes Team Kuroo und Daishou abgaben. Er erinnerte sich, dass Kuroo zu Beginn des Jahres unglaublich laut gejammert hatte, weil das Schicksal sie auf die gleiche Universität verschlagen hatte, und jetzt klebten sie zusammen, als wären sie schon immer Freunde gewesen. Alte Rivalitäten zu begraben war natürlich eine gute Sache, aber trotzdem fühlte er sich seltsam bei dem Anblick. Sie lebten jetzt eben alle ihr eigenes Leben, teilten nicht mehr selbstverständlich quasi alles. „Mokkun! Komm endlich! Ich will hier raus sein, bevor der Captain die Halle unter Wasser setzt!“ Die Stimme eines Teamkameraden riss ihn aus seinen Gedanken. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und schloss zu dem verzweifelt grinsenden jungen Mann auf, der gerade wohl versuchte, den Captain zu trösten. Die Tränen flossen trotzdem ungehindert. Morisuke verstand es – es war seine letzte Chance gewesen. Zu wissen, dass es für ihn selbst nächstes Jahr einfach noch weiterging, bescherte ihm glatt ein schlechtes Gewissen. Er konnte nicht so sehr leiden. Gut, er wollte es auch nicht, dafür war die Enttäuschung einer vertanen letzten Chance einfach zu groß, aber schlussendlich hielt sich so auch das Mitgefühl ein Stück weit in Grenzen. Er wusste, wie es sich anfühlte, er wusste, wie abartig es war, er hatte Mitleid, aber gleichzeitig trug er einfach die sichere Hoffnung in sich – nächstes Jahr.   Es war laut, während sie die Halle verließen. Das ganze Team plapperte und jammerte durcheinander, und vor allem ihr Captain war einfach nicht ruhig zu stellen. Weil es Morisuke schnell zu viel wurde, ließ er sich unauffällig ein Stück zurückfallen, um ein paar Nachrichten zu schreiben. Oikawa hatte ungefähr zehn Mal geschrieben, um nachzuhaken, wie es bei ihm gelaufen war. Seine eigenen Vorrunden waren erst in den nächsten Tagen. Suga hatte auch geschrieben. Sawamura. Morisuke antwortete auf die Nachrichten, berichtete folgsam von seiner Niederlage. Von Suga bekam er Mitleid. Von Oikawa etwas, das beinahe beleidigt klang, offensichtlich, weil er Kuroo den Sieg nicht gönnen wollte. Keine Sorge, ich räche dich!, versprach er großspurig in einer der nächsten Nachrichten. Morisuke schnaubte sein Handy nur erheitert aus. Dafür musst du erstmal durch die Vorrunden kommen. – Natürlich tu ich das!!!!!!!!!! Und Kuroo müsste es auch schaffen. So gut sein Team auch sein mochte, es gab eine Vielzahl an guten Teams, es war nicht, als hätte er schon gewonnen.   Ein Stück weit wünschte Morisuke es sich allerdings. Er wollte nicht gegen einen Haufen Loser verloren haben.     ***     Sie waren die ersten, die ausschieden. Koushi fand es furchtbar frustrierend, aber mit Heulboje Yuda an seiner Seite war die Niederlage irgendwie einfacher. Er konnte gar nicht wirklich traurig sein, wenn dieser dumme Kerl neben ihm nur noch brabbelte und heulte und rotzte; er war viel zu beschäftigt damit, ihn regelmäßig mit einem neuen Taschentuch zu versorgen. Statt unglücklich nach Hause zu fahren verschanzten sie sich auf den Tribünen, um sich den Rest der Vorrunden anzusehen. Koushi wollte sehen, wie weit Daichi kam. Und er war neugierig auf Oikawas und Ushiwakas Team. Bisher hatte er sie noch nicht spielen sehen. „Wie ist’s in Tokyo gelaufen?“, fragte Yuda, während sie zusahen, wie Iwaizumis Universitätsteam einen Gegner gnadenlos niedermähte. Sie waren so gut, dass Koushi beinahe froh war, gar nicht in die Verlegenheit gekommen zu sein, gegen ihn zu spielen. Yuda, der schon zu Beginn des Spiels kommentiert hatte, wie angsteinflößend sein Freund war, wenn er auf der anderen Seite des Spielfeldes stand, ging es vermutlich ähnlich. „Yakkun hat verloren“, erzählte Koushi mit einem leisen Seufzen. Es tat ihm immer noch Leid um seinen kleinen Freund. Er war froh, dass es allgemein so geklungen hatte, als hätte Yaku es gut verkraftet. Ich hab noch genug Chancen hatte er geschrieben, und die Worte hielt Koushi auch jetzt in seinem Herzen fest, um sein eigenes Unglück zu lindern. „Kuroos Uni hat das Finale gemacht. Knapp, hat er geschrieben.“ „Immerhin ein bekanntes Gesicht!“ Yuda grinste fröhlich. Er lehnte sich auf seinem Sitz vor, als könne er durch die paar Zentimeter Distanzunterschied so viel besser hinunter auf das Spielfeld sehen. Je länger er hinuntersah, desto mehr schlich sich allerdings Beunruhigung auf sein fröhliches Gesicht, bis von Fröhlichkeit bald nichts mehr übrig war. Er seufzte unzufrieden, zog die Schultern unwohl hoch. „Hajimes Team ist gut, ne? Wenn sie so weitermachen, kommen sie ins Finale.“ – Wenn sie so weitermachen, werden sie gegen Tooru spielen.   Koushi brummte vage. Er sah hinunter, gerade in dem Moment, als Iwaizumi einen gnadenlos harten Schmetterball übers Netz beförderte, an drei Blockern vorbei. Es sah furchterregend aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ins Finale kommen würden, war wirklich nicht klein. „Ist bei den beiden eigentlich wieder alles gut?“ Allein Yudas unbestimmtes Brummen war aussagekräftig genug, dass Koushi nur leise seufzen konnte. Wie es schien, bewegten sich die beiden immer noch auf relativ dünnem Eis, auch wenn sie wieder miteinander redeten. Yuda hatte, nicht ganz unbegründet, Sorge, was passieren würde, wenn sie jetzt gegeneinander spielten, zum ersten Mal in ihrem Leben. Koushi konnte sich gar nicht vorstellen, wie sich ein solches Spiel emotional auswirkte. Er war es gewöhnt, dass aus Freunden Rivalen wurden – und umgekehrt. Mit Nishinoya war er zu Mittelschulzeiten einmal zusammengestoßen. Und selbst da, wo er es nicht am eigenen Leib erfahren hatte, gab es genug Beispiele. Allein Kageyama und Hinata waren ein absolutes Paradebeispiel dafür, dass sich solche Positionen einfach rasend schnell und effektiv ändern konnten. Und Koushi hatte nicht den Eindruck, dass es seiner Freundschaft zu Daichi schadete, dass sie nun in zweierlei Teams spielten. Aber er war auch nicht Oikawa. Dass für Oikawa die ganze Welt anders aussah, so viel Menschenkenntnis hatte Koushi. „Ich vermute, dass irgendetwas passieren wird“, murmelte Yuda gedankenverloren, besorgt, „Aber frag mich nicht, in welche Richtung. Vielleicht reicht es, damit sie sich wieder vertragen. Vielleicht wird alles schlimmer. Aber so ein richtig lauter Knall ist auch besser, als wenn es nur schwelt, huh?“   Koushi lächelte flüchtig. Er legte Yuda eine Hand auf die Schulter, drückte sanft zu. „Mach dir keinen Kopf. Selbst wenn sie sich streiten. Wir sind doch da, um zu schlichten.“ Yuda lachte sanft. Er warf Koushi ein schiefes Grinsen zu, das von einem resignierten Blick begleitet wurde, hinter dem sich trotzdem noch so etwas wie Hoffnung versteckte. Natürlich wollte er helfen. Natürlich hoffte er auf das Beste. Er war einfach so.   „Ich hab dir erzählt, dass Tooru sich nicht gut schlichten lässt?“     ***     Das war es. Die eine Sache, vor der Tooru sich am Meisten gefürchtet hatte – und die er am Meisten herbeisehnte. Iwa-Chan war auf der anderen Seite des Spielfeldes. Der Anblick war seltsam und fremd, und als Tooru ihn dort sah, aufrecht, stolz, selbstbewusst, war er hin– und hergerissen zwischen Bewunderung, weil Iwa-Chan so cool aussah, und unwilliger Beleidigung, weil es nicht im Geringsten so aussah, als würde Iwa-Chan ihn an seiner Seite vermissen. Tooru vermisste ihn. Es wurde ihm schmerzlich bewusst in dem Moment, in dem er Iwa-Chans Aufwärmübungen sah, die Nase rümpfte, weil sein Zuspieler einfach nichts wert war und Tooru jeden einzelnen Ball so viel besser zu ihm hätte bringen könnten. Er könnte ihm blind zuspielen, so gut kannte er seinen Freund. Er kannte jede seiner Macken, jeden Blick, jedes Zucken, wusste haargenau, welche Bälle für Iwa-Chan die besten waren und wann er sie brauchte. Dieser Typ, der da jetzt für Iwa-Chan spielte, kam auf keiner Ebene an Tooru heran. Er war nicht hübsch, er war nicht charismatisch, er war mit Sicherheit auch nicht so intelligent. Er war ein guter Zuspieler, aber er war bei weitem nicht auf Toorus Level. Ob Iwa-Chan das überhaupt merkte? Es sah nicht so aus. Schlussendlich hatte Tooru sich von dem Anblick losgerissen, konzentriert auf sein eigenes Team, das ohne Iwa-Chan existierte, dafür aber Ushiwaka umfasste, der ihn mit einem missbilligenden Blick musterte. Offensichtlich hatte er gemerkt, wohin Toorus Blick gewandert war, und offensichtlich störte es ihn. Er hatte schon im Vorfeld genug Predigten über Sentimentalität und deren Nutzlosigkeit bekommen, dass er auch ohne Menschenkenntnis wusste, was in Ushiwaka vor sich ging. Er erwartete, dass Tooru ohne jede Diskussion gut spielte, dass er Iwa-Chan schlagen würde, wie er jeden Gegner schlug, dass er nicht zögern oder sich von lächerlichen Gefühlen übermannen lassen würde.   Es war nicht, als ob Tooru das vorhätte – er war ein Profi.   Einmal das Spiel angepfiffen war Iwa-Chan nicht mehr Toorus bester Freund und der Mann, den er liebte, sondern nur noch – ein Gegner. Ein Kontrahent auf dem Spielfeld, den er zufällig gut genug kannte, um beinahe jeden seiner Schritte voraussagen zu können. Für den Moment war alles vergessen. Ihr Streit, aller Ärger, Enttäuschung, alle Einsamkeit. Tooru wollte gewinnen. Würde gewinnen. So stark das gegnerische Team auch sein mochte, Toorus Team war stärker. Ushiwaka trug ein gutes Stück dazu bei, das zu leugnen wäre dämlich gewesen, aber Tooru wusste ohne jede Arroganz, dass sein eigener Verdienst daran auch nicht gering war. Den ersten Satz gewannen sie. Es war nicht wirklich schwierig gewesen, aber es war viel zu früh, aufzuatmen. Iwa-Chans Team kam langsam in Fahrt, das hatte Tooru schon bemerkt. Von hier aus würde es nur noch viel schwieriger werden, an ihnen vorbeizukommen. Schwierig, aber sicher nicht unmöglich. Solange sie ihr Tempo aufrechterhalten konnten, hatten sie gute Chancen, siegreich aus dem Spiel hervorzugehen. Die kurze Pause zwischen den Sätzen war trotzdem willkommen. Tooru nutzte sie, um sich auf eine Bank plumpsen zu lassen und das rechte Knie auszustrecken. Es schmerzte. Es war ignorierbar, aber es schmerzte. Immer noch. Er wusste, dass es seine Schuld war, weil er die letzte Verletzung nicht ganz hatte ausheilen lassen, aber was hätte er tun sollen? Er musste trainieren! In einem Team mit jemandem wie Ushiwaka konnte er sich keine Atempause leisten, wenn er nicht gnadenlos ersetzt werden wollte. Er mochte noch so überragend sein durch all sein hartes Training, das brachte ihm nichts mehr, wenn er wegen einer Verletzung ausfiel und Ushiwaka sich sofort einem anderen Zuspieler zuwandte. Ushiwakas Spielstil brauchte keinen brillanten Zuspieler. Er brauchte nur jemanden, der zuverlässig den Ball zu ihm brachte, und von der Marke würde er mehr Leute als nur Tooru finden. Er hatte sich wirklich keine Pause leisten können. Es war okay. Nach dem Turnier konnte er ruhen, wenn es nötig war. Tooru erwartete allerdings eher, dass er mit Zähnezusammenbeißen einfach weitermachen würde, wie er es immer getan hatte, wenn ihn niemand aufhielt.   Es hielt ihn doch niemand mehr auf.     ***     Oikawa war noch besser geworden seit dem letzten Mal, dass Hajime ihn hatte spielen sehen. Er war noch besser geworden, obwohl er längst übermenschlich war. Es beeindruckte Hajime, aber gleichzeitig weckte es Sorge in ihm. „Aber Iwa-Chan! Ich pass schon auf mich auf, keine Sorge~ Ich hab’s dir doch versprochen!“ Er konnte es einfach nicht ganz glauben. Oikawa war unfähig darin, auf sich selbst aufzupassen, war es schon immer gewesen. Sei das in Kindertagen gewesen oder im letzten Jahr der High School, Hajime hatte nie den Eindruck gehabt, dass der Idiot in der Lage wäre, auch nur fünf Minuten selbst für seine Gesundheit zu sorgen. Andererseits sah er eindeutig gesund aus. Er spielte reibungslos, und mitten in einem Match war ohnehin nicht der passende Zeitpunkt, sich Gedanken um seinen Gegner zu machen. Hajime hatte auch größere Sorgen, strenggenommen – der zweite Satz neigte sich dem Ende, nur noch wenige Punkte trennten Oikawas Mannschaft vom Sieg. Wenn er jetzt nicht sofort aufgehalten wurde, war es vorbei. Auf der eigenen Spielfeldseite waren Oikawas Aufschläge ein Segen und eine wertvolle Waffe, eine Sicherheit, dass noch nicht alles verloren war. Auf der anderen Seite des Spielfelds waren sie absolut verstörend. Nicht einmal ihre Rotation war tauglich, um den Aufschlag anzunehmen. Ihr Libero stand unruhig neben der Bank, Hajime sah, wie er immer wieder die Hände zu Fäusten ballte. Er hatte selbst schon am eigenen Leib erfahren, wie heftig Oikawas Angriffe waren, und zweifelsohne war ihm genauso bewusst wie Hajime, dass sie jetzt immense Probleme damit haben würden, den Ball in der Luft zu behalten. Sie hatten schon genug Punkte in diesem Spiel an Oikawas Aufschläge verloren.   Er lief los. Hajimes Blick war auf den Ball fixiert, sein ganzer Körper angespannt, darauf vorbereitet, den Aufschlag abzufangen, zu verhindern, dass Oikawa ihren Rhythmus zerstörte. Er hatte sich vor diesem Tag noch nie in der Position befunden, Oikawas Aufschläge annehmen zu müssen, und er war sicherlich nicht gut darin – aber es musste reichen. Der Ball flog in die Luft, Oikawa sprang, schmetterte ihn gnadenlos übers Netz.   Irgendwo zwischen dem Moment, als Oikawa auf dem Boden aufkam und augenblicklich stürzte, und dem Moment, in dem der Ball einfach neben Hajime aufs Spielfeld prallte, vergaß er die ganze Welt um sich herum. Die Pfeife des Schiedsrichters schrillte in seinen Ohren, als er längst das halbe Spielfeld überquert hatte, sich schlitternd unter dem Netz hinwegduckte. Oikawa war noch nicht wieder aufgestanden. Er hielt sich das rechte Knie, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Hajimes Brustkorb schmerzte, sein Magen krampfte, in seinem Kopf schwirrte ein Chaos aus Sorge, Angst und Wut umher, das er nicht einmal weit genug sortieren konnte, um halbwegs klar zu denken. „Iwa-Chan…“ Da lag für einen kurzen Moment etwas in Oikawas Blick, das alles in Hajime zerbrechen ließ. Hilflosigkeit. Angst. Er fühlte sich taub. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und er sah die ganze Halle in einem so grellen, scharfen Licht, dass es wieder unwirklich wirkte. Er wollte Oikawa schütteln und anschreien, wollte ihm hochhelfen, um ihn höchstpersönlich zu den Sanitätern zu schleifen, aber er war festgefroren an dem Punkt, an dem er stand, konnte nur zusehen, wie sich fremde Gesichter um den anderen scharten, auf ihn einredeten. Kurz darauf kamen die Sanitäter tatsächlich, bugsierten Oikawa auf eine Trage. Inzwischen war die alte Fassade wieder da. Er grinste, winkte dem Team fröhlich, als würde er mal eben nur einen entspannten Ausflug machen. „Iwaizumi! Es geht weiter!“ Die Stimme seines Captains ließ Hajime lang genug aus seiner Starre erwachen, dass die ganze Situation Zeit hatte, um zu sacken. Oikawa war verletzt. Schwer genug verletzt, dass er offensichtlich nicht weiterspielen konnte. Er war verletzt, und Hajime hatte nichts davon gewusst.   „Spielt ohne mich weiter!“   Die rüden Rufe seiner Teamkollegen waren ihm völlig egal. Er wusste gerade nicht einmal, ob er nicht gerade völlig gegen die Regeln handelte, aber es war ihm genauso gleichgültig. Mit schnellen Schritten verließ er das Spielfeld, folgte den Sanitätern, folgte Oikawa. Es gab Wichtigeres als dieses Volleyballspiel.     ***     Kaneo stolperte über seine eigenen Füße, als er die Tribüne entlanghastete. Hinter sich hörte er Koushis Schritte und fluchende Leute, weil sie immer wieder gegen irgendjemanden prallten. Er japste Entschuldigung über Entschuldigung, ohne sich umzudrehen – er hatte keine Zeit! In dem Moment, in dem Tooru zusammengeklappt war, war Kaneo klar gewesen, dass er da hinunter musste. Er war nicht lange genug geblieben, um irgendetwas Weiteres zu sehen. Wenn Tooru zusammenbrach, dann war es klar, dass es schlimm war. Dass er Hilfe brauchte, dass er nicht mehr spielen konnte. Natürlich würden sie ihn in den Erste-Hilfe-Raum bringen. Für Kaneo war das so sicher wie die Tatsache, dass Hajime ebenfalls bei ihm sein würde.   Er behielt mit beidem Recht.   Schon aus der Ferne sah er Hajimes verkrampfte Gestalt vor der Tür zum Sanitätsraum stehen. „Hajime!“ Schlitternd kam er neben ihm zum Stehen, keuchend, atemlos. Er sah den Anderen groß an, besorgt. Er sah alles andere als glücklich aus. Es war offensichtlich, wie viel da unter der schlecht beherrschten Oberfläche brodelte. „Wie steht es?“ Er schüttelte den Kopf. Biss die Zähne zusammen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis seine Kiefer sich wieder entspannten, und selbst dann sah er alles andere als wirklich entspannt aus. „Sie verarzten ihn gerade“, gab er zurück. Tonlos. Tonlos und Hajime war keine gute Kombination. Hajime war laut und geradeheraus, nicht tonlos. Dass er nicht schrie und tobte machte die ganze Sache noch viel furchteinflößender. Alarmiert suchte Kaneo Koushis Blick; dass sein neuester Freund ähnlich besorgt aussah wie er selbst war überhaupt kein Trost. Unwohl schob Kaneo die Hände in die Taschen seiner Trainingshosen, zog die Schultern hoch. Es war so unangenehm. Hajime schien nicht reden zu wollen, was Kaneo einerseits völlig verstand und andererseits einfach nur grauenhaft fand, denn er hätte vielleicht gern gesprochen! Die Stille war drückend und unheilschwanger. Koushi nestelte unruhig an seinem Handy herum. Als er Kaneos fragenden Blick auffing, lächelte er flüchtig. „Ich habe Daichi gebeten, das Spiel im Auge zu behalten“, erklärte er sanft. Daichi – Kaneo kannte ihn kaum, aber Koushi redete unheimlich oft von seinem besten Freund. Sein Team war im zweiten Spiel ausgeschieden, aber sie hatten sich gut geschlagen. Wie Koushi selbst hatte er weiterhin bleiben wollen, um sich den Rest der Vorrunden anzusehen; fast sein ganzes Team hatte sich dazugesellt, und weil die Tribünen nirgendwo genug Platz boten, waren Kaneo und Koushi eben trotzdem unter sich geblieben.   Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Sanitäter die Tür des Raums öffneten und wieder hinaustraten. Eine kurze Information war, dass Tooru sich noch ausruhen sollte, aber danach wohl mit den bereits bereitgestellten Krücken weit genug vorankommen könnte, bis er einen ordentlichen Sportarzt aufsuchen und sich behandeln lassen konnte. Kaneo war sich absolut sicher, dass Hajime ihnen überhaupt nicht zuhörte. Er schob sich an ihnen vorbei, kaum, dass sie den Eingang freigaben. Mit einer gemurmelten Entschuldigung tat Kaneo es ihm gleich. Es war seltsam erleichternd, dass auch Koushi auf dem Fuße folgte. Es wurde noch erleichternder ob des Schauspiels, das sich ihm in dem Räumchen bot – Kaneo hätte hier nicht allein sein wollen. Hajime, kaum, dass er Tooru erblickt hatte, war zu ihm gestapft, hatte jetzt die Hand am Kragen des Anderen und sah mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn hinunter. „Erklär mir das“, forderte er, und er war so gefährlich leise dabei, dass es Kaneo den Magen umdrehte. Hajime war wütend. Selbst ein Vollidiot würde es bemerken. Entsprechend war es unmöglich, dass Tooru es nicht bemerkte. Es entsetzte Kaneo, dass er trotzdem nur lachte, das unbekümmerte, überhaupt nicht ehrliche Tooru-Lachen, das er so oft lachte, wenn lachen eben einfacher war als alles andere. „Awwww, Iwa-Chan~! Keine Sorge. Das ist kaum mehr als ein Kratzer.“ „VERARSCH MICH NICHT, OIKAWA!!!“ Kaneo zuckte zusammen. Koushi zuckte zusammen. Tooru, der unter Garantie genau diese Reaktion vorhergeahnt hatte, zuckte nicht einmal mit der Wimper bei Hajimes Ausbruch. Er wirkte beinahe unbeteiligt. Es war ein grauenhafter Anblick, und Kaneo hätte am liebsten weggesehen, doch – er konnte nicht. Er wusste, dass die Chance groß war, dass das hier ausartete. Er musste es sehen, um einschreiten zu können, wenn es nötig wurde. „WAS SOLL DIE SCHEISSE?! ICH DACHTE, DU PASST AUF DICH AUF?! IST DIR EIN VERSPRECHEN DENN SO WENIG WERT?!“ „Aber Iwa-Chan…“ „KEIN ABER! DU SOLLTEST AUF DICH AUFPASSEN, VERDAMMT!!!“ Für einen Moment war es still. Völlig still. Dann schnaubte Tooru, und er murmelte etwas in sich hinein, das so leise war, dass Kaneo es nicht verstand – Hajime auch nicht. Er forderte barsch eine Wiederholung.   „TU NICHT SO, ALS WÜRDE ES DICH KÜMMERN!“   Tooru wurde nicht laut. Nicht so. Das war eine Art von ungeschriebenem Gesetz, genauso wie der Umstand, dass Hajime nicht leise wurde. Beide Gesetze waren gebrochen. Fassungslos sah Kaneo zu, wie Toorus Hand vorschnellte und sich viel zu fest um Hajimes Handgelenk krallte, als wollte er die fremde Hand von seinem Kragen zerren. „Es kümmert dich nicht!“, wiederholte er wütend, aufgebracht. Seine Stimme überschlug sich beinahe, so voll von Emotionen, wie Kaneo sie selten gehört hatte. Er hatte das unangenehme Gefühl, hier etwas zu sehen und zu hören, das nicht für seine Augen und Ohren bestimmt war. „Es ist deine Schuld! Du hast dich nie gekümmert! Du hast nie Zeit für mich! Das kann dir jetzt genauso scheißegal sein wie alles andere die letzten Monate! Du hast es doch nicht einmal geschafft, dich zu melden, ohne dass Yudacchi dir in den Arsch treten musste!“ Kaneo zuckte zusammen. Unwohl trat er einen Schritt zurück, suchte mehr unabsichtlich nach irgendeinem Schlupfwinkel, hinter dem er sich verstecken konnte. Es war ihm alles andere als angenehm, mitten in diesen Streit gezogen zu werden – vor allem, weil es stimmte. Er hatte Hajime gedrängt, sich öfter zu melden. Er hatte ihn öfter dazu gedrängt. Er hatte wirklich geglaubt, dass das eine gute Idee war. So im Nachhinein schien er falsch gelegen zu haben. Hajime war schon wieder so gefährlich still. Er sah auf Tooru hinunter mit einem Blick, der frostig genug war, um die Hölle zuzufrieren. Kaneo wusste nicht genau, was er dahinter versteckte, aber es war ohne Zweifel nichts Gutes. Schmerz. Wut. Enttäuschung vielleicht. Er ließ von Oikawas Kragen ab, als hätte er sich an dem Stoff verbrannt und trat einen Schritt von seinem Bett zurück.   „Stimmt. Es kümmert mich nicht.“ Die Lüge war so schmerzhaft offensichtlich, dass Kaneo sie mühelos durchschaute. Hajime sah unglaublich bitter aus. Tooru fauchte, starrte ihn voller Wut und Verletztheit an, völlig ignorierend, wie offensichtlich Hajime gerade Dinge sagte, die er nicht so meinte. Kaneo wollte dazwischen gehen. Irgendetwas tun, aber sein Kopf drehte sich, und er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er war hilflos. Überfordert. Verzweifelt obendrein. Und Tooru war viel zu schnell darin, zu reagieren, Worte auszuspucken, die er mit Sicherheit ebenfalls nicht wirklich meinte: „Dann geh.“ Hajime gehorchte. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt, steuerte die Tür an. Einen langen Moment starrte Tooru ihm hinterher, als hätte man ihn geohrfeigt, schockiert und verzweifelt, dann schrie er wütend auf. „Und komm bloß nicht wieder, Iwaizumi!“   Die Tür knallte so heftig zu, dass der ganze Raum unter der Wucht des Aufpralls zu erbeben schien. Hajimes Abgang hinterließ eine beißende Stille, die sich in Kaneos Nerven fraß und ihn wünschen ließ, er könnte die Zeit zurückdrehen, und seien es nur fünf Minuten. Ein paar Sekunden später wünschte er sich die Stille zurück. Tooru heulte. Er weinte nicht, er heulte, wie ein kleines Kind. Mit lautem Schluchzen und Schniefen, das Gesicht in den Händen vergraben. Er wusste, dass das theoretisch nicht sein Platz war, trotzdem stapfte Kaneo kurzentschlossen zu ihm und zog ihn in eine ungelenke Umarmung. Toorus Gesicht kollidierte mit seiner Brust, seine Hände klammerten sich in Kaneos Shirt und er heulte sich die Seele aus dem Leib, während Kaneo selbst dagegen ankämpfen musste, einfach mitzumachen. Er fühlte sich hundeelend, seine Ohren schrillten immer noch von all dem Gebrüll, das er gerade erst hinter sich hatte. Er fühlte sich müde und ausgelaugt, unglücklich, hilflos, überfordert, und er wusste nicht, ob er Tooru schimpfen sollte oder trösten, oder gar nichts von beidem und ihm einfach Ruhe lassen. Ein hilfloser Blick durch ungeweinte Tränen hindurch zu Koushi hinüber zeigte ein verschwommenes, hilfloses Gesicht mit einer unglücklichen Miene, die Kaneos in nichts nachstand. Es war absolut widerlich. Zumindest machte Toorus Klammergriff die Frage überflüssig, ob er bleiben oder gehen sollte. Er würde bleiben, so lange, wie Tooru ihn brauchte, und dann würde er irgendetwas tun, um sich daran zu hindern, Dummheiten zu machen. Hajime anzurufen und anzuschreien. Oder doch lieber Tooru. Oder irgendetwas ähnlich beklopptes. War es seine Schuld? Hätte er sich gar nicht einmischen sollen? Wäre es dann besser gewesen? Hätte er sich noch mehr einmischen sollen? Er wusste es nicht.   