Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 10: ------------ Sie lachten und schwatzten, als sie das Schulgebäude hinter sich ließen. Winkten, wünschten ein schönes Wochenende, viel Spaß noch – die übliche Leier. Eigentlich. Tatsache war allerdings, dass Shou sich gehörig verarscht fühlte von den feixenden Gesichtern einiger Teamkollegen, während er mit Koharu und Ninouchi – ausgerechnet der! – zurückblieb, die Arme vor der Brust verschränkt. Shirabu war auch noch da, vermutlich, um aufzupassen, dass sie auch ja nicht wegliefen und versuchten, ihrer Strafe zu entgehen. Es war ein schlechter Witz. Es war eine einvernehmliche Prügelei gewesen! Niemand war zu Schaden gekommen, der nicht hatte zu Schaden kommen wollen, und sie hatten niemanden belästigt. Mit welchem Recht wurden sie nun also bestraft? Es war eine Argumentation, die Shirabu völlig kalt ließ. Seijohs Captain auch, denn der unterstützte die ganze Idee schließlich. Sie standen nur ein paar Minuten dumm auf dem Schulhof herum, bis er in Begleitung von zwei anderen Spielern kam. Da war Schmiergesicht-Kun, dessen Grinsen heute noch aufgesetzter wirkte als sonst – ein bisschen so, als habe er selbst Mühe, es aufrecht zu erhalten. Ein Stück hinter ihm und dem Captain ging ein Kerl mit grimmiger Miene und geradezu hasserfüllt aggressivem Blick. Vize-Captain, wenn Shou sich recht erinnerte, aber ehrlich, so interessant war es ihm auch einfach nicht. Er wusste, der Kerl würde ihr Aufpasser sein, und dummerweise war auf den ersten Blick sichtbar, dass mit dem nicht gut Kirschen essen war. Zwei Tage. Den Rest des Freitags, den gesamten Samstag, und den halben Sonntag. Zwei Tage, die sie gute Miene zum bösen Spiel machen mussten, damit sie danach wieder Ruhe hatten von allem lächerlichen Theater.   Mit verschränkten Armen beobachtete er, wie die beiden Captains sich kurz unterhielten. Es war ihm schon bei ihrem letzten Match aufgefallen, aber Shirabu und die Schmalzlocke schienen sich ziemlich gut zu verstehen. Schien ja fast so, als hätten die zwei aus ihren gemeinsamen Strafplänen noch eine schöne Möglichkeit gemacht, sich anzufreunden. Bah. Das war doch widerlich. Ein schiefer Seitenblick zu Koharu zeigte, dass er ähnlich begeistert war. Shou war überrascht, wie ruhig er war; im Vorfeld hatte er gespuckt und gezetert, als er von der Idee gehört hatte. Scheinbar hatte der Winzling sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wäre wirklich neugierig, wieso er so unglaublich große Probleme mit Schmiergesicht hatte. Gut, es war Koharu, das allein war eine Erklärung, er kam mit kaum jemandem aus, weil er einfach zu zickig war – aber trotzdem. Es war selbst für Koharu-Verhältnisse extrem. „Also dann.“ Shirabu riss ihn aus seinen Gedanken. Ein kaum sichtbares, süffisantes Grinsen lag auf seinem Gesicht. „Ich wünsche euch viel Spaß.“ Er klang ungefähr so ehrlich, wie Schmiergesichts Grinsen aussah. Zusammen mit Seijohs Captain verließ er das Schulgelände. Zurück blieben Schmiergesicht und der grimmige Vize-Captain, dessen auffällig tiefliegend dunkle Augen Shou an irgendwelche lächerlichen Emo– oder Gothictypen erinnerte. Oder glitzernde Vampire. Er presste die Lippen zusammen, um nicht gleich laut loszulachen; dass er sich amüsierte, schien der Kerl dennoch zu sehen, denn seine Augen verengten sich kaum merklich, aber besorgniserregend bedrohlich. Eindeutig kein gut Kirschen essen mit dem. Aber es war nicht, als könnte Shou aus seiner Haut raus. Lässig verschränkte er die Hände hinterm Kopf. „Hey, Twilight Sparkle~ Kriegen wir ne Vorstellungsrunde? Glaube nicht, dass sich irgendjemand hier deinen Namen gemerkt hat.“ Koharu erstickte sein Lachen hinter seiner Faust. Dass Ninouchi nicht lachte, danach brauchte Shou gar nicht zu sehen. Dass Schmiergesicht lachte, störte ihn hingegen immens. Tse. Den wollte er nicht zum Lachen bringen! Der Boss fürs Wochenende schien überhaupt nicht amüsiert zu sein. Er trat zu Shou, packte ihn grob am Kragen. Er war kleiner, wenn auch nicht viel, aber allein deshalb konnte Shou ihn nur schwer ernstnehmen. Sein Blick, der ziemlich klar aussagte, dass er auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschreckte, machte ihn aber doch wieder ernstzunehmender. Er nahm es zum Anlass, sich zumindest nicht noch weiter aus dem Fenster zu lehnen. „Kyoutani Kentarou. Merk es dir, beim nächsten Mal setzt’s Prügel.