Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 16: ------------ Er wusste, er sollte Mitleid haben. Satori hatte aber wirklich große Mühe, Mitleid zu haben, während er beobachtete, wie Wakatoshi vor sich hinbrütend dasaß und Löcher in die Luft stierte. Wenn er ehrlich war, dann fand er es seltsam unterhaltend. Wakatoshi verlor nicht. Das war so eine Art von Grundgesetz. Wakatoshi verlor noch weniger aus so dummen Gründen wie dem, dass sein Zuspieler sich verletzte. Wahrscheinlich war Wakatoshi nicht einmal auf die Idee gekommen, dass so etwas passieren konnte. Kenjirou hatte ihn viel zu sehr verwöhnt. „Weißt du“, singsangte Satori unbekümmert, während er interessiert durch seinen neuesten Manga blätterte, ohne wirklich etwas zu lesen, „du kannst doch nicht erwarten, wieder jemanden wie Kenjirou zu finden. Sowas ist einmalig.“ Einmalig dumm, wenn man Satori fragte. So sehr er Wakatoshi schätzte, er würde ehrlich nie verstehen, wie Tsutomu und Kenjirou so unglaublich hingerissen von ihm sein konnten. Er linste über die Seiten seines Mangas hinweg zu seinem Freund hinüber, der sich jedoch keinen Millimeter bewegt hatte seit seinem Kommentar. Wie langweilig. „Es hat nichts damit zu tun“, gab er monoton zurück. Natürlich hatte es nichts damit zu tun. Oikawa war einfach für sich allein stehend schlecht, und sicher störte es Wakatoshi auch überhaupt nicht, dass er bei Oikawa nie die erste Priorität gewesen war, und dass sein neuer Zuspieler auch nicht viel besser war, was das anbelangte. Sicher verglich er das nicht unbewusst mit Kenjirous beinahe fanatischer Treue. Sicher waren seine Erwartungen an einen guten Zuspieler auch nicht total davon beeinflusst.   Irgendwie war es echt hart, dass Wakatoshi das nicht einmal merkte.   „Oikawa hat einfach gezeigt, dass er unfähig ist, dieses Team zu unterstützen.“ „Und der neue Zuspieler ist dir auch nicht gut genug.“ – „Er ist schlecht.“ Wenn er es bis in die Startaufstellung schaffte, war er sicherlich nicht schlecht. Satori schnaubte gutmütig. „Schlecht schlecht oder eher so Eita-schlecht?“ Jetzt sah Wakatoshi ihn doch an, in einem Anflug von Irritation und Verwirrung. „Semi war nie schlecht“, erwiderte er stumpf. Satori lachte herzlich. Er legte den Manga zur Seite, weil er sich gerade eh nicht darauf konzentrieren konnte, und rollte dann samt Bürostuhl zu Wakatoshi hinüber. Belehrend hob er einen langen Zeigefinger. Wakatoshi ignorierte die Geste, und nur deshalb wagte er sie überhaupt. „Du weißt, was ich meine~ Er war dir auch nie gut genug, obwohl er großartig ist. Ist dein neuer Zuspieler auch von der Sorte?“ Satori war sich nicht einmal sicher, ob Wakatoshi ihm überhaupt antworten würde. Einen langen Moment sah der andere ihn einfach nur schweigend an, sein Blick nichtssagend und auch nicht sonderlich interessiert, dann zuckte er schließlich mit den Schultern. „In jedem Fall ist er schlecht genug, dass wir verloren haben.“ Und so, wie Wakatoshi klang, würde er das dem armen Tropf noch lange nachtragen. Satori schüttelte den Kopf. Er lehnte sich schwungvoll zurück, ließ sich mit dem Schwung der Bewegung wieder ein Stück nach hinten rollen und grinste sonnig. Er wollte wirklich nicht in der Haut von diesem Kerl stecken! In Oikawas Haut auch nicht. Wakatoshis Missfallen zu erregen war lebensmüde, wenn man nicht gerade Karasunos Chibi war. „Nächstes Jahr wird’s sicher wieder besser.“ Nächstes Jahr hatte sich der arme neue Zuspieler sicher schon an Wakatoshis Macken gewöhnt. Dass Oikawa seinen Platz zurückbekam, war für Satori ganz ausgeschlossen; es war klar, dass Wakatoshi einfach eine höhere Priorität hatte als Seijohs ehemaliger Captain, und damit tanzte das Team natürlich eher nach seiner Pfeife. Und so angefressen, wie Wakatoshi war, wollte er Oikawa sicher nie wieder an seiner Seite wissen.   „Wird es. Nächstes Jahr haben wir einen sinnvollen Zuspieler.“   Die schiere Überzeugung, mit der Wakatoshi seine Worte vorbrachte, ließ Satori halb amüsiert, halb hilflos lachen. Er warf resignierend die Hände in die Luft. Ade, Zuspieler-Kun~ Das würde wohl sein erstes und letztes offizielles Turnier an Wakatoshis Seite gewesen sein. Satori hatte ehrlich Mitleid mit dem Kerl, jetzt noch mehr als vorher, gleichzeitig hatte er aber einfach ganz andere Prioritäten, als dass er sich allzu lange an dem Gedanken aufhalten würde. Sollte er beleidigt sein, dass er es bisher nicht gewusst hatte? Er war Wakatoshis bester Freund! Er hatte alles zu wissen, inklusive der Farbe seiner Unterwäsche!   Und ehrlich, er musste sich doch gebührend freuen, dass Kenjirou vorhatte, auf ihre Uni zu kommen!     ***     Obwohl das Schuljahr gerade erst zur Hälfte vorbei war, war es das letzte Trainingscamp, das das Jahr bringen würde. Je weiter es voranschritt, desto mehr waren sie mit Lernen und Prüfungen beschäftigt, desto weniger Zeit blieb, um ganze Wochenenden außer Haus zu verbringen. Es war einerseits seltsam deprimierend, vor allem, wo es nicht nur das letzte Camp des Jahres sein würde für Keiji, sondern das letzte Camp überhaupt, doch gleichzeitig empfand er Erleichterung bei dem Gedanken. Weniger Zeit zum Trainieren, weil sie mehr Zeit zum Lernen einplanten, bedeutete in Maßen auch, dass er mehr Zeit für Bokuto hatte. Natürlich kümmerte er sich gewissenhaft um seine Schularbeiten, das stand außer Frage. Allerdings war es nicht, als plante er, Bestnoten zu erzielen. Er wollte einen Standard halten, der gerade zu viel Zeit fraß, aber er würde nicht noch mehr lernen, nur weil er durch weniger Training auf einmal mehr Zeit dafür hatte. Er würde diese Zeit, ohne jeden Kompromiss, mit Bokuto verbringen, und wenn es nur eine Stunde pro Wochenende war, die dafür abfiel.   