Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 12: ------------ Der Juli und das Ende der frühsommerlichen Regenzeit kamen mit einem ersten Wochenendtrainingscamp der Fukuroudani-Gruppe. Chikara staunte nicht schlecht, als er die Sporthalle in Begleitung seines Teams betrat und dort neben den üblichen Verdächtigen Nekoma und Fukuroudani auch Seijoh und Shiratorizawa erblickte. Dafür fehlte von Shinzen und Ubugawa jede Spur. „Hey, Karasuno!“ Es war Fukuroudanis Libero, der sie rief und lachend angelaufen kam. Er tauschte einen herzlichen Gruß mit Nishinoya aus, klopfte Tatsuo zur Begrüßung auf die Schulter, ehe er sich an Chikara wandte. „Überraschung! Wir haben umgeräumt. Shinzen und Ubugawa haben ihre Mitgliedschaft gekündigt, weil sie sich dieses Jahr auf ein paar andere Kontakte konzentrieren wollen. Darf ich präsentieren? Die neue Fukuroudani-Trainingsgruppe!“ Er deutete stolz grinsend in die Sporthalle, sah fröhlich in die Runde. Chikara war sprachlos – und er hatte keine Ahnung, wie er das finden sollte. Er hatte nichts gegen Shiratorizawa, aber womöglich hatte er aus nachvollziehbaren Gründen ein winziges Problem mit Seijoh. Zumindest mit einigen ihrer Spieler. Dass die jetzt ausgerechnet hier waren… Er warf einen unauffälligen Blick in Hinatas Richtung. Der kleine Rotschopf sah verbissen zu Boden. Seit ihrer Niederlage gegen Seijoh hatte Chikara kaum noch etwas von dem Zwerg gesehen. Es war recht bald klar geworden, dass Hinata nur noch für die Bank taugte. Kageyama weigerte sich strikt, mit ihm zu spielen, und so wenig Chikara grundlegend hinter so einer Einstellung stehen konnte, so wenig hatte er das Bedürfnis, Hinata in Schutz zu nehmen. Nishinoya versuchte es ein, zwei Mal, doch auch er gab recht bald auf, weil er gegen Kageyamas Sturkopf überhaupt nicht ankam. Es war ausgerechnet Tsukishima, der Kageyamas Entscheidung dann auch noch vehement bestärkte. Zwar hatte Chikara gewollt, dass die beiden sich zusammenrauften, aber das sicherlich nicht so. Schlussendlich hatte das alles dafür gesorgt, dass Hinata ziemlich bald aufgehört hatte, zum Training zu kommen, das für ihn ohnehin nur noch wenig Sinn machte, wo Kageyama seine ganze Existenz ignorierte. Vom Coach hatte Chikara gehört, dass der Junge mit dem ehemaligen Coach Ukai trainierte und dass er sein Training nicht schleifen ließ, sondern sich ganz im Gegenteil reinhängte wie ein Wahnsinniger. Es war der einzige Grund, weshalb er noch nicht mit ihm geredet hatte, ihm angedroht hatte, aus dem Club zu fliegen, wenn er nicht wieder zum Training kam. Es war offensichtlich, dass Hinata nicht aufgab. Chikara wusste nicht, was Hinata genau vorhatte, aber er vertraute darauf, dass der Junge irgendeinen Plan hatte, egal wie schlecht, wie er Kageyama wieder von seinem Nutzen überzeugen konnte. Auch wenn Narita kein schlechter Spieler war. Sie brauchten Hinata.   Aber schlussendlich lag es in dieser Situation allein an Hinata selbst, ob sie ihn wirklich noch einmal nutzen konnten oder nicht. Er hatte alles Vertrauen verspielt, er musste es sich jetzt alleine wieder verdienen.   „Iiiihr seht nicht begeistert aus“, kommentierte Nishiame mit hochgezogenen Augenbrauen besorgt. Sein Kopf lag schief – er sah mehr denn je wie ein kleiner Kauz aus. Chikara grinste schief, hob entschuldigend die Schultern, ein bisschen schuldbewusst, ein bisschen beunruhigt. Die ganze Hinata-Sache bereitete ihm Bauchschmerzen, und jetzt noch mehr Gelegenheiten zu haben, um es noch mehr ausarten zu sehen, war besorgniserregend. „Sorry. Wahrscheinlich ist die neue Aufstellung sogar richtig gut. Aber wir müssen noch warm mit den anderen Teams werden?“ Der kleine Libero nickte verstehend, dann grinste er schon wieder sein kleines Grinsen. Der unbeirrbare Optimismus tat gut, auch wenn Chikara sich nicht anstecken ließ. „Keine Sorge, das wird werden! Und wenn’s nicht warm genug wird ohne Hilfe, kommt zu mir, ich mache großartige heiße Schokolade!“ – „Aber bitte nicht im Sommer!“, rief Tanaka empört aus. Nishiame lachte nur, und auch Chikara konnte nicht anders, als leise aufzulachen. Die Vorstellung war tatsächlich nicht sehr appetitlich, aber wenn es half, Probleme zu lösen, würde er auch heiße Schokolade im Sommer trinken. Vielleicht würde er es drauf ankommen lassen.   Zumindest dem Wochenende aber wollte er die Chance geben, sich alleine zu entwickeln. Er half seinem Team nicht, wenn er es an die Hand nahm in Dingen, in denen sie kein Händchenhalten brauchten. Er musste darauf vertrauen, dass seine Jungs ihre Probleme auch alleine lösen konnten. So wie Daichi es getan hatte, als er das erste Mal mit Hinatas und Kageyamas Drama konfrontiert gewesen war. Oder Tsukishimas schwieriger Persönlichkeit. Oder all den anderen Dingen, in denen Daichi geschickt bewiesen hatte, was für ein gutes Gespür er dafür hatte, wann sein Team Führung brauchte und wann eigentlich nur Freiraum, um sich zu entwickeln.   Chikaras größte Angst war nur, dass er es genau falsch machte, weil ihm dieses Gespür doch fehlte.     ***     Shouyou war sicher, dass es seinetwegen war. Ennoshita verkündete vor dem Training, dass sie sich in zwei Teams aufteilen würden, damit sie alle Praxiserfahrung bekommen konnten. Zwar waren sie mit einer insgesamten Mannschaftsstärke von Zwölf eigentlich zu wenige für so eine Aktion, aber nachdem es nur ein Trainingscamp war und kein ernsthaftes Spiel, war ihnen erlaubt worden, dauerhaft mit Libero zu spielen, solange der in der Rotation nach vorne eben automatisch zum Außenangreifer wurde. Natürlich landete er in dem Team, in dem nicht Kageyama war. Oder Tsukishima. Oder… irgendjemand, mit dem Shouyou eigentlich spielte. Es war ein klares Signal, das sogar er verstand. Er gehörte zur Ersatzbank. Den ganzen Tag konnte er kaum an etwas anderes denken, so sehr er den Gedanken auch abzuschütteln versuchte – es ging nicht. Er blieb hängen, er lenkte Shouyou ab. Sorgte dafür, dass er Bälle nicht traf, die er im Training mit dem alten Coach Ukai inzwischen mühelos managen konnte, sorgte dafür, dass er Annahmen verpatzte, die er eigentlich im Schlaf können sollte. Zwischen allem anderen bemerkte Shouyou dabei vor allem eines – Kenma, dessen Blick er sonst immer wieder einmal aufgefangen hatte in den letzten Trainingscamps, hatte keinen einzigen Blick für ihn übrig. Es war fast so schlimm wie Kageyama. Vielleicht war es schlimmer. Shouyou wusste es selbst nicht. Mit der Erkenntnis kam aber noch eine andere Erinnerung wieder hoch – Kenma wollte aufhören. Shouyou hatte ihm, kaum, dass er es erfahren hatte, eine ewig lange Nachricht geschrieben, in der er versucht hatte, ihn davon abzuhalten. Kenma hatte nicht geantwortet. Er hatte angerufen. Kenma war nicht drangegangen. Jetzt waren sie hier, zusammen, und Kenma ignorierte ihn. Trotzdem war es einfacher so. Shouyou konnte immerhin mit ihm reden, selbst wenn er keine Antwort bekam! Und sicher sein, dass Kenma es auch mitbekam.   Kaum, dass das Training vorbei war, stolperte Shouyou aus der Sporthalle, rannte zu Nekomas Schlafraum, den er jetzt das zweite Jahr in Folge sogar fand, ohne sich zu verlaufen. Schlitternd kam er vor der Tür zum Stehen, riss sie schwungvoll auf und stolperte dann in den großen Raum hinein. Ein paar Köpfe drehten sich in seine Richtung, aber er ignorierte sie, seine ganze Aufmerksamkeit auf Kenma gerichtet. „Kenmaaaaaa!!!“ Er saß auf seinem Futon, spielte irgendein Spiel auf seiner Konsole. Sah nicht auf, als Shouyou eintrat und nach ihm rief. Unbeirrt davon stolperte er weiter, ließ sich vor Kenma auf die Knie fallen. Zumindest das musste er jetzt hinkriegen! „Kenma! Kenma, du kannst nicht aufhören!!!“ Kurz regte sich etwas. Kenmas Augenbrauen zogen sich zusammen, aber es war nur ein Bruchteil einer Sekunde, bevor sein Gesicht sich wieder glättete. Er sagte immer noch nichts. Shouyou verstand nicht einmal, was los war. „Kenma! Sprich mit mir! Du kannst nicht einfach so aufhören! Wir müssen doch noch ganz oft gegeneinander spielen!!!“ Ganz oft. Bis Kenma eingesehen hatte, dass Volleyball Spaß machte und woah war und es viel mehr war als einfach nur eine Freizeitbeschäftigung, weil man gerade nichts Besseres zu tun hatte! Jetzt sah Kenma auf. Nur ganz kurz. Seine Augen zuckten kaum lang genug zu Shouyous Gesicht hoch, dass er die Bewegung registrieren konnte, aber es war zweifelsohne da gewesen.   „Du spielst doch gar nicht mehr.“   „Kenma–“ Shouyou öffnete hilflos den Mund. Schloss ihn wieder. Öffnete ihn. Schloss ihn. Schüttelte dann entschlossen den Kopf. „Das stimmt nicht!“, rief er aus, „Ich werde spielen! Kageyama ist super wütend auf mich und er ist es zu Recht, aber ich werde ihm beweisen, dass ich es immer noch wert bin, dass er mir zuspielt!“ Keine Reaktion. Glaubte Kenma ihm nicht? Shouyous Magen krampfte. Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, dass er gerade auf der Toilette besser aufgehoben war, dann schob er ihn aber rigoros beiseite, so gut es ging. Seinem Magen half es zwar nicht, aber es gab gerade eben wichtigeres! Verzweifelt sah er in das Gesicht seines Freundes, suchte nach Anzeichen für irgendetwas, aber er fand nichts. „Warum habt ihr verloren?“ Er musste nicht einmal nachfragen, was Kenma meinte. Shouyou schluckte, senkte den Blick. Er spürte, wie Schamesröte ihm die Wangen hinaufkroch. Übelkeit seine Zunge lähmte, genauso wie die Scham. Nur zögernd kamen die Worte über seine Lippen, und er unterbrach mehrmals, weil die Geschichte ihm einfach peinlich war. Er hatte immer noch Angst vor dem Kerl, und das würde sich nicht so einfach ändern – und das aus gutem Grund! –, aber er schämte sich trotzdem viel zu sehr, dass er damit alles ruiniert hatte. Seinetwegen hatten sie verloren. Hatten nicht noch mehr Spiele bestreiten können. Er hatte seinen eigenen Traum ruiniert. Kenma sah ihn an, als er fertig war. Ungläubig. Fassungslos. Shouyou hatte noch nie so viel Emotion auf seinem Gesicht gesehen, und mit einem schmerzlichen Stich wurde ihm bewusst, dass das genau das Gegenteil von dem war, das er eigentlich hatte erreichen wollen. Er wollte Freude und Aufregung bei Kenma sehen! Nicht… sowas. Er war beinahe dankbar, dass Kenma den Blick nicht lange aufrecht hielt, sondern ihn mit einem Kopfschütteln schnell wieder senkte. „Du bist ein Feigling, Shouyou.“ Es tat weh, das zu hören. Er ballte die Hände zu Fäusten, hielt den Blick entschlossen auf sein Gegenüber gerichtet. „Ich weiß. Aber es wird nicht wieder passieren!“ – „Es wird wieder passieren“, widersprach Kenma, „Und das weißt du genauso gut wie ich. Du redest dir das doch nur schön. Was passiert das nächste Mal, dass du gegen den Typen spielen sollst? Doch das Gleiche. Ich würde auch nicht mehr mit dir spielen wollen, ich verstehe Kageyama.“   „Er wird wieder zu mir spielen!