“   „Charmant“, murmelte Koharu spöttisch. Er hob die Augenbrauen. Die nächsten Worte sprach er lauter: „Passt zum Rest seines Teams.“ Es sah nicht wirklich so aus, als ob Schmiergesicht es als Beleidigung nähme. Eher im Gegenteil, er lachte gackernd. „Koharu, sei nicht so frustriert~ Es ist nicht Ken-Sans Schuld, dass die einzigen Typen in deinem Team, die halbwegs gut gebaut sind, hässlich wie die Nacht sind.“ „Halt die Klappe, Kogami! Niemand fragt nach deiner Meinung!“ „Och… doch. Ich frage“, mischte Shou sich grinsend ein. Er überbrückte die kurze Distanz, bis er direkt vor Schmiergesicht stand. „Erzähl mal. Fall ich unter hässlich oder schlecht gebaut?“ So wie das klang, schlug sich Koharu gerade die Hand gegen die Stirn. Für einen Moment sah Kogami verblüfft aus, dann lachte er, und Shou war sich sicher, dass es das erste ehrliche Lachen war, das er von dem Jungen hörte. Seine Augen blitzten amüsiert, während er eine Show daraus machte, sich übertrieben vorzubeugen, um den kleinen Größenunterschied zwischen ihnen wettzumachen. Wäre Shou auch nur ein paar Zentimeter kleiner, es hätte ihn wohl gestört. So aber erwiderte er Schmiergesichts grinsenden Blick nur ähnlich breit grinsend. „Ich glaube, darüber müssen wir noch einmal reden, Leberfleck-Kun~“ „Shou reicht, Schmiergesicht-Kun.“ – „Teruo bitte. Oder Teru.“   „Hört auf zu flirten, oder ich kotze!“ – „Awww. Koharu, keine Sorge, zwischen uns ist immer Platz für dich~“     ***     Das erste, das Shou während des abendlichen Trainings unter Twilight Sparkle lernte, war die Tatsache, dass der verdammte Dreckskerl verflucht gut war. Das zweite, das ihm auffiel, war die Tatsache, dass ihre Captains, ob absichtlich oder nicht, eine verblüffend gute Trainingssituation geschaffen hatten. Sie waren alle Außenangreifer, außer Libero Koharu. Ihr unfreiwilliger Lehrer war geradezu brillant – es wäre unmöglich, nichts von ihm zu lernen. Für Koharu war es ebenfalls ein gutes Training, die übers Netz geschmetterten Bälle anzunehmen. Oder es zumindest zu versuchen. Es war verstörend, wie oft er an Kyoutanis Schmetterbällen scheiterte. Kurzum: Das war sogar ein Punkt, hinter dem Shou stehen konnte. Das Training war produktiver, als er es ursprünglich erwartet hatte, und er hatte das Gefühl, dass er das Wochenende nicht ganz vergeuden würde. Auch wenn die Trainingsmethoden nicht gerade die besten waren, und ihr Trainer auch nicht gerade die charmanteste Art hatte, seine übertriebenen Forderungen an den Mann zu bringen, so war es, alles in allem, etwas, womit Shou gut leben konnte.   Womit er nicht leben konnte, war alles, was danach kam.   Es fing an mit dem Abendessen. „Ich kann nicht kochen“, verkündete Twilight Sparkle völlig unbekümmert und desinteressiert. Mit den Worten „Ihr macht das Essen“ marschierte er zur Dusche ab und ließ sie allein in der Küche. Shou konnte nicht kochen. Er bekam es hin, Cupnudeln zuzubereiten, wobei er immer unnötig viel Sojasauce hineinkippte, und er schaffte mit ein bisschen Liebe noch ein Rührei oder ein Sandwich, was nun auch wirklich keine Meisterleistung war, aber schon beim Reiskocher fing es an aufzuhören. Er wusste, dass Koharu ähnlich gut mit allem umgehen konnte, was Kücheninventar war. Es war zufällig einmal Thema geworden. Hätte er keine Eltern, die für ihn kochten, würde Koharu sich wohl auch nur von Instantnudeln und Tiefkühlpizza ernähren. „Ich glaube“, kommentierte Shou schließlich grinsend, lehnte sich lässig zurück gegen die Arbeitsplatte in seinem Rücken, „Die große Frage ist, wer kann hier überhaupt kochen?“ Koharu schüttelte ganz wie erwartet den Kopf. Ninouchi schob gewichtig die Brille auf die Nase. „Es ist auch nur eine andere Form von Chemie. Wenn wir ein Rezept haben, kann es nicht so schwer sein.“ – „Dann macht ihr mal~“, singsangte Schmiergesicht amüsiert, „Das einzige, was ich zum Kochen bringe, ist das Blut meiner Mitmenschen.“ Er grinste dreckig, die Augenbrauen eindeutig erhoben, während Koharu einen Laut von sich gab, der verdächtig nach Kotzerei klang, ehe er murmelte: „Aber auch nur vor Wut.“ „Ganz egal, warum, Haru. Dein Blut kocht~“   „Ihr könnt später weiterkochen“, unterbrach Shou, beschließend, dass er nicht riskieren wollte, dass ihr emoglitzernder Trainingscampvorsitz sie alle vermöbelte dafür, dass kein Essen auf dem Tisch stand, wenn er es wollte, „Sobald wir unser Abendessen haben. Ninouchi, nachdem du glaubst, das läuft so gut – würdest du bitte?