Er versuchte es auch jetzt schon wirklich. Ließ inzwischen ab und zu das Training eine Stunde früher hinter sich, um abends noch mit Bokuto in irgendeinem kleinen Imbiss Essen zu gehen. Nahm sich sogar ganz selten einen Tag frei, wie zu den Vorrunden der Intercollegiate, um den Spielen beizuwohnen. Auch wenn niemand ihn dafür kritisierte, fühlte Keiji sich nicht wohl damit, seine Pflichten so sehr zu vernachlässigen für sein Privatleben, entsprechend war er froh darum, wenn er sich nicht mehr zwischen Training und Bokuto entscheiden musste.   Bis dahin allerdings hatte er wohl keine andere Wahl, als weiter zu ertragen, dass Bokuto einfach nicht zufrieden war.   „Das ist schon das zweite Wochenende in Folge, Akaashiiiiiiii!“, jammerte er viel zu laut durchs Telefon. Es war Samstagabend, der Tag war lang und ermüdend gewesen, das Training noch härter als sonst, weil jeder scheinbar der Maxime folgte, er müsste das Beste aus diesem Trainingscamp machen, und eigentlich hatte Keiji längst keinen Nerv mehr für solche Diskussionen. „Nächstes Wochenende bin ich da, Bokuto-San.“ – „Aber Akaashi, ich wollte dich heute sehen!“ Natürlich wollte Bokuto das. Wenn es danach ging, wollte er es täglich und noch öfter. Noch ein halbes Jahr, bis die Schule vorbei war. Es musste doch möglich sein, diese Zeit zu überbrücken, ohne, dass sie sich ins Unglück stürzten, oder? „Wieso machst du nicht etwas anderes, Bokuto-San? Hat Komi-San Zeit, um einen Film anzusehen?“ Bokuto schwieg einen Moment, der lang genug war, dass Keiji schon ahnte, dass er im Endeffekt etwas Falsches gesagt hatte. Abwesend beobachtete er, wie Nishiame und Minamishima die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen. Weil sie immer wieder in seine Richtung sahen, war er sich recht sicher, dass sie über ihn sprachen. Seit der Libero ihn einmal spontan aus dem Training geworfen hatte, um Bokuto aufzusuchen, hatten die Beiden es sich zur Aufgabe gemacht, über sein Beziehungsleben zu wachen. Es war nicht das einzige Mal geblieben, dass sie ihn einfach herumschubsten, wie sie es für richtig hielten. Keiji war dankbar für ihre Unterstützung. Auch wenn sie es manchmal zu gut meinten. „Komi hat ein Date“, meckerte Bokuto schließlich wieder in einem Tonfall, der sowohl beleidigt wie auch vorwurfsvoll klang – und ich habe keines. Weil du nicht da bist, Akaashi. „Er wollte mir nicht einmal sagen, mit wem!“ Dass Bokuto sich jetzt spontan an der ganzen Sache so sehr aufhängte, dass er aus dem Meckern und Zetern nicht mehr heraus kam, war seltsam beruhigend – es brachte ihn auf andere Gedanken. Keiji hörte ihm mehr oder weniger aufmerksam zu, während er versuchte, Komis ominöses Date zu entschlüsseln, denn immerhin war es doch unmöglich, dass es Konoha war, auch wenn die schon einmal ein Date gehabt hatten, immerhin war das Konoha, und jeder wusste, wie unfähig er war. Keiji wusste es besser, aber er sparte sich – mehr um Konohas Willen als ihm selbst wegen – jede Korrektur von Bokutos Annahme.   Nishiame sprang von seinem Platz auf. Er zwitscherte Minamishima noch fröhlich etwas zu, ehe er in die kleine Runde an im Schlafraum verbliebenen Teammitgliedern winkte und dann aus dem Zimmer wuselte. Keiji warf einen fragenden Blick zu seinem Vize-Captain hinüber, der mit einem Schulterzucken und einem gutmütigen Lächeln antwortete. „Geheimes Libero-Treffen“, erklärte er, leise genug, dass es durch die Leitung nicht zu hören sein dürfte. Ein Treffen, an dem gerade einmal die Hälfte der anwesenden Liberos teilnahm, als Libero-Treffen zu benennen, war vielleicht etwas großzügig, aber hey. Keiji war froh, dass sein Team überall so problemlos Anschluss fand, und er würde sich niemals darüber beschweren. Inzwischen ebbte Bokutos Redeschwall wieder ab. Keiji seufzte stumm, weil er zu dem Thema nichts beizutragen hatte. Womöglich würde er es bereuen, das überhaupt in den Raum zu werfen, aber er wollte nicht, dass Bokuto den Rest des Abends damit zubrachte, zu jammern, zu zetern, und am Ende dann Komi zu belästigen, bis der ihm haarklein von seinem Date erzählte. „Was ist mit Kuroo-San?“ Dass Bokuto daran noch gar nicht gedacht hatte, wurde schnell offensichtlich. „Akaashiiiiiiiiiiiiiiiii!!! Ich frag ihn sofort!!!“   Jeder andere wäre wohl beleidigt gewesen, weil Bokuto einfach auflegte. Keiji war nicht beleidigt. Er war froh, dass sein Freund etwas anderes zu tun gefunden hatte, als unglücklich zu sein. Er sah kurz auf sein Handy hinunter. Wehe, du hast keine Zeit, Kuroo-San.     ***     Yuuki mochte das Ritual, sich abends nach dem Training vor der Welt zu verstecken und hier in der Sporthalle auf der großen Turnmatte zu verschanzen, um einfach nur noch zu reden – über alles, nur nicht über den Sport. Er hatte das Gefühl, dass es den Leistungsdruck des Trainingscamps ein wenig nahm, so unkompliziert auf andere Gedanken kommen zu können, und außerdem hatten sie eben einfach noch echt viel zu besprechen! Levs neuester Zusammenstoß mit Yaku war zum Beispiel unglaublich interessant. Yuuki konnte kaum glauben, was er hörte, während sein Freund stolz erzählte, dass Yaku sich tatsächlich auf ein Date einlassen wollte – wenn Lev es denn schaffte, das Ass zu werden. Die Geschichte hatte Yuuki zwar schon öfter gehört, aber trotzdem war er immer noch völlig verblüfft und begeistert davon, und es machte ihm überhaupt nichts aus, dass Lev es wieder erzählte. Außerdem mussten sie Takuya doch auf den aktuellen Stand der Dinge bringen! Der sah übrigens auch ausgesprochen begeistert aus, hörte grinsend zu. Als Lev schließlich fertig war, klopfte er ihm zufrieden auf die Schulter. „Gut gemacht, Kumpel! Ich hab doch gesagt, die neue Frisur wirkt Wunder!“ – „Hey! Yuuki und ich haben auch geholfen!“, protestierte Sou lachend. Lev grinste großspurig. „Es hätte aber alles nicht geholfen, wenn ich nicht sowieso schon großartig wäre“, gab er völlig überzeugt zurück. Yuuki lachte sanft auf, während Takuya sich auf den Halbrussen stürzte, um seine sorgfältig gestylte Frisur zu ruinieren. Sou sah einen Moment lang so aus, als wollte er lieber mitmachen, dann übermannte ihn aber doch die Vernunft und er zog die beiden Chaoten lieber wieder auseinander.   Eine Weile drehte sich ihr Gespräch nur noch um Yaku. Sie versuchten, zu überlegen, wohin Lev ihn einladen konnte, damit das Date, das er ganz sicherlich bekommen würde, ein Erfolg werden würde. Weil jeder von ihnen komplett anderer Meinung war, war es schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, aber Yuuki hatte nicht den Eindruck, dass es störte. Brainstorming und Ideensammeln war schließlich auch weit davon entfernt, verkehrt zu sein, und irgendetwas würde schon dabei sein. Was konnte man denn falsch machen mit den üblichen Sachen wie Essengehen und Kino? Gut, klar, man konnte den falschen Film erwischen, oder eine kulinarische Stilrichtung, die nicht zusagte, aber wenn man ein bisschen aufpasste und vorher miteinander kommunizierte, war das auch machbar! Wenn Lev die Hürde überwand, überhaupt ein Date zu bekommen, konnte er auch die Hürde überwinden, dieses Date nicht in einer Pleite enden zu lassen, ganz gleich, was er am Ende tatsächlich machen wollte. Takuya erzählte von seiner Freundin, die er schon seit der Mittelschule hatte, als das Thema Yaku irgendwann doch über wurde. Es machte Yuuki beinahe ein bisschen neidisch, zu hören, wie wunderbar und perfekt die beiden zusammen waren, und gleichzeitig freute er sich aber riesig für seinen Freund. Es war doch beeindruckend, dass sie schon so lange zusammen waren! Und immer noch zusammenbleiben wollten. So richtig konnte Yuuki sich das gar nicht vorstellen für sich selbst – war es nicht normal, dass man in seiner Jugend keine super langanhaltenden Beziehungen hatte? Andererseits war der Gedanke viel zu deprimierend. Nein. Es gab sicher genug Ausnahmen! Und er hoffte, dass nicht nur Takuya eine war, sondern schlussendlich auch Lev. „Man könnte ja fast neidisch werden“, kommentierte Lev grinsend die Erzählung, „Aber meine Beziehung wird mindestens genauso gut.“ Es war beruhigend, wie unbeirrbar er war. Takuya lachte herzlich, schüttelte amüsiert den Kopf. „Dann können Sou und Yuuki trotzdem neidisch sein! Die haben doch keine umwerfende Beziehung in Aussicht!“   Es stimmte. Yuuki öffnete empört den Mund, um zu widersprechen, aber jeder Laut ging in Sous schallendem Gelächter unter. Sein Freund legte ihm einen schweren Arm um die Schultern und strahlte breit vor sich hin. „Warum soll ich neidisch sein? Ich hab Yuuki!“ Was etwas völlig anderes war – Yuuki protestierte trotzdem nicht. Er grinste nur, verlegener, als er sich eingestehen wollte, und versuchte, sich nicht allzu viel aus dem fröhlichen Hüpfer seines Herzens zu machen. Er sah, wie Takuya fragend die Augenbrauen hob, doch statt die ungestellte Frage an sie zu richten, wandte er sich Lev zu, der seinerseits wissend grinste und die Schultern zuckte. Es war, als teilten sie ein Geheimnis, das Yuuki eigentlich kennen sollte, und trotzdem einfach nicht begriff. Immerhin begriff Sou es auch nicht. Es war ein schwacher Trost, aber es war ein Trost.   „Na, genug Liebesdramen! Habt ihr demnächst mal ein Wochenende Zeit? Jetzt, wo die Trainingscamps enden, müssen wir ja andere Gelegenheiten finden, abzuhängen!“ Nicht, dass sie das nicht ohnehin schon taten, wenn es sich ergab, aber Takuya hatte natürlich völlig recht! „Außerhalb vom Training hab ich immer Zeit“, gab Sou achselzuckend zurück. Er lehnte immer noch schwer auf Yuuki. Es störte überhaupt nicht. „Ich auch.“ „Ich nicht immer. Meine Eltern unternehmen wochenends schon mal etwas, und die meiste Zeit wollen sie, dass Alisa und ich mitkommen.“ „Dann müssen wir unseren Terminplan also nach Lev richten! – Oh, und natürlich nach Imari-Chan! Aber sie hat eigentlich echt viel Zeit und Verständnis, also kann ich auch mal gut ein Wochenende eher bei euch abhängen als bei ihr.