Die Tür ging auf. Kaneo erstarrte. So gut es ging ruckte sein Kopf in die entsprechende Richtung, Hoffnung und Verzweiflung vollführten einen wilden Tanz in seinem Herzen. War Hajime zurückgekommen? Es war nicht Hajime. Weil er ahnte, dass Tooru sich vor Ushiwaka keine unnötige Blöße geben wollte, trat er behutsam einen Schritt von seinem Freund zurück. Toorus Augen waren rotgeheult, sein Gesicht klatschnass und gerötet, aber in dem Moment, in dem er den Hünen in der Tür erblickte, wurde mit einem Mal sein Ausdruck blank und gefasst. Es sah völlig unpassend aus. Überhaupt war es unpassend, dass Ushiwaka hier war. Er machte sich nicht die Mühe, näher zu kommen, sondern stand einfach da in der Tür, überlebensgroß und arrogant, sah auf Tooru hinunter in einer Art, von der Kaneo sich sicher war, dass sie seinen Freund innerlich zum Kochen brachte vor Wut. „Wir haben verloren“, verkündete er in einer trockenen, nichtssagenden Stimme. Für Kaneo wäre das vermutlich noch schlimmer als deutlicher Vorwurf. Er zog unwohl die Schultern hoch und presste die Lippen zusammen. Er fühlte sich wirklich fehl am Platz. „Es ist deine Schuld.“ „H-Hey, jetzt mach mal halblang, du Typ! Tooru ist nicht–“ – „Er ist unfähig“, unterbrach Ushiwaka eiskalt, „Wer nicht einmal auf seinen eigenen Körper aufpassen kann, hat kein Recht, ein Zuspieler in diesem Team zu sein. Er ist eindeutig nicht der Richtige für uns.“ Und damit ging er hinaus. Einfach so, ohne sich um Kaneos empörte, wütende Schreie zu kümmern, ohne sich um Toorus entsetztes Gesicht zu kümmern, ohne irgendeine Spur von Mitleid oder Fürsorge für seinen verletzten Teamkameraden. Kaneo hätte ihn am Liebsten verprügelt! Seine Sorge um Tooru hinderte ihn daran, Ushiwaka nachzulaufen, um genau das zu tun – und sein ungesunder Respekt vor dem Typen.   „Yudacchi…” Toorus Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wirbelte wieder zu seinem Freund herum. Große, tränennasse Augen sahen ihn völlig verzweifelt an, Tränen liefen in Strömen über das sonst so hübsche Gesicht. Kaneo wollte ihn wieder in den Arm nehmen, aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass der Moment vorbei war, in dem es okay gewesen war. Aber Tooru sah so hilflos aus! Es brach ihm das Herz.   „Ich hab alles kaputt gemacht.“ Kapitel 16: ------------ Er wusste, er sollte Mitleid haben. Satori hatte aber wirklich große Mühe, Mitleid zu haben, während er beobachtete, wie Wakatoshi vor sich hinbrütend dasaß und Löcher in die Luft stierte. Wenn er ehrlich war, dann fand er es seltsam unterhaltend. Wakatoshi verlor nicht. Das war so eine Art von Grundgesetz. Wakatoshi verlor noch weniger aus so dummen Gründen wie dem, dass sein Zuspieler sich verletzte. Wahrscheinlich war Wakatoshi nicht einmal auf die Idee gekommen, dass so etwas passieren konnte. Kenjirou hatte ihn viel zu sehr verwöhnt. „Weißt du“, singsangte Satori unbekümmert, während er interessiert durch seinen neuesten Manga blätterte, ohne wirklich etwas zu lesen, „du kannst doch nicht erwarten, wieder jemanden wie Kenjirou zu finden. Sowas ist einmalig.“ Einmalig dumm, wenn man Satori fragte. So sehr er Wakatoshi schätzte, er würde ehrlich nie verstehen, wie Tsutomu und Kenjirou so unglaublich hingerissen von ihm sein konnten. Er linste über die Seiten seines Mangas hinweg zu seinem Freund hinüber, der sich jedoch keinen Millimeter bewegt hatte seit seinem Kommentar. Wie langweilig. „Es hat nichts damit zu tun“, gab er monoton zurück. Natürlich hatte es nichts damit zu tun. Oikawa war einfach für sich allein stehend schlecht, und sicher störte es Wakatoshi auch überhaupt nicht, dass er bei Oikawa nie die erste Priorität gewesen war, und dass sein neuer Zuspieler auch nicht viel besser war, was das anbelangte. Sicher verglich er das nicht unbewusst mit Kenjirous beinahe fanatischer Treue. Sicher waren seine Erwartungen an einen guten Zuspieler auch nicht total davon beeinflusst.   Irgendwie war es echt hart, dass Wakatoshi das nicht einmal merkte.   „Oikawa hat einfach gezeigt, dass er unfähig ist, dieses Team zu unterstützen.“ „Und der neue Zuspieler ist dir auch nicht gut genug.“ – „Er ist schlecht.“ Wenn er es bis in die Startaufstellung schaffte, war er sicherlich nicht schlecht. Satori schnaubte gutmütig. „Schlecht schlecht oder eher so Eita-schlecht?“ Jetzt sah Wakatoshi ihn doch an, in einem Anflug von Irritation und Verwirrung. „Semi war nie schlecht“, erwiderte er stumpf. Satori lachte herzlich. Er legte den Manga zur Seite, weil er sich gerade eh nicht darauf konzentrieren konnte, und rollte dann samt Bürostuhl zu Wakatoshi hinüber. Belehrend hob er einen langen Zeigefinger. Wakatoshi ignorierte die Geste, und nur deshalb wagte er sie überhaupt. „Du weißt, was ich meine~ Er war dir auch nie gut genug, obwohl er großartig ist. Ist dein neuer Zuspieler auch von der Sorte?“ Satori war sich nicht einmal sicher, ob Wakatoshi ihm überhaupt antworten würde. Einen langen Moment sah der andere ihn einfach nur schweigend an, sein Blick nichtssagend und auch nicht sonderlich interessiert, dann zuckte er schließlich mit den Schultern. „In jedem Fall ist er schlecht genug, dass wir verloren haben.“ Und so, wie Wakatoshi klang, würde er das dem armen Tropf noch lange nachtragen. Satori schüttelte den Kopf. Er lehnte sich schwungvoll zurück, ließ sich mit dem Schwung der Bewegung wieder ein Stück nach hinten rollen und grinste sonnig. Er wollte wirklich nicht in der Haut von diesem Kerl stecken! In Oikawas Haut auch nicht. Wakatoshis Missfallen zu erregen war lebensmüde, wenn man nicht gerade Karasunos Chibi war. „Nächstes Jahr wird’s sicher wieder besser.“ Nächstes Jahr hatte sich der arme neue Zuspieler sicher schon an Wakatoshis Macken gewöhnt. Dass Oikawa seinen Platz zurückbekam, war für Satori ganz ausgeschlossen; es war klar, dass Wakatoshi einfach eine höhere Priorität hatte als Seijohs ehemaliger Captain, und damit tanzte das Team natürlich eher nach seiner Pfeife. Und so angefressen, wie Wakatoshi war, wollte er Oikawa sicher nie wieder an seiner Seite wissen.   „Wird es. Nächstes Jahr haben wir einen sinnvollen Zuspieler.“   Die schiere Überzeugung, mit der Wakatoshi seine Worte vorbrachte, ließ Satori halb amüsiert, halb hilflos lachen. Er warf resignierend die Hände in die Luft. Ade, Zuspieler-Kun~ Das würde wohl sein erstes und letztes offizielles Turnier an Wakatoshis Seite gewesen sein. Satori hatte ehrlich Mitleid mit dem Kerl, jetzt noch mehr als vorher, gleichzeitig hatte er aber einfach ganz andere Prioritäten, als dass er sich allzu lange an dem Gedanken aufhalten würde. Sollte er beleidigt sein, dass er es bisher nicht gewusst hatte? Er war Wakatoshis bester Freund! Er hatte alles zu wissen, inklusive der Farbe seiner Unterwäsche!   Und ehrlich, er musste sich doch gebührend freuen, dass Kenjirou vorhatte, auf ihre Uni zu kommen!     ***     Obwohl das Schuljahr gerade erst zur Hälfte vorbei war, war es das letzte Trainingscamp, das das Jahr bringen würde. Je weiter es voranschritt, desto mehr waren sie mit Lernen und Prüfungen beschäftigt, desto weniger Zeit blieb, um ganze Wochenenden außer Haus zu verbringen. Es war einerseits seltsam deprimierend, vor allem, wo es nicht nur das letzte Camp des Jahres sein würde für Keiji, sondern das letzte Camp überhaupt, doch gleichzeitig empfand er Erleichterung bei dem Gedanken. Weniger Zeit zum Trainieren, weil sie mehr Zeit zum Lernen einplanten, bedeutete in Maßen auch, dass er mehr Zeit für Bokuto hatte. Natürlich kümmerte er sich gewissenhaft um seine Schularbeiten, das stand außer Frage. Allerdings war es nicht, als plante er, Bestnoten zu erzielen. Er wollte einen Standard halten, der gerade zu viel Zeit fraß, aber er würde nicht noch mehr lernen, nur weil er durch weniger Training auf einmal mehr Zeit dafür hatte. Er würde diese Zeit, ohne jeden Kompromiss, mit Bokuto verbringen, und wenn es nur eine Stunde pro Wochenende war, die dafür abfiel.   Er versuchte es auch jetzt schon wirklich. Ließ inzwischen ab und zu das Training eine Stunde früher hinter sich, um abends noch mit Bokuto in irgendeinem kleinen Imbiss Essen zu gehen. Nahm sich sogar ganz selten einen Tag frei, wie zu den Vorrunden der Intercollegiate, um den Spielen beizuwohnen. Auch wenn niemand ihn dafür kritisierte, fühlte Keiji sich nicht wohl damit, seine Pflichten so sehr zu vernachlässigen für sein Privatleben, entsprechend war er froh darum, wenn er sich nicht mehr zwischen Training und Bokuto entscheiden musste.   Bis dahin allerdings hatte er wohl keine andere Wahl, als weiter zu ertragen, dass Bokuto einfach nicht zufrieden war.   „Das ist schon das zweite Wochenende in Folge, Akaashiiiiiiii!“, jammerte er viel zu laut durchs Telefon. Es war Samstagabend, der Tag war lang und ermüdend gewesen, das Training noch härter als sonst, weil jeder scheinbar der Maxime folgte, er müsste das Beste aus diesem Trainingscamp machen, und eigentlich hatte Keiji längst keinen Nerv mehr für solche Diskussionen. „Nächstes Wochenende bin ich da, Bokuto-San.“ – „Aber Akaashi, ich wollte dich heute sehen!“ Natürlich wollte Bokuto das. Wenn es danach ging, wollte er es täglich und noch öfter. Noch ein halbes Jahr, bis die Schule vorbei war. Es musste doch möglich sein, diese Zeit zu überbrücken, ohne, dass sie sich ins Unglück stürzten, oder? „Wieso machst du nicht etwas anderes, Bokuto-San? Hat Komi-San Zeit, um einen Film anzusehen?“ Bokuto schwieg einen Moment, der lang genug war, dass Keiji schon ahnte, dass er im Endeffekt etwas Falsches gesagt hatte. Abwesend beobachtete er, wie Nishiame und Minamishima die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen. Weil sie immer wieder in seine Richtung sahen, war er sich recht sicher, dass sie über ihn sprachen. Seit der Libero ihn einmal spontan aus dem Training geworfen hatte, um Bokuto aufzusuchen, hatten die Beiden es sich zur Aufgabe gemacht, über sein Beziehungsleben zu wachen. Es war nicht das einzige Mal geblieben, dass sie ihn einfach herumschubsten, wie sie es für richtig hielten. Keiji war dankbar für ihre Unterstützung. Auch wenn sie es manchmal zu gut meinten. „Komi hat ein Date“, meckerte Bokuto schließlich wieder in einem Tonfall, der sowohl beleidigt wie auch vorwurfsvoll klang – und ich habe keines. Weil du nicht da bist, Akaashi. „Er wollte mir nicht einmal sagen, mit wem!“ Dass Bokuto sich jetzt spontan an der ganzen Sache so sehr aufhängte, dass er aus dem Meckern und Zetern nicht mehr heraus kam, war seltsam beruhigend – es brachte ihn auf andere Gedanken. Keiji hörte ihm mehr oder weniger aufmerksam zu, während er versuchte, Komis ominöses Date zu entschlüsseln, denn immerhin war es doch unmöglich, dass es Konoha war, auch wenn die schon einmal ein Date gehabt hatten, immerhin war das Konoha, und jeder wusste, wie unfähig er war. Keiji wusste es besser, aber er sparte sich – mehr um Konohas Willen als ihm selbst wegen – jede Korrektur von Bokutos Annahme.   Nishiame sprang von seinem Platz auf. Er zwitscherte Minamishima noch fröhlich etwas zu, ehe er in die kleine Runde an im Schlafraum verbliebenen Teammitgliedern winkte und dann aus dem Zimmer wuselte. Keiji warf einen fragenden Blick zu seinem Vize-Captain hinüber, der mit einem Schulterzucken und einem gutmütigen Lächeln antwortete. „Geheimes Libero-Treffen“, erklärte er, leise genug, dass es durch die Leitung nicht zu hören sein dürfte. Ein Treffen, an dem gerade einmal die Hälfte der anwesenden Liberos teilnahm, als Libero-Treffen zu benennen, war vielleicht etwas großzügig, aber hey. Keiji war froh, dass sein Team überall so problemlos Anschluss fand, und er würde sich niemals darüber beschweren. Inzwischen ebbte Bokutos Redeschwall wieder ab. Keiji seufzte stumm, weil er zu dem Thema nichts beizutragen hatte. Womöglich würde er es bereuen, das überhaupt in den Raum zu werfen, aber er wollte nicht, dass Bokuto den Rest des Abends damit zubrachte, zu jammern, zu zetern, und am Ende dann Komi zu belästigen, bis der ihm haarklein von seinem Date erzählte. „Was ist mit Kuroo-San?“ Dass Bokuto daran noch gar nicht gedacht hatte, wurde schnell offensichtlich. „Akaashiiiiiiiiiiiiiiiii!!! Ich frag ihn sofort!!!“   Jeder andere wäre wohl beleidigt gewesen, weil Bokuto einfach auflegte. Keiji war nicht beleidigt. Er war froh, dass sein Freund etwas anderes zu tun gefunden hatte, als unglücklich zu sein. Er sah kurz auf sein Handy hinunter. Wehe, du hast keine Zeit, Kuroo-San.     ***     Yuuki mochte das Ritual, sich abends nach dem Training vor der Welt zu verstecken und hier in der Sporthalle auf der großen Turnmatte zu verschanzen, um einfach nur noch zu reden – über alles, nur nicht über den Sport. Er hatte das Gefühl, dass es den Leistungsdruck des Trainingscamps ein wenig nahm, so unkompliziert auf andere Gedanken kommen zu können, und außerdem hatten sie eben einfach noch echt viel zu besprechen! Levs neuester Zusammenstoß mit Yaku war zum Beispiel unglaublich interessant. Yuuki konnte kaum glauben, was er hörte, während sein Freund stolz erzählte, dass Yaku sich tatsächlich auf ein Date einlassen wollte – wenn Lev es denn schaffte, das Ass zu werden. Die Geschichte hatte Yuuki zwar schon öfter gehört, aber trotzdem war er immer noch völlig verblüfft und begeistert davon, und es machte ihm überhaupt nichts aus, dass Lev es wieder erzählte. Außerdem mussten sie Takuya doch auf den aktuellen Stand der Dinge bringen! Der sah übrigens auch ausgesprochen begeistert aus, hörte grinsend zu. Als Lev schließlich fertig war, klopfte er ihm zufrieden auf die Schulter. „Gut gemacht, Kumpel! Ich hab doch gesagt, die neue Frisur wirkt Wunder!“ – „Hey! Yuuki und ich haben auch geholfen!“, protestierte Sou lachend. Lev grinste großspurig. „Es hätte aber alles nicht geholfen, wenn ich nicht sowieso schon großartig wäre“, gab er völlig überzeugt zurück. Yuuki lachte sanft auf, während Takuya sich auf den Halbrussen stürzte, um seine sorgfältig gestylte Frisur zu ruinieren. Sou sah einen Moment lang so aus, als wollte er lieber mitmachen, dann übermannte ihn aber doch die Vernunft und er zog die beiden Chaoten lieber wieder auseinander.   Eine Weile drehte sich ihr Gespräch nur noch um Yaku. Sie versuchten, zu überlegen, wohin Lev ihn einladen konnte, damit das Date, das er ganz sicherlich bekommen würde, ein Erfolg werden würde. Weil jeder von ihnen komplett anderer Meinung war, war es schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, aber Yuuki hatte nicht den Eindruck, dass es störte. Brainstorming und Ideensammeln war schließlich auch weit davon entfernt, verkehrt zu sein, und irgendetwas würde schon dabei sein. Was konnte man denn falsch machen mit den üblichen Sachen wie Essengehen und Kino? Gut, klar, man konnte den falschen Film erwischen, oder eine kulinarische Stilrichtung, die nicht zusagte, aber wenn man ein bisschen aufpasste und vorher miteinander kommunizierte, war das auch machbar! Wenn Lev die Hürde überwand, überhaupt ein Date zu bekommen, konnte er auch die Hürde überwinden, dieses Date nicht in einer Pleite enden zu lassen, ganz gleich, was er am Ende tatsächlich machen wollte. Takuya erzählte von seiner Freundin, die er schon seit der Mittelschule hatte, als das Thema Yaku irgendwann doch über wurde. Es machte Yuuki beinahe ein bisschen neidisch, zu hören, wie wunderbar und perfekt die beiden zusammen waren, und gleichzeitig freute er sich aber riesig für seinen Freund. Es war doch beeindruckend, dass sie schon so lange zusammen waren! Und immer noch zusammenbleiben wollten. So richtig konnte Yuuki sich das gar nicht vorstellen für sich selbst – war es nicht normal, dass man in seiner Jugend keine super langanhaltenden Beziehungen hatte? Andererseits war der Gedanke viel zu deprimierend. Nein. Es gab sicher genug Ausnahmen! Und er hoffte, dass nicht nur Takuya eine war, sondern schlussendlich auch Lev. „Man könnte ja fast neidisch werden“, kommentierte Lev grinsend die Erzählung, „Aber meine Beziehung wird mindestens genauso gut.“ Es war beruhigend, wie unbeirrbar er war. Takuya lachte herzlich, schüttelte amüsiert den Kopf. „Dann können Sou und Yuuki trotzdem neidisch sein! Die haben doch keine umwerfende Beziehung in Aussicht!“   Es stimmte. Yuuki öffnete empört den Mund, um zu widersprechen, aber jeder Laut ging in Sous schallendem Gelächter unter. Sein Freund legte ihm einen schweren Arm um die Schultern und strahlte breit vor sich hin. „Warum soll ich neidisch sein? Ich hab Yuuki!“ Was etwas völlig anderes war – Yuuki protestierte trotzdem nicht. Er grinste nur, verlegener, als er sich eingestehen wollte, und versuchte, sich nicht allzu viel aus dem fröhlichen Hüpfer seines Herzens zu machen. Er sah, wie Takuya fragend die Augenbrauen hob, doch statt die ungestellte Frage an sie zu richten, wandte er sich Lev zu, der seinerseits wissend grinste und die Schultern zuckte. Es war, als teilten sie ein Geheimnis, das Yuuki eigentlich kennen sollte, und trotzdem einfach nicht begriff. Immerhin begriff Sou es auch nicht. Es war ein schwacher Trost, aber es war ein Trost.   „Na, genug Liebesdramen! Habt ihr demnächst mal ein Wochenende Zeit? Jetzt, wo die Trainingscamps enden, müssen wir ja andere Gelegenheiten finden, abzuhängen!“ Nicht, dass sie das nicht ohnehin schon taten, wenn es sich ergab, aber Takuya hatte natürlich völlig recht! „Außerhalb vom Training hab ich immer Zeit“, gab Sou achselzuckend zurück. Er lehnte immer noch schwer auf Yuuki. Es störte überhaupt nicht. „Ich auch.“ „Ich nicht immer. Meine Eltern unternehmen wochenends schon mal etwas, und die meiste Zeit wollen sie, dass Alisa und ich mitkommen.“ „Dann müssen wir unseren Terminplan also nach Lev richten! – Oh, und natürlich nach Imari-Chan! Aber sie hat eigentlich echt viel Zeit und Verständnis, also kann ich auch mal gut ein Wochenende eher bei euch abhängen als bei ihr.“ – „Deine Freundin ist echt cool!“ Obwohl ihre Aussichten gut waren, war es ein bisschen deprimierend. Yuuki fand es schade, dass die Trainingscamp-Saison so kurz war. Er mochte es einfach, den ganzen Tag miteinander zu trainieren, irgendwann todmüde neben seinen Teamkollegen ins Bett zu fallen, und zwischen Training und Schlafengehen noch die Zeit zu nutzen, um über den größten Unfug zu reden und wieder auf andere Gedanken zu kommen. Es gehörte ganz klar mit dazu, wenn er an High-School-Mannschaftssport dachte. Er würde es vermissen, bis es nächstes Schuljahr wieder losging. „Es ist schade, dass wir nicht mehr Trainingscamps haben“, kommentierte er leise, wehmütig grinsend. Schade, dass die Schule vorging, auch wenn es natürlich Sinn machte. Das war schließlich wichtig für ihre Zukunft!   „Wisst ihr, es ist zu schade. Wir sollten. Nächstes Frühjahr. Mal ehrlich, wir trainieren gerade alle so hart, besonders unser Best-of-Team, wir müssen den Ehemaligen doch noch zeigen, was wir inzwischen drauf haben!“ Takuya grinste. Er sprang von der Matte auf und begann, durch die Halle zu tigern. Er schien nachzudenken. Nach ein paar Sekunden des rastlosen Umherlaufens hielt er wieder inne und grinste breit in die Runde. „Wir wollen doch Revanche, ne?“, begann er wild gestikulierend, „Holen wir sie uns! Niemand verbietet uns, Trainingscamps zu organisieren, oder? Wir können das genauso gut wie die Ehemaligen machen!“ Das war großartig. Yuuki sah seinen Freund einen langen Moment einfach nur begeistert an, ehe er wild nickte. „Genau! Und das ist doch mal ein krasses Dankeschön!“, fügte Sou lachend hinzu. Er löste seinen Arm um Yuukis Schultern, um sich vorzulehnen, „Das wäre echt mega cool!“ Es wäre umwerfend, und Yuuki war sicher, ihre Ehemaligen würden sich riesig darüber freuen. Wie könnten sie auch nicht? Allerdings versprach es auch, anstrengend zu werden. Wie organisierte man denn ein Trainingscamp? „Kriegen wir das denn hin?“ Es war nicht, dass Yuuki spaßbremsen wollte. Sehr zu seiner Erleichterung, hatte er doch die Laune nicht senken wollen, lachten seine Freunde nur, keine Sekunde an ihrer Idee zweifelnd. „Natürlich kriegen wir das hin“, erwiderte Lev tadelnd, „so schwer kann das ja gar nicht sein.“ – „Wir können ja sogar unsere Coaches um Hilfe bitten!“, fügte Takuya breit grinsend hinzu, ehe er sich einfach auf den Boden plumpsen ließ, wo er gerade stand. „Was haben wir denn zu verlieren? – Gar nichts! Das wird mega gut werden! Die werden Augen machen, wenn die sehen, wie stark wir geworden sind. Und Lev kann seinen Süßen noch ein bisschen mehr beeindrucken!“     ***     „Bro, hast du Zeit?!“, dröhnte lautstark aus Tetsurous Handy. Bokutos Anruf war keine zwei Sekunden nach Akaashis Nachricht eingetrudelt. Er grinste amüsiert, lehnte sich entspannt auf seinem Sofa zurück. Natürlich hatte er Zeit – für Bokuto immer. Selbst wenn er keine Zeit hatte. Die einzige mögliche Ausnahme bildete da wohl die Eventualität, dass Kenma ihn gerade für sich beanspruchen könnte, aber davon ab? „Immer, Bro.“ – „Bro!!!“ Tetsurou brauchte gar nicht nachzufragen, wie Bokuto plötzlich darauf kam. Akaashi hatte keine Zeit, da war es natürlich naheliegend, dass Bokuto sich stattdessen an ihn wendete, immerhin waren sie die besten Freunde. Natürlich war es tragisch, dass er neben Akaashi immer nur die zweite Geige spielte, aber damit konnte Tetsurou leben, wirklich. Er war einfach so nett. Und ganz im Ernst – es war Tetsurou völlig recht, wie es war. Noch mehr Bokuto würde er bei aller Liebe vielleicht gar nicht mehr ertragen können.   Nachdem sie geklärt hatten, dass Bokuto vorbeikommen würde und nicht umgekehrt, weil Tetsurou am Morgen früh zum Training musste und keine Lust hatte, vorher noch durch die halbe Stadt fahren zu müssen, legten sie auf und Tetsurou machte sich daran, das größte Chaos in seiner Wohnung zu beseitigen. Ein bisschen schmutziges Geschirr vom Abendessen, das noch nicht den Weg in die Küche gefunden hatte, und das Bettzeug, das seit gestern Abend hier lag, weil Tetsurou es benutzt hatte, um auf dem Sofa lümmelnd fernsehguckend einschlafen zu können – er sah den Fernseher vom Bett aus einfach nicht –, sowie diverse andere Kleinigkeiten. Gleich würde es hier eh wieder furchtbar chaotisch aussehen, alleine, weil sie sicher eine Kissenschlacht machen würden, und weil sie sicher irgendwelche Knabbereien aus den Untiefen von Tetsurous Vorratsschrank buddeln würden, aber dann war immerhin genug Platz für neues Chaos! Es machte also völlig Sinn, jetzt aufzuräumen.   Bokuto kam später als geplant, weil er die U-Bahn verpasste und dann beschlossen hatte, er konnte die Zeit bis zur nächsten U-Bahn ja nutzen, um in einem nahen Laden noch einen Film zu kaufen, der interessant genug aussah, um ihn anzusehen – er verpasste darüber noch eine U-Bahn. Immerhin verlief er sich nicht, und so kam er problemlos, wenn auch spät, bei Tetsurou an. Als wäre er hier zuhause machte er sich sofort auf dem Sofa breit, kaum, dass er Jacke und Schuhe losgeworden war. Tetsurou fand es gut so. Er sparte sich die Mühe, Gläser für Getränke zu holen, sondern wies lediglich auf die kleine Ansammlung an verschiedenen Getränkeflaschen, die neben dem Couchtisch stand. Bokuto bediente sich völlig unbekümmert. Wieso auch nicht? War nicht, als wäre Tetsurous Spucke giftig. Zufrieden ließ er sich neben Bokuto plumpsen, nachdem er noch die DVD reingeworfen hatte, griff nach der Fernbedienung. „Also erzähl mal, Bro, was geht ab?“ – „Akaashi hat keine Zeit, also bin ich hier!“ Es klang unglaublich empört, so als wäre es ein absolutes Staatsverbrechen, dass Akaashi keine Zeit für ihn hatte. Tetsurou lachte, klopfte Bokuto mitleidig auf die Schultern. „Mach dir nichts draus, huh? Ich bin sicher, er vermisst dich ganz schrecklich.“ – „Dann soll er mehr Zeit haben!“ Das war, wie immer, leichter gesagt als getan, und Tetsurou war das sogar bewusst. Ihm war aber auch bewusst, dass man das Bokuto nicht erklären konnte, also versuchte er es gar nicht erst. In solchen Sachen war die Devise viel eher, dass man Bokuto ablenken musste, bevor er sich völlig in sein Drama reinsteigerte, und das zumindest war etwas, das Tetsurou relativ gut konnte.   „Hast du nach den Vorrunden noch was von Oikawa gehört?“ Bokuto sah ihn blinzelnd an, schüttelte dann den Kopf. „Hm. Nee. Hab nicht mal gehört, wie das da drüben ausgegangen ist. Weißt du das?“ Tetsurou nickte langsam. Er seufzte leise. Immerhin lenkte das Thema Bokuto von seinen Sehnsüchten ab, und außerdem fand er es wichtig, dass auch bei Bokuto langsam ankam, was die neueste Erweiterung ihres Freundeskreises gerade so trieb – oder eher nicht trieb. „Sawamura hat’s mir erzählt. Scheint, als wäre Oikawas Team im Finale rausgeflogen.“ – „Nicht dein Ernst“, gab Bokuto völlig entsetzt zurück, „Bro! Das geht doch gar nicht! Da war Ushiwaka drin! Niemand besiegt Ushiwaka! Und Oikawa ist doch auch echt gut!!!“ Natürlich war Oikawa gut. Aber das war einfach kein Argument, wenn er nicht mehr spielen konnte. Tetsurou gab knapp wieder, was er gehört hatte – dass der dumme Kerl sich verletzt hatte, dass der Ersatzzuspieler einfach nicht hatte mit dem gegnerischen Team mithalten können, und dass sie deshalb schlussendlich doch verloren hatten, trotz Ushiwaka. Als er fertig war, war Bokuto ganz still und sah ihn stirnrunzelnd an. „Aber Oikawa geht’s wieder gut, oder?“ Es war liebenswert, dass sein erster Gedanke ganz selbstverständlich Oikawas Wohlbefinden galt. „Gewissermaßen. Hab ihn nur kurz gesprochen, er meinte, er müsse für ne Weile mit dem Sport aussetzen wegen der Verletzung, und er wolle nicht drüber reden. War’n wirklich kurzes Gespräch.