“ So wenig Shou den Kerl auch wirklich leiden mochte, er hatte so seine positiven Seiten. Er gehorchte. Er tat, was man ihm sagte. Er machte sich vergleichsweise nützlich. Nach nicht einmal zehn Minuten hatte er ein Rezept gefunden, das sie mit den Zutaten, die sich hier befanden, kochen konnten. Weil Ninouchi ein weitsichtiger, vernünftiger Mann war, hatte er sogar direkt eines gesucht, für das ihre Zutatenmengen reichten, um eine extrem große Portion zu kochen, die sie über das ganze Wochenende bringen würde. Gut, Frühstück würden sie wohl trotzdem noch machen müssen, aber irgendwer würde es schon schaffen, den Reiskocher sinnvoll zu bedienen und ein bisschen Gemüse dazu zu braten oder so. Mit ein paar Kochschürzen ausgestattet – Schmiergesicht kommentierte feixend, dass sie doch viel attraktiver wären, wenn sie nichts drunter trügen –, machten sie sich daran, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch für das geplante Curry zu zerteilen, während Ninouchi ihr Handeln mit seiner trockenen, monotonen Stimme dirigierte. „Das ist doch lächerlich!“, zeterte Koharu unwillig. Er hackte auf eine Karotte ein, als hätte sie ihm persönlich etwas angetan und warf die wenig uniformen Stücke dann in die Schüssel vor seiner Nase. „Wir sind Volleyballspieler! Keine– keine Küchenmägde!“ „Ach, aber so ein Kleidchen würde dir stehen, Koharu. Sicher, dass du es nicht mal ausprobieren willst?“ Die Karotte, die er gerade hatte zerhacken wollen, flog in Schmiergesichts Richtung. Shou grinste amüsiert. „Natürlich würde es Koharu nicht stehen“, stimmte er dem wütenden Fluchen des kleinen Jungen bei. Er sah verblüffte Dankbarkeit in Koharus Blick, die ihn nur noch breiter grinsen ließ. „Sein Hintern ist viel zu klein, um so ein Kleid hübsch auszufüllen.“   Shou wusste, dafür würde es eine bittere Rache geben, die noch weit über die Zwiebel hinaus ging, die ihm gegen den Kopf geworfen wurde, aber das war es absolut wert. Es machte einfach zu viel Spaß, Koharus Gesicht zum Entgleisen zu bringen. „Halt dein Maul, du verdammter Vollidiot!“ „Ihr solltet aufhören, mit dem Gemüse zu werfen. Das ist nicht hygienisch.“ „Oh Gott“, stöhnte Schmiergesicht lachend, „Könnt ihr diesem Typen mal den Stock aus dem Arsch ziehen?“ – „Unmöglich. Der Stock ist festgewachsen.“ Ninouchi sah gar nicht amüsiert aus über das Gespräch, doch er schwieg, während er nur mit missbilligend verschränken Armen dastand. Erst jetzt fiel Shou auf, dass der Kerl sich irgendwann noch ein Kopftuch umgebunden hatte. Er sah aus wie ein Cafeteria-Helfer. Absolut lächerlich. Um sich weitere Predigten zu sparen, hob er die Zwiebel vom Boden auf. Selbst Schmiergesicht war brav und wusch die Karotte inzwischen ab, die Koharu ihm entgegengepfeffert hatte. Die Art, wie er sie wusch, erinnerte Shou an ganz andere Dinge. Koharu auch, so angewidert, wie er zusah, und so angewidert, wie er immer noch war, als er sie wieder entgegennahm. „Weißt du, du solltest etwas sanfter mit dem Zeug umgehen. Oder bist du beim Masturbieren etwa genauso grob?“ „Halt dein Maul, verdammt!!!“ Er machte Anstalten, wieder etwas zu werfen, aber diesmal hielt Shou ihn davon ab. Ehrlich, Ninouchi war schon nervig genug, wenn er den Mund hielt. Koharu warf ihm ein missgelauntes Funkeln zu, schnaubte dann etwas, das verdächtig nach Verräter klang und machte sich daran, die gerade zurückbekommene Karotte in genauso ungleichmäßige Stücke wie die letzte zu zerhacken. Er schien es nur dieses Mal mit noch viel mehr Enthusiasmus zu tun. Immer wieder warf er einen Blick zu Schmiergesicht hinüber, der bei dem Anblick tatsächlich schmerzvoll das Gesicht verzog. Scheinbar war eine lebhafte Fantasie manchmal auch ein echter Nachteil.   Irgendwie kam das Gemüse ohne weitere Zwischenfälle in den Kochtopf, und ab dem Punkt gaben sie alle Arbeit an Ninouchi ab. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen, dass das Essen nicht schmeckte, und außerdem war die Brillenschlange doch fest davon überzeugt, dass er mit seinem Rezept ein schmackhaftes Gericht zustande bekam, also bitte, sollte er nur. Shou saß sowieso lieber am Küchentisch und entspannte sich. Schmiergesicht saß ihm gegenüber, rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf die Lehne gestützt. Koharu saß auf der Arbeitsplatte in der Nähe, als könnte er damit seine geringe Körpergröße kompensieren. „Hey“, sagte er plötzlich. Ein Blick in Koharus Gesicht zeigte einen ungewöhnlichen Anblick – das kleine Babyface war mal nicht zu einer griesgrämigen Fratze verzerrt, oder zu einem gemeinen Grinsen, sondern er sah ernsthaft arglos aus, unschuldig beinahe. Wie es sich für einen Jungen mit einem solchen Gesicht auch gehörte. Für Shou war das ein Anlass, dass bei ihm alle Alarmglocken losschrillten. Er warf einen kurzen Blick zu Schmiergesicht hinüber. In seinen Augen lag ein wahnsinniges Funkeln, das Shou ziemlich sicher glauben ließ, dass auch er genau wusste, was dieses Gesicht bedeutete. Ärger. „Ihr geht gleich nicht sofort ins Bett, oder?