“ – „Deine Freundin ist echt cool!“ Obwohl ihre Aussichten gut waren, war es ein bisschen deprimierend. Yuuki fand es schade, dass die Trainingscamp-Saison so kurz war. Er mochte es einfach, den ganzen Tag miteinander zu trainieren, irgendwann todmüde neben seinen Teamkollegen ins Bett zu fallen, und zwischen Training und Schlafengehen noch die Zeit zu nutzen, um über den größten Unfug zu reden und wieder auf andere Gedanken zu kommen. Es gehörte ganz klar mit dazu, wenn er an High-School-Mannschaftssport dachte. Er würde es vermissen, bis es nächstes Schuljahr wieder losging. „Es ist schade, dass wir nicht mehr Trainingscamps haben“, kommentierte er leise, wehmütig grinsend. Schade, dass die Schule vorging, auch wenn es natürlich Sinn machte. Das war schließlich wichtig für ihre Zukunft!   „Wisst ihr, es ist zu schade. Wir sollten. Nächstes Frühjahr. Mal ehrlich, wir trainieren gerade alle so hart, besonders unser Best-of-Team, wir müssen den Ehemaligen doch noch zeigen, was wir inzwischen drauf haben!“ Takuya grinste. Er sprang von der Matte auf und begann, durch die Halle zu tigern. Er schien nachzudenken. Nach ein paar Sekunden des rastlosen Umherlaufens hielt er wieder inne und grinste breit in die Runde. „Wir wollen doch Revanche, ne?“, begann er wild gestikulierend, „Holen wir sie uns! Niemand verbietet uns, Trainingscamps zu organisieren, oder? Wir können das genauso gut wie die Ehemaligen machen!“ Das war großartig. Yuuki sah seinen Freund einen langen Moment einfach nur begeistert an, ehe er wild nickte. „Genau! Und das ist doch mal ein krasses Dankeschön!“, fügte Sou lachend hinzu. Er löste seinen Arm um Yuukis Schultern, um sich vorzulehnen, „Das wäre echt mega cool!“ Es wäre umwerfend, und Yuuki war sicher, ihre Ehemaligen würden sich riesig darüber freuen. Wie könnten sie auch nicht? Allerdings versprach es auch, anstrengend zu werden. Wie organisierte man denn ein Trainingscamp? „Kriegen wir das denn hin?“ Es war nicht, dass Yuuki spaßbremsen wollte. Sehr zu seiner Erleichterung, hatte er doch die Laune nicht senken wollen, lachten seine Freunde nur, keine Sekunde an ihrer Idee zweifelnd. „Natürlich kriegen wir das hin“, erwiderte Lev tadelnd, „so schwer kann das ja gar nicht sein.“ – „Wir können ja sogar unsere Coaches um Hilfe bitten!“, fügte Takuya breit grinsend hinzu, ehe er sich einfach auf den Boden plumpsen ließ, wo er gerade stand. „Was haben wir denn zu verlieren? – Gar nichts! Das wird mega gut werden! Die werden Augen machen, wenn die sehen, wie stark wir geworden sind. Und Lev kann seinen Süßen noch ein bisschen mehr beeindrucken!“     ***     „Bro, hast du Zeit?!“, dröhnte lautstark aus Tetsurous Handy. Bokutos Anruf war keine zwei Sekunden nach Akaashis Nachricht eingetrudelt. Er grinste amüsiert, lehnte sich entspannt auf seinem Sofa zurück. Natürlich hatte er Zeit – für Bokuto immer. Selbst wenn er keine Zeit hatte. Die einzige mögliche Ausnahme bildete da wohl die Eventualität, dass Kenma ihn gerade für sich beanspruchen könnte, aber davon ab? „Immer, Bro.“ – „Bro!!!“ Tetsurou brauchte gar nicht nachzufragen, wie Bokuto plötzlich darauf kam. Akaashi hatte keine Zeit, da war es natürlich naheliegend, dass Bokuto sich stattdessen an ihn wendete, immerhin waren sie die besten Freunde. Natürlich war es tragisch, dass er neben Akaashi immer nur die zweite Geige spielte, aber damit konnte Tetsurou leben, wirklich. Er war einfach so nett. Und ganz im Ernst – es war Tetsurou völlig recht, wie es war. Noch mehr Bokuto würde er bei aller Liebe vielleicht gar nicht mehr ertragen können.   Nachdem sie geklärt hatten, dass Bokuto vorbeikommen würde und nicht umgekehrt, weil Tetsurou am Morgen früh zum Training musste und keine Lust hatte, vorher noch durch die halbe Stadt fahren zu müssen, legten sie auf und Tetsurou machte sich daran, das größte Chaos in seiner Wohnung zu beseitigen. Ein bisschen schmutziges Geschirr vom Abendessen, das noch nicht den Weg in die Küche gefunden hatte, und das Bettzeug, das seit gestern Abend hier lag, weil Tetsurou es benutzt hatte, um auf dem Sofa lümmelnd fernsehguckend einschlafen zu können – er sah den Fernseher vom Bett aus einfach nicht –, sowie diverse andere Kleinigkeiten. Gleich würde es hier eh wieder furchtbar chaotisch aussehen, alleine, weil sie sicher eine Kissenschlacht machen würden, und weil sie sicher irgendwelche Knabbereien aus den Untiefen von Tetsurous Vorratsschrank buddeln würden, aber dann war immerhin genug Platz für neues Chaos! Es machte also völlig Sinn, jetzt aufzuräumen.   Bokuto kam später als geplant, weil er die U-Bahn verpasste und dann beschlossen hatte, er konnte die Zeit bis zur nächsten U-Bahn ja nutzen, um in einem nahen Laden noch einen Film zu kaufen, der interessant genug aussah, um ihn anzusehen – er verpasste darüber noch eine U-Bahn. Immerhin verlief er sich nicht, und so kam er problemlos, wenn auch spät, bei Tetsurou an. Als wäre er hier zuhause machte er sich sofort auf dem Sofa breit, kaum, dass er Jacke und Schuhe losgeworden war. Tetsurou fand es gut so. Er sparte sich die Mühe, Gläser für Getränke zu holen, sondern wies lediglich auf die kleine Ansammlung an verschiedenen Getränkeflaschen, die neben dem Couchtisch stand. Bokuto bediente sich völlig unbekümmert. Wieso auch nicht? War nicht, als wäre Tetsurous Spucke giftig. Zufrieden ließ er sich neben Bokuto plumpsen, nachdem er noch die DVD reingeworfen hatte, griff nach der Fernbedienung. „Also erzähl mal, Bro, was geht ab?