“ – „Bro! Der ist bestimmt voll unglücklich! Wir müssen ihn aufheitern!!!“     ***     Er war kurz davor gewesen, sein Handy einfach auszuhalten. Er hätte es getan, wären nicht seine Freunde gewesen. Shicchi und Yudacchi bombardierten ihn mit Nachrichten und albernen Fotos, selbst Makki, Mattsun und Ucchi, die nun weniger die Typen dafür waren, schrieben viel zu oft. Als wären sie stillschweigend darin übereingekommen, dass sie ihn dringend auf andere Gedanken bringen mussten. Tooru war sich sehr sicher, dass er damit gar nicht falsch lag. Nur die Sache mit dem stillschweigend… vermutlich hatten sie eher eine Oikatastrophen-Konferenz einberufen oder etwas ähnlich Empörendes. Es machte ihn wütend, und es ließ ihn insgeheim dankbar sein. Es war leichter, nicht über das Desaster nachzudenken, das sein Leben gerade war, wenn er ständig abgelenkt wurde durch die neuesten dummen Gedanken seiner Freunde. Es war leichter, nicht entgegen aller guten Ratschläge und Anordnungen doch wieder aufzustehen und in die Sporthalle zurückzukehren. Aber er hasste es, dass es ihn daran erinnerte, dass Iwa-Chan sich nicht meldete.   Im Nachhinein wusste er es besser. Es war nicht, als begriff Tooru nicht, was er angerichtet hatte. Er wusste, dass Iwa-Chans Gemeinheit nur schlecht verpackte Sorge war, und er wusste, dass er auf die dümmste Art darauf reagiert hatte, und er wusste, dass es theoretisch an ihm war, sich zu entschuldigen. Praktisch aber schaffte er es nicht, sich dazu durchzuringen. Ein großer Teil von ihm wollte sich nicht mit Iwa-Chan vertragen. Suchte immer noch Schuld bei ihm. Wäre er da gewesen, hätte Tooru sich nie überanstrengt. Nie verletzt. Iwa-Chan hätte ihn früh genug ausgebremst. Es war Iwa-Chans Schuld, dass er nicht mehr spielen konnte. Dass er verloren hatte, nicht nur das Spiel, sondern gewissermaßen auch seinen Platz im Team. Es würde beinahe unmöglich werden, wieder an Ushiwaka und seiner arroganten Meinung vorbeizukommen. Bis Tooru wieder am Training teilnehmen durfte, hätten sie ihn schon zehnmal ersetzt. Er hatte keinen Platz mehr. Und er wusste, dass der einzige Weg, das zu ändern, noch mehr Training war. Er sah den Kreislauf, aber er sah nicht, wieso er ihn durchbrechen sollte. So war die Welt. Nur die, die alles gaben, kamen voran, außer sie waren so lächerlich natürlich begabt wie Tobio. Gerade hasste Tooru ihn wieder mehr denn je, den kleinen, verdammten Scheißer, der ihm zum ersten Mal im Leben seinen Platz gestohlen hatte. Auch wenn es diesmal nicht Tobio gewesen war, der ihn ersetzte, es war das gleiche, bittere, kalte Gefühl, Tooru spürte die gleiche, unbändige Wut in sich hochkochen. Gedanken, die er gar nicht denken wollte, und die trotzdem immer wieder penetrant zurückkehrten, als hätten sie nichts Besseres zu tun.   Sein Handy klingelte wieder, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er sah hinunter auf das kleine Gerät. Vor fünf Minuten hatte Kurocchi angerufen. Tooru hatte ihn ignoriert, weil ihm nicht nach reden war. Jetzt zeigte das Display Bokkuns Namen an. Wahrscheinlich saßen die beiden gerade zusammen. Eigentlich war es ausgeschlossen, dass sie gerade nicht zusammensaßen. Tooru wollte immer noch nicht mit ihnen reden. Aber er war einsam, und ihm fiel die Decke auf den Kopf. Er war müde, konnte aber nicht schlafen, und wenn er es versuchte, lag er nur wach und starrte ins Dunkel, während ihn Gedanken einholten, die er nicht einmal denken wollte. Ein Anruf war eine willkommene Abwechslung von den schweren Gedanken und dem schweren Gemüt, selbst wenn sie nur noch so kurz war. Außerdem würde Yudacchi ihn wieder unnötig anmeckern, wenn er jemals erfuhr, dass Tooru seine Freunde so gemein abblitzen ließ. Yudacchi war ein Idiot. Er seufzte resigniert, ehe er den Anruf annahm und das Handy mit eingeplantem Bokkun-Sicherheitsabstand ans Ohr hielt. „Hallo?“ – „Oi! Oikawa!!!“ Bokkuns Stimme war so laut, dass Toorus Ohren klingelten. Er rümpfte die Nase, doch gleichzeitig zupfte ein flüchtiges Grinsen an seinem Mundwinkel. Es war schwer, sich von Bokkuns enthusiastischer Stimme nicht zumindest ein bisschen mitreißen zu lassen. Trotzdem hatte Tooru immer noch wenig Lust auf Gespräche, und so blies er beleidigt die Wangen auf. „Was wollt ihr? Wenn ihr angerufen habt, um euch wegen der Vorrunden zu erkundigen, lege ich wieder auf!“ – „Aber –!“ – „Kein Aber, Bokkun! Ich will nicht drüber reden!“   „Worüber willst du dann reden?“   Das war Kurocchis Stimme. Also hatten sie den Lautsprecher an, huh? Es missfiel Tooru, aber andererseits – es war nicht, als wäre noch jemand in der Nähe, der es hören könnte, also war es wohl in Ordnung. „Wie wäre es mit deiner grauenhaften Frisur, Kurocchi?“ Bokkun lachte, während Kurocchi zu einem lauten Protest ansetzte. Tooru konnte nicht anders, als mitzulachen, obwohl er sich immer noch hundeelend fühlte. Er sah sicher auch hundeelend aus. Weil er sowieso die Uni schwänzte, hatte er sich die letzten zwei Tage nicht einmal die Mühe gemacht, zu duschen – oder in den Spiegel zu gucken. Sein Haar war unter Garantie fettig geworden, und gebürstet hatte er es heute auch noch nicht. Er rümpfte über sich selbst die Nase, während er darüber nachdachte. Wie ekelhaft. Dass er sich nicht schämte! Es war nur ein sehr schwacher Trost, aber immerhin war Kurocchis Vogelnest immer noch hässlicher als er. Es ging gar nicht anders. Irgendwann würde Kurocchi es endlich einsehen, und dann würde er auf Knien angekrochen kommen in der Hoffnung, dass Tooru ihm helfen würde, seinen unruhigen Wischmopp unter Kontrolle zu bekommen. Tooru würde sehr viel Spaß daran haben, ihn betteln zu lassen. Er sollte dann ein Foto davon machen. Einfach nur so. Bettelnde Leute waren einfach immer ein so hübscher Anblick! „Außerdem“, lenkte er schließlich wieder vom Thema ab, weil ihm die hitzige Debatte am anderen Ende der Leitung zu chaotisch wurde – und das gezielte Weghören langsam anstrengend wurde –, „ist es nicht ein bisschen zu spät, um andere Leute anzurufen?“ „Aber wir haben uns Sorgen gemacht, Oikawa!“, brüllte Bokuto ihm laut entgegen, „Wir wollten dich aufheitern!!!“   Tooru wusste nicht einmal, warum, aber die Worte berührten etwas in ihm, das er nicht berührt haben wollte. Er lachte, weil es einfacher war als zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. „Oikawa? Oi! Oikawa? Heulst du etwa?!“ „Noch nicht.“ Noch nicht. Es war so erbärmlich! Aber Tooru fühlte sich erbärmlich. Sein ganzes Leben war erbärmlich! Er hörte, wie Bokuto am anderen Ende der Leitung lautstark verkündete, dass sie dringend etwas tun mussten, und dann diskutierten er und Kurocchi wieder. Diesmal darüber, wie sie Tooru am besten aufheitern könnten. Schlechte Witze, Filme, oder sie könnten ihm von ihrem eigenen Scheitern erzählen, damit er darüber lachen konnte. Es war so bescheuert, dass Tooru sie gar nicht erst unterbrach, sondern einfach zuhörte und sich in der Fürsorge sonnte, die die beiden Idioten für ihn hatten. Obwohl er sie kaum ein paar Monate kannte. Obwohl das gar nicht ihr Job war. Obwohl es Iwa-Chan war, der jetzt hier sein und sich kümmern sollte. Es war genau der falsche Gedanke. Tooru verfluchte sich selbst dafür, dass ihm nun doch die Tränen kamen. Er fluchte lautstark, griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich geräuschvoll, wischte rigoros die Tränen weg, die über seine Wangen fließen wollten. Er konnte auch ohne Iwa-Chan leben!   (Er wusste selbst, dass es gelogen war.)   Die Stimmen am anderen Ende wurden leiser, bis sie irgendwann für einen Moment ganz verstummten. Dann ertönte Kurocchis Stimme, immer noch leiser als zuvor: „Sei mal ehrlich – dir geht’s scheiße, huh?“ Tooru schnaubte leise. „Ist dir das jetzt erst aufgefallen?“ – „Hey. Wenn du irgendwas brauchst, wir sind da. Auch wenn ich Bokuto grad mal rausgeschickt habe, um ne ruhige Minute zu haben.“ Brauchte er denn etwas? Tooru brauchte viel, so gesehen – ein brauchbares Knie. Gesellschaft. Ablenkung. Schlaf. Eine Dusche und eine Haarbürste. Iwa-Chan. Es war kaum etwas dabei, das Kurocchi und Bokkun ihm ermöglichen konnten. (Die Vorstellung, wie sie Iwa-Chan in einen Sack steckten und dann vor seiner Tür absetzten, ließ ihn trotzdem kurz erstickt auflachschluchzen.) Sein Magen knurrte. „Ich hab Hunger“, klagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann lachte Kurocchi herzlich auf. Es war ein warmes, freundliches Lachen, das Tooru seltsam beruhigend fand. „Wie lange überlebst du noch ohne Essen?“ Lang genug. Es war nicht, als hätte er seit dem Spiel allzu regelmäßig gegessen. Er brummte seine Antwort missmutig in sein Handy. „Gib mir deine Adresse.“ Was auch immer Kurocchi vorhatte, es war mit Sicherheit idiotisch. Wollte er ihm eine Pizza bestellen? Tooru wollte keinen Pizzalieferanten vor der Tür stehen haben! Er müsste dafür schließlich erstmal duschen, und Haare waschen, und überhaupt! Er gab Kurocchi die Adresse trotzdem. Was auch immer der Trottel vorhatte, es war besser als alles, was gerade war, also warum nicht? Und es war eine gute Motivation, um sich ins Bad zu schleppen.     ***     Weil der nächste Nachtzug nach Miyagi noch auf sich warten ließ, gingen sie einkaufen. Konbini hatten nun wirklich nicht die beste Auswahl, aber Tetsurou fand genug Zutaten für ein schnelles Abendessen und einen Haufen Süßigkeiten und Junkfood, um die Nacht durchzumachen. Bokuto fand sogar die ollen Brause-Ufos, die Oikawa bei seinem letzten Besuch hier so umwerfend toll gefunden hatte. Immerhin dauerte die Fahrt nur knapp zwei Stunden. Es kostete zwar entsprechend viel, aber Tetsurou fand, dass das völlig legitim war. Es gab eben Situationen, die erforderten ungewöhnliche Maßnahmen! Zugegeben, womöglich wäre er nicht ganz so schnell darin gewesen, Oikawa zur Hilfe zu eilen, wäre Bokuto nicht bei ihm gewesen, aber der Dummkopf war so schnell und intensiv darin, sich Sorgen um andere zu machen, dass sie es zu keinem anderen Gesprächsthema mehr gebracht hätten, hätten sie es nicht getan. Tetsurou verpasste außerdem nichts wirklich wichtiges, also sprach noch weniger etwas gegen einen spontanen Ausflug. Er sollte nur Bescheid geben, dass er nicht zum Training kam, huh? Nachdenklich angelte er sein Handy hervor und tippte schließlich eine Nachricht an Suguru, dass er und Bokuto losgezogen waren, um einen Freund vor seinem Unglück zu retten.   Er wartete keine fünf Minuten, bis eine Antwort kam.   Kaum zu glauben, dass du so viel Aufmerksamkeit für jemanden übrig hast, der nicht Bokuto oder Kozume ist. Tetsurou kam nicht dazu, zu antworten, bevor Bokuto ihn unterbrach. Insgeheim war er froh darüber, denn er wusste auf den stillen Vorwurf nichts kluges zu antworten – sein erster spontaner Gedanke war eindeutig nicht für Sugurus Augen bestimmt. „Broooo, hast du deinen Klingelton geändert?“, fragte er irritiert nach, die Augenbrauen hochgezogen und die großen Eulenaugen dümmlich träge dreinblickend. Zuerst begriff Tetsurou gar nicht, was das Problem war – dann erinnerte er sich daran, dass er Suguru einen gesonderten Klingelton zugewiesen hatte. Er grinste, um absolut unangebrachte Verlegenheit zu überspielen. „Nee. Das ist wie Kenma.“ – „Du hast noch mehr Leute mit Extra-Klingeltönen?“ „Klar, du hast auch einen!“ „Bro! Warum weiß ich das nicht?! Und viel wichtiger – wer hat noch einen?!“ Tetsurou verdrehte die Augen. Zu viel Drama um eine Banalität, über die er außerdem nicht wirklich reden wollte. Es wäre ihm lieber gewesen, Bokuto hätte sich noch einmal daran aufgehängt, dass er gar nicht von dem Klingelton wusste, obwohl er es strenggenommen wohl wissen müsste. Womöglich wäre ihm sogar eingefallen, dass er ihn gehört hatte, als er Tetsurous Nicht-Date bespitzelt hatte. „Lass mich Suguru antworten, dann erklär ich’s dir?“ Oder eher, bis dahin hatte Bokuto vermutlich das Interesse daran verloren, jedenfalls pokerte er darauf.   Dass Bokuto ihn wieder einmal damit überraschen musste, so gar nicht vorhersagbar zu sein, wenn man es am Dringendsten brauchte, hatte Tetsurou nicht mit einberechnet.   „Suguru? …Broooo!!! Daishou Suguru?! Ich dachte, du hasst den Typen!!!“ Bokutos Blick sagte klar, dass er gar nicht mehr glauben würde, dass es ein anderer Suguru sein könnte. Tetsurou war sprachlos – wieso kannte Bokuto den Namen des Kerls überhaupt?! Wieso merkte der sich so etwas, aber hatte im gleichen Atemzug noch Probleme mit den simpelsten Kanji? Das war doch Betrug! „Das ist… eine lange Geschichte“, gab er schließlich langsam, achselzuckend zurück. Eine Geschichte, die er, zugegeben, selbst nicht kannte. Es war einfach passiert! Alles. Angefangen von dem Vornamen über das Mögen bis hin zu – allem. „Wir haben Zeit, Bro. Der Zug fährt noch ne Weile!“ Tetsurou seufzte nur schwer. Das half ihm nicht. „Wir waren als Kinder mal Freunde.“ Bokuto sah nicht aus, als würde er das glauben. Tetsurou glaubte es selbst manchmal nicht, aber es war nicht, als könnte er die Realität ändern, nur, weil sie ihm nicht halb so gut gefiel, wie er das gern hätte. „Also hasst ihr euch gar nicht?“ – „Nicht mehr.“ Nicht wirklich. Tetsurou fühlte sich nicht wohl damit, es zuzugeben, aber er hatte längst aufgehört, Suguru zu hassen. „Also seid ihr jetzt wieder Freunde?“, bohrte Bokuto weiter. Tetsurou beantwortete seine Frage mit einem Schulterzucken. Er wusste es selbst nicht. Sie benahmen sich wie Freunde. Teilweise. Und dann gab es wieder Phasen, in denen sie kaum besser dran waren als zu ihren schlimmsten Zeiten, auch wenn die nicht lange anhielten. Bokuto deutete sein Schweigen eindeutig falsch, denn er riss die Augen auf, als wäre ihm gerade eine entsetzlich erschreckende, unglaubliche Erkenntnis gekommen.   „Bro!!! Dann war das neulich doch ein Date!!! Du stehst auf den!!!“   Tetsurous Protest erstarb irgendwo auf halbem Weg zwischen Verstand und Herz.     ***     Als es klingelte, war so viel Zeit vergangen, dass Tooru irgendwo zwischen trüben Gedanken und Erschöpfung auf dem Sofa eingedöst war. Er blinzelte irritiert in das diesige Licht, das der noch angeschaltete Fernseher in den dunklen Raum hineinwarf. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es viel zu spät für Besucher war. Welcher Pizzaservice auch immer das war, er war ganz schön schlecht. Er würde Kurocchi ordentlich anmeckern dafür! Seufzend raffte er sich auf, gerade in dem Moment, in dem es noch einmal quengelnd klingelte, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Es war sauber, noch ein bisschen feucht, weil er zu lethargisch gewesen war, zu föhnen, und ungestylt, weshalb es sicher immer noch katastrophal aussah. Aber immerhin war er sauber. Tooru fühlte sich sogar fast ein bisschen besser, wo er die beruhigende Sicherheit hatte, wieder weitgehend präsentabel zu sein. Es klingelte noch einmal, noch bevor er raus aus dem Zimmer gekommen wäre, was ihn empört schnaufen ließ. Also langsam wurde es nervig! „Ich komme ja!“, rief er dem Wohnungsflur entgegen, obwohl es völliger Unfug war – es war nicht, als würden sein Gast vor der Wohnungstür stehen. Und natürlich war die Gegensprechanlage kaputt und die Hausverwaltung hatte sich noch nicht darum gekümmert. Als er in Schuhe und eine dünne Jacke schlüpfte, warf er dem verdammten Ding einen hasserfüllten Blick zu. „Nur deinetwegen muss ich jetzt da runter.“ Es war Betrug!   Als die Klingel sich genau diesen Moment aussuchte, um noch einmal zu klingeln, konnte Tooru sich immerhin damit trösten, dass er das nervige Gebimmel im Hausflur auf dem Weg nach unten nicht mehr hören würde.   Trotzdem war er immer noch mürrisch, als er endlich im Eingangsbereich ankam. Die Haustür bekam ein genauso vernichtendes Funkeln wie die Gegensprechanlage zuvor. Er hörte von draußen gedämpfte Stimmen eindringen, die er so verzerrt von der Tür nicht verstehen konnte. Hatte der Pizzabote sich auch noch einen Freund mitgebracht? Na wunderbar. Mit einem genervten Fluchen riss er die Tür auf – und erstarrte. Kein Pizzabote. Kurocchi grinste ihn breit an. In seinen Armen hielt er eine Papiertüte, aus der oben eine transparente Zellophantüte voller Esspapier-Ufos herausragte. Bokkun neben ihm war ganz ähnlich bepackt, trug seine eigene Tüte. Auch wenn nichts herausragte, war recht gut ersichtlich, dass sie ziemlich vollgepackt war. Beide waren mit einer Sporttasche auf der Schulter ausgestattet, in der vermutlich so etwas wie Schlafklamotten steckte. Tooru begriff nicht, was er hier sah. Kurocchi und Bokkun sollten in Tokyo sein. Mussten in Tokyo sein, immerhin war es mitten in der Nacht, und es war ausgeschlossen, dass sie einfach so in einen Nachtzug stiegen und herkamen, nicht wahr? Yudacchi war eine Sache, aber im Vergleich wohnte Yudacchi ja auch direkt nebenan. Halluzinierte er jetzt schon vorlauter Unglück? Oder war es nur ein dummer Traum und er wachte gleich auf, um sich noch einsamer als vorher zu fühlen? Eines von beidem war es mit Sicherheit.   Eine der Papiertüten landete in seinen Armen. Die Verpackung der Esspapier-Ufos kitzelte ihn so nervig am Kinn, dass es einfach kein Hirngespinst sein konnte. Kurocchis Grinsen wurde nur noch breiter, und Bokkun sah so aus, als würde ihm das Grinsen bald auf dem Gesicht festwachsen, wenn er so weitermachte. Toorus einziger Gedanke in diesem Moment war ehrliche Empörung darüber, dass Kurocchi ihn hier als Packesel missbrauchte – zu allem, das intelligenter war, war er schlicht nicht mehr in der Lage. Er hatte ja wohl keinen Grund, ihm seinen Scheiß zu schleppen! Die Ufos nahm er allerdings gerne an sich, so war es nicht. Aber auch nur die Ufos. Sie gaben sicher ganz wunderbare Seelentröster ab! Er schüttelte den Kopf, um all die konfusen Gedanken loszuwerden, für den Moment vergessen, dass er aussah wie gerädert, dass er einsam und müde war, und Fühlte sich stattdessen einfach nur perplex. „Was zum Henker tut  ihr hier?!“   „Hey hey hey!!! Überraschung! Wir sind hier, um dich aufzuheitern!“, rief Bokkun so laut, dass es sicher das halbe Haus aufweckte – es war Tooru egal. Er lachte, obwohl der Laut eher nach kläglichem Schluchzen klang, und mit einem Mal war er froh über die Papiertüte, hinter der er sein Gesicht verstecken konnte. Kapitel 17: ------------ Letztes Jahr hatte er geheult wie ein Schlosshund, als es vorbei gewesen war. Dieses Mal konnte Shigeru sich nicht dazu durchringen, die Tränen zu vergießen, die in seinen Augen brannten. Er wollte sein Gesicht wahren. Vielleicht war es ihm auch einfach nur aus Prinzip peinlich. Er erinnerte sich noch daran, wie verheult damals ihre Drittklässler gewesen waren, und dass es niemanden gestört hatte, aber – er wollte trotzdem nicht. Kyoutani heulte auch nicht. Watari heulte, aber das war etwas ganz anderes. Seine stillen Tränen waren ohnehin kaum zu bemerken neben dem lauten Heulen, das aus Kindaichis Richtung kam. Das war es. Ein paar Tränen. Ein paar Tage Frust. Das Gefühl, dass er immer noch trotz aller Bemühungen nicht erreicht hatte, was er eigentlich hatte erreichen wollen. Dass er Oikawa und die anderen doch wieder enttäuscht hatte. Und dann würde das Leben weitergehen. Nächstes Jahr das gleiche Spiel. Übernächstes Jahr noch einmal. Und dann wieder. Immer das Gleiche. Sie wussten es alle, wieso nahm es dann überhaupt noch mit? Es war lächerlich, und trotzdem konnte Shigeru sich nicht davon lösen.   Niemand schien so recht motiviert zu sein, voranzukommen. Sie trödelten. Shigeru überlegte, ob es nicht einen Hinterausgang gab, der ihm half, sich darum herumzumogeln, seinen ehemaligen Senpai in die Augen sehen zu müssen. Zumindest einige bekannte Gesichter hatte er auf der Tribüne entdeckt. Sie waren unter Garantie immer noch hier. Trotz allem Herauszögern waren sie schließlich doch draußen im Eingangsbereich der Halle, und es dauerte keine zehn Sekunden, bis die Gruppe aus dem Zuschauerbereich sie gefunden hatte. Shido. Sawauchi. Hanamaki und Matsukawa. Shigeru war erleichtert, dass Oikawa nicht da war. „Ihr wart gut“, kommentierte Hanamaki mit einem trägen Grinsen. Matsukawa nickte bestätigend, während niemand so recht geneigt schien, ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen. „Macht sie nächstes Jahr fertig.“ „Für einige von uns gibt es kein nächstes Jahr“, platzte Shigeru ganz unabsichtlich heraus. Ihm war bewusst, dass es nicht fair war, aber er wollte diese Worte nicht hören. Nächstes Jahr war ein Zauberspruch, der seinen Zauber schon lange verloren hatte. Er mochte das Volleyballspielen, aber hatte längst beschlossen, dass dieses Jahr sein letztes war. Er hatte ein ganzes Leben vor sich, das angefüllt sein würde mit tausenderlei anderen Dingen, die eine höhere Priorität als der Sport hatten. Er bereute die Entscheidung nicht. Oder litt darunter. Er war nur enttäuscht, dass er sich selbst keinen zufriedenstellenden Abgang ermöglicht hatte. „Aw. Shigeru-San, ehrlich?“ Kogamis Stimme klang überzogen bedauernd. Hinter dem Theater vermutete Shigeru aber tatsächlich so etwas wie Ehrlichkeit. Er zog desinteressiert die Schultern hoch und warf dem Anderen einen ablehnenden Blick zu – es war nicht seine Sache. „Hab besseres zu tun.“ Richtig überraschend kam die Enthüllung auch irgendwie nicht. Niemand war wirklich überrascht. Shido ermutigte seine Entscheidung, immerhin war es Shigerus Leben und er musste wissen, was das Beste für ihn war. Watari verkündete sogar, dass er sich ebenfalls anschloss, weil er einen Studiengang anpeilte, der einfach zu viel Zeit fraß, um noch ernsthaft im Sport unterwegs sein zu können. Er würde wohl gelegentlich noch hobbymäßig spielen, aber nichts Ernstes mehr. „Ich hätte auch aufgehört, hätte Oikawa uns nicht gezwungen, weiterzumachen“, war Matsukawas gutmütiger Beitrag zur Diskussion. Shigeru war froh, dass er niemanden hatte, der ihn zu solchen Dummheiten zwang, denn ehrlich – er wollte nicht. Er war zufrieden damit, nicht weiter zu spielen. „Ganz egal, was wir Drittklässler machen“, wechselte er schließlich das Thema, weil es ihm zu viel wurde. Er war beeindruckt, dass immer noch keine Tränen flossen, „Ich erwarte, dass das Team nächstes Jahr eine weniger peinliche Performance abliefert! Ihr werdet es gefälligst wieder bis ins Finale schaffen, ihr Waschlappen!“ Kindaichi sah aus, als wolle er vor Rührung gleich wieder in Tränen ausbrechen. Shido tat es auch beinahe, zog die ulkigsten Grimassen dabei und kommentierte, wie unglaublich gerührt er darüber war, dass Shigeru sich so fürs Team einsetzte. Kusachi flennte sowieso. Könnte sein Tratschclub ihn gerade sehen, all ihre sorgfältig gestreuten Gerüchte würden in sich zusammenstürzen wie ein billiges Kartenhaus. Es war nicht Shigerus Ding, huh? Mit diesem Spiel war eindeutig der Moment gekommen, um aufzuhören. Er wollte nicht wie Oikawa und die anderen Ex-Drittklässler bis zum Jahresende dabei bleiben, das Unvermeidliche hinauszögern. Bei einem Anblick auf sein Team, das größtenteils gerade aus Heulbojen bestand, war er sich zwar nicht sicher, ob sie wirklich fähig wären, alleine zu überleben, aber – sie mussten es lernen.   Auch wenn ihre neue Captainriege noch weit davon entfernt war, überzeugend auszusehen.   Shido und die anderen blieben eine ganze Weile. Nachdem das erste lose Geplänkel vorbei war, meckerte Sawauchi mit so ziemlich jedem, der sich auch nur den kleinsten Patzer geleistet hatte. Seine barsche Art und die schroffen Rügen halfen irgendwie, über die Niederlage hinwegzukommen, zumindest trockneten sich so langsam so einige Gesichter. Als die Gruppe sich zerstreute, war es schon so spät, dass sämtliche Spiele des Tages gelaufen waren und die Halle sich immer weiter geleert hatte. Shiratorizawa, das hatte deren beleberfleckter Außenangreifer spöttisch verkündet, war natürlich ins Finale gekommen. Shigeru hatte einen Moment gefürchtet, dass Kogami auf ihn losgehen würde, aber dann war Shirabu schon eingeschritten. Er entschuldigte sich eher gelangweilt klingend, bot Shigeru die Hand und erklärte, dass er es zutiefst bedauerte, nicht noch einmal gegen Seijoh spielen zu können. Es hätte ihn beinahe wieder zu Tränen gerührt. Ehrlich. Aber Shigeru verkniff sich jede sichtbare Regung stur, nickte nur und wünschte seinem Rivalen alles Gute. Dann tauchte Karasunos kleine, laute Nervensäge auf und verkündete freudenstrahlend, dass sie es bis ins Finale geschafft hatte. Shigeru blendete das Gespräch aus, so gut es ging, aber es war unübersehbar, dass es Kindaichis und Kusachis Laune hob, mit dem anstrengenden Springteufel zu reden. Weil er sich sicher war, dass er hier erst einmal nicht vermisst wurde, und weil er sowieso noch oft genug Gelegenheit haben würde, die Jungs aus seinem Team zu sehen, verabschiedete sich Shigeru mit einem knappen Gruß und ließ den neu erwachten Tumult einfach hinter sich. Ihm war es zu deprimierend, über anderer Leute Erfolg informiert zu werden.   Er kam bis hinaus vor die Tür, ehe eine Hand mit seinem Rücken kollidierte und ihn ein paar Schritte nach vorn stolpern ließ. Als er sich umwandte, blickte er in Kyoutanis typisch verärgertes Gesicht, begegnete dem kalten, beinahe drohenden Blick des anderen Jungen. „Versager haben nicht das Recht, aufzuhören.