“, rief Shouyou verzweifelt aus, mehr aus Reflex als alles andere – in seinem Kopf hallten Kenmas Worte wider, während er gegen Wut und Frustration und Enttäuschung und tausend andere Gefühle ankämpfen musste, die es unmöglich machten, noch klar zu denken. Er wusste nicht, wie er es bewerkstelligen sollte, Kageyama zu überzeugen. Er wusste auch nicht, wie er seine Angst vor dem Narbengesicht überwinden sollte. Insgeheim wusste er nicht einmal, ob er das wollte. Aber er würde es erreichen. Er musste es erreichen, denn er wollte auf dem Spielfeld stehen, er wollte Bälle schmettern und Punkte machen, und er wollte, dass Kenma wieder mit ihm trainierte, und seien es nur fünf Würfe lang! Kurzentschlossen packte er nach Kenmas Händen, hielt sie fest samt der Konsole, die in ihnen ruhte. Er spürte, wie sie zurückzuckten und sich verspannten, sah für einen kurzen Augenblick in Kenmas aufgerissene Augen, bevor der Blick des Anderen sich wieder senkte. Er ließ nicht los.   „Und wenn Kageyama wieder zu mir spielt, dann wirst du bleiben! Ich habe mein Versprechen noch nicht eingelöst!“   Viel zu lange regte Kenma sich nicht. Verunsichert davon ließ Shouyou doch wieder von ihm ab, ließ die Hände senken, sah ihn hilflos an, abwartend. Die Anspannung aus seinen Schultern wich, und dann, ganz langsam, hob er den Kopf.  Seinen Augen waren geweitet, als er Shouyou unverwandt ansah, reglos, und er hatte keine Ahnung, was der Blick bedeuten sollte. Er sah nur, dass er viel intensiver war als alles, was er von Kenma kannte und es jagte ihm einen unruhigen, hoffnungsvollen Schauer über den Rücken. Kenma sagte nur ein Wort, aber für Shouyou war es die Welt:   „Okay.“     ***     Ihre neue Basis wurde Sporthalle zwei, nachdem dort niemand mehr trainierte. Eigentlich hätten sie im Schlafraum bleiben können, das war Yuuki auch bewusst, aber andererseits wollten sie nicht unbedingt private Themen besprechen, während eines ihrer Teams dabei so problemlos zuhören konnte. Also saßen sie stattdessen in der Sporthalle, hatten sich eine der dicken, schweren Matten geholt, die für Hochsprung und sonstige Aktionen gedacht waren, und hatten sich daraufgelümmelt. „Er hat dich also wieder abblitzen lassen“, fasste Takuya zusammen, was sie gerade zu dritt geschildert hatten: Ihren letzten Zusammenstoß mit Yaku bei den Vorrunden. Sie hatten insgesamt über die Vorrunden berichtet, aber nachdem alles andere im Grunde einfach vergangen und damit auch beendet war, stürzte Takuya sich natürlich auf das eine Thema, das gerade wirklich noch von Relevanz war. Und es war auch weniger deprimierend als ihre Niederlage, schlussendlich. Er seufzte, verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat er dir nen Grund gesagt?“ Lev schüttelte den Kopf. Er grinste sein typisches Lev-Grinsen. Yuuki ahnte schon, dass das, was er jetzt sagen würde, nicht unbedingt hilfreich sein würde. „Nein. Aber er war auch sehr heiser. Wahrscheinlich hätte ich ihn nichtmal verstanden.“ „Hmmm…“, machte Takuya zur Antwort. Er sah nachdenklich in die Runde, dann zu Lev hinüber, den er von oben bis unten musterte, ehe er nickte. „Ehrlich. Ich bin immer noch dafür, dass die Frisur Schuld ist.“ Eigentlich waren sie sich längst darin einig gewesen, dass Lev vorteilhaftere Haarschnitte haben könnte, und sie waren sich auch einig darin gewesen, dass es Zeit für einen Frisörbesuch war, aber irgendwie hatten sie das bisher noch nicht weiter verfolgt. Jetzt sah Lev das erste Mal so aus, als würde er es wirklich in Erwägung ziehen, auch wenn daraus eine neue Diskussion entbrannte: Die Frage danach, was für eine Frisur es denn eigentlich werden sollte, denn die hatten sie beim letzten Mal einfach noch nicht geklärt. Wirklich sinnvoll war es womöglich nicht wie sie es angingen, aber trotzdem grinste Yuuki nur amüsiert. Er warf Sou einen Blick zu, den der mit einem herzlichen Grinsen beantwortete, ehe er unbekümmert die Schultern zuckte – lass die beiden halt diskutieren, wenn es sie glücklich macht.   Yuuki ließ sie diskutieren. Eine halbe Stunde, zumindest laut der Sporthallenuhr, diskutierten sie darüber, was im Rahmen des Möglichen war und was nicht – Färben war ein No-Go! –, und natürlich darüber, ob und wie sehr die neue Frisur Einfluss nehmen würde auf Yakus Entscheidung. Während Takuya ganz überzeugt war, dass Yaku sich davon umhauen lassen würde, war Lev nur mäßig überzeugt, aber am Ende machten sie dennoch einen Tag aus, um zum Frisör zu gehen.   „Sollten wir nicht trotzdem noch überlegen, was es sonst sein könnte?“, unterbrach Sou die große Planung schließlich, als die Diskussion sich ihrem Ende zuneigte und absehbar wurde, dass da nichts neues mehr passierte. Lev und Takuya tauschten einen kurzen Blick. „Und was?“, hakte Lev mit hochgezogenen Augenbrauen nach, „Ihr wolltet ja nicht, dass Yaku-San sich Plateauschuhe gegen die Größensache kauft.“ – „Weil das nicht funktionieren wird.“ Yuuki grinste hilflos. Allein die Vorstellung war schmerzhaft! Wollte er nicht erleben, nein. Und Lev wollte das auch nicht, da war er sich sicher. Mit einem nachdenklichen Seufzen lehnte er sich vor, stützte die Hände zwischen den lose verschränkten Beinen auf. „Aber na ja. Ich hab mal überlegt. Wie wäre es denn, wenn du dir ein bisschen Hilfe bei Yaku-Sans Freunden holst? Mal in Erfahrung bringst, was er mag, was er nicht mag, oder was große Fettnäpfchen sind, die du vermeiden solltest.“ – „Außer seiner Größe“, fügte Sou grinsend hinzu. Yuuki stieß ihm mahnend in die Rippen, aber sein Freund lachte nur herzlich auf. Lev sah eher ratlos zu ihnen hinüber. „Wen soll ich fragen?“ „Kai-San“, erklärte Sou sofort, „Oder Kuroo-San. Die beiden kennen Yaku-San immerhin am besten! Vielleicht auch Kenma-San, aber ich glaube nicht, dass der so motiviert wäre, sich damit auseinanderzusetzen. Geht ja nicht mal darum, dass die dir irgendwelche Patentrezepte geben müssen, aber es hilft doch, wenn du weißt, wohin du Yaku-San zu einem Date einladen kannst, damit es möglichst attraktiv für ihn ist, oder?