“ – „Akaashi hat keine Zeit, also bin ich hier!“ Es klang unglaublich empört, so als wäre es ein absolutes Staatsverbrechen, dass Akaashi keine Zeit für ihn hatte. Tetsurou lachte, klopfte Bokuto mitleidig auf die Schultern. „Mach dir nichts draus, huh? Ich bin sicher, er vermisst dich ganz schrecklich.“ – „Dann soll er mehr Zeit haben!“ Das war, wie immer, leichter gesagt als getan, und Tetsurou war das sogar bewusst. Ihm war aber auch bewusst, dass man das Bokuto nicht erklären konnte, also versuchte er es gar nicht erst. In solchen Sachen war die Devise viel eher, dass man Bokuto ablenken musste, bevor er sich völlig in sein Drama reinsteigerte, und das zumindest war etwas, das Tetsurou relativ gut konnte.   „Hast du nach den Vorrunden noch was von Oikawa gehört?“ Bokuto sah ihn blinzelnd an, schüttelte dann den Kopf. „Hm. Nee. Hab nicht mal gehört, wie das da drüben ausgegangen ist. Weißt du das?“ Tetsurou nickte langsam. Er seufzte leise. Immerhin lenkte das Thema Bokuto von seinen Sehnsüchten ab, und außerdem fand er es wichtig, dass auch bei Bokuto langsam ankam, was die neueste Erweiterung ihres Freundeskreises gerade so trieb – oder eher nicht trieb. „Sawamura hat’s mir erzählt. Scheint, als wäre Oikawas Team im Finale rausgeflogen.“ – „Nicht dein Ernst“, gab Bokuto völlig entsetzt zurück, „Bro! Das geht doch gar nicht! Da war Ushiwaka drin! Niemand besiegt Ushiwaka! Und Oikawa ist doch auch echt gut!!!“ Natürlich war Oikawa gut. Aber das war einfach kein Argument, wenn er nicht mehr spielen konnte. Tetsurou gab knapp wieder, was er gehört hatte – dass der dumme Kerl sich verletzt hatte, dass der Ersatzzuspieler einfach nicht hatte mit dem gegnerischen Team mithalten können, und dass sie deshalb schlussendlich doch verloren hatten, trotz Ushiwaka. Als er fertig war, war Bokuto ganz still und sah ihn stirnrunzelnd an. „Aber Oikawa geht’s wieder gut, oder?“ Es war liebenswert, dass sein erster Gedanke ganz selbstverständlich Oikawas Wohlbefinden galt. „Gewissermaßen. Hab ihn nur kurz gesprochen, er meinte, er müsse für ne Weile mit dem Sport aussetzen wegen der Verletzung, und er wolle nicht drüber reden. War’n wirklich kurzes Gespräch.“ – „Bro! Der ist bestimmt voll unglücklich! Wir müssen ihn aufheitern!!!“     ***     Er war kurz davor gewesen, sein Handy einfach auszuhalten. Er hätte es getan, wären nicht seine Freunde gewesen. Shicchi und Yudacchi bombardierten ihn mit Nachrichten und albernen Fotos, selbst Makki, Mattsun und Ucchi, die nun weniger die Typen dafür waren, schrieben viel zu oft. Als wären sie stillschweigend darin übereingekommen, dass sie ihn dringend auf andere Gedanken bringen mussten. Tooru war sich sehr sicher, dass er damit gar nicht falsch lag. Nur die Sache mit dem stillschweigend… vermutlich hatten sie eher eine Oikatastrophen-Konferenz einberufen oder etwas ähnlich Empörendes. Es machte ihn wütend, und es ließ ihn insgeheim dankbar sein. Es war leichter, nicht über das Desaster nachzudenken, das sein Leben gerade war, wenn er ständig abgelenkt wurde durch die neuesten dummen Gedanken seiner Freunde. Es war leichter, nicht entgegen aller guten Ratschläge und Anordnungen doch wieder aufzustehen und in die Sporthalle zurückzukehren. Aber er hasste es, dass es ihn daran erinnerte, dass Iwa-Chan sich nicht meldete.   Im Nachhinein wusste er es besser. Es war nicht, als begriff Tooru nicht, was er angerichtet hatte. Er wusste, dass Iwa-Chans Gemeinheit nur schlecht verpackte Sorge war, und er wusste, dass er auf die dümmste Art darauf reagiert hatte, und er wusste, dass es theoretisch an ihm war, sich zu entschuldigen. Praktisch aber schaffte er es nicht, sich dazu durchzuringen. Ein großer Teil von ihm wollte sich nicht mit Iwa-Chan vertragen. Suchte immer noch Schuld bei ihm. Wäre er da gewesen, hätte Tooru sich nie überanstrengt. Nie verletzt. Iwa-Chan hätte ihn früh genug ausgebremst. Es war Iwa-Chans Schuld, dass er nicht mehr spielen konnte. Dass er verloren hatte, nicht nur das Spiel, sondern gewissermaßen auch seinen Platz im Team. Es würde beinahe unmöglich werden, wieder an Ushiwaka und seiner arroganten Meinung vorbeizukommen. Bis Tooru wieder am Training teilnehmen durfte, hätten sie ihn schon zehnmal ersetzt. Er hatte keinen Platz mehr. Und er wusste, dass der einzige Weg, das zu ändern, noch mehr Training war. Er sah den Kreislauf, aber er sah nicht, wieso er ihn durchbrechen sollte. So war die Welt. Nur die, die alles gaben, kamen voran, außer sie waren so lächerlich natürlich begabt wie Tobio. Gerade hasste Tooru ihn wieder mehr denn je, den kleinen, verdammten Scheißer, der ihm zum ersten Mal im Leben seinen Platz gestohlen hatte. Auch wenn es diesmal nicht Tobio gewesen war, der ihn ersetzte, es war das gleiche, bittere, kalte Gefühl, Tooru spürte die gleiche, unbändige Wut in sich hochkochen. Gedanken, die er gar nicht denken wollte, und die trotzdem immer wieder penetrant zurückkehrten, als hätten sie nichts Besseres zu tun.   