“   Weshalb es ausgerechnet dieses Worte waren, die Shigerus Selbstbeherrschung zerrissen und ihn doch zum Heulen brachten, blieb ihm unbegreiflich.     ***     Kenjirou fühlte sich leer, als es vorbei war. Während des Spiels war er wütend gewesen. Verzweifelt. Aber kaum, dass der letzte Punkt gefallen war, war eine fast surreale Ruhe über ihn gekommen. Er fühlte sich wie in Watte gepackt, in einem ätzenden Traum, der mit dem Aufwachen aber auch wieder vergehen würde. Er musste sich krampfhaft daran erinnern, dass es so einfach nicht war. Kawanishi, der neben ihm in den Eingangsbereich trottete, weinte. Immerhin hatte er den Anstand, es leise zu tun, während Goshiki so laut war, dass man ihn wahrscheinlich durch das ganze Gebäude hörte. Peinlich. Ninouchi schien um Fassung zu ringen, aber die Tränenspuren auf seinem Gesicht sprachen eine ganz andere Sprache als sein stoischer Blick. Fukumine grinste, während Sakase unwillig auf seiner Unterlippe herumbiss. Sie alle waren Schuld an der Niederlage, immerhin waren sie nicht stark genug gewesen. Es war ihr Recht, wütend und enttäuscht zu sein, das verstand Kenjirou. Dass der Rest des Teams, der höchstens von der Bank aus zugesehen hatte, genauso elend dran war, war ihm heute wie die letzten Jahre immer noch unbegreiflich. Für ihn ergab es keinen Sinn, über etwas wütend zu sein, auf das er keinen Einfluss gehabt hatte. Er blieb stehen, als er ihnen gegenüber einen vertrauten, wilden, weinroten Haarschopf erblickte, neben ihm die vertraute Gestalt von Ushijima, der überlebensgroß wirkte hier in dieser Sporthalle.   „Yoooo~! Kenjirou, du siehst fit aus! Hey, Tsutomu, weg mit den Tränen, die lenken von deiner glorreichen Frisur ab!“ „T-Tendou-San!!! U-Ushijima-San!!!“ Tendou grinste. Ushijima sah aus wie immer. Kenjirous Magen krampfte, als er sich an dem ungläubig gaffenden Goshiki vorbeischob, um zu den beiden hochgewachsenen Männern aufzuschließen. Er holte tief Luft, straffte die Schultern, bereit, sich die Predigt abzuholen, die jetzt zweifelsohne kommen würde. Enttäuschung. Würde Ushijima ihn jetzt überhaupt noch an seiner Seite haben wollen? Er hörte Kanoos gutmütiges Brummen, mit dem er versuchte, Goshiki zur Ruhe zu mahnen. Es musste reichen; Kenjirou hatte besseres zu tun als ihr unnötig lautes Ass zu maßregeln. „Ushijima-San.“ Der Blick des Anderen war unlesbar für ihn – wie immer. Stoisch schweigend sah er auf ihn hinunter, während im Hintergrund Goshikis, Kanoos und Tendous Stimmen in seinen Ohren dröhnten, nicht wirklich leiser als vorher, aber zumindest war Goshiki davon abgelenkt, Ushijima zu belästigen. Sakases Zetern mischte sich relativ bald mit in den Geräuschpotpourri, während Kenjirous Gegenüber immer noch still war. Hätte er selbst gewusst, was er sagen könnte, er hätte die Stille unterbrochen. „Wir sind beide gescheitert“, war schließlich alles, was Ushijima verlauten ließ. Kenjirou wusste nicht, was die Botschaft ihm sagen sollte. Er runzelte kaum merklich die Stirn und schüttelte protestierend den Kopf. „Es war Oikawa-Sans Schuld. Ohne ihn hättet ihr gewonnen.“ Es war eindeutig. Kenjirou hatte das Spiel zwar nicht sehen können, aber er hatte davon gehört, und für ihn gab es keine andere Erklärung, als dass Oikawas Patzer Auslöser des ganzen Debakels gewesen war. Trotzdem schüttelte Ushijima gerade den Kopf. Kenjirou konnte gar nicht anders, als ihn anzustarren, unverständlich, und plötzlich schmeckte sein Mund bitter. Er nahm Oikawa in Schutz? Passierte das gerade wirklich? „Auch ich bin gescheitert.“   Nein. Tat er nicht. Nicht wirklich. Kenjirou stieß langsam die Luft aus, überfordert, aber doch erleichtert. Er war nicht fähig, zu interpretieren, was ihm Ushijima damit eigentlich sagen wollte, aber es klang wirklich nicht nach Schutz für Oikawa. Kurz war er versucht, Übersetzung von Tendou zu fordern, aber – nein. Dafür war er zu stolz. Und Tendou würde es ihm ewig unter die Nase reiben und ihn ewig damit aufziehen, darauf konnte er dann auch dankend verzichten. „Jetzt ist es sowieso egal.“ Es war immerhin vorbei. Kenjirou nickte vage. Es war vorbei. Das letzte Match seines High-School-Lebens. Jetzt würde er endgültig nur noch damit beschäftigt sein, für die Aufnahmeprüfungen seiner Wunschuniversität zu lernen. Er hatte immer noch ein Ziel vor Augen. Eigentlich fühlte Kenjirou sich nicht danach, als sei er an einem Ende angekommen. Viel eher war es ein neuer Anfang. Ushijima sah ihn eindringlich an. Er wirkte zufrieden. „Tendou. Wir gehen.“ – „Waaaas? Wakatoshi-Kun, wir sind doch gerade erst gekommen~!“ – „Komm.“ Tendou gehorchte, ganz selbstverständlich, auch wenn er darüber jammerte. Kenjirou verfolgte sein Theater eher halbherzig, winkte ihm nur kurz, als er sich an Ushijimas Seite gesellte, um mit ihm wieder in der Menschenmenge zu verschwinden. Ushijima hob in einem knappen Gruß die Hand, sah einmal in die Runde. Sein Blick blieb schließlich an Kenjirou hängen. Die Worte, die er sprach, waren ein Versprechen, das Kenjirou das Gefühl gab, schlussendlich wirklich rein gar nichts verloren zu haben:   „Nächstes Jahr.“     ***     Frustfressen war Shou wie eine gute Idee erschienen nach der lächerlichen Niederlage gegen die lächerlichen Krähen. Jetzt, wo er vor einer fettigen Portion Pommes und einem Burger saß, fühlte er sich aber gar nicht mehr nach Frustfressen. Ein Blick zu Koharu zeigte, dass der die Idee dagegen wunderbar fand, die Hälfte seines eigenen Burgers war schon vertilgt. Mit dem großen Bissen im Mund, den er angestrengt zerkaute, sah er aus wie ein Hamster. Der Anblick ließ Shou unwillkürlich grinsen. Koharu funkelte, und kaum, dass er sein Essen heruntergewürgt hatte, fauchte er los: „Was?!“ „Du siehst aus wie ein Hamster“, gab er grinsend zurück. Koharu schien einen Moment versucht, ihm sein Essen an den Kopf zu werfen, ließ es dann aber doch bleiben und biss lieber noch einmal mit einer so herzhaften Intensität ab, dass Shou schon vom Zusehen alles wehtat. Mit dem kleinen Gör wollte er sich wirklich niemals ernsthaft anlegen. Spaßeshalber? Immer wieder. Er seufzte theatralisch. „Es wird so leise werden ohne dich, Koharu~“ – „Du lässt es nicht gerade nach einem Verlust klingen.“ „Natürlich nicht. Stille ist etwas ganz Wunderbares.“ Koharu schnaubte. Sein Grinsen war beinahe süffisant und triumphierend. Es hätte ernsthaft nervig sein können, hätte der Ketchup in seinem Mundwinkel nicht wieder alles ins Lächerliche gezogen. „Aber du wirst mich trotzdem vermissen.“   Shou sparte sich die Bestätigung, einfach, weil er wusste, dass sie unnötig war. Koharu wartete auch gar nicht auf Antwort, sondern stürzte sich auf seine Pommes, und erst, als die auch zur Hälfte vertilgt waren, hielt er wieder inne und sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf. „Wirst du aufhören?“ Die einzige Antwort, die Shou auf die Frage hatte, war ein Seufzen. Hörte er auf? Er wusste es selbst noch nicht so genau. Er mochte Volleyball, sonst hätte er nicht so lange gespielt, aber war ihm der Sport wirklich wichtig genug, ihn noch mit in die Universität zu nehmen? Tendenziell eher nicht. Andererseits würde wirklich etwas fehlen und er müsste sich eine andere Clubaktivität suchen. Und was? Er konnte sich nicht einmal etwas vorstellen. Grinsend stützte er das Kinn auf die Handfläche. „Warum kümmert’s dich? Hoffst du drauf, dass ich in zwei Jahren noch da bin, wenn du zur Uni kommst?“ Für einen kurzen Moment sah Koharu ertappt aus, dann schnaubte er nur und mopste sich ein paar Pommes von Shous Tablett. „Träum weiter, du Witzfigur.“ – „Wichsfigur? Wäre das nicht eher dein Mittelschulliebchen?“   „SHOU!!!“   Er lachte herzlich über Koharus Empörung, die sich in Form von eindeutiger Röte auf seiner sonnenbraunen Haut zeigte. Es sah immer wieder unterhaltend aus, wenn der Junge errötete, einfach, weil es bei dem dunklen Hautton doch schon einiges brauchte, um die Farbe hervorzulocken. „Vielleicht wird er auf die gleiche Uni gehen wie ich. Stell dir das mal vor.“ Koharu stöhnte leidend und schüttelte den Kopf. Eindeutig wollte er sich das nicht vorstellen. „Ich hätte Spaß mit ihm“, fuhr Shou unbekümmert fort. Er angelte nach einer Pommes und wedelte seine Worte akzentuierend damit herum, „Ich meine, er hat sicher wunderbare Geschichten über dich zu erzählen, meinst du nicht? Keine Sorge, ich erzähl sie dir dann auch alle brühwarm. Am Telefon. Oder per Chat. Vielleicht schick ich dir sogar nen Brief, damit du sie schwarz auf weiß hast. Soll ich den dann notariell beglaubigen lassen?“ „Hör auf mit dem Scheiß. Wenn der Pisser auf deine Uni geht, geh ich definitiv woanders hin!“ Shou grinste nur zur Antwort, ließ das Thema damit fallen, schob sich lieber die herumwabbelnde Pommes in den Mund. Er hatte nichts dazu zu sagen. Nicht zu Koharus Hass Schmiergesicht gegenüber, nicht zu Koharus Frage. Nicht zu der Überlegung, ob sie beide nun wohl die gleiche Universität besuchen würden oder nicht. Wer wusste schon, ob sie sich in zwei Jahren überhaupt noch kannten? Schulfreundschaften waren nicht dafür bekannt, ewig zu halten, und zugegeben machte Shou sich da relativ wenig Hoffnung. Keine Frage, er mochte Koharu, sonst würde er überhaupt nicht mit ihm abhängen, aber er war einfach – er war halt ein Schulfreund. Er war nicht Dreh– und Angelpunkt seines Lebens, oder so wichtig, dass er einen maßgeblichen Anteil an Shous Privatleben nahm. Wahrscheinlich würde er den Großteil des Teams nie wieder sehen. Um einige tat es ihm beinahe Leid, aber wenn er so an Ninouchi dachte, dann war er einfach nur froh darüber. Na, man würde sehen. Jetzt drüber zu grübeln würde ihn auch nicht weiterbringen.   Gedankenverloren fischte er noch eine Pommes hervor, hielt sie Koharu hin. Der Kerl schnappte ganz wie erwartet nach dem Ding. Shou grinste flüchtig. Ja doch, er würde ihn vermissen, auch wenn er nur ein Schulfreund war. „Wie wäre es mit einem Deal?“ – „Deal?“ Er grinste freundlich. „Genau. Wir machen einen Deal. Ich mach weiter mit dem Volleyball, und dafür reißen wir diesem Schmiergesicht in zwei Jahren den Arsch auf.“ Koharu blinzelte. Dann schnaubte er, schlug nach Shous Hand. Er war knallrot vor Empörung.   „Der steht doch am Ende noch drauf!“     ***     Nach den Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft schien die Zeit wie im Flug zu vergehen. Das Training wurde noch härter, die Tage noch kürzer – ob das nun an der immer früher untergehenden Sonne lag oder an ihrem straffen Zeitplan, das sei einmal dahingestellt. Chikara hatte kaum noch Zeit zum Atmen! Aber er war unglaublich glücklich. Sie hatten etwas geschafft, das er ehrlich gesagt niemals für möglich gehalten hatte. Mit Daichi als Captain? Sicher. Aber in dieser Aufstellung? Es war surreal, Chikara war immer noch völlig überwältigt. Er, als Captain, war scheinbar doch kein völliger Versager. Sie hatten gewonnen. Gegen Shiratorizawa, die auch ohne Ushiwaka immer noch furchteinflößend und übermächtig waren. Gegen Datekou, die nicht ungefährlicher wurden. Gegen Wakunan. Gewonnen. Wie könnte er nicht glücklich sein? Auch wenn ihm bewusst war, dass es nur der Anfang gewesen war. Letztes Jahr hatten sie ganz Japan nicht standhalten können. Dieses Jahr wollte Chikara besser abschneiden, jetzt, wo er neuen Mut gefasst hatte. Es war möglich. Kein Sieg, aber zumindest das Viertelfinale. Zu den vier besten Teams des Landes zu gehören… das war ein Traum, den Chikara nur zu gern erfüllen wollte. Und er war realistisch, befand er. Dafür fiel zwar eine immense Menge an Training an, aber was sprach dagegen? Keiner von ihnen war von dem Gedanken unbegeistert. Selbst Tsukishima hängte sich rein, soweit seine Persönlichkeit das eben zuließ.   Und trotzdem war es ausgerechnet Chikara, der das Intensivtraining vorgeschlagen hatte, der sich an diesem Tag eine Stunde früher verabschiedete, weil er noch Besuch erwartete. Nächstes Wochenende komme ich vorbei! :D hatte Shidas Nachricht gelautet, kaum, dass Chikara ihm von ihrem Sieg berichtet hatte. Er hatte natürlich versucht, es ihm auszureden – immerhin hatte der Kerl eine Woche später selbst seine Vorrunden vor sich! Aber er war unbeirrbar dabei geblieben, und irgendwie hatte Chikara am Ende weder die Ausdauer, noch das dringende Bedürfnis gehabt, es wirklich durchzusetzen, dass er wegblieb. Er hatte Nishinoya und Tanaka zu babysitten und das war anstrengend genug, um all seine Nerven längst aufzufressen, da wollte er gar nicht noch an anderer Stelle mit irgendeinem unbelehrbaren Idioten diskutieren. Schon alleine, weil jetzt, wo es langsam aufs Schuljahresende zuging, auch das Lernen wieder viel zu groß geschrieben wurde. Nishinoya war immer noch ein grauenhafter Schüler, aber Chikara musste ihm ehrlich positiv zusprechen, dass er es zumindest versuchte. So irgendwie. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie Nishinoya auf der Uni überleben wollte, und ihm grauste es davor, dass der kleine Wirbelwind sich immer noch zu jeder sich bietenden Gelegenheit an ihn wenden würde, wenn er Hilfe brauchte, ganz getreu dem Motto Chikara, rette mich!   Aber immerhin blieben sie so sicher in Kontakt, huh?   In Gedanken versunken war der Weg durch den immer kühler werdenden Herbstabend nicht halb so lang, wie er hätte sein können. Chikara kam gerade rechtzeitig an der U-Bahn-Station an, als Shida aus der Bahn stolperte, breit grinsend und fröhlich wie immer. „Herzlichen Glückwunsch zum Sieg!“, war seine Begrüßung, als sie aus dem lärmenden Pulk der Station herausströmten, um den Heimweg anzusteuern. Er lachte laut, klopfte Chikara ein bisschen zu fest auf die Schulter. „Aber das war euer letzter Sieg! Nekoma macht euch fertig!“ Chikara lächelte müde. „Natürlich. Träum weiter, Shida.“ – „Das ist kein Traum, das ist Wahrsagung! Hab ich heute Morgen im Bodensatz meines Tees gelesen!“ Er untermauerte seine Geschichte, indem er davon erzählte, wie er in den matschigen Teeblättern eine Krähe erkannt hatte, die gerade von einer Katze gefressen wurde. Chikara war eindeutig nicht fantasievoll genug, um sich auch nur vorzustellen, wie so ein Teesatz aussehen sollte, geschweige denn, um daran zu glauben, dass er existierte. Und er wusste, dass Shida ein viel zu schlechter Künstler war, als dass dessen Angebot, es ihm aufzumalen, irgendetwas besser machen würde. Mitten in seiner Ausführung über den Wert seiner abstrakten Kunst hielt Shida plötzlich inne.   „Oh! Übrigens, ich hab dir was mitgebracht.“   Der jähe Themenwechsel kam unerwartet, ließ Chikara verwirrt blinzeln. „Hast du?“ – „Ja! Es ist eigentlich sogar der Grund, wieso ich hergekommen bin. Warte kurz, ich such es.“ Und damit war er gewissermaßen in seiner Umhängetasche verschwunden. Beim Laufen. Es schien eine Nekoma-Angelegenheit zu sein, beim Laufen zu multitasken. „Hm… wo hab ich dich nur hingesteckt? Heeey, komm raus, komm raus, wo immer du bist~“ Während er suchte, murmelte er unablässig vor sich her, den Blick kaum hebend. Er lief trotzdem nirgendwo gegen. Katzeneigenschaft, ganz eindeutig. Chikara hatte noch nie eines von Nekomas Teammitgliedern irgendwo gegenlaufen sehen, nicht einmal ihren Captain Kozume, dessen Blick nun wirklich immer auf dem Boden klebte. Oder seinem Handy. Trotzdem wich er Hindernissen genauso selbstverständlich aus wie Shida, der nicht einmal ins Straucheln geriet, obwohl er gerade viel zu enthusiastisch etwas aus seiner Tasche zog und hochhielt. „Ta-dah~!“ Er grinste, während er seinen Fund Chikara in die Hand drückte. „Für dich!“   Es war ein Button.   Ein schlichter, großer Button in grellem Gelb mit einem knallroten Kanji darauf. Mut. Chikara hob die Augenbrauen, sah seinen Freund fragend an. „Das da! Ist dein Mut!“ Er lachte herzlich. „Also. Ein Symbol davon! Damit du nie vergisst, dass du ihn wiedergefunden hast! Oder vielmehr… dass er schon immer da war.“ Er grinste breit, strahlend, verschwörerisch. Chikara erwiderte sein Grinsen ganz unabsichtlich, und er konnte nicht fassen, dass Shida diese alberne Zauberer-von-Oz-Referenz wirklich so lange durchgezogen hatte. Eigentlich hatte er gar nichts für Buttons übrig. Das war Tanakas Ding. Oder Nishinoyas, manchmal. Aber ihm waren sie zu grell, zu auffällig, zu bunt, zu wenig unscheinbar. Trotzdem heftete er seinen neuen Schatz sofort an seine Tasche, brachte Shida damit nur dazu, noch breiter zu strahlen.   Bei Gelegenheit würde er ihm ein Diplom ausstellen. Für grenzenlose, liebenswerte Dummheit.     ***     Tetsurou sollte besseres zu tun haben. In zwei Tagen waren die Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft in Tokyo, und er hätte sicherlich tausend andere Dinge gefunden, die er mit seiner Freizeit hätte tun können, damit angefangen, sein liebes ehemaliges Team in den Hintern zu treten, auf dass es diesmal wieder durch die Vorrunde kam, aber er tat es nicht. Er saß hier in einem schnucklig harmlosen, kleinen Café, Suguru ihm gegenüber, und nippte an einem heißen Tee. Er schuldete ihm zwar eigentlich ein Essen, aber weil es unangenehm kühl war und sie beide dann doch weniger Hunger hatten als erwartet, hatten sie spontan auf einen Kaffee – oder Tee – umgesiedelt.   Vielleicht würde Tetsurou das mit dem Essen noch nachholen. Rein aus Prinzip. Er war schließlich ein Mann, der seine Wettschulden makellos beglich.   „Sag mal“, begann sein Gegenüber, stellte die Kaffeetasse wieder auf den Tisch. In seinen Ringen reflektierte das warme Deckenlicht, „Habt ihr deinen Freund vor seinem Unglück retten können?“ Tetsurou lachte leise, ein wenig kläglich. „Kommt drauf an. Wenn es zählt, dass wir die ganze Nacht dumme Alienfilme geguckt haben und Süßigkeiten in uns reingestopft haben, bis Bokuto beinahe gekotzt hätte, dann ja, haben wir ihn wohl gerettet. Wir haben ihn zumindest abgelenkt und dafür gesorgt, dass er für ein paar Tage ordentliches Essen im Gefrierfach hat, aber… na ja. Die Wurzel allen Übels konnten wir nicht ziehen.“ Wie sollten sie auch? Tetsurou hatte zwar kurz mit dem Gedanken gespielt, aber er glaubte nicht, dass es helfen würde, Iwaizumi an den Haaren heranzuziehen und zu Oikawa zu schleifen. Es gab Dinge, die musste man aus eigenem Antrieb heraus tun, und wenn Iwaizumi den nicht hatte, dann konnte Tetsurou da nicht helfen. Auch wenn er es ehrlich gern getan hätte, denn Oikawa und sein Drama waren anstrengend. Auf eine mitleiderregende Art, die Tetsurou wünschen ließ, niemals selbst in so einer dummen Situation zu stecken. Das wünschte er nicht einmal seinem ärgsten Feind! Er seufzte leise, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Die ganze Nacht war wirklich ein einziges, kunterbuntes Chaos gewesen, aber er bereute trotzdem nicht, dass sie hingefahren waren. Irgendwie hatte es sich gelohnt, auch wenn einiges schief gelaufen war. „Eigentlich wollte er dann mitten in der Nacht Aliens jagen gehen. Aber dann hat er sich daran erinnert, dass er das sonst nur mit seinem besten Freund tut und hat effektiv das Heulen angefangen.“   Suguru sah ihn ungläubig an, dann schnaubte er leise, erheitert. „Sorry“, murmelte er hinter vorgehaltener Hand, um sein Grinsen zu verbergen. Es gelang nicht – seine Augen funkelten immer noch voller Amüsement. Tetsurou schüttelte den Kopf, und er musste sich selbst bemühen, nicht zu schmunzeln. „Lach ruhig. Es ist auch bescheuert. Ehrlich, der ganze Trip war irre. Bokuto hat die ganzen Aliengeschichten natürlich geglaubt, und dann hat er erstmal tagelang noch Paranoia geschoben, dass irgendwo Undercover-Aliens in seiner Nähe sein könnten. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, aber scheinbar hat Akaashi es ihm irgendwie wieder ausgeredet. Ich bin ihm dankbar dafür! Es ist anstrengend, beweisen zu müssen, dass man kein Alien ist.“ Jetzt lachte Suguru wirklich, laut und herzlich und es war – Tetsurou weigerte sich, den Gedanken zu beenden. Er grinste verloren, sein eigenes Amüsement längst wieder abgeebbt, weil ihm gerade schmerzhaft bewusst wurde, dass er ein Idiot war. Wenn er es Kenma erzählte, würde der ihm höchstens einen desinteressierten Blick zuwerfen, ehe er völlig selbstverständlich spöttelte, wie Tetsurou das denn erst jetzt hatte auffallen können. Und natürlich war er sich immer zu fein gewesen, einfach mal etwas zu sagen! Manchmal war Tetsurou wirklich erschüttert davon, was für furchtbare Menschen seine besten Freunde waren. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er selbst nicht besser war, ließ den Gedanken Gedanken bleiben und erfreute sich lieber weiter an ihnen. Als er Suguru wieder ansah, war auch der wieder ruhig geworden, das Lachen aus seinem Gesicht verschwunden, ersetzt durch behutsame Ernsthaftigkeit.   „Was ist denn mit diesem besten Freund, dass seine Existenz so ein Drama ist?“ Der Blick in seinen Augen schien vorsichtig nachfragen zu wollen, ob da jemand verstorben war. Tetsurou war sehr, sehr erleichtert, dass das nicht der Fall war. Allein die Vorstellung ließ seinen Magen ein paar wilde Drehungen vollführen. Wie eine Waschmaschinentrommel. „Streit“, war die einzige Antwort, die er hatte. Suguru nickte langsam, verstehend, widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner Kaffeetasse. Tetsurou sah abwesend zu, wie er das Ding an die Lippen hob und trank, blieb wieder einmal an einem der Ringe hängen, nachdem die Piercings in seiner Unterlippe gerade verdeckt waren. Einige Minuten herrschte Stille zwischen ihnen. Tetsurou fand es angenehm. In letzter Zeit war er oft still in Sugurus Gegenwart. Früher hatten sie ihre Zeit dauerhaft damit verbracht, einander anzuzicken und zu beleidigen, dagegen war es einfach eine willkommene Abwechslung, einvernehmlich ruhig sein zu können. Es war außerdem ein sehr charmanter Kontrast zu Bokuto, der dafür Tetsurous lebhafte Seite ganz wunderbar bediente. Klar, fürs Stillsein hatte er Kenma, aber der hatte gerade ja nicht einmal genug Zeit, um zufriedenstellend gemeinsam still sein zu können! „Haben sie noch Chancen, sich zu vertragen?“ Es war eine Frage, die Tetsurou nicht beantworten konnte. Er zuckte ratlos mit den Schultern. So, wie das klang, gab es da keine Chance, aber andererseits konnte er nicht glauben, dass eine jahrelange Freundschaft so einfach verschwinden sollte, also – doch? Nicht, solange beide Parteien zu stur waren, aufeinander zuzugehen, aber darüber hinaus war es sicherlich möglich, zu einer Einigung zu finden. Wobei Sturheit doch oftmals ein viel zu großes Hindernis war, und Stolz war selten etwas Gutes, wenn er zwischen einer Freundschaft stand.   „Vielleicht. Ich wünsche es ihnen.“   Suguru gab einen vagen Laut von sich. Sein Blick ging hinaus in die Ferne, aus dem Fenster des Ladens. Tetsurou folgte abwesend, sah einen Moment hinaus in den trüben Novembertag, beobachtete die Menschen, die dort draußen über die Gehwege hetzten. Letztlich war Sugurus Gesicht aber interessanter und ziemlich schnell betrachtete er stattdessen lieber die Piercings in seiner Unterlippe. Er bemerkte erst, als er wieder aufsah, dass Sugurus Blick schon auf ihm lag. „Willst du’n Foto?“, fragte er spöttisch, grinsend, „Kriegst auch ein Autogramm, wenn du möchtest.“ „Lass stecken. Das Original ist abschreckend genug. Das ist wie ein Autounfall, Suguru. Nicht hübsch anzusehen, aber man kann einfach nicht wegsehen.“ Der Mistkerl lachte nur. Offensichtlich glaubte er Tetsurous Worte nicht. Tetsurou glaubte sie selbst nicht, so richtig übelnehmen konnte er es ihm also nicht. Sagen würde er das aber niemals, er war kein Idiot. Das Lachen verschwand viel zu bald wieder von seinem Gesicht und Suguru wurde ernst, stieß langsam die Luft aus. Er stellte seine Tasse ab, behielt die Hände aber um die weiße Keramik gelegt. Er hatte hübsche Finger. „Mika-Chan hat nen Neuen.“   „Oh.“   Tetsurou fiel nichts anderes zu dieser Enthüllung ein. So sehr er auch verstand, dass es Suguru mitnahm, zu wissen, dass seine Ex-Freundin endgültig andere Wege eingeschlagen hatte, so verstimmend war das Thema und die daraus resultierende Erkenntnis, dass ihm noch einiges an dem Mädchen lag. An sich verständlich; Mika war ein nettes Ding. Tetsurou musste das trotzdem nicht gefallen. Obwohl er nicht zuhören wollte, hörte er zu. Suguru hatte es am Tag der Vorrunden zur Interhigh erfahren. Der Grund, weshalb er so geknickt gewesen war. Der Grund, wieso Tetsurou ihn eingeladen hatte, etwas trinken zu gehen. Sollte er Mika dankbar sein? Wäre das nicht gewesen, wären sie einfach im Streit auseinandergegangen und –geblieben. Vielleicht wäre es sogar besser gewesen. Einfacher. Es war schon Monate her! Und Suguru hing ihr immer noch nach. Tetsurou schüttelte den Kopf. „Findest du nicht, du hast ihr bald lang genug nachgeweint?“ – „Ich weine ihr nicht nach.“ Suguru verzog das Gesicht zu einer verärgerten Grimasse, „Ich finde nur, sie hätte ruhig ein bisschen länger leiden können!“ „Natürlich. Und jetzt? Lass sie doch, das ist ihr Leben. Leb lieber deins, statt dich dran aufzuhängen. Such dir eine Neue, dann brauchst du nicht mehr jammern.