“   Lev rieb sich nachdenklich über das Kinn. Ganz überzeugt sah er nicht aus. „Ich glaube ja, dass ich das auch alleine schaffe“, erklärte er großspurig, „Aber ich kann es natürlich mal versuchen. Es schadet ja nicht. Wenn es sonst nicht klappt eben. Aber das löst ja alles das Größenproblem auch nicht.“ Yuuki seufzte. Eigentlich hatten sie sich ja schon geeinigt, das Größenproblem genau deshalb zu ignorieren, aber natürlich kam es wieder. War ja auch das größte Problem, zumindest vermutete er das recht sicher. Er verzog nachdenklich das Gesicht – er war genauso klein wie Yaku, aber er nahm es nicht so empfindlich. Manchmal nervte es zwar, aber die meiste Zeit…? „Ich hätte keine Probleme mit einem Partner, der viel größer ist als ich“, sagte er achselzuckend, verlegen. Er grinste, kratzte sich errötend an der Wange, „Ich meine, es kommt ja auf die Persönlichkeit an, ne? Und das hat ja auch Vorteile! Ist mir lieber, als immer auf nen Stuhl zu steigen, um oben an die Schränke ranzukommen. Aber Yaku-San sieht das ja anders. Und zugegeben, manchmal ist es schon unbequem, so sehr aufsehen zu müssen.“ – „Oder runter!“, unterbrach Sou lachend, „Davon kriegt man auch echt Nackenschmerzen! Wenn ich mir vorstelle, Yuuki und ich würden knutschen oder so, dann wäre das auf Dauer voll die Qual.“ Lev sah neugierig-interessiert zwischen ihnen hin und her, während Yuuki krampfhaft versuchte, nicht darüber nachzudenken. Falsches Thema! „Und wie würdet ihr das lösen?“ Yuuki blinzelte. Er wollte es sich eigentlich wirklich nicht vorstellen! Sou zu küssen. Lev zuliebe tat er es trotzdem. Der Gedanke trieb ihm Hitze ins Gesicht; bald sah er sicherlich aus wie eine Tomate. Das war so peinlich! Aber wie wäre es denn? Sou war viel größer als er. Er würde sich auf Zehenspitzen stellen müssen, um das ein bisschen auszugleichen, und selbst dann war es womöglich noch unbequem. Sou auf der anderen Seite musste sich sicher auch trotzdem noch weit herunterbeugen, was auch unbequem war. Er hatte Mühe, nicht darüber nachzudenken, wie es sich anfühlen würde. Sous Lippen sahen immer ein bisschen spröde aus. Spürte man das? Er schüttelte den Kopf, konzentrierte sich auf das Problem vor ihrer Nase. Größenunterschied. Wie konnte man das ausgleichen? Ein Tritthocker? Half da auch nicht wirklich, nicht, wenn man noch halbwegs spontan dabei bleiben wollte. Und das würde selbst Yuuki entwürdigend finden. Yaku würde es hassen. Einfach hochspringen ging auch nicht. „Das ist einfach“, unterbrach Sou seine Gedanken. Grinsend. Unbekümmert. So vollkommen locker, als wäre das eine Sache, über die man gar nicht nachdenken musste. Er stand von der Matte auf und bedeutete Yuuki, es ihm gleichzutun. Er gehorchte, stellte sich vor seinen Freund und sah zu ihm auf. Es war wirklich unbequem, und das lag nicht nur daran, wie heiß sein Gesicht immer noch war. Probehalber stellte er sich wirklich mal auf Zehenspitzen. Viel zu klein, immer noch. Sou grinste, beugte sich zu ihm hinunter. Er wollte aber nicht–? Wollte er nicht. Sous Gesicht blieb auf Entfernung, dafür schlangen sich seine Arme um Yuukis Hüften. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Yuuki gab ein erschrockenes Kieksen von sich, schlang reflexartig die Arme um Sous Hals. Er blinzelte, als er realisierte, dass er tatsächlich auf einer Augenhöhe mit ihm war und so direkt in Sous lachendes Gesicht sehen konnte. Ohne Nackenschmerzen. Die braunen Augen seines Freundes blitzten voll liebevollem Übermut, und weil Sous Grinsen schon immer ansteckend gewesen war für Yuuki, grinste er im nächsten Moment auch, alles rote Gesicht und alles Herzrasen vergessen.   „Ich würde ihn hochheben.“     ***     „Akaashiiiiiiiiiii…!!! Ich kann auch vorbeikommen!!!“   Keiji stieß in einem resignierten Seufzen die Luft aus. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Minamishimas und Nishiames Blicke in seine Richtung zuckten; ersterer relativ nichtssagend, während er einer kleinen Gruppe Erstklässler dabei half, ihr Schlafzeug auszurollen, zweiterer sah sichtbar besorgt aus. Er hob nur vage die Schultern zur Antwort, ehe er seine Aufmerksamkeit zurück auf sein Handy wendete. „Du weißt, dass das nicht geht, Bokuto-San“, erinnerte er ihn nicht zum ersten Mal. Das war einer dieser Sätze, die er schon viel zu oft gesagt hatte. „Aber Akaashi, ich hab Zeit!!!“ „Bokuto-San, Fremden ist das Betreten des Schulgeländes nur mit ausdrücklicher Erlaubnis gestattet.“ Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Keiji wusste ohne Zweifel, was gerade in Bokutos Kopf vor sich ging – er hatte auch nach bald drei Monaten noch nicht so ganz begriffen, dass er kein Schüler mehr war und entsprechend keinen Platz an einer High School mehr hatte. „Aber ich bin doch kein–“ – „Du bist kein Schüler mehr. Musst du nicht außerdem lernen?“ Schweigen. Unzufriedenes Brummeln, dann hörte er, wie Bokuto ganz besonders leidend ausseufzte. „Akaashi will mich gar nicht mehr sehen!!!“   „Natürlich will ich dich sehen.“   Mehr, als Keiji in Worte fassen wollte. Es war schlicht nicht möglich, dass sie sich so oft sahen, wie sie es gerne hätten. Mit dem hohen Trainingspensum, das sie immer noch hatten, hatte Keijis Freizeit sich drastisch minimiert. Und auch, wenn er schon seit einer Weile alle Universitätspläne aufgegeben hatte, konnte er es sich nicht leisten, dass seine Noten in den Keller sackten, also fraß das Lernen zusätzlich Zeit. „Akaashi, aber du hast nie Zeit! Wenn du mich sehen wollen würdest, hättest du Zeit!