“ Schmiergesicht verneinte. Shou verneinte nach einem kurzen Augenblick ebenfalls. Selbst wenn er die nächsten Stunden damit zubrachte, mit seinem Handy im Internet zu surfen, würde es ihm zu langweilig sein, allein auf seinem Futon herumzulümmeln. Koharus kleiner Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln, das viel zu fröhlich und viel zu wenig unheilverkündend aussah, um nicht unheilverkündend zu sein. So langsam ahnte Shou, dass hier die Retourkutsche kam.   „Wer spielt mit mir Kokkuri-San?“     ***     „Shou, sei keine Memme.“   Koharu grinste so breit, dass es seine Augen zu Schlitzen verengte. Er hatte ein Blatt Papier vor sich liegen und kritzelte gerade eifrig einen Zeichensatz darauf. Eine Zehn-Yen-Münze lag unschuldig neben dem weißen Papier. „Sogar Kyoutani-San spielt mit.“ Die eine Sache, die Shou wirklich nicht verstand. Dass Ninouchi, die Spaßbremse, mitmachte, nur, um dann zwischendurch langweilig spaßbremsend darüber zu lamentieren, wieso das alles ausgemachter Humbug war, verstand er sogar. Aber Twilight Sparkle? Passte einfach nicht ins Bild. Vielleicht war das Curry doch nicht so gut gewesen, wie es auf den ersten Eindruck geschmeckt hatte, und irgendetwas Verdorbenes hatte seinen Verstand angegriffen. Andererseits… Shou seufzte schwer, als er daran dachte, wie er am Morgen beinahe über eine schwarze Katze gestolpert wäre. Der Tag hatte schon mit Pech angefangen. Wieso hatte er das hier nicht vorhergesehen? Er konnte immer noch einfach ablehnen. Es war nicht, als könnte ihn jemand daran hindern, aber andererseits – wollte er wirklich zum Gespött der Leute werden? Jeder wusste, dass Kokkuri-San absolut ungefährlich war. Kinderkram.   „Heeey, Leberfleck-Kun~ Machst du bitte das Fenster auf?“   Schmiergesichts Stimme ließ Shou missgelaunt aus seinen Gedanken auftauchen. Während er aufstand, um zum Fenster zu laufen, rief der Kerl ihm noch hinterher, dass er bitte auch das Licht ausmachen solle – so fürs richtige Ambiente. Immerhin hatten sie keine Kerzen. Nur ein paar Handytaschenlampen, die sie mit orangeroten Tüchern aus dem Bestand des Theaterclubs abgedeckt hatten, um für ein schummriges, warmes Licht zu sorgen. Es war natürlich Koharus Idee gewesen. Shou nahm sich fest vor, dass der kleine Bastard hierfür ordentlich Ärger bekommen würde. Er gab ihm genug Vorlagen, er würde etwas finden. Und wenn er ihn versehentlich mit Schmiergesicht auf dem Klo einschließen musste. Wieder zurück an seinem Platz ging das Spiel los: Jeder von ihnen platzierte seinen Zeigefinger auf der Münze, auch wenn Koharu ein unglaubliches Theater darum machte, bloß so zu sitzen, dass er Schmiergesichts Finger nicht berührte. Einige Sekunden verharrten sie so. Koharus braune Augen glühten im Licht der Handylampen, als stünden sie in Flammen. „Bereit?“ Shou war nicht bereit. Er nickte trotzdem, denn er wusste, dass er keine Chance hatte, hier noch einmal herauszukommen. Und es hinauszuzögern machte einfach auch nichts besser. Koharu grinste ihn an, fast, als wolle er sagen hab doch keine Angst~, dann begann er in einem viel zu freudigen Singsang, das kleine Ritual abzuspulen: „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wenn du hier bist, bewege bitte diese Münze.“ Stille. Für einen langen Moment regte sich rein gar nichts. Shou schluckte, hatte das Gefühl, er müsste dabei an seinem Herzen vorbeiwürgen, das ihm bis in den Hals hineinschlug. Von draußen wehte flüsternder Wind herein.   Die Münze bewegte sich.   „Wer von euch war das?“, fragte Ninouchi sofort. Nicht alarmiert oder besorgt, einfach nur missbilligend, dass irgendjemand wirklich solche billigen Späße spielte, „Sakase?“ – „Was? Nein! Das war Kokkuri-San! Ganz bestimmt!“ Shou hasste es, dass er ihm recht gab, und deshalb schluckte er jeden Kommentar mühselig runter. Ninouchi schüttelte nur den Kopf. „Ausgeschlossen. Es ist erwiesen, dass es keine Geister gibt. Jede Art von paranormaler Aktivität kann mit wissenschaftlichen Mitteln erklärt und zumeist als Trickbetrug enttarnt werden. Es ist ganz klar, dass jemand hier die Münze führt.