“ Sein Gegenüber verdrehte nur die Augen. Immerhin sparte er sich die neuerliche Lüge, dass er nicht jammern würde; das stille Eingestehen machte alles aber nur noch seltsamer. Und jetzt standen diese Worte zwischen ihnen. Tetsurou erwartete, dass sein Freund ihm wieder über den Mund fahren und ihn anschnauzen würde, und er verstand es sogar, immerhin war er unsensibel bei einem sensiblen Thema – aber es passierte nicht. Sugurus Blick war dunkel, als er unter halbgeschlossenen Lidern zu ihm hinübersah. Tetsurou zog kaum merklich die Schultern hoch, sein Nacken kribbelte unangenehm. „Ich hab erstmal genug von Mädchen.“ „…“ Er schluckte. Er musste sich daran erinnern, wie man atmete, und erst, als er sicher war, dass er es nicht spontan wieder vergessen würde, lehnte er sich grinsend, provokant vor.   „Dann such dir halt einen Neuen?“   „Bietest du dich an?“     ***     Er wusste, dass es Verrat war. Er wusste es, und trotzdem stand er hier mit einer kleinen Schaufel in der Hand, fühlte sich wie ein Verräter und Verbrecher, und tat es trotzdem. Die Erde unter seinen Fingern schien ihn auch anklagen zu wollen, das Geräusch der Schaufel, die das Erdreich durchbrach, war wie tausend Stimmen, die ihm Pest und Seuche an den Hals wünschten. Kaneo wusste, dass das, was er tat, ein purer Akt der Verzweiflung war. Aber was sollte er tun?! Wenn Hajime und Tooru nicht miteinander reden wollten, musste er doch etwas anderes machen! Diese beiden dummen Sturköpfe mussten es lernen! Kaneo hatte es lange genug versucht. Er hatte auf Tooru eingeredet, hatte Hajime traktiert, hatte vermittelt und geschlichtet, bis er sich den Mund fusselig geredet hatte. Tooru war beleidigt. Hajime verletzt. Beide waren an einem Punkt angekommen, an dem sie sagten, sie konnten nicht mehr miteinander reden. Es war Unfug. Sie mussten sich nur einen Ruck geben! Oder, in diesem Fall, Kaneo musste ihnen einen Ruck geben.   Er hatte es natürlich mit den anderen besprochen. Nicht Hajime und Tooru, aber den anderen Jungs. Heisuke hatte am Telefon geheult, nachdem er es erst beinahe eine halbe Stunde zu unterdrücken versucht hatte. Motomu hatte ihn angeblafft, dass das doch nicht seine Entscheidung war, und Kaneo tun konnte, was er wollte – es war auch Einverständnis! –, und Takahiro und Issei hatten ihn in seiner Idee tatsächlich sogar bestärkt. Er fühlte sich trotzdem schlecht damit. Richtig schlecht. Unglücklich sah er auf die Plastikbox hinunter, in der ihre Vergangenheit lag, die eigentlich noch viele Jahre ungesehen bleiben sollte. Sie sah vorwurfsvoll aus im fahlen Licht seiner Taschenlampe. „Sorry“, murmelte er tränenerstickt, ehe er den erdverkrusteten Deckel löste. Er zog die Handschuhe aus, die er zum Buddeln getragen hatte, und mit jetzt wieder sauberen Fingern griff er hinein und versuchte, zu finden, was er suchte, während er gleichzeitig nicht nah genug hinsah, um noch irgendetwas allzu ausführlich zu erkennen. Er wollte nicht. Nicht ohne seine Freunde. Es dauerte so unnötig lange, aber schließlich hatte er beide Briefe in der Hand. Tooru und seine Schönschrift. Hajimes schmale, aber ordentliche Handschrift auf dem anderen Umschlag. Er schluckte. Er würde sie nicht lesen. Er würde sie kopieren. Die Kopien an Hajime und Tooru schicken. Die Originale wieder verbuddeln. Es war rein gar nichts dabei. Er schnüffelte nicht in ihren Nachrichten.   Aber auch, wenn er kein Tooru war, und wenn er die beiden nur ein paar Jahre kannte, er wusste mit absoluter Sicherheit, dass beide über den jeweils anderen geschrieben hatten in ihren Nachrichten an ihr zukünftiges Ich, die sie mitsamt einiger anderer Erinnerungsstücke in dieser Zeitkapsel vergraben hatten. Er wusste es. Und sie konnten noch so sauer aufeinander sein. Sie würden gar nicht anders können, als sich davon berühren zu lassen. Es ging gar nicht anders! Es war Kaneos letzte Hoffnung, ehe er kapitulieren musste. Und er wollte einfach nicht kapitulieren. Niemals. Er schniefte, wischte sich entschlossen mit dem Ärmel über die Augen. Die Plastikbox wurde sorgfältig verschlossen und wieder in ihr Erdloch zurückgesetzt. Er schippte die Erde nur lose drauf; er war schließlich nicht lange weg. Einen Copyshop finden, die Briefe kopieren, zurückkommen. Kaneo fühlte sich nicht wohl, solange die Nachrichten nicht an ihrem rechtmäßigen Platz waren. Aber es war okay. Es musste okay sein, denn es würde helfen.   Damit sie in sieben Jahren wirklich wieder gemeinsam hier stehen konnten. Kapitel 18: ------------ Zu sehen, wie Lev nicht patzte, war das absolut befremdlichste, das Morisuke seit langem gesehen hatte. Er war sprachlos. Er war wirklich und ohne jede Diskussion sprachlos. Als sie sich vor Beginn der Vorrunden getroffen hatten, hatte Kenma erwähnt, dass Lev besser geworden sei. Morisuke hatte es geglaubt. Aber er hatte das Ausmaß entschieden verschätzt. Er konnte den Blick nicht vom Spielfeld wenden, immer noch völlig fasziniert davon, dass Lev eine Annahme geschafft hatte, an der er absolut überhaupt nichts zu meckern fand. Das war – unglaublich. Überhaupt hatte Lev sich verändert. Seine ganze Ausstrahlung auf dem Spielfeld war viel weniger verspieltes Löwenjunges als ernstzunehmendes, wildes Raubtier. Er hatte ihn noch nie mit einer solchen Intensität spielen sehen. Es war nicht nur Lev. Sie waren alle so viel besser geworden. Shibayama war ein großartiger Libero, und im Gegensatz zu den letzten Matches hatte er endlich Präsenz gelernt, Selbstvertrauen. Inuoka war nicht mehr einfach nur ein treues Hündchen, sondern konnte regelrecht gefährlich wirken – ein echter Wachhund eben. Kenma, dessen gelassene Souveränität noch gestiegen war. Yamamoto, der weniger hitzköpfig, aber dafür umso durchschlagskräftiger wurde. Es war ein großartiges Team, und Morisuke genoss es, ihnen zuzusehen. Besonders Lev. Er wollte es nicht laut sagen, aber er war stolz auf ihn. „Sie sind gut geworden“, kommentierte Kai neben ihm. Morisuke nickte abwesend. Er musste nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass der Kerl zufrieden grinste. Er war selbst zufrieden, aber – eben überrascht! Von Lev hatte er wirklich nicht so viel erwartet. Und das wirklich wegen so einer Lächerlichkeit wie Liebe? Das war unfassbar. Es war absolut unfassbar, es passte nicht in sein Weltbild, es war total albern und dumm. Aber so gern Morisuke sich einreden wollte, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte, es war nahezu unmöglich. So stolz, wie Lev ihm von seinen Fortschritten erzählt hatte, nur, um dann regelrecht in sich zusammenzusinken, als Yamamoto gehässig erwähnte, dass er immer noch kein Ass war, war es eindeutig. So hilflos-hoffnungsvoll, wie er ausgesehen hatte, als er erwähnt hatte, dass er spätestens nach der Meisterschaft ja das Ass sein würde, weil Yamamoto doch irgendwann aufhören musste. Es war sein Pech, dass er noch so lange warten musste. Sie hatten schließlich einen Deal! Wenn Lev seinen Teil nicht erfüllen konnte, musste er es eben aussitzen. Er hatte noch ein ganzes Schuljahr, um Ass zu sein.   Zumindest war das Morisukes grundlegender Gedanke gewesen.   Aber je länger er Lev da unten beim Spielen zusah, desto mehr musste er zugeben, dass der nervige, großkotzige Vollidiot ihn gerade ernsthaft beeindruckte. Gut, er hatte einiges an Zeit gehabt, um zu trainieren, aber nichtsdestotrotz war es eine immense Leistung, sich vom inkompetenten Idioten zu einem der fähigsten Spieler des Teams zu mausern. Und es stand ihm, diese neugewonnene Ernsthaftigkeit und Reife, die immer wieder durchschlugen und das nervige Grinsen verdrängten. So, wie er da unten auf dem Spielfeld stand, war es unmöglich, ihn nicht ernst zu nehmen. Wahrscheinlich hätte er ohne einen zweiten Gedanken zugesagt, hätte Lev ihn mit diesem Blick nach einem Date gefragt. „Du schmachtest ganz schön“, spottete Kuroo irgendwann neben ihm. Morisuke hatte nicht bemerkt, wie er herangetreten war, hatte nicht gemerkt, wie der Kerl sich neben ihm aufs Geländer gelehnt hatte, und jetzt war er hier und grinste träge, dreist und unverschämt. Er schnaubte missgelaunt und wandte den Blick wieder ab, als könnte das die Verlegenheit verbergen, die sich auf seinem Gesicht breitmachte. „Gib doch zu, dass du einfach nur frustriert bist, dass Nohebi am anderen Ende des Gebäude spielen.“ Kuroo lachte. Morisuke sah gar nicht hin, aber er hörte das Lachen in der Stimme des Anderen, gutmütig, viel zu wenig streitlustig und provokant. „Ertappt.“   Das erste Spiel gewannen sie mühelos. Morisuke hätte ihnen auch der Reihe weg in den Hintern getreten, wenn nicht! Es war nicht, als wäre ihr Gegner allzu stark gewesen. Wahrscheinlich hätten sie sogar mit der Ersatzbankaufstellung gewinnen können, wenn sie es drauf angelegt hätten. Nicht, dass Morisuke sich wünschte, dass die Ersatzbank zum Einsatz kam. Klar, er gönnte es ihnen, zu spielen, aber er wollte nicht, dass sich irgendjemand verletzte, und in der Regel ging beides eben stark miteinander einher. Er ließ sich zufrieden zurück auf seinen Sitz plumpsen, als das Spiel vorbei war und die Teams abzogen, um den nächsten Kontrahenten Platz zu machen. Für Nekoma war jetzt erst einmal Pause angesagt, und die gerade spielenden Teams interessierten Morisuke nicht genug, um weiter über dem Geländer zu hängen und hinunter zu starren. Kuroo hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Vermutlich rüber in die andere Halle, wo bald Fukuroudanis erstes Spiel stattfinden würde. Vielleicht suchte er auch gerade eher eine gewisse Schlange. Morisuke würde es ihm womöglich gleichtun und sich etwas anderes zu sehen suchen, wenn das folgende Spiel ihm zu langweilig wurde. „Er ist sehr gut geworden, nicht wahr?“ Die fremde Stimme riss ihn aus der Überlegung, ob er nun bleiben wollte oder nicht. Er sah verdutzt auf und in das strahlende, vor Aufregung gerötete Gesicht von Levs Schwester. Unwillkürlich machte sein Magen einen Purzelbaum beim Anblick der hochgewachsenen Schönheit. Er lächelte behutsam. „Haiba-San. Ja, das ist er.“ Sie lachte sanft, mädchenhaft. Sie schaffte es, selbst in dieser simplen Geste unglaublich schön auszusehen. „Alisa bitte. Darf ich?“ Sie wies auf den leeren Sitz neben Morisuke. Er nickte vage und sah zu, wie sie sich neben ihm niederließ, ihre Bewegungen voll von einer selbstverständlichen Eleganz, die geradezu beneidenswert war. Erst nach einem langen Moment fiel ihm auf, dass der Anblick etwas seltsam Vertrautes hatte. Wenn Lev nicht gerade ein Idiot war, konnte er genauso beeindruckend aussehen. Es war gut, dass er die meiste Zeit ein Idiot war, wenn Morisuke es recht bedachte. Die Vorstellung, dass Lev sich öfter auf seine natürliche Anmut berufen würde, war angsteinflößend für sein Herz und seine Nerven, ernsthaft. Er wandte verlegen den Blick ab, während er versuchte, seine Ohren dazu zu zwingen, mit dem Glühen aufzuhören.   „Ich bin stolz auf Lyovochka“, erzählte Alisa weiter, scheinbar gar nicht groß bemerkend, was bei Morisuke vor sich ging. Er war extrem dankbar darum, lächelte freundlich und hoffte, dass sein Gesicht ihn nicht noch einmal verraten würde. Es war unübersehbar, dass sie stolz war, und so gern er dagegen gewettert hätte – sie hatte alles Recht und allen Grund dazu. Lev hatte sich zu einem beeindruckenden Spieler entwickelt, den man einfach respektieren musste. Nur der Spitzname war irritierend. „Bei Lev zu bleiben wäre kürzer“, kommentierte er amüsiert. Alisa lachte fröhlich auf. Es klang hübsch, und sie sah aus wie eine klassische Dame aus einem etwas älteren, westlichen Film. Es war wirklich beeindruckend. Ihre Augen blitzten fröhlich, als sie amüsiert mit dem Finger vor Morisukes Gesicht wedelte. „Aber nicht halb so liebevoll, Yaku-Kun.“ In ihrer Stimme schwang ein amüsierter Tadel mit, der kaum ernst gemeint sein konnte. Liebevoll, huh? Morisuke würde so einen Spitznamen sicher nicht wollen! Sein Name war gut, wie er war, und er nahm einiges an Spitznamen und Kurzformen hin, aber es musste bitte nicht extra liebevoll und aufdringlich sein. Aber gut. Wenn man zur selben Familie gehörte, dann machte man das wohl einfach so. Seine Mutter war da doch auch nicht besser… oder seine Großmutter. Er seufzte resignierend. Genug von den Namen. „Wir sind alle stolz auf ihn.“ Im ersten Moment wurde Alisas Blick regelrecht überrascht. Dann kehrte das Lächeln zurück, und es war schöner und liebevoller als zuvor noch. Morisuke stellte sich unwillkürlich vor, wie dieses Lächeln auf Levs Gesicht aussehen würde anstelle seines nervtötend breiten Grinsens. Er bereute es augenblicklich. „Er wird sehr glücklich sein, das zu hören.“   Morisuke hatte aber nicht vor, ihm das zu sagen!   (Vielleicht würde er es tun, wenn er damit so ein Lächeln provozieren könnte.)     ***     In dem Moment, in dem sie ins Finale kamen, war alles andere egal. Sie hatten einen Platz für die Meisterschaft. Trotzdem wusste Keiji, dass das Finalspiel keinen Deut weniger anstrengend werden würde. Außerhalb des Feldes mochten sie und Nekoma durch Freundschaft verbunden sein, aber hier und jetzt waren sie erbitterte Rivalen, und keiner von ihnen würde den ersten Platz freiwillig aufgeben. Er traute es nicht einmal Kozume zu. Weil sie noch etwas Zeit hatten, bis das Spiel begann, hatten sie ihr Lager im Eingangsbereich aufgeschlagen, um noch mit ihren ehemaligen Senpai sprechen zu können. Natürlich war Bokuto gekommen. Dieses Mal hatte er Konoha und Komi mitgebracht, Washio, Sarukui und Anahori, selbst Shirofuku war da. Sie war schon seit Minuten mit Suzumeda am Quatschen, keinerlei Aufmerksamkeit mehr für die Jungs, die ihrerseits umeinander herum tummelten und schwätzten. Bokuto sah zufrieden aus, wie er da mitten im Team stand. Er sah vor allem passend aus. Dazugehörend, immer noch, obwohl er nun bereits ein halbes Jahr nicht mehr dabei war. Es war gut.   „Ihr seid ganz schön gut geworden, hey hey hey!!!“ Er lachte, laut und dröhnend. Keiji sah Stolz auf vielen Gesichtern seines Teams, ein bisschen Verlegenheit – und die typische Ablehnung von Kurowa. Es ließ ihn unzufrieden die Mundwinkel verziehen, aber solange der Junge still blieb, sah er keinen Grund, ihn zu rügen. Er wollte keine weiteren Ausschreitungen gegen Bokuto, aber er wollte auch nicht lächerlich überdramatisieren. Statt sich auf Kurowas ablehnenden Blick zu konzentrieren, sah er lieber wieder zum Rest des Teams. Nishiame hüpfte regelrecht auf der Stelle, strahlend vor Stolz, Minamishima neben ihm kaum besser dran. Onaga und Shima tuschelten, und was auch immer sie flüsterten, es brachte sie nur dazu, noch breiter zu grinsen und noch glücklicher auszusehen. Bokuto strahlte viel heller als sie alle zusammen. „Also, viel besser als letztes Mal noch! Ich wusste doch, dass ihr das könnt! Diesmal gewinnt ihr die Vorrunden mit Sicherheit!“ „Wir geben uns jedenfalls Mühe!“, trällerte Nishiame vergnügt und machte noch einen kleinen Hüpfer, „Wir müssen euch doch stolz machen, wo ihr so zahlreich hier erschienen seid!“ – „Wir sind schon stolz“, gab Komi lachend zurück. Er stieß Konoha in die Seite. – „Stimmt’s, Konohan?“ Das missgelaunte Brummen, das die einzige Antwort war, war seltsam beruhigend in seiner Vertrautheit. Nishiame lachte, weil er Konohas Macken auch noch aus dem Vorjahr kannte, während Erstklässler Shima nur irritiert die Stirn runzeln konnte. Er wandte sich mit einem Blick an Minamishima, als wolle er fragen ist der immer so? Die Antwort, die er bekam, war ein herzliches Grinsen und ein Schulterklopfen. Man gewöhnte sich an Konohas oftmals genervt scheinendes Erscheinungsbild. „Komiyan hat Recht!“, griff Bokuto den Gesprächsfaden wieder auf, immer noch breit grinsend. „Wir sind total stolz auf euch, hey hey hey! Aber ihr könnt sicher noch mehr erreichen! Akaashi hat ein echt gutes Team trainiert!“ Es war nicht Keijis Verdienst, allerdings. Allein bedenkend, dass er derjenige war, der immer wieder einmal früher abhaute… Es war das erste Mal, dass er Kurowas spitzer Zunge zustimmen musste, als der Junge genau das wenig freundlich herausstellte: „Der hat nichts getan, außer das Training zu schwänzen.“ – „Kurorin, du übertreibst!“   Er übertrieb natürlich, aber es steckte Wahrheit in seinen Worten. Keiji fühlte sich deshalb immer noch schuldig, aber andererseits – es hatte nicht geschadet, es hatte wirklich nicht geschadet. Und ihm selbst ging es auch besser, seit er hier und da mal etwas schleifen ließ, und stattdessen die Gelegenheit hatte, mehr Zeit mit Bokuto zu verbringen. Das Gespräch lenkte dessen Aufmerksamkeit überhaupt erst auf Kurowa. Er sah den Jungen an, öffnete den Mund, um zu protestieren, und schloss ihn dann doch wieder. Seinem Blick nach zu urteilen war ihm etwas anderes – wichtigeres – eingefallen, das er nun dringend in Worte fassen musste. Wichtiger als Keijis Ehre. Ehrlich gesagt war Keiji neugierig darauf, was nun kommen würde, denn in der Regel ließ sich Bokuto keine Gelegenheit entgehen, sein strahlender Retter zu sein. Jetzt gerade aber rieb er sich nur nachdenklich das Kinn, dann zeigte er auf Kurowa und grinste. „Du! Sohn-Kun! Nächstes Jahr wirst du das Ass werden!“   Keiji war so überzeugt, dass Kurowa einfach aus Prinzip eine bissige Retourkutsche von sich geben würde, dass er am Ende genauso sprachlos war wie der Junge selbst, nur aus ganz anderem Grund.     ***     Der endgültige Sieger der Vorrunden der jährlichen Frühjahrsmeisterschaft in Tokyo war das Team der Fukuroudani-Akademie.   Nach dem Spiel war Morisuke heiser, und seine Finger taten weh, so sehr hatte er sie in das Geländer der Tribünen gekrallt. Es war so knapp gewesen! Viel knapper, als sie alle erwartet hatten, und zwischendurch war es knapp genug gewesen, dass Hoffnung aufkeimte. Nekoma hätte gewinnen können. Nur ein bisschen mehr. Ein bisschen weiter. Nur ein Punkt mehr. Trotzdem hatte es am Ende nicht gereicht. Es war in jedem Fall aber ein Wahnsinnsspiel gewesen und Morisuke war unglaublich stolz auf sein altes Team. Das war natürlich der einzige Grund, weshalb er, kaum, dass das Spiel abgepfiffen worden war, losgestürmt war, um hinunter in den Eingangsbereich der Halle zu kommen, dorthin, wo Nekoma gleich herauskommen würden. Er glaubte nicht, dass sie lange auf sich warten lassen würden, und er wollte sofort da sein, wenn die Jungs aus dem Sportlerbereich herausströmten, wollte– Was er wollte, vergaß er augenblicklich, als er sie tatsächlich gerade herauskommen sah. Trotz der Niederlage waren sie munter, lachten, schwatzten miteinander. Dass sie stolz auf sich und ihre Leistung waren, war unübersehbar, und dass sie am Ende ohne Verlust gegen ein befreundetes Team gespielt hatten, spielte vermutlich auch stark in ihre gute Laune mit hinein. Lev war so vertieft in ein Gespräch mit Inuoka und Shibayama – Morisuke hörte nur irgendetwas von „Gwah!“ und „Bämm!“ und „Sou, keiner versteht dich!“ –, dass er ihn überhaupt nicht bemerkte.    „Lev!“ Der Blick des Anderen war pure Verblüffung, als er Morisuke erblickte. Ob er verblüfft über seinen Anblick war, oder über das Krächzen seiner Stimme, das ihn klingen ließ wie neunzig statt neunzehn, konnte er allerdings nicht abschätzen. „Yaku-Sa–“ Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, da hatte Morisuke die kurze Distanz zwischen ihnen schon komplett überbrückt. Ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, was er hier eigentlich tat, packte er Levs silberblonden Haarschopf und zog ihn zu sich hinunter. Ihre Lippen kollidierten mit zu viel Kraft, und Morisuke war schon im ersten Moment bewusst, dass es kein besonders eleganter Kuss war, aber er ignorierte es. Es störte Lev offensichtlich nicht, denn nach einem Moment, den er einfach nur erstarrt dagestanden hatte, schlangen sich lange Arme um Morisukes Körper, drückten ihn fester gegen den Riesen, und Levs Lippen drückten sich an seine. Irgendjemand schnappte überrascht nach Luft. Es klang, als würde jemand anderes klatschen – oder abklatschen. Kuroo pfiff unnötigerweise, eine Geste, für die Morisuke ihn später noch treten würde, wenn er hier fertig war. Gerade waren sowohl seine Beine gut beschäftigt – mit stehen –, als auch seine Hände, die längst fest in Levs einstmals sorgsam gestylte Frisur gekrallt waren. Inzwischen dürfte sie völlig verwüstet sein, und es kümmerte Morisuke nicht im Geringsten.   Als er sich wieder von Lev löste, waren seine Lippen gerötet von dem nicht wirklich zärtlichen Kuss, und er sah völlig verblüfft und ungläubig aus – kurzum: Genau so, wie Morisuke sich selbst fühlte. Er war fassungslos, jetzt, wo die Realisation sackte, was er getan hatte. Er war fassungslos, und er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Ein Teil von ihm erwog einen taktischen Rückzug, während ihm im Grunde längst bewusst war, dass das einfach nur lächerlich wäre. Jetzt war es auch zu spät, um es zurückzunehmen. Er wollte es auch gar nicht. Er wollte es nicht. Die Erkenntnis kam ihm ein bisschen zu früh, er fühlte sich noch nicht ganz bereit für die Implikationen, die sie mit sich brachte, aber jetzt musste er damit leben. Er holte tief Luft, fixierte Lev entschlossen. Dessen Blick war immer noch verwirrt, aber inzwischen mischte sich vor allem Hoffnung mit hinein. „Yaku-San–?“ Er schnaubte, stemmte die Hände in die Hüften. Levs Mund verzog sich langsam zu einem Grinsen, und Morisuke vermutete, dass er es zum Erlöschen bringen könnte, wenn er ihm nur einfach einmal gegen das Schienbein trat. Es war verlockend, ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, denn es machte die Situation überhaupt nicht besser. Lev hatte keinen Grund dazu, so selbstüberzeugt und zufrieden auszusehen! …aber eigentlich – vielleicht hatte er den ja eben doch. Er schüttelte den Kopf, fassungslos über sich selbst. Er konnte noch nicht so ganz glauben, was er hier tat, aber schlussendlich tat Morisuke es trotzdem:   „Also? Wann ist nun unser Date?“     ***     „Ihr müsst euch langsam überlegen, wer nächstes Jahr euer Captain werden soll!“   Mit diesen Worten hatte Nishinoya sie einfach zurückgelassen. Er war aus dem Clubraum gewirbelt, hatte Tanaka hinterhergebrüllt, dass er gefälligst warten sollte. Alle jüngeren Teammitglieder waren noch versammelt, weil sie nach dem Training gemeinsam hier lernten. Na ja, nicht, dass mit Lernen jetzt noch so viel war. Tadashi schob mit einem leisen Seufzen sein Englischbuch von sich. Er wusste, dass das Thema im letzten Jahr auch aufgekommen war. Früher sogar. Bedeutend früher. Er wusste auch, dass die Entscheidung eigentlich ganz einfach gewesen war – aber dieses Jahr gab es kein ganz einfach, das sah er. Sie waren eine Gruppe, in der sich immer noch niemand wirklich durch Captainkompetenzen hervorgetan hatte. Natürlich würde er sofort für Tsukki stimmen! Aber grundsätzlich wusste er, dass Tsukki nicht zwingend ein guter Captain war. Er hatte sich gemausert, und er war längst nicht mehr so unverschämt gemein wie zu Beginn ihrer gemeinsamen High-School-Zeit, aber trotzdem hatte er Makel. Nur, ehrlich, wer sonst? Tsukki war wenigstens intelligent. Hinata war charismatisch, und obendrein beneidenswert talentiert, mitreißend. Er war vielleicht geeignet, aber andererseits erinnerte er Tadashi in seiner Art oft an Nishinoya, und den konnte er sich, obwohl er ein hervorragender Support für das Team war, partout nicht als Captain vorstellen. Kageyama war – Kageyama. Er war ein brillanter Spieler, aber ihm fehlte immer noch oft das Verständnis dafür, dass normale Menschen andere Grenzen hatten als er. Als Captain war er kaum geeignet, wenn man allein auf diesen Aspekt achtete. Spielerisch hingegen wäre er natürlich eine gute Wahl. Aber seine Persönlichkeit stand ihm im Weg. Sich selbst sah Tadashi nicht in einer Position, um Captain zu sein. Nicht einmal Vize-Captain. Suga hatte es auch gekonnt, obwohl er wenig Zeit auf dem Spielfeld verbracht hatte, aber – nein. Tadashi wollte es nicht einmal. Das war nicht sein Platz.   Mehr Zweitklässler gab es doch nicht einmal. Und die Erstklässler waren nun auch nicht unbedingt geeignet. Isshiki war ein vernünftiger Junge, und er war freundlich und hilfsbereit, aber er war nicht durchsetzungsstark genug. Die Zwillinge hatten beide für sich allein zu viele Macken. Im übernächsten Jahr mochten sie ein gutes Captain-Duo abgeben, wenn sie da noch ein bisschen herausgewachsen waren, aber aktuell sah Tadashi keinen von ihnen in einer Autoritätsposition. Sie waren auch einfach zu jung. Es war eine Sache, mitten im zweiten Schuljahr mit dem Captaintum zu beginnen, weil die Drittklässler schon frühzeitig aufhörten, aber eine ganz andere, schon mit Beginn des Jahres plötzlich die Zügel in der Hand zu halten. Tadashi seufzte noch einmal. Dass es still war, machte die ganze Situation nicht wirklich besser. Spätestens Hinata hätte längst laut in der Gegend herumplärren sollen, so wie immer. Aber stattdessen sah ausgerechnet Hinata aus, als machte er sich die intensivsten Gedanken um Nishinoyas Worte. Als er Tadashis Blick auffing, grinste er flüchtig, als wolle er ihn beruhigen, verfiel dann aber wieder in sein Brüten. Wenn sie eh nicht redeten, könnte Tadashi genauso gut weiterlernen, oder? Andererseits wollte er nicht einmal lernen. Er starrte sein Englischbuch unwillig an. Wieso musste diese Sprache auch mit jedem Jahr komplizierter werden? Man sollte meinen, so lange, wie er schon paukte, würde es einfacher werden! Und konzentrieren konnte er sich auch nicht.   „Also.“ Osamus Stimme durchbrach die Stille schließlich. Der unruhige Haufen Schulsachen, den er zum Pauken hervorgeholt hatte, türmte gefährlich wackelnd vor ihm auf dem niedrigen Tisch. Beinahe routiniert hob Tatsuo ein Buch herunter, das hinabzufallen drohte – sein Bruder nahm nicht einmal Notiz von der Unterbrechung, während er grinsend in die Runde sah. „Was sagt ihr? Ich meine, klar, Tatsu, Isshiki und ich können auch unseren Senf dazugeben, aber ihr habt nen besseren Überblick?“ Er lachte unbekümmert. Letztes Jahr hatte sich Tadashi auch nicht besonders beteiligt. Eigentlich waren es nur die jetzigen Drittklässler gewesen, die die Diskussion geführt hatten. Nächstes Jahr würde es vermutlich genauso sein, wobei er sich vorstellen konnte, dass Osamu den Rest der Gruppe einfach zwang, mitzumachen. Seine Worte brachten Hinata wieder dazu, aus seiner Starre zu erwachen. Er sah auf, und da war dieser Blick, den Tadashi immer noch in erster Linie mit dem Volleyballfeld assoziierte, der so völlig ungewöhnlich ernst und aufmerksam war, so intensiv. So gar nicht Hinata eben. Es war gruselig, und er war froh, dass er nicht Opfer von Hinatas aufmerksamen Augen war. Er wollte wirklich nicht mit Osamu tauschen gerade. „Wieso überlegen wir da überhaupt?“, fragte er, und seine Frage klang so selbstverständlich rhetorisch, dass sich Tadashi selbst dumm damit fühlte, überlegt zu haben. Ja, wieso grübelten sie überhaupt? Die Antwort lag doch auf der Hand. Scheinbar. Tadashi fand sie trotzdem nicht. Osamu auch nicht, denn dessen Augenbrauen hoben sich nur fragend. „Erleuchte uns, Hofnarr“, spöttelte Tsukki. Er klang nicht ganz so feindselig, wie Tadashi erwartet hätte, ein Umstand, der ihn flüchtig grinsen ließ. Versteckt, denn wenn Tsukki es sah, würde er nur unnötig genervt davon werden.   „Kageyama wird unser Captain. König. Captain. Ist doch einerlei.“   „Was.“ Sehr zu Tadashis Überraschung war es nicht einmal Tsukki, der am Entgeistertsten war, sondern Kageyama. Der sah Hinata an, als hätte er gerade verkündet, er wolle einen Volleyball heiraten. (Hinata war es doch zuzutrauen.) „Oi, Hinata, was soll das?!“ – „Was?! Ich sag doch nur, wie es ist! Du bist unser König! Es ist doch nur logisch, dass du der Captain wirst! Wer soll das denn sonst machen?“ „Du.“ Es war das erste Mal, dass sich Tatsuo an diesem Gespräch beteiligte. Sein Blick war nichtssagend, als er Hinata betrachtete, der seinerseits dafür völlig entgeistert war. Sein Lachen war gleichermaßen geschmeichelt wie verlegen. Dabei war es wirklich naheliegend. Hinata hatte das nötige Charisma, und er war sympathisch genug, um nicht, und sei es nur von außen, als Tyrann dazustehen, obwohl er manchmal sogar radikalere Trainingsideen hatte als Kageyama. Sie waren einfach beide bescheuert. Hinata aber lachte nur noch einmal auf, dann schüttelte er den Kopf. „Oh nein! Das ist überhaupt nicht mein Ding! Captains haben viel zu viel Verantwortung! Mein Magen würde ständig gwah und umpf und wie soll ich so denn spielen?!“ Sein Blick wurde wieder ernst, alle heitere Leichtigkeit verschwand hinter leidenschaftlicher Intensität. „Ich brauche alles, was ich habe, für das Spiel. Ich bin kein Captain.“   Tadashis erster Gedanke war, dass er erwachsen geworden war. Vor einem Jahr hätte Hinata den Captainposten sicher ohne zweiten Gedanken angenommen, hätte er das Angebot bekommen. Auf eine Art aber hatte er mit seiner konfusen Erklärung sogar Recht. Er hatte sicherlich nicht genug Aufmerksamkeit und Verstand, um Captain zu sein. Er konnte viel, und er überraschte oft mit verblüffend klugen Spielzügen, aber eben das war es – sein Kopf war immer nur im Spiel. Captain zu sein bedeutete aber mehr als das, das war Tadashi auch bewusst, ohne dass er auch nur die geringste Erfahrung hatte. „Gibt es irgendwelche Einwände dagegen, seine Majestät offiziell zu krönen?“ Osamu schüttelte sofort grinsend den Kopf. „Kageyama-Senpai ist gruselig, aber cool! Es wäre mir eine Ehre, so einen krassen Captain zu haben! Mal im Ernst, Leute, da wird doch jedes Team vor Angst erzittern, wenn sie uns sehen!“ – „Kein Einwand“, gab auch Tatsuo zurück. Isshiki schüttelte ebenfalls nur den Kopf, so breit grinsend, dass seine Mundwinkel an seine Segelohren heranzureichen schienen. „Yamaguchi?“ – „Ah! Ehm, nein!“ Tadashi blinzelte hilflos. Er hatte geantwortet, ohne darüber nachzudenken. War es wirklich in Ordnung für ihn? Kageyama als Captain war eine unheimliche Vorstellung. Und wer würde sein Vize sein? Hinata? Er schien keine Machtposition zu wollen. Tadashi konnte und wollte auch nicht. Aber… Tsukki? Tsukki, der immer noch regelmäßig mit Kageyama zankte, einfach nur, weil es ihm Freude bereitete. Sie würden ein unglaublich verstörendes Team sein nächstes Jahr. Entweder unglaublich gefürchtet, oder die größten Lachnummern, die der High-School-Volleyball je gesehen hatte. „Dann ist es ja geklärt“, fasste Hinata mit einem zufriedenen Nicken zusammen. „Kageyama wird unser neuer Captain. Und Tsukishima wird sein Vize!“   Obwohl er sich sicher war, dass Tsukki auf den Gedanken selbst schon gekommen war, immerhin war es der einzig logische, verzog er so angewidert das Gesicht, dass Tadashi für einen Moment fürchtete, er würde ablehnen. Nur aus Prinzip, weil er Hinata widersprechen wollte. Er ließ es schlussendlich aber doch bleiben, schnaubte nur und rückte sich die Brille zurecht, eine Geste, die zumindest im Ansatz von Verlegenheit getrieben war. Tadashi grinste ihn flüchtig an und kassierte dafür einen vernichtenden Blick. „Sorry, Tsukki!“ Tsukki entschuldigte natürlich nicht, und es war völlig in Ordnung. Tadashi gab sich Mühe, nicht  mehr zu grinsen, als er wieder in eine andere Richtung sah. Was sagte Kageyama nun dazu? Ein Blick zu ihm zeigte das typisch griesgrämige Gesicht, das eigentlich immer angepisst aussah, selbst wenn er schlief. Er runzelte kurz die Stirn, doch er sah nicht eine Sekunde lang so aus, als wollte er widersprechen. Er nickte nur, langsam, bedächtig. „Es ist die beste Lösung.“ Es war trotzdem seltsam. Gerade im Vergleich zu den Captains der letzten beiden Jahre. Sawamura und Suga. Ennoshita und Tanaka. Sie waren genau das Gegenteil von dem, was Kageyama und Tsukki nächstes Jahr sein würden. Gruselige Vorstellung. Hinata grinste so wild, als könnte er es kaum erwarten – für ihn musste es ein Traum sein, unter zwei wahnsinnigen, ehrgeizigen Überfliegern zu spielen, huh? Tadashi hoffte, er würde das Training überleben. Aber was das anging vertraute er doch relativ gut auf Tsukkis Faulheit. „Okay!“ Mit seinem Ausruf sprang Hinata auf die Beine und grinste breit. Tadashi fragte sich, ob, was auch immer er jetzt vorhatte, auch dazu diente, um weiterhin vom Lernen abzulenken. Nachdem Hinatas Bücherstapel noch unordentlicher war als Osamus, war es gar nicht einmal so unwahrscheinlich. Er würde sich nicht beschweren. Englisch war gerade wirklich nicht seine Priorität.   „Wann krönen wir jetzt unser Königspaar?“     ***     Auf dem Brief war kein Absender. Die Handschrift auf dem Umschlag war aber absolut eindeutig erkennbar – Yudacchi. Tooru musterte das unscheinbare weiße Papier mit den genauso unscheinbaren blauen Kugelschreiberschriftzeichen, runzelte die Stirn. Yudacchi hatte keinen Grund, ihm zu schreiben. Es war nicht sein Geburtstag. Es war auch sonst kein Feiertag in der Nähe, der einen altmodischen Brief rechtfertigen würde. Briefe waren überhaupt eigentlich Shicchis Ding, deshalb war es nur noch fragwürdiger, dass Yudacchi ihm einen schickte. Kurzum: Es ergab keinen Sinn. Er seufzte unzufrieden. Es war nicht schwer, zu erahnen, was Yudacchi von ihm wollte. Er hatte ihn schon die letzten Wochen nicht mehr in Frieden gelassen mit dem Iwa-Chan-Thema, also war das hier zweifelsfrei etwas, das dazugehörte. Aber was? Hatte er beschlossen, dass er schreiben wollte, nachdem Tooru ihn beim letzten Telefonat knallhart aufgelegt hatte, nachdem er zu viel nervte? Der Brief fühlte sich gar nicht dick genug an für die Flut an Wörtern, die Yudacchi ihm vermutlich zu sagen gehabt hätte. Letztlich würde er es nicht herausfinden, wenn er den Brief nicht öffnete. Er trottete den Weg zum Fahrstuhl des Wohnhauses, ließ sich bis zu seiner Wohnung hochfahren und schlüpfte missmutig hinein. Er durfte sich inzwischen wieder ohne Krücken bewegen, netterweise. Hatte ja auch nur beinahe einen Monat gedauert. An Volleyball war trotzdem kaum zu denken, und selbst wenn – er merkte deutlich, dass er in seinem Team nicht mehr erwünscht war, nicht von Ushiwakas Seite aus zumindest. Die anderen behandelten ihn herzlich, hatten sich nach seiner Gesundheit erkundigt und immer wieder versucht, ihn aufzuheitern, aber das war für Tooru wenig wert, wenn er genau wusste, dass er keine Chance mehr hatte, auf dem Spielfeld zu stehen. Es war abartig.   Einmal Schuhe und Jacke abgelegt warf er sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher ein. Es lief irgendeine dämliche Kinderserie, die er sogar noch aus seiner eigenen Kindheit kannte. Der Nostalgie wegen ließ er sie einfach laufen, während er den Briefumschlag umständlich auffriemelte, längst in Gedanken wieder dabei, wieso Yudacchi ihm von allen Menschen einen Brief schicken sollte. Es war auch keine Antwort auf Shicchis letzten Brief, die er aber unbedingt auch mit Tooru teilen musste, warum auch immer. Manchmal machte Yudacchi das. Wie eine Gruppen-E-Mail, aber per Brief. Völlig bescheuert, aber so typisch für ihn, dass es schon wieder liebenswert war. Im Briefumschlag befand sich nur ein Bogen dünnes Papier. Nicht einmal hübsches, schweres Briefpapier, sondern das billige Zeug, das man in jedem Drucker oder Kopierer fand und da zu Hauf mopsen konnte. Ein weiterer Blick zeigte, der Brief war sogar tatsächlich kopiert. Tooru rümpfte angewidert die Nase. Pah. So wenig war er Yudacchi neuerdings wert? Was hatte er denn da kopiert? Eine Broschüre übers Freundschaftenkitten? Hmpf. Trotzdem war er neugierig genug, um sich das Ding näher anzugucken. Das Datum war… alt. Vom Jahresanfang. Im Februar. Toorus Magen krampfte. Er hatte das Datum nicht vergessen, wie könnte er? Hatte er seinen Brief damals datiert? War das wirklich–?   Ich kann es nicht fassen, dass ich diesen Unsinn mitmache waren die ersten Worte auf der von oben bis unten zugeschriebenen Seite. Das waren mit absoluter Sicherheit nicht Toorus Worte. Das war nicht einmal Toorus Schrift. Ein dicker, schwerer Klumpen setzte sich in seinem Hals fest, um den er nicht einmal mehr schlucken konnte, Tränen ließen das Geschriebene vor seinen Augen verschwimmen, bis er glaubte, er sähe es durch eine Wasseroberfläche hindurch. Als würde man das Papier in einen See legen und zusehen, wie es langsam zum Grund sank. Er wollte das nicht lesen. Er konnte das nicht lesen! Und vor allem – wenn Yudacchi ihm diesen Brief geschickt hatte, war dann sein eigener…? Er wollte nicht einmal darüber nachdenken. Reflexartig griff er nach seinem Handy, starrte hilflos auf das Display, das ihm keinerlei Antwort auf die tausend ungestellten Fragen gab. Seine Finger klammerten so fest um das kleine Gerät, dass sie schmerzten, aber immerhin lenkte dieser Schmerz ihn von den Magenkrämpfen und dem Tränenkloß im Hals ab. War Iwa-Chan schon zuhause? Hatte er seine Post schon eingesammelt? War sein Briefträger vielleicht einfach langsamer? Würde er den Brief erst morgen bekommen? Wie dumm wäre das, wenn Tooru ihn nun anrief, und ihm verbot, etwas zu lesen, das er noch gar nicht hatte! Würde Iwa-Chan es überhaupt lesen wollen, wenn er merkte, was es war? Oder würde er es ungesehen in den Müll werfen, zerknüllt und zerknittert? Tooru wollte nicht zerknüllt und zerknittert werden!   Sein Handy klingelte.   Tooru erschrak so sehr, dass er es fallen ließ. Hektisch bückte er sich nach dem Ding, purzelte dabei vom Sofa und stieß sich die Schulter am Couchtisch, aber er erreichte das verdammte Ungetüm, bevor das Klingeln endete. Er schaute nicht einmal darauf, wer ihn anrief. Er wusste es. Er wollte sich zumindest fest einreden, dass einmal im Leben die nicht existente telepathische Verbindung zwischen ihnen wirklich funktionierte. „Iwa-Chan!“ „Ich werde das nicht lesen, Oikawa“, drang vom anderen Ende der Leitung herüber. Tooru fielen Steine vom Herzen, die er bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Er schluchzte unwillkürlich auf, presste die freie Hand auf den Mund, um den Laut zu ersticken. Das war Iwa-Chan. Das war wahrlich und wahrhaftig Iwa-Chan, der ihn da gerade anrief, ohne, dass irgendjemand ihn direkt dazu gedrängt hatte. Obwohl Tooru ein abartiger Bastard zu ihm gewesen war bei ihrem letzten Treffen. Und Iwa-Chan wahrte sein Briefgeheimnis, hatte Respekt vor Tooru und seinen Geheimnissen, genug Respekt, dass er seinen Stolz hinunterschluckte und anrief, nur um ihm das zu sagen. Er wusste wirklich nicht, ob er lachen oder weinen sollte – oder gleich beides zusammen tun. „Ich auch nicht“, presste er angestrengt hervor. Er schluckte, lachte, heulte gleichzeitig, und Tränen tropften von seinem Gesicht hinunter auf seine Hose, hinterließen kleine, runde, nasse Flecken. Yudacchi war ein Mistkerl. Ein absoluter, unfassbarer Mistkerl! Tooru würde ihn gehörig fertigmachen für dieses ganze Theater. So ging man doch nicht mit seinen engsten Freunden um! Iwa-Chan atmete laut und unruhig. Es war seltsam beruhigend, weil Tooru so trotz der Stille wusste, dass er immer noch da war. Dass er nicht einfach wieder auflegte, weil sie sich am Ende doch nichts zu sagen hatten. Auch wenn es gerade irgendwie stimmte – Tooru hatte nichts zu sagen. Er war so voll von Worten, dass kein einziges herauskommen wollte, dass er absolut unfähig war, auch nur einen Gedanken irgendwie so zu verpacken, dass er verständlich bleiben würde. Er wollte sich entschuldigen, im gleichen Maße, in dem er Iwa-Chan anschnauzen wollte für alles, das er ihm angetan hatte. Er wollte heulen und klagen, weil Ushiwaka ein Bastard war, er wollte Iwa-Chan sagen, wie schrecklich Volleyball ohne ihn war und dass es ein großer Fehler gewesen war, sich zu trennen, und gleichzeitig wollte er einfach nur still bleiben, weil er Angst hatte, dass jedes Wort diesen zerbrechlichen Frieden zwischen ihnen wieder zerschlagen würde.   Es dauerte minutenlang, bis ihm über alle Tränen und alles schlecht erstickte Schluchzen klar wurde, dass der Grund, weshalb Iwa-Chans Atmen so laut und unruhig durch das Handy drang, die Tatsache war, dass es ihm genauso ging. Es war unglaublich dumm, und vielleicht war es genau deshalb, dass Tooru sich gerade keine bessere Kommunikation hätte vorstellen können. Es war dumm. Es war einfach. Tränen verstand Tooru, selbst wenn er sich selbst kaum noch verstehen konnte. Das war eine Botschaft, die kam an.   Irgendwann lachte Iwa-Chan leise auf. Es klang verschnupft, erstickt, nicht wirklich fröhlich, aber vor allem auch nicht mehr halb so unglücklich, wie es hätte sein können. „Du siehst scheiße aus“, lachte er barsch. Tooru war für einen langen Moment komplett sprachlos. Sie hatten sich nicht ausgesprochen, nicht im Geringsten. Noch weniger als beim letzten Mal, das eine Aussprache gefehlt hatte. Aber… brauchte er das denn überhaupt? War es nicht gut genug, wie es war? Sie konnten noch miteinander reden. Tooru wollte gar nichts aussprechen gerade. Sie kannten ihre Fehler, zumindest war Tooru sich sehr sicher, dass Iwa-Chan genauso klug war wie er, was das anging. Auch wenn seine Noten natürlich nie an Toorus herankommen würden, aber an akademischer Intelligenz mangelte es ihm dann eben doch. (Nicht wirklich, aber hey.) Schnaubend ließ er sich gegen das Sofa zurücksacken, legte den Kopf in den Nacken. Die Zimmerdecke war verschwommen unter seinem Blick. „Aber du liebst mich so, Iwa-Chan!“ Niemand liebt dich, Shittykawa war die übliche Antwort auf diese Worte. Tooru war fest überzeugt, dass sie kommen würde. Es gehörte dazu. Sie waren wieder zu ihren alten Mustern zurückgekehrt, wieso sollte es also anders sein? Sie waren wieder Freunde. Wie es sein sollte. Iwa-Chan lachte. Sanft, warm, und es war so ein wunderbarer Laut, dass Toorus Herz in seiner Brust anschwoll, bis sein Brustkorb zu bersten drohte.   „Ja.“ Kapitel 19: ------------ Die Gruppe, die zum Anfeuern gekommen war, sah absolut nicht zusammenpassend aus. Dass Team Nekoma geschlossen da waren, rührte Tetsurou wirklich, und das war auch nicht das Problem dabei. Yaku wunderte ihn auch wenig. Dass Kai seine Freundin mitgebracht hatte, war absehbar gewesen, ließ das Bild aber trotzdem seltsam unpassend wirken. Dass Bokuto Akaashi mitschleifte, war auch total verständlich. Aber er verstand nicht, was Levs Schwester hier suchte. (Yamamotos Schwester war da wieder leichter nachzuvollziehen. Sie war eben ein Volleyballfreak.) Er verstand noch weniger, wieso sie an Yamamotos Arm baumelte und Yamamoto neben ihr leuchtete wie ein Weihnachtsbaum, der Feuer gefangen hatte. „Ihr wisst schon, dass Sporthallen kein guter Platz für ein Date sind?“, versuchte er einen lahmen Scherz, der Haiba Alisa tatsächlich zu einem gezierten, verlegenen Kichern brachte und Yaku – der sich offensichtlich auch angesprochen fühlte. Gut zu wissen! – zu einem defensiven Schnauben. „Du weißt schon, dass Volleyballfelder es noch weniger sind?“ Tetsurou öffnete den Mund zum Protest, aber – zu spät. Bokuto hatte längst angebissen. „Broooo!!! Ist nicht wahr?!“ Nein, Tetsurou hatte kein Date auf dem Spielfeld. Er verdrehte hilflos die Augen, konnte trotzdem nicht anders, als zu grinsen. „Neidisch?“ – „Bro, du willst wohl was von der Schlange! Ich hab’s doch gewusst!!! Hey hey hey!!!“ Während Bokuto noch seine Genialität feierte, warf Yaku einen amüsierten Blick in Tetsurous Richtung, die Augenbrauen spöttisch erhoben. Er würde sicher noch ein paar böse Kommentare machen, aber es war nicht, als hätte Tetsurou nicht die nötigen Retourkutschen, damit er schnell den Spaß daran verlor. Immerhin knutschte er nicht in der Öffentlichkeit. Und ja, er hatte übrigens ein Beweisfoto. Er wartete noch auf den rechten Moment, um es Yaku zu schicken. Nächstes Jahr zum Geburtstag zum Beispiel. Wäre doch ein nettes Geschenk, oder? Oder zum Jahrestag. Allein der Gedanke ließ ihn grinsen, sein Grinsen wiederum brachte Yaku zum Stirnrunzeln. Ah, was war das schön. Tetsurou wüsste gern, was der Pimpf sich nun ausmalte, aber andererseits – Yaku war noch nie kreativ gewesen. Tetsurous tatsächliche Pläne wären um Längen besser.   Er ließ Yaku Yaku sein und wandte sich lieber Kenma zu, dessen Nase wie üblich auf seinem Handy klebte. Ein schiefer Blick auf das Display zeigte, dass er ein Chatprogramm geöffnet hatte. „Hat der Chibi nichts Besseres zu tun?“, fragte er amüsiert nach. Kenma zuckte kurz zusammen, beinahe ertappt wirkend, dann zuckte er nichtssagend mit den Schultern. „Shouyou hat gerade Pause“, informierte er. Tetsurous Augenbrauen wanderten fragend, und auch wenn Kenma das kaum sah, wo er den Blick doch nicht mehr hob, er ahnte trotzdem, dass da mehr an Erklärung erfordert war: „Trainingscamp. Er ist hier.“ Das berühmte landesweite Elite-Trainingscamp. Tetsurou erinnerte sich daran, er erinnerte sich vor allem daran, immer sehr beleidigt gewesen zu sein, dass niemand aus seinem Team es dorthingeschafft hatte. Die paar Spieler, die jährlich dort waren, brüsteten sich immer so nervtötend penetrant damit; er hätte es zu gern gehabt, ebenfalls damit prahlen zu können. Aber gut, das war nun sowieso vorbei und er zu alt dafür. „Glückwunsch an den Chibi.“ Er hatte sich gemausert! Unfassbar. Kenma nickte vage, murmelte etwas davon, dass er es ausrichten würde, und dann war er auch schon mit dem Schreiben einer Nachricht beschäftigt. Vermutlich gab er es wirklich direkt weiter? Dieses Jahr war Tetsurou froh, dass niemand aus seinem Team den Weg zum Camp gefunden hatte, immerhin hätte er sonst auf seine Anfeuerungsrufe verzichten müssen! Es war egoistisch, das war ihm auch bewusst, aber durfte er nicht auch egoistisch sein? Und schlussendlich war es nicht, als wäre das ein Zeichen von Inkompetenz. Sie konnten auch so brillante Spieler sein, das wusste er zur Genüge. „Es ist ihr Verlust, dass sie mich nicht eingeladen haben“, fügte Lev großspurig hinzu. Er bekam dafür einen Tritt von Yaku, der ihn unselig aufjapsen ließ. „Sei doch froh darum, du Trottel! Nach dem dritten nutzlosen Selfie hätte ich mein Handy ausgeschaltet!“ – „Aber Moroch–“ – „LEV!“ Was auch immer er hatte sagen wollen, er ließ es bleiben. Tetsurou fand es unglaublich traurig, denn er war neugierig. So, wie Yaku dreinsah, war es peinlich. Er mochte peinlich und Yaku in einem Satz. Wie zur Strafe für seinen Fauxpas wandte Yaku sich von dem Riesen ab und Kai zu, um über etwas zu sprechen, das besorgniserregend nach Universitätskrempel klang – Tetsurou hörte wohlweislich weg. Lev unterdessen ließ seine grausamen Wunden von Inuoka und Shibayama versorgen, die ihm aufmunternd auf die Schultern klopften. Irgendwie ahnte Tetsurou, dass Lev sich da eine ganz schön anstrengende Beziehung angelacht hatte.   Aber er sah trotzdem ziemlich zufrieden aus, alles in allem. Und er war ja selbst schuld, huh? Selbst ein Blinder sah, dass Yaku schwierig war.   War doch irgendwie Teil seines Charmes, letztlich. Grinsend warf er einen Blick zu Yaku und Kai hinüber, die sich friedlich unterhielten, kein Ärger mehr auf Yakus Gesicht zu sehen. Lev betrachtete die Szene ebenfalls, ansatzweise beleidigt. Die Schnute erübrigte sich aber prompt, als sein kleiner Lover kurz grinsend zu ihm hinübersah, ehe er weiter auf Kai einredete. Irgendwie war es ja echt süß. Suguru, der herankam, lenkte Tetsurous Aufmerksamkeit von seinen Freunden ab. Mit einem beinahe dümmlich zufriedenen Grinsen wandte er sich dem Kerl zu, dessen Blick allerdings kaum halb so freundlich war. Seine Stirn war streng gerunzelt.  „Tetsurou, wehe, du trödelst. Wir müssen in zehn Minuten rein.“ – „Ich weiß, ich weiß~! Lass mir doch die Freude, ich seh die Jungs so selten!“ Sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf. „Du siehst sie oft genug. Und jetzt beweg dich?“ – „Hey!!! Schlange!“ Tetsurou trat wohlweislich einen Schritt zur Seite, als Bokuto vorsprang, um sich auf Suguru zu stürzen. Mit großen, weit aufgerissenen Eulenaugen betrachtete er den jungen Mann, so eindringlich, als wolle er ihn hypnotisieren. Vielleicht wollte er das. Wie diese Typen mit ihren Schlangen in den Körben, die nach ihrer Flöte tanzten. Tetsurou hatte ernsthaft vergessen, wie sie sich nannten. „Seid ihr jetzt echt zusammen?!“ – „Bro! Wieso fragst du nicht einfach mich?!“ „Weil du eh nur lügst“, war Kenmas trockener Kommentar, der an Bokuto zwar total vorbeizog, aber dafür bei Suguru ankam. Er schnaubte hörbar amüsiert über die ungefragte Einmischung. Sein süffisantes Grinsen sprach Bände, da hätte Tetsurou den Kommentar, dass Kenma recht hatte, gar nicht mehr gebraucht. Hatte er nicht. „Und wenn?“ „Na. Dann ist das gut! Kuroo braucht doch ne Beziehung! Und wenn ihr nicht zusammen seid, dann wird’s aber höchste Zeit, so viele Dates, wie ihr habt!“ Ein Kaffeetrinken war kein Date, aber das Bokuto zu erklären war doch absolut hoffnungslos. Tetsurou schnaubte unwillig, verschränkte die Arme vor der Brust. Ob er Bokuto daran erinnern sollte, wie lange er nicht begriffen hatte, dass er auf Akaashi stand? Ob er ihm das wirklich unter die Nase reiben sollte? Einfach nur, weil er es konnte? Dann würde er gleich vermutlich jammern und an Akaashi kleben, aber das war dann echt nicht mehr Tetsurous Problem.   „Mach dir um deine eigene Beziehung Sorgen, Federvieh.“ – „Waaas?! Warum sollte ich? Akaashi und ich bleiben für immer zusammen, hey hey hey!“ Suguru lachte amüsiert. „Natürlich.“ In seinen Worten steckte Spott, den Bokuto wie immer überging. Er grinste stolz und völlig zufrieden, wandte sich zu Akaashi um, um ihm zuzubrüllen: „Hast du das gehört, Akaashiiii?!“ Natürlich hatte Akaashi es gehört. Wie immer verzog er keine Miene, während er bestätigte. Bokuto eilte wieder zu ihm, um lautstark ihre gemeinsame Zukunft zu planen, während Suguru die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte. „Unfassbar, dass deine Freunde noch dümmer sind als du.“ „Du bist neidisch, Suguru.“ „Ja.“ Die Antwort ließ Tetsurou so perplex zurück, dass er kein Wort mehr über die Lippen bekam. Er starrte Suguru hinterher, während der sich wieder umwandte, verkündend, dass er beim Team warten würde, und sich dann daran machte, wieder abzumarschieren. Tetsurou verstand es nicht. Er verstand es wirklich nicht, aber er mochte noch so verständnislos sein, er merkte, dass es in jedem Fall nicht in Ordnung war, wie es war. „Geh“, befahl Kenma leise. Tetsurou hatte nicht vor, ihm zu widersprechen. Er verabschiedete sich hastig von der Gruppe, verkündete, dass er noch etwas zu erledigen habe, aber dass er sie zwischen den Spielen noch einmal treffen würde. Er brauchte nur ein paar Schritte, um zu Suguru aufzuschließen. Er hatte immer noch keine Ahnung, aber er hatte zumindest Ideen.   „He. Stell mich deinen Schlangenbabys vor.“     ***     Das Achtelfinale war Endstation für Iwa-Chans Team gewesen. Tooru hatte sich natürlich jedes Spiel angesehen, versteckt hinter einer Brille und einem Schal, den er bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Es waren gute Spiele, und er hatte sie gerne gesehen, aber er war noch nicht bereit, Iwa-Chan gegenüberzutreten. Wirklich nicht. Sie hatten ein paar Mal telefoniert seit Yudacchis blöder Post, und es war wieder deutlich besser zwischen ihnen, aber – Tooru wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, wenn da kein Telefon mehr zwischen ihnen war. So gut er darin war, sich zu verstellen, so gut war Iwa-Chan darin, es zu durchschauen. Er wollte gerade nicht durchschaut werden. Also tat er das einzig Richtige: Er machte sich, nachdem klar war, dass Iwa-Chan hiermit raus aus dem Turnier war, auf den Weg hinaus aus der Halle. Er hatte alles gesehen, was er sehen wollte, er hatte alles getan, was er tun wollte, er hatte gar keinen Grund, noch zu bleiben. Er rückte die Brille zurecht, zupfte den Schal noch einmal hoch, damit er möglichst viel Gesicht verbarg, ohne total dämlich auszusehen, und dann eilte er den Gang entlang, um möglichst schnell rauszukommen, bevor Iwa-Chan den Eingangsbereich erreichte.   „Oikawa!“   Er war noch lange nicht beim Ausgang, da erreichte ihn Iwa-Chans Stimme. Obwohl sein Instinkt ihm riet, weiterzulaufen, blieb er stehen, weil er immer stehen blieb, wenn Iwa-Chan ihn rief. Langsam drehte er sich um. Iwa-Chan hatte seinen Trainingsanzug übergezogen. Er sah erschöpft aus nach einem langen Spieltag, seine Stirn war gerunzelt, die Augenbrauen zusammengezogen, und der Krater zwischen ihnen so tief, dass Yudacchi vermutlich in schallendes Gelächter ausbrechen würde. „Deine Verkleidung ist mies.“ „Ich verkleide mich gar nicht!“, protestierte Tooru empört. Der Schal half ihm dabei, die verräterische Röte auf seinem Gesicht zu verbergen, „Ich fühl mich nur nicht so gut! Und du weißt, dass ich die Brille ab und zu tragen soll.“ Iwa-Chan sah überhaupt nicht überzeugt aus, brachte ihn damit dazu, beleidigt die Wangen aufzublähen und sich tiefer in seinem Schal zu vergraben. Es war nicht fair! Wieso hatte Iwa-Chan ihn überhaupt gefunden?! (Weil Iwa-Chan ihn immer fand.) Er hätte ihn nicht finden sollen! Tooru war doch gar nicht bereit für dieses Gespräch! Und trotzdem stand er jetzt hier. Und irgendwie funktionierte es. Das war immer noch Iwa-Chan, und nach all den hässlichen Dingen zwischen ihnen war er immer noch da. Tooru holte bebend Luft, presste die Lippen aufeinander, während er versuchte, die verschwommen werdenden Umrisse seines besten Freundes fester zu fixieren, gegen die Tränen wieder scharf zu stellen. Es klappte kaum, aber er war zu trotzig, die Feuchtigkeit aus seinen Augen zu wischen und damit noch mehr Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Er zog die Nase ein bisschen zu geräuschvoll hoch, beschloss dann, dass er das genauso gut als Schnupfen wegreden konnte und verschränkte die Arme vor der Brust, reckte das Kinn trotzig vor. „Ihr wart ganz schön mies, Iwa-Chan. Man sollte meinen, nachdem ihr Ushiwaka besiegt habt, hättet ihr mehr drauf als das!“   Iwa-Chan, ganz absehbar, wurde wütend. Er knurrte, stapfte die letzten Schritte auf Tooru zu, bis er ganz eindeutig schon zu nah gekommen war. „Ich geb dir gleich schlecht, Trashykawa! Wer war denn zu blöd, um überhaupt das ganze Spiel auf dem Feld zu bleiben?!“ – „Das war doch nur, weil Iwa-Chan nicht auf mich aufgepasst hat~!“ Es war einfacher so. Versteckt in ihrem üblichen Geplänkel all die Dinge loszuwerden, die sie eigentlich sagen wollten. Sorgen. Ängste. Vorwürfe, Sehnsüchte. Wieso hatten sie das nicht sofort probiert? Wahrscheinlich hätte es gar nicht geklappt. Warum auch immer es jetzt auf einmal funktionierte, es war Tooru egal – er war einfach dankbar dafür. „Du weißt noch, dass du unbedingt auf ne andere Uni wolltest?“, gab Iwa-Chan trocken zurück. Tooru lachte ertappt und kratzte sich am Hinterkopf. Es stimmte, es war seine Entscheidung gewesen. Aber nicht seine Schuld! Was konnte er dafür, dass Iwa-Chan so einen schlechten Geschmack hatte? Seine Universität war Tooru eben nicht attraktiv genug erschienen, und sie hatte nicht einmal ordentliche sportorientierte Hauptfächer! Sie erschien ihm immer noch nicht attraktiv. Was sollte er denn dort? Er wusste nicht, was es außer den medizinischen Fächern gab, und das war, auch wenn er den Kopf dafür hatte, trotzdem nichts für Tooru. Weder auf die Art, wie Iwa-Chan es anging, noch auf die Kurocchi-Methode, die einfach nur eklig war. Rechtsmedizin! Pfui! Er hatte sich das Angebot der Universität damals nicht näher angeschaut, vielleicht aus Trotz, weil er sich selbst beweisen wollte, dass er ohne Iwa-Chan leben konnte. Er hatte gnadenlos verkackt.   „Ach Iwa-Chan. Jeder weiß doch, dass Perfektion nur dann charmant ist, wenn man ab und zu einen kleinen Fehler macht. Aber davon verstehst du ja nichts, dafür müsstest du mal etwas anderes machen als nur Fehler.“ „Ich geb dir gleich Fehler, Shittykawa!!!“ Tooru lachte, auch als Iwa-Chan ihn so grob am Kragen packte, dass es ihm auch den Schal mit herunterrutschen ließ. Es war eine saudumme Idee gewesen, auf getrennte Unis zu gehen. So im Nachhinein wusste Tooru auch echt nicht mehr, wie er so überzeugt davon gewesen sein konnte – aber andererseits, Iwa-Chan hatte auch nie protestiert. Vielleicht waren sie schlussendlich beide dumm gewesen. „Aber, Iwa-Chan“, begann er grinsend, hob belehrend den Zeigefinger, „Weißt du, was noch charmanter ist als ein kleiner Makel in der Perfektion? Wenn man Fehler eingestehen und wiedergutmachen kann.“ Iwa-Chans Blick war misstrauisch, während er Tooru musterte. Langsam ließ er von seinem Oberteil ab und Tooru nutzte die Gelegenheit, sein Outfit wieder zurechtzurücken. Er mochte getarnt sein, aber er musste auch getarnt immer noch wunderschön aussehen! Anders ging es überhaupt nicht. „Und das willst du wie tun?“ Im Grunde wusste er es schon, das sah Tooru in seinem Blick. Ihm war bewusst, dass er es trotzdem aussprechen musste, denn manche Dinge wurden erst so richtig real, wenn man sie ausgesprochen hatte und nicht mehr zurücknehmen konnte. War das wirklich eine so gute Idee? Er grinste hilflos. Yudacchi fände es sicher toll. Makki und Mattsun würden lachen und spotten. Ucchi die Augen verdrehen. Shicchi versuchen, nicht zu heulen, und es dann am Ende vermutlich doch tun. Wo er so darüber nachdachte, vermutlich hatten Makki und Mattsun längst darüber gewettet und würden grinsend ihren Wettgewinn einstreichen, wenn es soweit war – Nichts, wie immer. Tooru stieß langsam die Luft aus. Das Grinsen, das sein Gesicht verzog, fühlte sich viel echter an als die ganze aufgesetzte Fröhlichkeit der letzten Wochen.   „Deine Wohnung ist groß genug für zwei, nicht wahr, Iwa-Chan?“   Iwa-Chan schnaubte erheitert. Er hatte es natürlich gewusst.   „Du kannst auf dem Boden pennen, Tooru.“     ***     Am Ende schaffte Tetsurou es nicht einmal bis ins Achtelfinale. Er war frustriert, und es wurde nicht besser, als Yaku eiskalt kommentierte, dass es ganz schön erbärmlich sei, von einem solchen Loser geschlagen worden zu sein. Er hätte ihn gern allein dafür noch einmal fertig gemacht, aber nachdem er dazu keine Gelegenheit hatte, verlegte er sich darauf, sich theatralisch zu fragen, wieso er überhaupt mit dem kleinen Sadisten abhing. „Gleich und gleich gesellt sich gern“, erwiderte seine winzige Gesellschaft unbekümmert, als sie Kaffeetassen auf den kleinen Küchentisch stellte. Yaku ließ sich ihm gegenüber nieder und streckte entspannt die Beine aus. Sie waren so klein, dass sie Tetsurou auf der anderen Seite des Tisches gar nicht störten. „Laut der Theorie bist du inkompetent und hast zu viel Ego“, konterte er unschuldig grinsend. Yaku sah einen Moment lang sehr, sehr angepisst aus – niemand außer ihm selbst beleidigte seinen Freund, so einfach war das –, dann lachte er aber nur freundlich auf, „Ach Kuroo, so schlimm bist du auch nicht.“ Tetsurou knurrte unwillig. Er hasste Eigentore! Unzufrieden verzog er das Gesicht. Er konnte wirklich besseres mit seiner Zeit anfangen, als sich von kleinen Mistgören ärgern zu lassen! Gut, Bokuto war beschäftigt, und Kenma auch, und Suguru hatte ein Treffen mit seinem alten Team vereinbart, bei dem er Tetsurou nicht dabei haben wollte, weil er ein gemeiner Kerl war, aber trotzdem. Er könnte lernen. Selbst das war charmanter als Yakus spitze Zunge. Nicht wirklich. Er mochte die Gesellschaft von dem Zwerg doch, zumindest die meiste Zeit. Außerdem hatten sie sich echt lang genug nicht mehr wirklich gesehen, außer zu den Spielen, die sie teilweise gemeinsam angesehen hatten, da hatten sie einiges an Klatsch und Tratsch aufzuholen! (Nicht, dass Yaku so viel tratschte. Er mochte klein wie ein Mädchen sein, aber nicht halb so sensationsgeil, zumindest nicht in Tetsurous Beisein.)   „Sag mal“, kommentierte Tetsurou nach einem großen Schluck Kaffee. Von seinem Platz aus hatte er den Berg an Lernmaterialien auf Yakus Schreibtisch im Blick. Ein stattlicher Berg. Sein eigenes Lernmaterial war nicht weniger umfangreich, aber in der Regel verbarg Tetsurou es vor seinem Blick, einfach nur, damit er nicht ständig daran denken musste. „Ist der gewachsen seit dem letzten Mal?“ Eigentlich war das dumpfe Lachen, das Yaku von sich gab, Antwort genug. „Ja. Ich hab Russisch angefangen.“ – „Russisch. Wow. Muss dir ja echt ernst sein mit dem Kerl.“ Yaku sah so beleidigt aus, als hätte Tetsurou – ja. Ihn beleidigt. Dabei hätte jeder normale Mensch das als Kompliment genommen! Aber nicht Yaku. Niemals Yaku. Er war viel zu schlecht darin, seine Gefühle einzugestehen, was einfach eine verblüffend erheiternde Mischung war, wenn man bedachte, dass er ganz hervorragend gut darin war, seine Kouhai zu betütteln. Oder mit Suga zu einem alten Klatschweib zu werden. Apropos Suga, der Kerl bekam auch nie irgendetwas von Yakus gemeiner Seite ab. Das war echt unfair! „Es hat sinnvolle Gründe“, gab er beleidigt zurück. Weil er sinnvolle Gründe nicht einmal näher erläuterte, ging Tetsurou davon aus, dass sie sich höchstens darauf beliefen, dass er nicht verpassen wollte, wenn Levs Familie versuchte, über ihn zu lästern. Wahrscheinlich war er paranoid genug, dass er wirklich fürchtete, sich mit solcherlei Dingen konfrontiert zu sehen. Kommentare, die er nicht hören sollte, und die deshalb in der fremden Sprache gemacht wurden. Irgendwie war es niedlich. „Wehe, du sagst es Lev!“ Es war wirklich niedlich. Tetsurou zuckte unbekümmert die Schultern. Er grinste sanft in Yakus Richtung, auch wenn es nicht half, den grimmigen Blick auf dessen Gesicht zu erweichen. „Wenn es dir Freude macht – have fun? Komm nur nicht bei mir weinen, wenn es dir zu viel wird, und du plötzlich die Sprachen in deinen Klausuren vermischst!“ – „Mir passiert so etwas nicht, Kuroo.“   Es war ihm ein einziges Mal passiert. Tetsurou fand, dass Yaku da nun wirklich nicht drauf rumhacken musste! Immerhin hatte er es nicht wie Yamamoto gemacht und einen Aufsatz für das Fach Englisch über die USA in Japanisch abgegeben, weil er bei der Aufgabenstellung gepennt hatte. Das war wirklich peinlich. Tetsurou hatte einfach nur für ein paar Sekunden nicht aufgepasst, das konnte jedem passieren! Genug davon. Ans Pauken wollte Tetsurou wirklich nicht denken, er hatte zuhause noch genug Gründe, sich damit auseinanderzusetzen. Abgabetermine zum Beispiel. Yaku schien es ähnlich zu gehen, denn er wechselte nonchalant das Thema: „Hat Oikawa dich eigentlich auch genervt? Von wegen Umzugshilfe?“ Tetsurou lachte herzlich. „Natürlich.“ Im Gegensatz zu dem Winzling Yaku würde er auch sinnvoll helfen können; er war kräftig genug, um ein paar Möbel zu schleppen. Wobei er sich ernsthaft fragte, was Oikawa eigentlich überhaupt brauchte. Von allem, was er mitbekommen hatte, war Iwaizumis Wohnung komplett eingerichtet und da war gar kein Platz mehr für Oikawas Zeug. Aber gut, es musste ja auch entsorgt werden, dafür waren wohl auch helfende Hände erwünscht. „Bokuto auch, übrigens. Er hat schon eine ganze Kiste voller Brause-Ufos gekauft, um sie mitzunehmen, weil Oikawa immer noch keinen Laden gefunden hat, wo er die Dinger kriegt.“ Yaku verdrehte die Augen, aber es sah sogar liebevoll dabei aus. Er schüttelte schmunzelnd den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. „Suga-Kun kommt auch. Er bringt Sawamura-Kun mit, sagt er. Ich glaube, wenn jeder auftaucht, den Oikawa um Hilfe gebeten hat, dann verstopfen wir einfach nur die Wohnungstür und kommen nicht voran.“ – „Aber es wird lustig!“ Für Tetsurou zumindest. Yaku sah nicht aus, als ob er es sich lustig vorstellte, zwischen Oikawa und seinen verrückten Freunden zu versuchen, dessen Habseligkeiten von A nach B zu bringen, während sicher an allen Enden und Ecken Pannen passierten, weil sie zu viele und zu unruhig waren. Fallende Kartons, aufklaffende Koffer, die ihren Inhalt auf die Straße auskotzten, oder ein Umzugswagen, der sich verfuhr, weil der Fahrer nicht aufpasste. Die Möglichkeiten waren endlos! Es war perfekt.   „Du hilfst also jedenfalls auch, huh, Yakkun?“ – „Ja. Aber ich fahr am Abend wieder heim. So toll ich mir eine Übernachtung in der Sardinendose vorstelle, ich hab Neujahr echt besseres zu tun als es mit einem Haufen Idioten zu verbringen.“ „Ein Idiot reicht?“ – „Klappe! Ich mach das nicht freiwillig! Er hat drauf bestanden, okay?“ Yaku machte es freiwillig. Er wollte es nur nicht zugeben. Tetsurou war ein bisschen neidisch, wenn er ehrlich war. Suguru verbrachte Neujahr bei seiner Familie. Akaashi auch, übrigens, was der Grund war, wieso Bokuto auch schon ganz heiß auf Oikawas Umzugsparty war. Es war okay. Er hatte Jahre ohne Suguru gelebt, er würde auch ein paar Tage überleben. Sie klebten sowieso nicht völlig exzessiv aufeinander, und überhaupt war es nicht, als wären sie einander wirklich etwas schuldig, aber – trotzdem. Tetsurou war kitschig genug, um an Neujahr ein Date haben zu wollen statt einem Haufen verrückter Typen, die dann mitten in der Nacht auf die Idee kamen, Aliens jagen zu gehen. Wahrscheinlich am Schrein. Weil die Aliens sicher keinen besseren Platz finden würden, um herumzustromern. Dabei wusste doch jeder Idiot, dass Aliens aus Prinzip nur die USA angriffen, also warum versuchten sie es überhaupt? „Keine Sorge, Yakkun. Ich liveticker dir die großartige Alienjagd, die du verpasst.“   „Spar’s dir. Nachher will Lev auch eine veranstalten!“ Kapitel 20: ------------ „Kenma!!!“   Shouyou war zu laut. Er war auch zu nah, gemessen daran, dass die Schuhe des Jungen schon in Kenmas Blickfeld waren, während er weiterhin stoisch hinunter auf sein Handy sah. Kuro wünschte viel Glück für ihr nächstes Spiel. Macht die Krähen für uns fertig!, forderte er. Rache fürs Vorjahr. Kenmas Augen zuckten kurz hoch, gerade lang genug, dass er Shouyous leidenschaftlichen Blick bemerkte, dann senkten sie sich wieder. „Shouyou.“ Es war überflüssig, dass sie sich jetzt hier noch sahen. In ein paar Minuten würden sie einander gegenüber auf dem Spielfeld stehen. Karasuno gegen Nekoma. Die Schlacht auf der Müllhalde. Das zweite Jahr in Folge auf einer offiziellen Bühne. Nekomata war noch genauso glückselig darüber wie im Jahr zuvor, und Kenma ahnte, dass es Karasunos altem Coach kaum anders ging. Er wusste, dass der alte Mann auch dieses Mal hier war, hatte ihn im Vorbeigehen schon kurz gesehen. Shouyous Hand schob sich in sein Blickfeld, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Langsam schob er sein Handy in die Hosentasche, und genauso langsam hob er den Blick, um Shouyou zu begegnen. Er grinste breit, selbstbewusst und unbeirrbar, das Gegenteil von allem, das Kenma war. Zu grell, zu laut, und gerade doch zur Abwechslung einmal ganz leise. Das letzte Spiel, das sie gegeneinander spielen würden. Ob es Shouyou überhaupt bewusst war?   „Wir werden nicht verlieren!“, verkündete er entschlossen. Kenma zweifelte nicht an seinem Siegeswillen. Er wusste, was Karasuno leisten konnte, und er wusste, dass das Team sie wieder überraschen würde mit seinen neuen waghalsigen Taktiken und Techniken, aber trotzdem – Nekoma würde nicht einfach so verlieren. Sie würden ihre alte Rechnung begleichen, nicht, weil Kuro das wollte, sondern weil Kenma es selbst wollte. Jeder Endboss war besiegbar. „Wir auch nicht.“ Er ergriff Shouyous Hand. Sein Griff war viel zu fest; Kenma bereute es fast augenblicklich. Körperkontakt war allgemein nicht sein Ding, und dieser Händedruck gab ihm obendrein das unangenehme Gefühl, nie wieder von Shouyou loszukommen.   Auf mehr als einer Ebene.   „Auf ein gutes Spiel!“ Die feierliche Ernsthaftigkeit aus Shouyous Gesicht verschwand, und sein Grinsen wurde breiter, strahlender, fröhlicher. Wie Sonnenlicht, das durch eine Wolkendecke brach, ließ es Kenma instinktiv die Augen zusammenkneifen – als könnte er sich daran blenden. „Diesmal wirst du Spaß haben!“ Aus Shouyous Mund war es eine Drohung. Trotzdem zupfte auch an Kenmas Mundwinkeln ein flüchtiges Lächeln, während er seinem Gegenüber endlich seine Hand entziehen konnte. Es hatte auch lange genug gedauert. „Mhm. Ich freu mich drauf.“ Und auch, wenn er sich wirklich freute, Shouyou auf dem Spielfeld gegenüberzustehen, weil es einfach faszinierend und spannend war, so war er mindestens genauso froh, dass der Junge gerade scheinbar seinen Kommunikationsbedarf gedeckt hatte. Mit einer wortreichen Verabschiedung wandte er sich um, um zu seinem eigenen Team aufzuschließen. Kenma sollte es auch tun, aber er fühlte sich nicht wirklich motiviert, sich die Hektik vor dem Match anzutun. Tora war von der Ecke, in der Nekoma sich niedergelassen hatten, bis hierher zu hören. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie laut es direkt neben ihm sein musste. Die anderen waren sicher auch nicht viel leiser. Kurzum: Es war nicht attraktiv für ihn. Als Captain wäre es seine Pflicht, aber – er war ohnehin kein herkömmlicher Captain. Er war nicht charismatisch und motivierend, und sein Team nahm das kommentarlos hin, also würden sie ihm auch wenig Ärger dafür machen, wenn er jetzt nicht sofort an ihrer Seite war. Sein Handy vibrierte. Er holte es wieder hervor, jetzt, wo nichts und niemand anderes mehr seine volle Aufmerksamkeit forderte – gnadenlos. Shouyou war gnadenlos –, und las die neue Nachricht, die von Kuro eingetrudelt war. Er jammerte, weil die Familienfeier, zu der er gezwungen worden war, so sterbenslangweilig war. Kenma überflog den viel zu langen, wehleidigen Text nur grob, bevor er am Ende hängenblieb und unzufrieden die Mundwinkel runterzog. Vergiss die Rede nicht, Captain!   Würde Kuro ihn nicht ständig daran erinnern, könnte Kenma diese unnötige Peinlichkeit vielleicht endlich vergessen. Aber so? Ausgeschlossen. Weil sein Freund am Ende mit keinem Wort etwas Sinnvolles geschrieben hatte, schob er das Handy einfach wieder in die Hosentasche, nachdem er eine andere Nachricht beantwortet hatte, die Hideki ihm vorhin geschickt hatte, um ihm Glück zu wünschen. Fukuroudani waren in einem anderen Block untergekommen. Wenn sie an der Hürde Karasuno nicht vorbeikamen, war es ausgeschlossen, dass sie sich auf dem Spielfeld begegnen würden. Und schlussendlich mussten dafür auch Fukuroudani erst an ihren Hürden vorbeikommen, und die waren ebenfalls alles andere als niedrig angesetzt.   Erst, als es Zeit wurde, sich zum Spielfeld zu begeben, schloss Kenma zu seinem Team auf. Inzwischen hatte Tora sich überwiegend ausgebrüllt, und insgesamt waren sie vergleichsweise still geworden. Es wurde nur noch stiller, als sie schließlich auf dem Spielfeld standen, ihre Aufwärmübungen beginnend. Karasuno war genauso ungewöhnlich still auf der anderen Seite. Kenma sah immer wieder Blicke, die zwischen beiden Teams gewechselt wurden, respektvoll, kameradschaftlich – aber in diesem Moment waren sie bei aller grundlegenden Freundschaft Rivalen, die einander nichts schenken würden. Spiele gegen Karasuno waren im Endeffekt immer die Härtesten. Es war Sinn eines Rivalen, und es war, obwohl es viel zu anstrengend war, aufregend genug, dass es Kenma nicht wirklich störte. Er war selbst aufgeregt. Brannte darauf, aufs Spielfeld hinauszutreten und zu sehen, was dieses Team ihnen dieses Mal wieder an Unmöglichkeiten entgegenschmettern würde. Was auch immer es war, sie würden es zerschlagen. Kampflos würden sie nicht untergehen. Kenma hatte Vertrauen in die Fähigkeiten seines Teams. Seit Levs drastischer Entwicklung war ihr allgemeiner Level bemerkenswert gestiegen. Karasuno kannte diesen neuen Lev noch gar nicht wirklich. Dieses Mal würden sie nicht die einzigen sein, die überraschten; der Gedanke hatte etwas seltsam befriedigendes, brachte Kenma dazu, zu grinsen.   Es war reizvoll, zur Abwechslung einmal dafür zu sorgen, dass Shouyous Blick entgleiste, statt umgekehrt.   „Captain!“ Takas liebevoller Ruf ließ Kenmas Blick auf seine eigene Spielfeldseite zurückkehren. Auch Karasuno rafften sich für einen letzten Pep-Talk zusammen. Es waren die Momente, die Kenma schon immer am Wenigsten gemocht hatte. Es war ihm unangenehm, so unnötig nah beieinander zu stehen, und es war noch unangenehmer geworden, nachdem Kuro begonnen hatte, jede seiner Reden auch um ihn herum zu stricken. Kenma hasste es, Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Und obwohl die dummen Reden nun nicht mehr da waren, war er es immer noch, weil er der Captain war, und weil das Team, auch wenn sie ihn annahmen, wie er war, trotzdem erwartete, dass er ihnen irgendwie Mut machte. Kenma war nicht gut mit Worten. Er hatte keine großen Reden, keine epischen Ideen, die er vermitteln konnte, keine Visionen von Ruhm und Glorie. Er sah auch wenig Sinn darin, sich mit Worten aufzuhalten, wenn er genauso gut Taten sprechen lassen konnte. Auf dem Spielfeld zählte all das überflüssige Blabla doch gar nicht mehr. Ein Blick zurück zu Karasuno zeigte, dass sie inzwischen zusammengerottet waren. Ihr Captain redete auf sein Team ein, er sah ernst und feierlich aus. Im Laufe des Jahres hatte er viel von seiner Unsicherheit verloren, strahlte jetzt ein ganz anderes Selbstbewusstsein aus. Er war reifer geworden, wie im Grunde jeder von ihnen. Bei seinem eigenen Team erwarteten Kenma erwartungsvolle Blicke in ernsten, ausnahmsweise einmal stillen Gesichtern. Niemand sprach, und sie alle schienen zu erwarten, dass er das Wort erhob.   Es ist das letzte Mal.   Das letzte Spiel, das er je gegen Karasuno spielen würde. Womöglich das letzte Spiel, das er mit diesem Team spielen würde. Kenma holte langsam Luft, straffte die Schultern. Einen kurzen Moment lang glaubte er, Blicke im Nacken kribbeln zu spüren. Er drehte sich nicht um, wollte gar nicht so genau erfahren, wer ihn gerade warum ansah. Er fürchtete, dass es Shouyous intensiver Raubtierblick war, der gerade auf ihm ruhte. „Wir können gewinnen“, begann er seine womöglich letzte Ansprache an sein Team. Es waren Worte, die er dieses Jahr oft gesagt hatte, und beinahe kein einziges Mal hatte das Spiel sie Lügen gestraft. Kenmas Einschätzung war gut. Sie hatten eine deutliche Gewinnchance, egal, wie unberechenbar Karasuno war. Solange ihre Verteidigung nicht brach, konnten sie noch so schwere Geschütze auffahren, es würde ihnen nicht helfen. „Alles, was wir brauchen, sind zuverlässige Verbindungen. Lasst sie nicht abreißen.“ Inuoka nickte wild. Shibayama grinste, in seinem Blick strahlten die Erinnerungen an die alten Zeiten der peinlichen Captainreden. Es war peinlich. Es war unangenehm, Kenma mochte es nicht, und er fragte sich, was es überhaupt bringen sollte. Es waren nur ein paar Worte. Obendrein ziemlich dumme Worte in einer dummen Metapher, die an Dummheit kaum zu überbieten war, aber sie waren ein unauslöschbarer Teil dieses Teams. Das letzte Mal.   „Wir sind wie das Blut in unseren Adern. Wir müssen fließen, ohne zu stoppen. Sauerstoff transportieren und den Verstand am Laufen halten.