“ Es war überhaupt kein Argument, folgte keiner Logik, und genau deshalb konnte Keiji es nicht einmal entkräften. Wie auch? Bokuto hatte ein ganz anderes Weltverständnis. Für Bokuto war es so simpel – er machte sich die Zeit, selbst wenn er sie nicht hatte. Manchmal war es geradezu beneidenswert. „Nächstes Wochenende habe ich Zeit.“ Dass das kein Trost war, wusste er, schon bevor Bokuto losplärrte – das dauerte viel zu lange, es war ja noch so weit hin bis zum nächsten Wochenende, und außerdem wollte er Keiji doch jetzt sehen und nicht in einer Woche. Bokuto war beleidigt, und vermutlich war er es nicht einmal wirklich zu Unrecht, aber Keiji schaffte es trotzdem nicht, Mitleid mit ihm zu haben. „Bokuto-San.“ – „Akaashiiii!!!“ „Ich muss auflegen. Ich habe noch zu tun.“ – „Aber das Training ist doch schon vorbei!!!“ – „Wir müssen gleich zum Abendessen.“ – „…“ Wieder ein Seufzen. Schwer und todtraurig. „Akaashi mag mich nicht mehr… Aber ich versteh schon. Geh ruhig. Es gibt eben wichtigeres für dich.“ „Bokuto-San–“   Aufgelegt.   Müde ließ er das Handy sinken, schloss für einen Moment die Augen. Eine Hand landete auf seiner Schulter, drückte sie aufmunternd, kurz darauf saß Minamishima neben ihm. Er war nicht der einzige – Nishiame hockte einen Augenblick später ebenfalls auf Keijis Futon und grinste sanft.  „Ist Bokupon wieder dramatisch?“ Keiji konnte sich die Antwort sparen. Nishiame lachte leise, halb mitleidig, halb amüsiert. „Der fängt sich. Er wird lernen müssen, dass nicht alles nach seiner Nase geht, das ist schon ganz gut so! Ihr seid doch auch nicht aus der Welt, und nächstes Woche ist bald genug für ein Wiedersehen!“ Objektiv betrachtet stimmte es. Subjektiv wusste Keiji aber, dass Bokuto jetzt trotzdem unnötig beleidigt sein würde und sich in Dinge hineinsteigerte, in die er sich nicht hineinsteigern sollte. Bisher war es noch kein Problem gewesen, aber das Schuljahr war auch noch jung. Wer wusste schon, auf was für Ideen ein vernachlässigter Bokuto kommen würde? Nicht einmal Keiji war sich sicher, was er zu erwarten hatte; er hatte zwei Jahre an Bokutos Seite verbracht, war es selbst nicht wirklich gewöhnt, von ihm getrennt zu sein – auch wenn er es deutlich besser verkraftete. Eigentlich war es noch die harmlosere Variante, wenn Bokuto bald ungefragt vor dem Schultor stand. „Wieso kümmert euch dieser Kindergarten eigentlich?“ Kurowas Stimme klang beinahe angewidert. Sein Gesicht sah auch nicht freundlicher aus. Keijis Blick wurde eisig, als er zu dem Erstklässler hinübersah, dessen Einmischung er gerade wirklich nicht brauchte. „Der Kerl ist ne Witzfigur. Wieso tanzt hier immer noch jeder nach seiner Pfeife?“ „Kurorin, hör auf! Gib ihm eine Chance und lern ihn richtig kennen, ehe du solche Dinge sagst!“ „Denkst du nicht, ich hab genug gesehen und gehört?“, gab er trocken zurück, abfällig, kein bisschen beeindruckt von der empörten Strenge des Liberos. Er ging vor Nishiame in die Hocke und sah ihn ohne jede Gefühlsregung herablassend an. „Er ist launisch, aufdringlich, anstrengend, dumm wie Brot und unfähig, irgendetwas alleine hinzukriegen. Oh klar, ich hab gesehen, dass er extrem gute Schmetterbälle drauf hat, aber ernsthaft? Für die fünf Punkte, die er gerissen kriegt, wenn er mal gerade nicht lächerliches Theater veranstaltet, müsst ihr ihm so hinterherkriechen?“ Er lachte trocken, boshaft. Keiji biss die Zähne zusammen, während er spürte, wie Minamishimas Hand auf seiner Schulter fester zudrückte, als wollte sie ihn davon abhalten, eine Dummheit zu begehen. Wenn er ehrlich war, dann wollte Keiji nicht davon abgehalten werden. Er hatte gerade wirklich keine Geduld für solche Dinge übrig.   „Das ganze Team sollte froh sein, dass dieser nutzlose Typ weg ist.“   Es passierte, noch bevor Keiji recht darüber nachgedacht hätte – seine Hand kollidierte mit einem lauten Klatschen mit Kurowas Wange, hinterließ einen tiefroten Abdruck und geschockte Gesichter im ganzen Raum. Für einen ewig langen Moment war es so still, dass Keiji das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Er spürte Minamishimas Hand, die inzwischen schmerzhaft fest zudrückte, sah Nishiames entgeistertes Gesicht, während er von Kurowa zu Keiji und wieder zurück blickte, als wäre er nicht ganz fähig, zu begreifen, was hier passiert war. „Akapon…“ Kurowas Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze. Er machte den Mund auf, zweifelsohne, um noch mehr Gemeinheiten loszuwerden, doch ehe er irgendetwas hervorbekam, wurde er von Nishiame unterbrochen. „Genug. Das hast du dir gefragt, Kurorin! Geh raus und deinen Kopf abkühlen. Und dann sagst du nie wieder solche Dinge, hast du das verstanden?! Du kannst deine bescheidene Meinung haben, schön, aber glaub nicht, dass du bestimmen kannst, was das Team tun sollte oder nicht! Hier teilt niemand deine Meinung, also versuch es gar nicht erst.