Sein Handy klingelte wieder, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er sah hinunter auf das kleine Gerät. Vor fünf Minuten hatte Kurocchi angerufen. Tooru hatte ihn ignoriert, weil ihm nicht nach reden war. Jetzt zeigte das Display Bokkuns Namen an. Wahrscheinlich saßen die beiden gerade zusammen. Eigentlich war es ausgeschlossen, dass sie gerade nicht zusammensaßen. Tooru wollte immer noch nicht mit ihnen reden. Aber er war einsam, und ihm fiel die Decke auf den Kopf. Er war müde, konnte aber nicht schlafen, und wenn er es versuchte, lag er nur wach und starrte ins Dunkel, während ihn Gedanken einholten, die er nicht einmal denken wollte. Ein Anruf war eine willkommene Abwechslung von den schweren Gedanken und dem schweren Gemüt, selbst wenn sie nur noch so kurz war. Außerdem würde Yudacchi ihn wieder unnötig anmeckern, wenn er jemals erfuhr, dass Tooru seine Freunde so gemein abblitzen ließ. Yudacchi war ein Idiot. Er seufzte resigniert, ehe er den Anruf annahm und das Handy mit eingeplantem Bokkun-Sicherheitsabstand ans Ohr hielt. „Hallo?“ – „Oi! Oikawa!!!“ Bokkuns Stimme war so laut, dass Toorus Ohren klingelten. Er rümpfte die Nase, doch gleichzeitig zupfte ein flüchtiges Grinsen an seinem Mundwinkel. Es war schwer, sich von Bokkuns enthusiastischer Stimme nicht zumindest ein bisschen mitreißen zu lassen. Trotzdem hatte Tooru immer noch wenig Lust auf Gespräche, und so blies er beleidigt die Wangen auf. „Was wollt ihr? Wenn ihr angerufen habt, um euch wegen der Vorrunden zu erkundigen, lege ich wieder auf!“ – „Aber –!“ – „Kein Aber, Bokkun! Ich will nicht drüber reden!“   „Worüber willst du dann reden?“   Das war Kurocchis Stimme. Also hatten sie den Lautsprecher an, huh? Es missfiel Tooru, aber andererseits – es war nicht, als wäre noch jemand in der Nähe, der es hören könnte, also war es wohl in Ordnung. „Wie wäre es mit deiner grauenhaften Frisur, Kurocchi?“ Bokkun lachte, während Kurocchi zu einem lauten Protest ansetzte. Tooru konnte nicht anders, als mitzulachen, obwohl er sich immer noch hundeelend fühlte. Er sah sicher auch hundeelend aus. Weil er sowieso die Uni schwänzte, hatte er sich die letzten zwei Tage nicht einmal die Mühe gemacht, zu duschen – oder in den Spiegel zu gucken. Sein Haar war unter Garantie fettig geworden, und gebürstet hatte er es heute auch noch nicht. Er rümpfte über sich selbst die Nase, während er darüber nachdachte. Wie ekelhaft. Dass er sich nicht schämte! Es war nur ein sehr schwacher Trost, aber immerhin war Kurocchis Vogelnest immer noch hässlicher als er. Es ging gar nicht anders. Irgendwann würde Kurocchi es endlich einsehen, und dann würde er auf Knien angekrochen kommen in der Hoffnung, dass Tooru ihm helfen würde, seinen unruhigen Wischmopp unter Kontrolle zu bekommen. Tooru würde sehr viel Spaß daran haben, ihn betteln zu lassen. Er sollte dann ein Foto davon machen. Einfach nur so. Bettelnde Leute waren einfach immer ein so hübscher Anblick! „Außerdem“, lenkte er schließlich wieder vom Thema ab, weil ihm die hitzige Debatte am anderen Ende der Leitung zu chaotisch wurde – und das gezielte Weghören langsam anstrengend wurde –, „ist es nicht ein bisschen zu spät, um andere Leute anzurufen?“ „Aber wir haben uns Sorgen gemacht, Oikawa!“, brüllte Bokuto ihm laut entgegen, „Wir wollten dich aufheitern!!!“   Tooru wusste nicht einmal, warum, aber die Worte berührten etwas in ihm, das er nicht berührt haben wollte. Er lachte, weil es einfacher war als zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. „Oikawa? Oi! Oikawa? Heulst du etwa?!“ „Noch nicht.“ Noch nicht. Es war so erbärmlich! Aber Tooru fühlte sich erbärmlich. Sein ganzes Leben war erbärmlich! Er hörte, wie Bokuto am anderen Ende der Leitung lautstark verkündete, dass sie dringend etwas tun mussten, und dann diskutierten er und Kurocchi wieder. Diesmal darüber, wie sie Tooru am besten aufheitern könnten. Schlechte Witze, Filme, oder sie könnten ihm von ihrem eigenen Scheitern erzählen, damit er darüber lachen konnte. Es war so bescheuert, dass Tooru sie gar nicht erst unterbrach, sondern einfach zuhörte und sich in der Fürsorge sonnte, die die beiden Idioten für ihn hatten. Obwohl er sie kaum ein paar Monate kannte. Obwohl das gar nicht ihr Job war. Obwohl es Iwa-Chan war, der jetzt hier sein und sich kümmern sollte. Es war genau der falsche Gedanke. Tooru verfluchte sich selbst dafür, dass ihm nun doch die Tränen kamen. Er fluchte lautstark, griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich geräuschvoll, wischte rigoros die Tränen weg, die über seine Wangen fließen wollten. Er konnte auch ohne Iwa-Chan leben!   (Er wusste selbst, dass es gelogen war.)   Die Stimmen am anderen Ende wurden leiser, bis sie irgendwann für einen Moment ganz verstummten. Dann ertönte Kurocchis Stimme, immer noch leiser als zuvor: „Sei mal ehrlich – dir geht’s scheiße, huh?“ Tooru schnaubte leise. „Ist dir das jetzt erst aufgefallen?“ – „Hey. Wenn du irgendwas brauchst, wir sind da. Auch wenn ich Bokuto grad mal rausgeschickt habe, um ne ruhige Minute zu haben.