“ – „Und selbst wenn“, patzte Koharu zurück, „Lass uns unseren Spaß, du Lahmarsch.“ Sehr zu Shous Leidwesen tat Ninouchi genau das und ließ ihnen ihren Spaß. Er zuckte nur noch die Schultern, rückte seine Brille mit einem Schnauben zurecht, schwieg ansonsten aber. Koharu grinste triumphal in die Runde, hob die Augenbrauen, die durch die Lichter von unten beleuchtet wurden. „Also? Wer hat ne Frage? Und wer traut sich, sie auch zu stellen?“ „Ich mach das“, verkündete Schmiergesicht lachend. Zum ersten Mal war Shou so richtig auf seiner Seite, weil er Koharus Fröhlichkeit damit zum Bröckeln brachte. Er räusperte sich gewichtig. „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wer hier im Raum hat den Kleinsten?“ Koharus Gesicht entgleiste. Shou, gegen seinen Willen, lachte, doch der Laut blieb ihm schnell im Hals stecken, als die Münze sich zu bewegen begann. Es war nur so lange lustig, wie er nicht daran dachte, dass sie hier gerade mit einem Geist spielten. Sa-Ka-Se. Schmiergesicht lachte laut. „Wusst ich’s doch~“ – „Du weißt gar nichts, du schummelnder Bastard! Hör auf, die Münze zu manipulieren!!!“ – „Hah? Ich tu gar nichts~ Bedank dich bei den Geistern dafür, dass es nun offiziell ist, Kleiner.“   Koharu ließ das natürlich nicht auf sich sitzen. Mit der freien Hand langte er in Schmiergesichts Richtung, aber so richtig helfen wollte das nicht – er kam kaum an ihn heran, und auch seine wüsten Beschimpfungen schienen an seinem Grinsen abzuprallen.   Ein paar Minuten vergingen mit dem Zank der beiden, bis Twilight Sparkle sich knurrend einmischte und sie dazu anhielt, entweder weiter zu machen oder das saudumme Spiel abzubrechen. Wenn sie streiten wollten, konnten sie das auch ohne lächerliche Okkultshow tun. Shou stimmte ihm darin aus vollem Herzen zu. Leider schien Koharu seine Rache über seinen Streit zu stellen, also ging es weiter. Die Fragen waren harmlos. Ob aus Respekt vor der Antwort, oder weil ihnen nichts Besseres einfiel, das wusste Shou nicht, und er wollte auch nicht so genau darüber nachdenken. Nach ein paar lächerlich simplen Fragen über Dinge wie Lieblingsessen und schlechteste Schulfächer der Anwesenden wurde es Schmiergesicht offensichtlich wieder zu langweilig, denn seine nächste Frage schlug genau in die gleiche Richtung wie seine Letzte: „Kokkuri-San, Kokkuri-San! Wer hier im Raum hat den Größten?“ Die Münze bewegte sich. Inzwischen hatte sich Shou fast an das seltsame Gefühl gewöhnt, mit dem sein Finger von der Münze über das Papier geführt wurde, doch es wurde nicht weniger beunruhigend. Ki-Yo-U-Ta-Ni. „Nicht wahr“, murmelte Schmiergesicht mit Augen so groß wie Unterteller. Er sah zu benanntem Kerl hinüber, dann zu Ninouchi, dann zurück. Schüttelte den Kopf und sah einfach nur fassungslos aus. „Das kann nicht stimmen“, wiederholte er noch einmal. „Aber, aber, Teru. Nimm die Wahrheit hin~“ „Es stimmt natürlich nicht“, mischte Ninouchi sich ein. „Da die Antwort niemand hier kennen kann, ist das nur eine hanebüchene Spekulation von einem der Anwesenden, der die Münze manipuliert.“   Shou ahnte, dass das nicht klug gewesen war. Das Gesicht von Seijohs Unheilstifter bestätigte seine Ahnung viel zu schnell. „Er hat Recht. Wir können gar nicht wissen, ob es stimmt, oder ob der Geist uns belogen hat. Und wisst ihr, was wir deshalb tun sollten?“ Schmiergesicht grinste. Koharu schlug seine Hand so fest gegen die Stirn, dass Shou schon vom Zuhören Kopfweh bekam. „Nein. Wir machen keinen Schwanzvergleich!“ – „Du hast nur Angst vor der Wahrheit~“ – „Hab ich nicht!“ – „Dann können wir es ja tun?“ Mit einem empörten Schnauben schüttelte Koharu den Kopf. „Warum sollte ich?! Niemand will dir seinen Schwanz zeigen, du perverser Idiot!!!“ – „Aber dann sehen wir, ob hier wirklich ein Geist am Werk war, oder doch nur ein gelangweilter Troll.“ – „Oder jemand, der sehr gut im Raten ist“, unterbrach Ninouchi, aber niemand schien ihm so recht zuhören zu wollen. Die Wahrscheinlichkeit, beide Male richtig zu liegen, war nicht besonders hoch. Shou würde auch nicht an Zufall glauben. Er schluckte hart – und vielleicht ein bisschen zu laut. Koharu blickte zu ihm hinüber, seine Augen funkelten immer noch angriffslustig, doch nach einem langen Moment verzogen seine Lippen sich trotzdem zu einem Lächeln, das eher aussah wie die Fratze einer winzigen, wütenden Furie. „Schön“, schnaufte er, „Beenden wir das hier. Und dann tun wir’s.