“ Der kleine Libero bebte geradezu vor Empörung. Er sah aus, als würde ihm selbst beim nächsten falschen Ton die Hand ausrutschen. Etwas, das nicht nur Keiji bemerkte, sondern auch Minamishima, dessen zweite Hand inzwischen vorsorglich auf Nishiames Schulter lag. Alles war still. Nur nebenbei nahm Keiji den Rest des Teams wahr, der schweigend im Raum verteilt saß, beobachtend, vorsichtig. Vermutlich ernsthaft geschockt, denn kaum einer von ihnen dürfte damit gerechnet haben, dass so etwas passieren konnte. Selbst Shima war still. Obwohl er nichts getan hatte, sah er schuldbewusst aus wie ein gescholtenes Kleinkind. Wenn Nishiame einmal wütend wurde, hatte er diesen Effekt. Kurowa erhob sich plötzlich, immer noch pure Ablehnung im Blick. „Ihr seid doch alle bescheuert“, spuckte er wütend aus, ehe er sich umwandte und aus dem Raum stapfte. Erst, als die Tür hinter ihm zuknallte, entspannte sich die schwere Stimmung wieder ein bisschen. Mit einem lauten, erleichterten Seufzen ließ Nishiame sich rücklings zurückfallen, bis er halb auf dem Boden, halb auf dem Futon ausgestreckt dalag. Es war ungewöhnlich, ihn ohne ein Grinsen im Gesicht zu sehen. Stattdessen sah er unglaublich bedrückt aus. Minamishimas Hand streckte sich nach ihm aus, er stupste ihm sanft gegen die Stirn. „Er wird es lernen.“ „Jaaah“, lachte Nishiame kläglich, „Hoffentlich. Er ist kein schlechter Spieler, aber die Persönlichkeit…“ Minamishimas Finger klopften noch einmal sanft auf seine Stirn, ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Müde, klein, aber zuversichtlich.   „Er hat auch gute Seiten, irgendwo.“ – „Wetten, wir finden sie nicht?“ – „Wetten doch?“     ***     Das Trainingscamp war eine Katastrophe gewesen. Nicht einmal nur, weil er nur auf der Ersatzbank hatte sitzen können, sondern vor allem, weil Shouyou das Gefühl hatte, dass es einfach immer schlimmer wurde. Das Narbengesicht sehen zu müssen, machte es auch nicht besser, und natürlich ging er dem Kerl aus dem Weg! – Es schien Kageyama noch mehr anzupissen. Es pisste Shouyou auch an, aber er fand nicht den Mut, sich dem Kerl entgegenzustellen. Er wollte nicht im Waschbecken eines öffentlichen Klos enden! Also. Seine Überreste. Es waren Gedanken, denen er zu sehr nachhing. Er merkte es selbst! Eigentlich war er besser, aber jetzt war da schon der zweite Ball hintereinander, den er einfach nicht erwischte. Frustriert sah er zu, wie der Volleyball über den Boden rollte und schließlich bequem zum Stehen kam, völlig unberührt von ihm. Er verkniff sich ein Seufzen, murmelte eine leise Entschuldigung und lief los, um den Ball einzusammeln. Konzentrier dich! „He, Winzling.“ Die Stimme des alten Ukai ließ ihn innehalten, gerade, als er den Ball vom Boden auflas. Langsam richtete Shouyou sich wieder auf und drehte sich um. Der alte Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn streng. Ohne ein weiteres Wort signalisierte er Shouyou, mitzukommen, und Shouyou folgte nach einem kurzen Ruf an die Frauen, mit denen er trainiert hatte. Er spürte ihre Blicke im Rücken, hörte ihr Tuscheln. Es war nicht angenehm, aber er konnte es ihnen kaum verübeln, dass sie über ihn redeten. Machte sein schlechtes Gewissen aber nur noch größer. Ukai führte ihn bis zu einer kleinen Sitzgruppe auf der Veranda des Hauses, wo er sich ächzend auf einem Stuhl niederließ. „Setz dich.“ Shouyou gehorchte. Er schluckte nervös, drückte den Volleyball an sich, als könne er sich daran festhalten. Er hatte keine Ahnung, was jetzt auf ihn zukommen würde, aber er wollte es eigentlich auch nicht wissen. Es war eine Neuheit, dass Ukai ihn wegen irgendetwas zur Seite nahm, statt ihn direkt an Ort und Stelle zu maßregeln, wenn es denn nötig war. Immer wieder huschte Shouyous Blick zu seinem Gesprächspartner hinüber, doch Ukai blieb still, entspannt ausgestreckt auf seinem Stuhl, den Blick hinaus in den klaren Sommerhimmel gerichtet.   „Eigentlich habe ich mir vorgenommen, nicht nachzufragen“, begann er schließlich. Shouyous Magen krampfte. Er senkte den Blick, als könnte er damit verbergen, wie ertappt er sich fühlte – es war überflüssig, denn der Alte sah ihn immer noch nicht an. „Ich hab’s auch Keishin gesagt – ich will gar nichts hören. Ist dein Ding, was du für Probleme hast, und solange du dran arbeitest, ist’s noch weniger meine Sache. Aber das da eben? Ich glaube, es wird Zeit, dass ich doch mal nachhake.“ Er lehnte sich vor, legte seine knochigen Hände und Unterarme auf dem Tisch ab, die langen Finger miteinander verschränkt. Shouyou fixierte den Blick auf die faltigen Fingerknöchel. „Was ist los, Junge?“ Shouyous Schultern sackten ab. Hilfesuchend sah er hinaus, doch außerhalb der Terrasse fand er nichts als blauen Himmel und Gesträuch, das ihm auch nicht bei seinem Kummer half. Er wollte nicht darüber reden. Bisher hatte niemand Verständnis für ihn gehabt, und auch wenn Shouyou das auf einer rationalen Ebene verstand, konnte er ganz und gar nicht rational einfach nicht damit arbeiten. Das Narbengesicht machte ihm einfach Angst! Wer würde auch keine Angst vor der Yakuza haben?! Als er zurück zu Ukai sah, lag dessen aufmerksamer Blick ruhig und abwartend auf ihm. Shouyou holte tief Luft. „Also…“ Und dann begann er zu erzählen. Erzählte, alles, angefangen von Grinsebackes Erzählung über seinen Zusammenstoß im Bad mit Narbengesicht, über das verlorene Spiel, bis hin zu all dem Ärger, den er seitdem bekommen hatte, weil er einfach völlig verkackt hatte. Ukai hörte ihm schweigend zu, unterbrach seine zögerliche Erzählung kein einziges Mal für irgendeinen Kommentar, und je länger Shouyou erzählte, desto mehr schöpfte er Hoffnung, dass er hier auf ein gewisses Maß an Verständnis stoßen würde. Als er schließlich fertig war, stieß Ukai langsam seufzend die Luft aus.   „Dein Team hat Recht“, erklärte er schließlich. Shouyous Herz krampfte unglücklich und er senkte den Blick. Ein bisschen war er enttäuscht, doch er konnte selbst nicht sagen, ob von Ukai, oder am Ende von sich selbst. „Dir sollte selbst bewusst sein, dass du dich wie ein Idiot verhalten hast. Solange du auf dem Volleyballfeld stehst, gibt es auch nur das Volleyballfeld, merk dir das. Was außerhalb ist? Ist außerhalb, das kann dir völlig egal sein!