“ Brauchte er denn etwas? Tooru brauchte viel, so gesehen – ein brauchbares Knie. Gesellschaft. Ablenkung. Schlaf. Eine Dusche und eine Haarbürste. Iwa-Chan. Es war kaum etwas dabei, das Kurocchi und Bokkun ihm ermöglichen konnten. (Die Vorstellung, wie sie Iwa-Chan in einen Sack steckten und dann vor seiner Tür absetzten, ließ ihn trotzdem kurz erstickt auflachschluchzen.) Sein Magen knurrte. „Ich hab Hunger“, klagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann lachte Kurocchi herzlich auf. Es war ein warmes, freundliches Lachen, das Tooru seltsam beruhigend fand. „Wie lange überlebst du noch ohne Essen?“ Lang genug. Es war nicht, als hätte er seit dem Spiel allzu regelmäßig gegessen. Er brummte seine Antwort missmutig in sein Handy. „Gib mir deine Adresse.“ Was auch immer Kurocchi vorhatte, es war mit Sicherheit idiotisch. Wollte er ihm eine Pizza bestellen? Tooru wollte keinen Pizzalieferanten vor der Tür stehen haben! Er müsste dafür schließlich erstmal duschen, und Haare waschen, und überhaupt! Er gab Kurocchi die Adresse trotzdem. Was auch immer der Trottel vorhatte, es war besser als alles, was gerade war, also warum nicht? Und es war eine gute Motivation, um sich ins Bad zu schleppen.     ***     Weil der nächste Nachtzug nach Miyagi noch auf sich warten ließ, gingen sie einkaufen. Konbini hatten nun wirklich nicht die beste Auswahl, aber Tetsurou fand genug Zutaten für ein schnelles Abendessen und einen Haufen Süßigkeiten und Junkfood, um die Nacht durchzumachen. Bokuto fand sogar die ollen Brause-Ufos, die Oikawa bei seinem letzten Besuch hier so umwerfend toll gefunden hatte. Immerhin dauerte die Fahrt nur knapp zwei Stunden. Es kostete zwar entsprechend viel, aber Tetsurou fand, dass das völlig legitim war. Es gab eben Situationen, die erforderten ungewöhnliche Maßnahmen! Zugegeben, womöglich wäre er nicht ganz so schnell darin gewesen, Oikawa zur Hilfe zu eilen, wäre Bokuto nicht bei ihm gewesen, aber der Dummkopf war so schnell und intensiv darin, sich Sorgen um andere zu machen, dass sie es zu keinem anderen Gesprächsthema mehr gebracht hätten, hätten sie es nicht getan. Tetsurou verpasste außerdem nichts wirklich wichtiges, also sprach noch weniger etwas gegen einen spontanen Ausflug. Er sollte nur Bescheid geben, dass er nicht zum Training kam, huh? Nachdenklich angelte er sein Handy hervor und tippte schließlich eine Nachricht an Suguru, dass er und Bokuto losgezogen waren, um einen Freund vor seinem Unglück zu retten.   Er wartete keine fünf Minuten, bis eine Antwort kam.   Kaum zu glauben, dass du so viel Aufmerksamkeit für jemanden übrig hast, der nicht Bokuto oder Kozume ist. Tetsurou kam nicht dazu, zu antworten, bevor Bokuto ihn unterbrach. Insgeheim war er froh darüber, denn er wusste auf den stillen Vorwurf nichts kluges zu antworten – sein erster spontaner Gedanke war eindeutig nicht für Sugurus Augen bestimmt. „Broooo, hast du deinen Klingelton geändert?“, fragte er irritiert nach, die Augenbrauen hochgezogen und die großen Eulenaugen dümmlich träge dreinblickend. Zuerst begriff Tetsurou gar nicht, was das Problem war – dann erinnerte er sich daran, dass er Suguru einen gesonderten Klingelton zugewiesen hatte. Er grinste, um absolut unangebrachte Verlegenheit zu überspielen. „Nee. Das ist wie Kenma.“ – „Du hast noch mehr Leute mit Extra-Klingeltönen?“ „Klar, du hast auch einen!“ „Bro! Warum weiß ich das nicht?! Und viel wichtiger – wer hat noch einen?!“ Tetsurou verdrehte die Augen. Zu viel Drama um eine Banalität, über die er außerdem nicht wirklich reden wollte. Es wäre ihm lieber gewesen, Bokuto hätte sich noch einmal daran aufgehängt, dass er gar nicht von dem Klingelton wusste, obwohl er es strenggenommen wohl wissen müsste. Womöglich wäre ihm sogar eingefallen, dass er ihn gehört hatte, als er Tetsurous Nicht-Date bespitzelt hatte. „Lass mich Suguru antworten, dann erklär ich’s dir?“ Oder eher, bis dahin hatte Bokuto vermutlich das Interesse daran verloren, jedenfalls pokerte er darauf.   Dass Bokuto ihn wieder einmal damit überraschen musste, so gar nicht vorhersagbar zu sein, wenn man es am Dringendsten brauchte, hatte Tetsurou nicht mit einberechnet.   „Suguru? …Broooo!!! Daishou Suguru?! Ich dachte, du hasst den Typen!!!“ Bokutos Blick sagte klar, dass er gar nicht mehr glauben würde, dass es ein anderer Suguru sein könnte. Tetsurou war sprachlos – wieso kannte Bokuto den Namen des Kerls überhaupt?! Wieso merkte der sich so etwas, aber hatte im gleichen Atemzug noch Probleme mit den simpelsten Kanji? Das war doch Betrug! „Das ist… eine lange Geschichte“, gab er schließlich langsam, achselzuckend zurück. Eine Geschichte, die er, zugegeben, selbst nicht kannte. Es war einfach passiert! Alles. Angefangen von dem Vornamen über das Mögen bis hin zu – allem. „Wir haben Zeit, Bro. Der Zug fährt noch ne Weile!“ Tetsurou seufzte nur schwer. Das half ihm nicht. „Wir waren als Kinder mal Freunde.“ Bokuto sah nicht aus, als würde er das glauben. Tetsurou glaubte es selbst manchmal nicht, aber es war nicht, als könnte er die Realität ändern, nur, weil sie ihm nicht halb so gut gefiel, wie er das gern hätte. „Also hasst ihr euch gar nicht?