“ „Ich glaube, Leberfleck-Kun, dass ich dir danken muss~“ – „Spar’s dir, Schmiergesicht-Kun.“ Koharu verabschiedete den Geist, und nachdem er scheinbar ganz sicher verschwunden war, zerriss er das Papier in fünf etwa gleichgroße Stücke und reichte jedes einem der Spieler, um es in winzigste Schnipsel zu zerlegen. Es war eine seltsam beruhigende Tätigkeit, fand Shou  zumindest, trotzdem konnte er die Nervosität nicht abschütteln, die schon eine Weile an ihm hing, genauso wenig wie das kribbelnde Gefühl im Nacken. Als würde ihn jemand beobachten…   Es wurde nicht besser, als ihre folgende Tätigkeit herausstellte, dass der Geist in beiden Fällen richtig gelegen hatte.     ***     Samstag war eine Katastrophe. Shou war todmüde, weil er viel zu schlecht und zu wenig geschlafen hatte. Koharu war kratzbürstiger denn je, während Schmiergesicht so fröhlich durch die Schule hüpfte, als wäre er auf Wolke Sieben. Sie kamen ungefähr zehn Minuten ins Training hinein, bis Koharu sich fauchend auf ihn stürzte, offenbar in der Absicht, ihm die Augen auszukratzen. Ninouchi ging dazwischen, weil er zufällig danebenstand und hielt ihm eine Predigt über Teamwork und alle die schönen Dinge, die eindeutig im einen Ohr hinein– und im anderen wieder hinausging. „Spar dir deine blöden Geschichten! Dieser Wichser fragt es sich doch!“ – „Aber Ha-ru-Chan~ ich sage nur die Wahrheit! Wir haben es alle gesehen~!“ Bevor er noch einmal auf den grinsenden Mistkerl losgehen konnte, war Twilight Sparkle angekommen, um ganz heroisch den Streit zu beenden, indem er Koharu aus der Sporthalle warf und Schmiergesicht ein Straftraining aufdrückte. Weil Shou wenig Motivation hatte, gerade hier zu bleiben, folgte er Koharu hinaus. Er saß auf der Treppe vor der Eingangstür, missmutig in die Ferne starrend. Obwohl er kaum aufsah, als Shou sich schweigend neben ihn setzte, wusste er, dass er bemerkt worden war. „Ich hasse diesen Typen“, schnaubte der Winzling nach einigen Minuten bitter.   „Wieso eigentlich? Ich meine–“ Shou zuckte die Schultern. Entspannt stützte er sich auf seine Hände und lehnte sich ein Stück zurück. „So bis auf die perversen Neigungen ist er doch total dein Typ?“ Nicht im Sinne von Typ, aber freundschaftlich. Er war nicht wirklich anders als Shou selbst. Oder Koharu. Sie waren alle drei nicht besonders nett, waren ausfallend, spöttisch, und hackten gerne auf anderen herum. So betrachtet war Schmiergesicht eigentlich die perfekte Ergänzung ihrer kleinen Gruppe. Koharu schüttelte nur den Kopf. Er war still, starrte immer noch hinaus. Von drinnen ertönte immer wieder das Geräusch eines vom Boden abprallenden Volleyballs. An der Lautstärke konnte Shou erkennen, ob es Ninouchi oder Twilight Sparkle war, der gerade den Ball schmetterte. Weil sich kein dritter Ton mit hineinmischte, ging er davon aus, dass Schmiergesicht noch mit seiner Strafe beschäftigt war. Oder dass seine neue Strafe das Zuspielen war. Ein paar Minuten saßen sie so da. Schweigend nebeneinander, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren. Dann stand Koharu abrupt auf, klopfte sich den Treppenstaub vom Hosenboden. „Das ist ja das Problem“, war alles, was er noch sagte, ehe er sich abwendete und in die Halle zurücklief. „Heeey! Seijoh-Vize-Captain-San! Ich bin wieder abgeregt, können wir jetzt weitermachen?“ Mit einem Seufzen raffte auch Shou sich wieder auf, trottete ebenfalls zurück. Es war nicht sein Problem. Koharu mochte sein Freund sein, aber das hieß nicht, dass sie beieinander ihr Herz ausschütteten und sich durch Lebenskrisen halfen. Es hieß eigentlich nur, dass sie die meiste Zeit einer Meinung waren, den gleichen, boshaften Humor teilten und die gleiche Leidenschaft dafür, ihren Mitmenschen das Leben schwer zu machen.   Wenn er nicht reden wollte, sollte er es lassen. Das Wochenende überlebten sie hoffentlich auch, wenn der kleine Idiot weiter versuchte, seinem schmiergesichtigen Erzfeind an die Gurgel zu gehen.     ***     Karasuno sind raus.   