“     ***     Achtelfinale gegen eine Schule, die noch schlimmer war als Itachiyama, und schon war es vorbei. Keiji bereute es nicht. Sie hatten ihr Bestes gegeben, und es war nicht, als hätten sie rückblickend etwas besser machen können. Er war stolz auf sein Team, auch wenn von den starken, selbstbewussten Volleyballspielern gerade nichts mehr übrig war. Er hatte nicht genug Taschentücher für so viele Tränen, und so, wie das aussah, brauchte Nishiame seinen eigenen Vorrat effektiv alleine auf. Er schluchzte und heulte und schniefte. Um ihn herum türmte schon ein Berg an benutzten Taschentüchern, der stetig wuchs, vor allem, weil Minamishima, Onaga, Shima und ein paar weitere Erstklässler ihre eigenen Rotzfahnen knallhart mit darauf warfen. Es würde kein Spaß werden, das alles zum nächsten Mülleimer zu transportieren. Selbst Kurowa liefen Tränen übers Gesicht. Neben Keiji war Marei der einzige, der noch ruhig wirkte, aber – bei ihm erwartete man auch nichts anderes. Bei Keiji auch nicht, schlussendlich, und er erfüllte die Erwartung. Noch. Letztes Jahr hatte er geheult, als es vorbeigewesen war. Nachdem der Rest des Teams schon längst weg war, war es einfach aus ihm herausgebrochen. Letztes Jahr war es aber auch ultimativ schlimmer gewesen. Das letzte gemeinsame Spiel mit Bokuto gespielt zu haben war ein grausames Gefühl, von dem Keiji dankbar war, dass er es nie wieder fühlen musste. Jetzt hatte er eine Zukunft vor sich, die er an Bokutos Seite verbringen konnte, ohne größere Unterbrechungen zu erleben. Vermutlich würde heute er gar keine Tränen vergießen.   „Agaaaashiiiiiiiiiiiiiiii!!!“   Er musste es auch gar nicht. Unwillkürlich schmunzelte Keiji, als er Bokuto auf sich zulaufen sah, völlig verrotzt von seinen Tränen. Mit viel zu viel Wucht warf der Kerl sich ihm an den Hals und umarmte ihn mit knochenbrecherischer Intensität. „Agaashiiiii, du musst nicht weinen!“ – „Ich weine nicht, Bokuto-San. Du bist es, der heult.“ Bokuto antwortete nur mit einem lauten, herzzerreißenden Heulen, das in Keiji unwillkürlich die Assoziation einer sterbenden Seekuh auslöste. Eher ungelenk tätschelte er dem anderen den Rücken, ein wenig überfordert mit dem Theater. Andererseits war es unglaublich liebenswert, dass Bokuto immer noch Tränen für dieses Team vergießen konnte und es machte Keiji auf eine verdrehte Art glücklich – sie gehörten immer noch zusammen. Als Freunde. Als Team. Hinter ihm kamen ein paar der anderen Ehemaligen den Gang entlang. Shirofuku sah aus, als hätte sie geweint, doch inzwischen lächelte sie wieder, sah mit gutmütigem, liebevollem Blick zu Bokuto und Keiji hinüber. Sie tätschelte im Vorbeigehen kurz Bokutos Rücken, bevor sie die weinende Suzumeda in die Arme schloss, um sie zu trösten. „Man könnte meinen, ihr hättet verloren“, grüßte Nishiame verschnupft; Komis Gesicht war nass, Konohas Augen verräterisch gerötet. Washio sah aus, als müsste er die Tränen mühevoll zurückhalten, während Anahori genau wie Bokuto immer noch weinte – nur leiser. „Haben wir“, erwiderte Komi lachend. Er nahm seinen Nachfolger in einen festen Schwitzkasten und zerzauste ihm das Haar. Nishiame lachte, bis ein Schluckauf ihn übermannte, „Und außerdem solltet ihr euch schämen, eure Senpai zum Weinen zu bringen! Nächstes Jahr macht ihr das nicht mehr!“   Zu sehen, dass sie nicht die einzigen waren, die unter der Enttäuschung der Niederlage litten, machte es seltsamerweise viel einfacher. Nishiame lachweinte schon wieder, Shimas Tränen trockneten. Onaga schaffte es bei allem Schniefen, eine halbwegs kohärente Unterhaltung mit Washio zu führen. Es wurde besser. Keiji lächelte, verborgen an Bokutos Schulter. Fukuroudani war wirklich das beste Team, das er sich jemals hätte wünschen können.   Er würde sie vermissen, allesamt.   Die Realisation traf unerwartet hart, wie ein Fausthieb in den Magen. Die Tränen flossen schon, bevor Keiji es überhaupt wirklich begriff. Bokuto hingegen realisierte es sofort, packte ihn fester, umarmte ihn, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Keiji klammerte sich an ihn, schluchzend. „Es tut mir Leid, Bokuto-San.“ War er nicht gut genug gewesen? Achtelfinale der Landesmeisterschaft war ein Ziel, das selbst für Fukuroudanis Leistungen hoch war. Er konnte stolz auf sich und sein Team sein, das war ihm bewusst, aber – war das genug? Hatte er seinen Jungs wirklich genug mitgegeben, um im nächsten Jahr genauso bestehen zu können? „Akaashi! Du musst dich nicht entschuldigen! Ihr seid der Wahnsinn!!! Wir sind alle total stolz auf euch!“ Bokuto klang so verheult dabei, dass Keiji erstickt auflachte. Es war albern. Das Lob tat trotzdem unglaublich gut. „Ich wusste doch, dass ihr das könnt! Und nächstes Jahr, wenn wir wieder zusammenspielen, wird sowieso alles besser, Akaashi! Ich bin schließlich der Beste, hey hey hey!!!“ „Das bist du.“ Keiji vermisste es so sehr, an Bokutos Seite zu spielen! Jetzt, wo der Volleyballtraum ausgeträumt war, konnte es ihm nicht mehr schnell genug gehen, bis das Schuljahr sein Ende fand. Auch wenn das bedeutete, viele Freunde und Kameraden hinter sich zu lassen – er wollte es. Sie konnten in Kontakt bleiben. Würden in Kontakt bleiben, ohne Frage. Und er könnte endlich wieder Zeit mit Bokuto verbringen, wie er es wollte. Er konnte sich wieder von ihm nerven und belästigen lassen. Jeden Abend nach dem Training noch eine Extra-Trainingsrunde einlegen, weil Bokuto es so dringend wollte, solange, bis er vor Hunger ganz quengelig wurde, und dann beten, dass sie schnell genug einen Imbiss fanden, um etwas daran zu ändern.   Er konnte es kaum noch erwarten.   Erst aber galt es, sein Team nach Hause zu bekommen. Obwohl er es am Liebsten nicht getan hätte, löste er sich schließlich doch von Bokuto. Rein aus Reflex reichte er ihm ein Taschentuch für sein verheultes Gesicht, ehe er sich selbst eines nahm, um seine Wangen zu trocknen. Bokuto schnäuzte sich herzhaft, warf das Taschentuch auf Nishiames kleinen Berg, ohne auch nur eine Träne getrocknet zu haben und streckte auffordernd die Hand nach mehr aus. Keiji reichte ihm schmunzelnd die restliche Packung. Dass die Gespräche um sie herum plötzlich verstummten, ließ ihn verwirrt den Blick umwenden, während Bokuto noch völlig mit seinen Taschentüchern und seinem Gesicht beschäftigt war. Der Grund für das jähe Schweigen ließ sein Herz eine Sekunde stillstehen und alle guten Gefühle, die eben noch dagewesen waren, verpufften, um nur noch Sorge und Ärger zurückzulassen. Warai hatte sich nicht verändert, seit Keiji ihn vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte, und das war nichts Positives. Ehe er den Mund hätte aufmachen können, hatte sich Nishiame vor den Rest der Gruppe geschoben. Obwohl er einen Kopf kleiner war als der Mann, sah er stur und ohne jeden Funken Angst oder Respekt zu ihm auf, ablehnend funkelnd. Ein seltener Ausdruck. „Warai-San.“ Er war einer der wenigen Menschen, die in ihrem Leben keinen Spitznamen von Nishiame bekommen hatten, dabei hatte Nishiame ihn nicht einmal allzu intensiv kennengelernt. Die eine Begegnung beim letztjährigen Schulfest hatte gereicht, um die Meinung des Jungen über den ehemaligen Spieler von Fukuroudani sehr negativ zu prägen. „Guckt nicht so. Ich wollte nur gratulieren, dass ihr so weit gekommen seid.“ „Das ist aber nett von dir, hey hey hey!“ Keiji wünschte sich wirklich, Bokuto würde manchmal einfach den Mund halten. Er presste unwillig die Lippen aufeinander, sah, wie Nishiame sich anspannte, als wäre er kurz davor, auf Warai loszugehen – nicht, dass der kleine Kerl viel ausrichten könnte. Der Mann grinste nur, offensichtlich amüsiert. Auf Krawall gebürstet. Er wollte provozieren, Ärger machen. Keiji hoffte, dass es bald vorbei war.   „Och. Es ist eigentlich kein Wunder, dass ihr besser geworden seid ohne diesen Versager Bokuto. Ihr seid doch sicher froh, dass er weg ist, huh? Wären wir nicht mit diesem hirnlosen Idioten geschlagen gewesen, hätten wir vermutlich das Halbfinale–“ Ein Schlag. Keiji blinzelte, nicht begreifend, was gerade passiert war. Plötzlich stand Kurowa vor ihm, schwer atmend, die Hände zu Fäusten geballt, und Warais Nase blutete, er sah entgeistert auf den Erstklässler hinunter. „Halt die Schnauze, du Pisser“, zischte der Junge gefährlich leise. „Ihr habt nen Scheiß geschafft, und ihr habt nichtmal nen guten Spieler erkannt, als er euch auf der Nase rumgetanzt ist, also Fresse.“ Warai wischte sich hasserfüllt schnaubend das Blut vom Gesicht. Er spuckte Kurowa vor die Füße, vor sich hinmurmelnd – „Ich fass es nicht, Bokuto hat nen Wachhund…“ Sehr zu Keijis Erleichterung wandte er sich ab, statt weiter Ärger zu machen. Vermutlich, weil er in der Unterzahl war. Gegen Kurowa mochte er ankommen, aber nicht gegen das gesamte Team Fukuroudani, und ehrlich, in diesem Fall hätte selbst Keiji sich ohne jede Diskussion geprügelt. „Kurorin, das war…“ – „Unerwartet“, ergänzte Minamishima lachend. Er legte Kurowa eine schwere Hand auf die Schulter, während Nishiame aussah, als wäre er hin– und hergerissen zwischen Lob und Tadel. Bokuto blinzelte nur verwirrt, scheinbar nicht ganz begreifend, was gerade passiert war. Er blinzelte noch einmal, dann baute er sich vor Kurowa auf. „Sohn-Kun! Man schlägt keine Älteren.“ Kurowa schnaubte. Es überraschte Keiji, dass seine einzige Reaktion ein schiefes Grinsen war – es war überhaupt das erste Mal, dass er so etwas wie eine positive Regung auf seinem Gesicht sah.   „Souta, nicht Sohn. Ist ähnlich, aber immer noch ein Unterschied. Und der Typ wollte das.“ Bokuto blinzelte eulenhaft. Dann drehte er sich zu Keiji um, puren Unglauben auf dem Gesicht geschrieben, der klar sagte, dass er Kurowa jedes Wort glaubte.   „Akaashiiiii! Hast du das gehört?!“     ***     Dass auch Fukuroudani im Achtelfinale ausschieden, war irgendwie ein Trost. Nicht, dass Chikara nicht zufrieden war. Er hatte sein Ziel erreicht! Er hatte sein Ziel erreicht, und bei allen Tränen, die gerade überall flossen, er war unglaublich stolz auf sich und sein Team. Daichi war stolz, wie er im Sekundentakt beteuerte, Suga plapperte in einer Tour darüber, wie sehr sie sich entwickelt hatten. Ausgerechnet Asahi weinte nicht, weil er viel zu beschäftigt damit war, Nishinoyas Tränen zu trocknen. Es war surreal. Aber Chikara fand es wunderschön und er hätte sich kein schöneres Ende für sein High-School-Abenteuer vorstellen können. Er hatte viele Fehler gemacht. Er war weggelaufen. Er hatte gezweifelt. An sich. An seinem Team. Seinen Freunden. Schlussendlich aber – genau dieser Weg, so voller Fehler er gewesen war, hatte ihn hierher geführt, an den Punkt, an dem Isshiki sich auf seiner Schulter ausheulte, Tanaka von Shimizu mit Taschentüchern und sanften Worten versorgt wurde, die Zwillinge die Rollen getauscht hatten und Tatsuo plötzlich ganz laut heulte, während Osamus Tränen beinahe stumm flossen. Er hätte es wirklich nicht anders gewollt.   „Ennoshitaaaaa~!“   Shida hing auf seinem Rücken, bevor Chikara sich hätte zu ihm umdrehen können. Er lachte, seine Stimme nah an Chikaras Ohr. „Glückwunsch! Ihr seid so verdammt weit gekommen! Ich bin total neidisch!“ Immerhin, im Gegensatz zu Nishinoya, ließ er freiwillig wieder von Chikara ab, bevor es nervig wurde. Er zog ihn an der Schulter herum und strahlte, obwohl seine Augen immer noch rot von Tränen waren. Nekoma hatte schon seit einer ganzen Weile Feierabend. Wie lange hatte er geheult? „Sag nicht, du hast extra auf uns gewartet?“ Shida lacht laut, grinste breit. „Nicht nur ich!“ Ein Wink in die richtige Richtung ließ auch Chikara bemerken, dass ganz Nekoma herangetrottet kamen. Er sah lachende Gesichter, die teilweise noch tränenverschmiert waren, und Yamamoto, der heulte, während er nach ihnen rief und winkte wie ein Wilder. „Niemand wollte verpassen, was aus unseren Rivalen wird“, erzählte er unbekümmert weiter, „Und es war definitiv die richtige Entscheidung, zu bleiben! Ihr seid einfach irre! Hat sich gelohnt, deinen Mut wiederzufinden, huh?“ Chikara grinste flüchtig. Er hatte den Button immer noch.   „Das erinnert mich daran, dass ich auch noch etwas für dich habe.“ – „Eeeeecht? Was? Erzähl! Sag nicht, dass du mir ein Hirn besorgt hast!“ Es war beinahe frustrierend, dass Shida richtig riet. Chikara lachte, während er an das Diplom dachte, das er für seinen Freund formuliert hatte, das zuhause auf seinem Schreibtisch lag, sauber ausgedruckt und hübsch unterschrieben. Ein Diplom darüber, dass Shida der dümmste, verrückteste Idiot auf Erden war, denn ehrlich – er fand keinen Grund, ihm Verstand zu zertifizieren! Er hatte offensichtlich keinen, sonst käme er nicht auf so alberne Ideen! Auch wenn sie funktionierten. „Ennoshita~! Gib schon her mit dem Ding!“ Hätte er es dabei, würde er.   Andererseits…   Er grinste breit, eine Spur verlegen. „Komm mit?“ Shida kam mit, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern. Er rief seinem Team zu, dass er jetzt sein Hirn suchen ging, und lachte nur, weil ihre Blicke der Reihe weg unglaublich entgeistert waren. Leider trafen die entgeisterten Blicke auch Chikara, der das nicht ganz so lustig fand und peinlich berührt grinste. Er verabschiedete sich ebenfalls, dann winkte er Shida, ihm zu folgen. Chikara kannte sich hier nicht aus. Das war Tokyo, und er war vielleicht drei Mal in der Gegend gewesen, aber es konnte nicht so schwer sein, einen halbwegs ruhigen Fleck Welt zu finden, nicht wahr? Es war nicht einmal weit entfernt von der Halle, dass er ein kleines Seitensträßchen fand, das friedlich und ruhig im Licht der Straßenlaternen lag. Bis es wieder spät genug dunkel wurde, dass man nicht schon gewissermaßen nach dem Mittagessen im Dunkeln stand, würde es noch dauern. Es war kalt, ihr Atem stieg in weißen Wölkchen auf. Wahrscheinlich würde es schneien. Zumindest in Miyagi schneite es, das wusste Chikara, weil Hinatas Schwester dem kleinen Springteufel eine sehr aufgeregte Nachricht geschickt hatte, dass er einen Schneemann mit ihr bauen musste, wenn er wieder zuhause war. Unter einer Laterne blieben sie stehen. Shidas Hände steckten in den Taschen seiner Jacke, seine Nase war rot vor Kälte. Er grinste breit. „Also. Du hast mein Hirn?“ Chikara lachte amüsiert. Es war so wahnsinnig. Aber er musste den Mut nutzen, den er gefunden hatte, nicht wahr? „Nicht ganz.“   Die einzige Antwort auf Shidas fragenden Blick war ein Kuss.     ***     „Wakatoshi-Kun~! Dein neuer Zimmernachbar ist daaaaaaaaaaa!“   Tendou war zu laut. Kenjirou verzog unwillig das Gesicht, bemühte sich gleichzeitig aber darum, dem Kerl mit dem wilden, weinroten Haarschopf keinen weiteren Grund zu geben, ihn demonstrativ wissend anzugrinsen. Er grinste sowieso schon viel zu penetrant, wie er da im Eingangsbereich der winzigen Studentenbude stand, jeden weiteren Weg mit seinen langen Gliedmaßen versperrend. Strenggenommen war Kenjirou noch gar nichts. Er war an der Universität angenommen, aber das war auch alles. Davon ab hatte er immer noch gut einen Monat Schule vor sich, ehe er von zuhause ausziehen würde. In diese winzige Studentenbude, von der er gerade nicht mehr sah als den winzigen Flur, der mit Postern und Zeitungsartikeln über Volleyball genauso zugepflastert war wie mit peinlichen Anime-Postern, die zweifelsohne Tendou gehörten. Das nächste Mal, das er herkam, würden die Poster verschwunden sein.   „Ist das wirklich okay?“ Tendou lachte. Er klopfte Kenjirou viel zu kumpelhaft auf die Schulter, ließ den Arm dann einfach auf ihm liegen, als wäre er eine bequeme Armstütze. In Tendous Augen war er das augenscheinlich auch. „Klar doch, Kenjirou! Ich würde mich niemals zwischen dich und Wakatoshi-Kun stellen! Außerdem wird’s höchste Zeit, dass ich mir mein eigenes Reich suche~ Ich kann schließlich niemals ein hübsches Mädchen einladen, solange Wakatoshi-Kun daneben sitzt!“ Was so vermutlich nicht stimmte, aber – Kenjirou würde es nicht infrage stellen. Er war dankbar darum, auch wenn er im Zweifelsfall sowieso ein Zimmer gefunden hätte. Yahaba wollte auch herkommen, sie hätten teilen können. Sie hatten sogar darüber gesprochen, bevor Tendou völlig aus dem Nichts heraus angerufen hatte und verkündete, dass Ushijima einen neuen Zimmernachbarn brauchte, weil er ausziehen wollte. Er wollte nicht näher darüber nachdenken, aber Kenjirou fragte sich, wie viel davon wirklich Tendous Auszugswille war, und wie viel eine verdrehte Form von Freundschaftsdienst. Bei dem Kerl konnte man nie so ganz sicher sein. Kopfschüttelnd schob er den Gedanken beiseite. Eine Tür öffnete sich, und Ushijima trat aus dem Raum dahinter, vertraut und so riesig, dass er den ganzen Türrahmen auszufüllen schien. Tendou gackerte, über einen Witz, den nur er verstand. „Ich lass euch dann mal alleine~! Wollte eh noch shoppen gehen, da sind neue Mangas, die ich brauche!“   Und weg war er. Einfach so.   Irgendwann würde er einfach so weg sein und nicht mehr wiederkommen. In ungefähr einem Monat. „Du bist hier.“ Ushijima riss ihn zurück ins Hier und Jetzt. Kenjirou nickte. „Ich bin hier, Ushijima-San.“ Er war hier, wie er immer da gewesen war, weil er sich nichts Wichtigeres in seinem Leben vorstellen konnte, als an Ushijimas Seite zu sein und zu spielen. Nachdem er schon die High School nur wegen ihm ausgesucht hatte, war es für ihn selbstverständlich gewesen, ihm auch zur  Universität zu folgen. Kenjirou wäre ihm überallhin gefolgt, und wenn es in den hinterletzten Nachbarschaftsverein gewesen wäre. Ushijimas Hand war schwer auf seiner Schulter, groß, und die Berührung war so unerwartet, dass Kenjirou der Atem stockte. Er schluckte, öffnete den Mund, weil er etwas sagen wollte, ohne zu wissen, was denn eigentlich. Schüttelte dann den Kopf, unfähig, Worte zu finden. Ushijima sah ihn alldieweil unverwandt an, die grünen Augen unleserlich wie immer, aber für dieses eine Mal beinahe warm wirkend.   „Du hältst dein Versprechen.“   Kenjirous Mundwinkel zuckten. Er hob die Hand, um sie auf Ushijimas Pranke auf seiner Schulter zu legen. Sie fühlte sich warm und sicher an unter der Berührung.   „Immer.“     ***     Als sein Handy klingelte, frönte Tooru seiner neuen Lieblingsbeschäftigung – er lag auf dem Sofa, hatte den Kopf auf Iwa-Chans Schoß gebettet und las in seinen Lehrbüchern. Iwa-Chan war selbst am Lernen, aber er zog es vor, es in einer ordentlichen Haltung und mit einer ordentlichen Unterlage zu tun. Tooru war das nur recht, solange das bedeutete, dass er ein Kopfkissen bekam, und ab und zu eine Hand, die unzufrieden an seinen Haaren zupfte, während Iwa-Chan über einem besonders komplizierten Lernabschnitt brütete. Eigentlich wollte er gar nicht drangehen. Warum sollte er auch? Wenn es wichtig war, konnte wer auch immer ja zurückrufen! Er war gerade beschäftigt, ganz genau. Sehr wichtig beschäftigt, immerhin war es für einen Student elementar, zu lernen. „Tooru“, brummte Iwa-Chan genervt. Finger zupften mahnend an seinem Haar. Noch ziepte es nicht, aber Tooru wusste, dass sich das schnell änderte, wenn sein Freund allzu grimmig wurde. „Aber Iwa-Chan…“ – „Nein.“ Mit einem theatralischen Seufzen rollte Tooru sich zur Seite, um das Handy vom Sofatisch angeln zu können. Die Anzeige auf dem Display verkündete, dass sein ungebetener Störenfried ausgerechnet Yahaba war. Er war sich sicher, dass Yahaba die Nummer, seit sie sie im letzten Jahr zu Trainingskommunikationszwecken ausgetauscht hatten, noch nicht ein einziges Mal benutzt hatte. Das war… ungewöhnlich. Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm er den Anruf an, weil da schon wieder Finger an seinem Haar zogen.   „Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich beim Lernen zu stören, Yahaba!“ „Habe ich.“ Tooru glaubte das nicht. Er blies beleidigt die Wangen auf, eine Geste, die Iwa-Chan über ihm leise lachen ließ. Er murmelte Fishykawa in sich hinein und kassierte dafür einen beleidigten Schlag gegen den Oberschenkel, der ihn keinen Deut störte. Pah. Blöder Iwa-Chan mit seinen blöden Muskeln. „Erzähl. Und mach schnell, ich muss lernen!“ Es war nicht einmal gelogen. Er musste lernen, damit er am Abend ins Kino gehen konnte, um den neuesten Sci-Fi-Film zu sehen, der gerade erst angelaufen war. Iwa-Chan war natürlich rasend begeistert, aber das störte Tooru nicht im Geringsten. Er sollte lieber wertschätzen, dass sie ein Date hatten! Kaum ein Pärchen in Toorus Bekanntenkreis, das zusammenlebte, hatte noch Dates, also sollte Iwa-Chan gefälligst dankbar sein! Das war etwas Besonderes, auch wenn es nur eine Ausrede dafür war, dass er sich den Film mit Tooru ansah. Es funktionierte immerhin.   „Wir haben da etwas geplant…“   Es war wie ein Déjà-vu. Tooru setzte sich langsam auf, die Augen groß, die Lippen zu einem breiten, ein  bisschen wehmütigen Lächeln verzogen. Es stand außer Diskussion, dass er mit dabei war, und genau das gab er auch an Yahaba weiter, kaum, dass er fertig war mit Erzählen. Ein Trainingscamp. Von den Jungs ausgerichtet als Revanche für die Aktion vom Schuljahresanfang, die Suga in die Wege geleitet hatte. Noch eine Gelegenheit für dumme Übernachtungspartys und Spiele in einem Team, das nur aus brillanten Idioten bestand. Tooru war begeistert. Er strahlte breit zu Iwa-Chan hinüber, dessen Stirnrunzeln verkündete, dass er nicht begeistert war von dem, was er da sah und hörte. Natürlich war er nicht begeistert, denn ein begeisterter Tooru bedeutete in der Regel Ärger für ihn – und damit umso mehr Spaß für Tooru. Und es wäre wirklich nett, Bokkun und Kurocchi wiederzusehen. Und die Anderen. Sogar Suga, obwohl der Tooru immer noch unangenehm war. Auf Ushiwaka konnte er verzichten, aber… auch das war dieses Mal okay. Er hatte jemand besseren. „Übrigens“, begann er grinsend. Er warf Iwa-Chan einen Luftkuss zu, der seine missmutigen Falten ein bisschen glättete. Zufrieden legte er die Beine auf Iwa-Chans Schoß ab und lehnte sich zurück gegen die Armlehne des Sofas. Mit einem Seufzen verfrachtete sein Freund sein Buch auf den Tisch – er hatte längst begriffen, dass hier jetzt erst einmal nicht mehr gepaukt wurde. Es gab schließlich etwas viel wichtigeres zu planen! Dieses Mal würde Iwa-Chan nicht fehlen.   „Ich kann noch jemanden mitbringen.“ Epilog: -------- Am Schuleingang klebte ein Zettel – Wir sind in der Sporthalle. Nachdem er sich im Clubraum umgezogen hatte, folgte Tetsurou dem netten Hinweis und trottete zur Sporthalle hinüber. Er war zu spät, weswegen er nicht glaubte, dass noch jemand nach ihm kommen würde. Er war tatsächlich der Letzte, das zeigte sich schnell, als er den Kopf in die Halle steckte. Noch schien das Training nicht begonnen zu haben, stattdessen standen überall kleine Grüppchen beisammen und tuschelten miteinander. Er rief einen kurzen Gruß in die Runde, winkte Kenma, und schloss dann zu Bokuto auf, der ihn mit lautstarken Rufen von seinem Platz neben Oikawa aus begrüßte. Neben den beiden Nervensägen stand ein sichtlich genervter Iwaizumi, dessen Blick irgendwo zwischen verzweifelt und hoffnungsvoll zu Tetsurou wanderte. Tja, zu schade, dass Tetsurou sich nicht halb so leidend fühlte. Er grinste ganz im Gegenteil breit, während er Bokuto überschwänglich begrüßte. Iwaizumi dämmerte schnell genug, dass seine furchtbare Lage gerade noch schlimmer geworden war und sein Blick verfinsterte sich noch mehr. Es war wunderbar. Es war gut, dass Oikawa den Typen mit angeschleppt hatte.   Als er fertig damit war, an Iwaizumis geistiger Gesundheit zu nagen, bemerkte Tetsurou, dass sich die kleinen Grüppchen von vorhin zerstreut hatten. Die Teams hatten wieder zueinander gefunden, bis auf einige Spieler, die in der Mitte der Halle geblieben waren. Ein paar Karasunos, unter anderem der Chibi, dazu einer von Seijohs Mittelblockern, Shiratorizawas Außenangreifer mit dem unvorteilhaften Pottschnitt. Fukuroudanis Ass, Yamamoto, Lev. Es dauerte einen viel zu langen Moment, bis Tetsurou sich daran erinnerte, dass er hier vor dem Best-of-Team stand, das die Jungs bei ihrem letzten gemeinsamen Trainingscamp zusammengestellt hatten. Es hatte so gnadenlos verloren, wieso hätte er es sich auch besser merken sollen? Trotz allem Verlieren sahen die Jungs heute aber alles andere als niedergeschlagen aus. Selbstsicherheit sprach aus den Gesichtern jedes Einzelnen, ihr Grinsen beinahe gefährlich. Tetsurou konnte nicht anders, als selbst zu grinsen. „Oya oya~ Was haben wir denn da?“ Was sie da hatten, erklärte sich relativ schnell von selbst: Nach einer kurzen, schweigenden Konversation, die aus Blicken und knappen Gesten bestand, setzte sich das andere Team beinahe im Gleichschritt in Bewegung.   Ob sie das geübt hatten?   Ein paar Schritte vor Tetsurou und den anderen Ehemaligen blieben sie stehen, die Schultern gestrafft, die Hände zu Fäusten geballt. Alles war still. Die anderen Spieler ihrer jeweiligen Teams standen in ihren Teamgrüppchen beisammen und beobachteten das Geschehen aus Argusaugen, ohne auch nur noch einmal mit der Wimper zu zucken. Es war offensichtlich, worauf das hier hinauslief, aber das machte es nicht weniger aufregend. Tetsurou war nicht der einzige, der so dachte – Oikawa grinste wild, Bokuto grinste noch wilder. Selbst Ushiwaka schien irgendwie vorfreudig, auch wenn Tetsurou immer noch nicht wusste, ob da nicht einfach nur sein Wunschdenken am Werk war. Aber irgendetwas an mimischem Ausdruck musste der Kerl doch haben, nicht wahr? Sein Blick kehrte zu den sieben Jungs vor ihrer Nase zurück, gerade in dem Moment, in dem ausgerechnet Lev vortrat, ein angriffslustiges, selbstbewusstes Funkeln in den Augen, ein breites, gefährliches Grinsen im Gesicht. Er sah erwachsen aus, verglichen mit dem braven Babyface, das Anfang letzten Schuljahres nicht einmal gewusst hatte, wie man einen Volleyball hielt. Er klang auch erwachsen.   „Wir fordern euch heraus.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)