“ – „Nicht mehr.“ Nicht wirklich. Tetsurou fühlte sich nicht wohl damit, es zuzugeben, aber er hatte längst aufgehört, Suguru zu hassen. „Also seid ihr jetzt wieder Freunde?“, bohrte Bokuto weiter. Tetsurou beantwortete seine Frage mit einem Schulterzucken. Er wusste es selbst nicht. Sie benahmen sich wie Freunde. Teilweise. Und dann gab es wieder Phasen, in denen sie kaum besser dran waren als zu ihren schlimmsten Zeiten, auch wenn die nicht lange anhielten. Bokuto deutete sein Schweigen eindeutig falsch, denn er riss die Augen auf, als wäre ihm gerade eine entsetzlich erschreckende, unglaubliche Erkenntnis gekommen.   „Bro!!! Dann war das neulich doch ein Date!!! Du stehst auf den!!!“   Tetsurous Protest erstarb irgendwo auf halbem Weg zwischen Verstand und Herz.     ***     Als es klingelte, war so viel Zeit vergangen, dass Tooru irgendwo zwischen trüben Gedanken und Erschöpfung auf dem Sofa eingedöst war. Er blinzelte irritiert in das diesige Licht, das der noch angeschaltete Fernseher in den dunklen Raum hineinwarf. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es viel zu spät für Besucher war. Welcher Pizzaservice auch immer das war, er war ganz schön schlecht. Er würde Kurocchi ordentlich anmeckern dafür! Seufzend raffte er sich auf, gerade in dem Moment, in dem es noch einmal quengelnd klingelte, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Es war sauber, noch ein bisschen feucht, weil er zu lethargisch gewesen war, zu föhnen, und ungestylt, weshalb es sicher immer noch katastrophal aussah. Aber immerhin war er sauber. Tooru fühlte sich sogar fast ein bisschen besser, wo er die beruhigende Sicherheit hatte, wieder weitgehend präsentabel zu sein. Es klingelte noch einmal, noch bevor er raus aus dem Zimmer gekommen wäre, was ihn empört schnaufen ließ. Also langsam wurde es nervig! „Ich komme ja!“, rief er dem Wohnungsflur entgegen, obwohl es völliger Unfug war – es war nicht, als würden sein Gast vor der Wohnungstür stehen. Und natürlich war die Gegensprechanlage kaputt und die Hausverwaltung hatte sich noch nicht darum gekümmert. Als er in Schuhe und eine dünne Jacke schlüpfte, warf er dem verdammten Ding einen hasserfüllten Blick zu. „Nur deinetwegen muss ich jetzt da runter.“ Es war Betrug!   Als die Klingel sich genau diesen Moment aussuchte, um noch einmal zu klingeln, konnte Tooru sich immerhin damit trösten, dass er das nervige Gebimmel im Hausflur auf dem Weg nach unten nicht mehr hören würde.   Trotzdem war er immer noch mürrisch, als er endlich im Eingangsbereich ankam. Die Haustür bekam ein genauso vernichtendes Funkeln wie die Gegensprechanlage zuvor. Er hörte von draußen gedämpfte Stimmen eindringen, die er so verzerrt von der Tür nicht verstehen konnte. Hatte der Pizzabote sich auch noch einen Freund mitgebracht? Na wunderbar. Mit einem genervten Fluchen riss er die Tür auf – und erstarrte. Kein Pizzabote. Kurocchi grinste ihn breit an. In seinen Armen hielt er eine Papiertüte, aus der oben eine transparente Zellophantüte voller Esspapier-Ufos herausragte. Bokkun neben ihm war ganz ähnlich bepackt, trug seine eigene Tüte. Auch wenn nichts herausragte, war recht gut ersichtlich, dass sie ziemlich vollgepackt war. Beide waren mit einer Sporttasche auf der Schulter ausgestattet, in der vermutlich so etwas wie Schlafklamotten steckte. Tooru begriff nicht, was er hier sah. Kurocchi und Bokkun sollten in Tokyo sein. Mussten in Tokyo sein, immerhin war es mitten in der Nacht, und es war ausgeschlossen, dass sie einfach so in einen Nachtzug stiegen und herkamen, nicht wahr? Yudacchi war eine Sache, aber im Vergleich wohnte Yudacchi ja auch direkt nebenan. Halluzinierte er jetzt schon vorlauter Unglück? Oder war es nur ein dummer Traum und er wachte gleich auf, um sich noch einsamer als vorher zu fühlen? Eines von beidem war es mit Sicherheit.   Eine der Papiertüten landete in seinen Armen. Die Verpackung der Esspapier-Ufos kitzelte ihn so nervig am Kinn, dass es einfach kein Hirngespinst sein konnte. Kurocchis Grinsen wurde nur noch breiter, und Bokkun sah so aus, als würde ihm das Grinsen bald auf dem Gesicht festwachsen, wenn er so weitermachte. Toorus einziger Gedanke in diesem Moment war ehrliche Empörung darüber, dass Kurocchi ihn hier als Packesel missbrauchte – zu allem, das intelligenter war, war er schlicht nicht mehr in der Lage. Er hatte ja wohl keinen Grund, ihm seinen Scheiß zu schleppen! Die Ufos nahm er allerdings gerne an sich, so war es nicht. Aber auch nur die Ufos. Sie gaben sicher ganz wunderbare Seelentröster ab! Er schüttelte den Kopf, um all die konfusen Gedanken loszuwerden, für den Moment vergessen, dass er aussah wie gerädert, dass er einsam und müde war, und Fühlte sich stattdessen einfach nur perplex. „Was zum Henker tut  ihr hier?!“   „Hey hey hey!!! Überraschung! Wir sind hier, um dich aufzuheitern!“, rief Bokkun so laut, dass es sicher das halbe Haus aufweckte – es war Tooru egal. Er lachte, obwohl der Laut eher nach kläglichem Schluchzen klang, und mit einem Mal war er froh über die Papiertüte, hinter der er sein Gesicht verstecken konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)