Kenmas Nachricht hatte Tetsurou tatsächlich leidgetan. Er erfragte sich Details, bekam aber nicht sonderlich viel aus Kenma herausgequetscht. Shouyou war sehr wortkarg, erklärte er. Auch wenn es aus den Buchstaben natürlich nicht herauszulesen war, die auf seinem Display waren, hätte Tetsurou schwören können, dass die Nachricht für Kenma-Verhältnisse überdurchschnittlich besorgt klang. Er versuchte es beim Ex-Captain der Krähen, doch der wusste auch nicht allzu viel zu berichten. Sie hatten verloren, schon im ersten Spiel, das sie gespielt hatten. Gegen Seijoh, wobei Tetsurou gewettet hätte, Karasuno würden gewinnen. Ohne Erklärung, warum eigentlich, aber scheinbar ein Fehler, der aus dem Team selbst herauskam. Sawamura klang enttäuscht und frustriert. Tetsurou wäre es auch, wäre das sein Team gewesen.   Das ganze Theater war inzwischen einige Tage her. Er hatte Bokuto versprochen, ihn über die Miyagi-Vorrunden zu informieren, aber über allem Unikrempel war er doch nicht dazu gekommen – zumal Bokuto auch anderes zu tun hatte. Also hatten sie ihr Treffen auf ein Wochenende geschoben, und hier waren sie nun, in Tetsurous Bude, lümmelten auf dem Sofa und knabberten Chips, während sie einen billigen Actionfilm ansahen, in dem sich Explosion an Explosion reihte, ohne dass noch irgendetwas anderes passierte. „Hab gehört, die Krähen sind raus?“, fragte Bokuto schließlich irgendwann knuspernd. Tetsurou nickte. „Jo. Ziemlich erbärmlich sogar. Erstes Spiel. Sawamura sagt, es war Selbstverschulden. Kenma weiß auch nichts Genaues. Krass oder? Beim Camp waren sie gut.“ Bokuto brummte unwillig. „Lahm“, konstatierte er naserümpfend, „Die waren doch mal cool! Der Chibi hätte das Spiel gewinnen müssen!“ Tetsurou sparte es sich, Bokuto darauf hinzuweisen, dass Karasuno nicht nur aus Chibi bestand. „Bro. Du weißt, dass sie wegen dem Chibi verloren haben?“ – „Im Ernst?!“ – „Jo.“ Zumindest, wenn es stimmte was Sawamura so halb in einem Nebensatz erwähnt hatte. Wäre Hinatas Leistung besser gewesen… Die Enthüllung ging damit einher, dass Bokuto ungewöhnlich still wurde. Er knusperte schweigend Chips in sich hinein, während er den Explosionen auf dem Bildschirm folgte. „Bro. Ich bin enttäuscht“, verkündete er schließlich irgendwann. Tetsurou lachte bitter, während er nach einer neuen Chipstüte angelte. „Sag das dem Chibi.“ – „Aber ich hab seine Nummer nicht!!!“ – „Ich richte es Kenma aus.“ So, wie er Kenma kannte, würde er es gnadenlos weiterleiten. War vielleicht auch ganz gut, von dem, was Tetsurou so mitbekommen hatte. Er packte sich sein Handy, tippte eine kurze Nachricht an Kenma ab und warf es dann wieder in die letzte freie Sofaecke. Botschaft übermittelt, damit konnte er sich wieder auf den Film konzentrieren.   Zumindest solange, bis Bokuto ihn wieder unterbrach.   „Bro. Was war das eigentlich mit der Schlange?“ Es war das gefühlt fünfzigste Mal seit dem Trainingscamp, dass diese Frage kam. Tetsurou seufzte genervt, ließ sich gegen die Sofalehne fallen. „Ich hab’s dir schon gesagt. Nichts. Wettschulden. Ich hab ne Wette verloren, ich hab dem Kerl ein Essen geschuldet, und das war’s.“ – „Aber ich dachte, du wollest ihn klarmachen?!“ – „Wollte ich nicht!“ Aber egal, wie oft er das sagte, Bokuto verstand es nicht. Dabei war es nun wirklich nicht kompliziert! Tetsurou konnte diesen Typen einfach nicht leiden, hatte ihn noch nie– Okay. Das war gelogen. An irgendeinem Punkt in seinem Leben hatte er ihn offensichtlich gemocht, immerhin waren sie Freunde gewesen. Aber er mochte ihn jedenfalls nicht mehr, und da konnte Bokuto noch so oft nachfragen, das würde sich nicht ändern. Daishou war der letzte Mensch auf Erden, mit dem Tetsurou etwas zu tun haben wollte. Für ihn war das Thema damit wieder gegessen – er wollte Daishou nicht. Daishou wollte ihn nicht, immerhin eine Sache, in der sie sich mal einig waren. Bokuto konnte sich also einen neuen Aufhänger suchen. Tat er aber natürlich nicht. „…hey.“ – „Mh?“ – „Bro! Du bist ein schlechter Verlierer!!!“ „Was?“ Bokuto sah ihn an, ein paar Chips zwischen die Lippen geklemmt. Seine Augen waren weit aufgerissen und entsetzt, so als hätte Tetsurou gerade irgendetwas ganz furchtbares getan. Eine Babyeule getreten oder so. Er hatte allerdings keine Babyeule getreten, also fühlte er sich an und für sich ziemlich gut und überhaupt nicht in einer Position, in der so ein Blick angemessen war. Ein schlechter Verlierer war er schließlich auch nicht. „Ja Mann!!! Du hast gesagt, du schuldest der Schlange ein Essen wegen der Wette, aber du hast ihm maximal ein halbes Essen ausgegeben! Der hat doch kaum was gegessen!“ – „Und das ist sein Problem.“ Tetsurou verschränkte die Arme vor der Brust. Bokuto sah ihn an, stirnrunzelnd und missbilligend und schüttelte dann ernsthaft den Kopf. „Nein, Bro. Das ist dein Problem! Das ist deine Ehre, um die es hier geht! Er beschmutzt deine Ehre, wenn du diese Wettschulden nicht ordentlich einlöst! Bro! Die Schlange beschmutzt dich!