“ – „Aber–!“ Ukai schnaubte. „Und ehrlich. Yakuza? Glaubst du denn jedes Gerücht, solange dein Gegenüber einschüchternd genug aussieht?“ Gerade sah Shouyous Gegenüber auch sehr einschüchternd aus! Er schluckte nervös, schüttelte ängstlich den Kopf, ohne sich selbst allzu glaubhaft zu finden. „N-nein, nur… er ist wirklich gruselig!“ – „Hast du das nicht auch einmal über Kageyama gesagt?“ Kageyama war immer noch gruselig. Shouyou war schon kurz davor, entsprechendes zu bemerken, als er doch noch einmal innehielt. Kageyama war gruselig, aber schlussendlich auf eine ganz andere Art, als Shouyou zuerst geglaubt hatte. Was ursprünglich ein bösartiger Tyrann gewesen war, hatte sich als ziemlich normaler, volleyballvernarrter Junge herausgestellt. Gut. Er hatte ein leichtes Aggressionsproblem. Und er hatte ein gruseliges Gesicht und war unfähig, nett zu gucken. Aber die meiste Zeit war Kageyama sogar ein richtig erträglicher Typ, und Shouyou, wenn er ehrlich zu sich selbst war, mochte ihn. Er mochte Kageyama. Seinen Zuspieler. Immer beschämter starrte er auf den Tisch vor sich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Narbengesicht irgendwie eine ähnlich positive Position haben könnte, aber in diesem Moment war ihm Narbengesicht auch völlig egal und alles, was ihm in den Kopf kam war die Erkenntnis, wie sehr er sich dafür schämte, seinen Partner enttäuscht zu haben. Und seine Freunde. Sein Team. Kenma. „Jeder hat Ängste“, fuhr Ukai unbekümmert fort. Er stand wieder von seinem Stuhl auf. Shouyou tat es ihm nach und folgte ihm, während er langsam zurück zum Volleyballfeld ging, „Das ist völlig in Ordnung. Aber du musst lernen, sie zu überwinden. Hast du bisher auch immer getan. Auf dem Spielfeld. Tu es auch außerhalb.“ Das war so leicht gesagt! Shouyou blieb frustriert stehen. „Wie denn?“   Es war einfach, auf dem Spielfeld mit seinen Ängsten umzugehen, solange sie nur auf dem Spielfeld stattfanden. Einen starken Block konnte Shouyou überwinden. Ein gegnerischer Außenangreifer war gruselig, wenn er besonders stark war, aber man konnte ihn kontern. Solange er sich nur genug anstrengte, konnte er mit Kageyama an seiner Seite alles erreichen. Aber das war eben auch nur auf dem Spielfeld so. Außerhalb davon… Ukais barsches Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Als er sich zu Shouyou umwandte, um ihn anzusehen, hatte er ein warmes Grinsen auf dem sonnengegerbten Gesicht.   „Lern ihn kennen, diesen Yakuza. Ne andere Wahl hast du gar nicht.“     ***     Obwohl es erst eine Woche her war, dass sie Takuya das letzte Mal gesehen hatten, kam es Yuuki wie eine Ewigkeit vor. Er fehlte, wenn er nicht da war! Er gehörte inzwischen einfach total dazu, genau wie Sou, genau wie Lev. Entsprechend freute er sich riesig, als der hochgewachsene Kerl mit dem Löwenzahnkopf aus seiner U-Bahn stieg und zu ihrer kleinen Gruppe aufschloss. „Yo~! Ich hoffe, ihr musstet nicht wartet?“ – „Nah. Sind auch grad erst gekommen“, erwiderte Sou lachend, „Also, wie ist der Plan?“ „Der Plan! Wir marschieren jetzt zu meinem Frisör, damit unser großer Freund hier mal eine ordentliche Frisur bekommt, die ihn älter als fünf aussehen lässt.“ Yuuki lachte herzlich. Lev protestierte mindestens genauso herzlich, was nur irgendwie niemanden auch nur ansatzweise kümmerte. Ein bisschen stimmte es doch auch – der brave Haarschnitt passte nicht wirklich zu Lev. Yuuki war bewusst, dass er selbst kaum besser war, aber er fühlte sich wohl, wie es war, und er sah keinen Grund, es zu ändern. Er wollte niemanden beeindrucken. Oder sich verändern. Das würde irgendwann kommen, wenn er sich eben danach fühlte. „Und danach essen wir was!“, fügte Sou hinzu, nachdem Levs Proteste endlich abebbten – „Du isst ganz schön viel, pass auf, dass du nicht dick wirst“, kommentierte der Kerl grinsend. Die Sorge wischte Sou mit einem unbekümmerten Lachen weg. Er aß immer viel, Yuuki kannte es von ihm nicht anders, aber er nahm nie zu davon. Wie denn auch, so wild und lebhaft, wie er war?   Es war, wo er so darüber nachdachte, das erste Mal, dass er sich außerhalb der Schule mit jemand anderem als Sou traf. Dass sie ständig beieinander abhängten, war inzwischen schon ein Standard geworden, aber Lev und Takuya dabei zu haben, war neu und irgendwie aufregend. Und sie sahen so anders aus ohne die Schuluniformen und Trainingsklamotten! Yuuki würde sich vermutlich nie so recht daran gewöhnen können, wie extrem die Veränderung zwischen Pflicht– und Privatkleidung bei einigen Leuten war. Takuya hatte auch noch einen wirklich auffälligen Stil! Hübsch, aber auffällig. Yuuki fand es gleichermaßen bewundernswert wie gruselig. Er würde sich nicht trauen, Sachen anzuziehen, die ihn so sehr auffallen ließen. Er war zufrieden mit einem schlichten, aufdrucklosen T-Shirt und einer ebenso schlichten, knielangen Hose. Mehr wäre bei der Sommerhitze aber auch Mord gewesen. Die Gegend, in die Takuya sie zitiert hatte, war belebt und voller junger Leute, die häufig in kleinen Gruppen unterwegs waren. Auch die Schaufensterauslagen der Läden ringsum sahen irgendwie jung aus. Modisch. Trendy. Es passte zu Takuya. Yuuki fühlte sich ein bisschen fehl am Platz, aber damit schien er eindeutig der Einzige zu sein: Sou sah sich neugierig um, um hier und dort einmal eine Auslage zu kommentieren, die ihn besonders interessierte, während Lev einfach nur grinsend seines Weges lief, blind für seine Umwelt, und in Gedanken sicherlich dabei, sich auszumalen, wie er Yaku beeindrucken würde mit dem neuen Haarschnitt. Auf den Yuuki übrigens echt gespannt war. Obwohl er alle Diskussion darum mitbekommen hatte, konnte er sich nichts unter den Plänen von Lev und Takuya vorstellen. Beide hatten allerdings groß getönt, dass es sie absolut umhauen würde. „Wisst ihr“, kommentierte Takuya grinsend, während sie einer kichernden Gruppe Schulmädchen auswichen, „Ich finde ja, ihr beide könntet auch eine neue Frisur gebrauchen.