“   Tetsurou wollte sich nicht vorstellen, wie Daishou ihn beschmutzte. Nein. (Unwillkürlich fragte er sich trotzdem, ob da wohl noch mehr Piercings waren, von denen er schlicht nicht wusste, weil sie verborgen lagen.)   Er schnaufte unwillig. Themenwechsel. Themenwechsel war gut. Und das schnell, denn die Bilder im Kopf brauchte er wirklich nicht. „Wo hast du eigentlich Akaashi gelassen?“ „Der hat keine Zeit.“ Bokutos lebhafte Laune war mit einem Mal verflogen. Er verzog das Gesicht zu einer beleidigten Schnute. „Ich hab dir doch davon erzählt, dass die jetzt noch mehr trainieren als Strafe wegen der Volleybälle, ne?“ Tetsurou erinnerte sich lebhaft. Bokuto hatte ihm tagelang in den Ohren gelegen damit, wie gemein und unfair das war, und wie sehr er es auch wollte, wie beneidenswert das war. Jeder wollte doch trainieren, bis er tot umfiel, das war doch überhaupt keine Strafe! (Hey hey hey!!!) Tetsurou hätte es definitiv als Strafe empfunden, denn ehrlich, irgendwo waren einfach Grenzen erreicht. Inzwischen hatte auch Bokuto den strafenden Charakter der Strafe erkannt – nicht etwa, weil ihm aufgegangen war, wie grauenhaft anstrengend so ein Mordstraining auf Dauer war, sondern aus dem banalen Grund, dass das Training bedeutete, dass Akaashi und er sich noch viel seltener sahen als bisher. Jetzt tat es Tetsurou glatt wieder leid, dass er das Thema angesprochen hatte. Er legte Bokuto freundschaftlich einen Arm um die Schultern. „Müsst ihr eben öfter telefonieren, huh?“ Bokuto brummte unzufrieden. Aber Akaashi mag keinen Telefonsex! hing ungesagt in der Luft und Tetsurou grinste amüsiert. Er tätschelte verständnisvoll Bokutos Schulter. Das Schuljahr war erst zwei Monate alt. Tetsurou hoffte ehrlich, dass die beiden ihr Zeitmanagement noch einmal besser auf die Reihe bekamen.   Eine Beziehung, ohne genug Zeit füreinander zu haben, konnte hässlich enden.     ***     Das Handy in Shouyous Hand zitterte, als er auf die Nachricht hinunter sah, die er vorhin bekommen hatte. Bokuto sagt, er ist enttäuscht von dir. … Ich bin es auch. Es war nicht, als Kenma der erste, der ihm so etwas sagte. Von Ennoshita hatte er sich eine richtig lange Predigt anhören müssten, die darin geendet hatte, dass der sonst so gelassene Drittklässler laut geworden war. Der Coach, ganz im Gegensatz dazu, war unglaublich leise gewesen, und das war sogar noch gruseliger gewesen. Takedas Schimpftirade hatte Shouyou kaum noch gehört, weil ihm der Kopf eh schon so schwirrte. Kageyama weigerte sich immer noch, mit ihm zu spielen – oder auch nur mit ihm zu reden. Tsukishima war noch gemeiner als sonst. Er hatte das Gefühl, das halbe Team ging ihm aus dem Weg. Er war selbst schuld. Shouyou wusste das. Das machte nur nichts einfacher! Es war nicht fair. Er wollte spielen! Er wollte– Es wieder gut machen. Er hatte nur keine Ahnung, wie.   Völlig in Gedanken verloren schwebte sein Finger über der Antworttaste, doch er wusste nicht einmal, was er schreiben sollte. Eine Entschuldigung? Half auch nicht mehr. Dass es besser werden würde? Dass es nie wieder passierte? Natürlich passierte es nicht, wenn er nicht spielen durfte. Das Team trainierte gerade, und es war irgendwie ganz selbstverständlich hingenommen worden, dass Narita Shouyous Platz einnehmen würde. Er fragte sich, ob sein Fehlen überhaupt auffiel. Vermutlich nicht wirklich. Also doch, aber es war wohl nicht, als würde es jemanden stören. Er hatte das Handy ohnehin nur hervorgeholt, weil er gedacht hatte, es sei einer seiner Teamkameraden, um ihn dafür zusammenzupfeifen, dass er nach der Schule abgehauen war, statt zum Training zu kommen. „Was machst du denn hier?“ Shouyou wirbelte erschrocken herum, ließ beinahe sein Handy fallen und steckte es hektisch in seine Tasche zurück, fast wie ertappt. „Coach Ukai!!!“ Der alte Mann sah noch genauso fidel aus wie beim letzten Mal, dass Shouyou ihn gesehen hatte. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sein Grundschülerteam scharte sich neugierig um ihn und Shouyou fühlte sich viel mehr nach weglaufen als hierbleiben. Aber das war immerhin etwas, das er wirklich tun konnte. Er ballte die Hände zu Fäusten, dann verbeugte er sich hektisch.   „Bitte erlauben Sie mir, mit Ihnen zu trainieren!!!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)