“ „Joa“, stimmte Sou lachend zu, „Aber nicht heute! Heute geht’s um Lev!“ Yuuki nickte bestätigend. Er würde es nicht zugeben, aber er hatte auch ein kleines bisschen Angst davor, sich groß zu verändern. Er war noch nicht bereit dazu! Takuya grinste sie nur beide breit an. „Ich nagel euch drauf fest, Jungs!“   Er freute sich nicht darauf. Noch nicht. Aber ein Blick in Sous grinsendes Gesicht ließ ihm den Gedanken kommen, dass eine neue Frisur eigentlich gar nicht so schlimm war, solange sie das gemeinsam in Angriff nahmen.   Der Frisörsalon, vor dem sie schließlich stehen blieben, war bunt, schrill, und genau das Gegenteil von dem beschaulichen kleinen Laden, in dem Yuuki regelmäßig seine Frisur richten ließ. Die Frisöre im Inneren hatten allesamt auffällige und aufwändige Frisuren, teilweise auch bunte Haare. Es sah unglaublich beeindruckend aus, und befremdlich, und gruselig, und gar nicht nach Yuukis Welt. „Da gehen wir jetzt rein“, erklärte Takuya grinsend, „Beziehungsweise, Lev und ich gehen da rein. Wenn ihr wollt, könnt ihr uns so lange was zu essen besorgen? Da drüben die Straße runter das Take-Out ist extrem gut!“ Er wies auf einen kleinen Laden, vor dessen Tür sich eine besorgniserregend lange Schlange befand. „Wenn wir uns jetzt anstellen, sind wir vielleicht fertig, bis ihr wiederkommt“, murmelte Yuuki resigniert – „Bingo!“, gab Takuya lachend zurück, „Also hopp! Ihr holt uns was zu futtern, und Lev kriegt jetzt einen Sidecut!“ „Einen was?“ Sous Frage blieb unbeantwortet, natürlich. Es wunderte Yuuki nicht. Viel darunter vorstellen konnte er sich aber auch nicht. Es war ein englisches Wort, okay, und er verstand es sogar, aber darüber hinaus? Nur einseitig die Haare zu schneiden klang ausgesprochen seltsam! Ratlos warf er einen Blick zu Lev hinüber, der nur unbekümmert grinsend die Schultern zuckte. Offensichtlich wollte er auch nichts verraten. „Takuya weiß schon, was er tut!“ – „Ich weiß! Ich bin trotzdem neugierig.“ – „Sei in der Schlange neugierig, Shibayama!“   Also stellten sie sich an. Yuuki war unglaublich ungeduldig. Immer wieder sah er über die breite Straße hinüber in der Hoffnung, irgendeinen Blick in den Frisörsalon zu erhaschen, doch zwischen den Menschenmengen, die hier entlangströmten, sah er kaum etwas. Zusätzlich reflektierte das Sonnenlicht im Schaufenster. Es war unmöglich. „Es ist das erste Mal, dass jemand aus dem Team ne neue Frisur hat, seit wir da sind, ne?“ Sou sprach seine Gedanken aus. Yuuki wusste zwar, dass Kenma im ersten Jahr noch ganz schwarzhaarig gewesen war, und er wusste auch, dass Taketora einmal normaler ausgesehen hatte als mit seinem Irokesenschnitt, aber nichts davon hatte er mitbekommen. Er konnte es sich auch kaum vorstellen! Die Frisuren der Jungs gehörten einfach so untrennbar zu ihnen. Würde Kenma sich die Haare irgendwann wieder färben? Oder hatten sie bald doch einen schwarzhaarigen Kenma vor sich? Und Taketora! Es war unmöglich, ihm gedanklich eine bravere Frisur zu verpassen. „Wird ungewohnt“, murmelte er sanft. „Aber cool! Yaku-San findet das sicher auch.“ Yuuki lachte leise, hilflos. Er war sich da weniger sicher. Das war Yaku, von dem sie sprachen! Aber einen Versuch war es wert, ganz bestimmt.   Im Schneckentempo schrumpfte die Schlange vor dem kleinen Laden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie nah genug waren, um den Aushang mit den Angeboten lesen zu können. Immerhin konnten sie sich danach die Zeit damit vertreiben, darüber zu diskutieren, was sie essen wollten. Als sie endlich ihre Bestellung aufgeben konnten, waren sie sich sogar einig geworden. Yuuki hoffte, dass Lev und Takuya mit dem Ergebnis zufrieden sein würden, aber nachdem sie nicht gesagt hatten, was sie haben wollten, war es am Ende auch einfach ihre eigene Schuld! Einmal wieder raus aus dem Getümmel, bepackt mit einer Plastiktüte voll verpacktem Fastfood, machten sie sich langsam auf den Weg zurück zum Frisör. Ob sie noch lange warten mussten? Mussten sie nicht. Takuya winkte ihnen schon von weitem. Lev stand neben ihm, und Yuuki wusste, dass es Lev war, trotzdem erkannte er ihn mehrere Minuten lang nicht. „Woah“, war Sous ausgesprochen eloquenter Kommentar auf den fremden Anblick, „Lev, du siehst so krass aus! Total anders!!“ Lev grinste breit, zufrieden. Yuuki fand, dieses Grinsen sah nicht mehr halb so harmlos aus wie vor einer Stunde noch; inzwischen wirkte es fast gefährlich. Er war sprachlos. Lev sah richtig gut aus. Besser, als Yuuki erwartet hätte, einfach weil – ihm war nicht bewusst gewesen, dass Lev attraktiv war. Es war eine sehr seltsame Erkenntnis, und irgendwie hätte er sie auch gar nicht ganz gebraucht. „Meint ihr, es gefällt Yaku-San?“ „Also mir gefällt‘s“, verkündete Sou grinsend. Yuuki nickte wild, fand endlich seine Sprache wieder: „Mir auch!“ – „Und mir.“ Takuya grinste breit in die Runde, klopfte Lev auf den Rücken.   „Los. Zeit fürs Essen. Und wenn der Kerl nicht völlig sprachlos vor Begeisterung ist, dann ist dem auch nicht mehr zu helfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)