Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 7: ----------- Keine neue Nachricht. Kein Anruf. Iwa-Chan stand auch nicht plötzlich vor den Schultoren, als Tooru müde das Gelände verließ, Bokkun an seiner Seite, der aufgeregt plapperte und gerade davon erzählte, dass in seinem (ehemaligen) Team ein Typ war, der aussah wie ein Kind von ihm und seinem Lover. Tooru hatte Mühe, seiner hektischen und lauten Erzählung zu folgen, während er damit beschäftigt war, sein Handy mit Blicken zu erdolchen. Natürlich hatte Iwa-Chan sich nicht gemeldet. Es war ihm doch alles nicht wichtig gewesen. Wäre es so wichtig gewesen, er wäre schließlich vorbeigekommen, selbst wenn die Welt unterging! Er seufzte schwer, stopfte das Handy lieblos in seine Tasche zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und hob dann den Blick in den Himmel. Klar. Sonnenschein. Das Wetter war gut, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Regenzeit Einzug hielt und man vorlauter Grau und Grau keine Farben mehr sah. Eigentlich wäre Tooru das gerade sogar lieber gewesen – wie konnte das Wetter es wagen, so sonnig und fröhlich zu sein, wenn es ihm nicht gut ging?!   „Ich will nicht nach Hause!“   Eigentlich war der Ausruf an nichts und niemand bestimmten gerichtet. Für einen Augenblick hatte Tooru vergessen, dass da ein aufgeregt plappernder Eulerich neben ihm war, der tatsächlich das Plappern aufhörte und ihn verwirrt ansah, die Augen groß und weit aufgerissen. „Wie?“ „Na ja. Ich hab halt geplant, erst heute Abend zurückzufahren“, gab er verschnupft zurück. Es stimmte. Eigentlich hätte das Camp ja auch deutlich länger dauern sollen. Dass es jetzt ungeplant früher beendet war, warf Toorus Planung durcheinander, ganz zu schweigen, dass ihm die ganzen Abschiede und Abschiedsreden schwer im Magen lagen. Seijoh kam gut ohne ihn aus, besser, als er erwartet hatte, wenn er ehrlich war. Es freute ihn, aber gleichzeitig war da dieser gehässige kleine Teil in ihm, der sich eigentlich gewünscht hatte, dass sie ohne ihn völlig aufgeschmissen waren. In jedem Fall wusste er nun nicht mehr, was er mit seinem Sonntag anfangen sollte, nachdem er einfach nicht früher zurückfahren wollte. Primär aus dem Grund, dass er ganz genau wusste, dass er nur darauf warten würde, dass Iwa-Chan vor seiner Tür stehen würde, um sich endlich bei ihm zu entschuldigen dafür, dass er der schlechteste beste Freund der Welt gewesen war. Er wusste aber auch genau, dass Iwa-Chan es nicht tun würde. Er würde trotzdem auf Schritte im Hausflur horchen, würde bei jedem fremden Pieps und jedem Knacken der alten Möbel zusammenschrecken und unnötig auf etwas hoffen, das nicht kommen würde. Iwa-Chan war eigentlich noch nie so richtig gut darin gewesen, Toorus Erwartungen zu erfüllen. Immer dann, wenn Tooru nicht damit rechnete, wenn da Erwartungen waren, derer sich Tooru selbst nicht bewusst war, hatte er es doch getan. Aber in diesem Fall? – Keine Chance.   „Hey hey hey! Wir können noch etwas unternehmen!“, verkündete Bokkun grinsend. Er warf die Arme in die Luft und schien jetzt schon unglaublich begeistert von der Idee. Tooru hob die Augenbrauen und sah ihn skeptisch an. Er musste Bokkun nicht lange kennen, um zu wissen, dass er nicht mit ihm allein durch eine fremde Stadt laufen wollte. Bokkun hatte keinen Orientierungssinn. Das hatte Kurocchi mehr als einmal betont, und das hatte Tooru auch am eigenen Leib erfahren, als er schon auf dem Weg zur U-Bahn von der Schule aus mehrfach hatte falsch abbiegen wollen. Sich in Tokyo zu verlaufen klang trotzdem attraktiver, als jetzt nach Hause zu fahren und missmutig die Wohnungstür anzustarren, als sei sie schuld an allem Unrecht, das Tooru widerfuhr. „Und was?“ – „Hmmmmm…“ Offensichtlich hatte Bokkun keine Idee. Tooru hatte auch keine, aber er würde vermutlich allem einfach zustimmen, solange er nur auf andere Gedanken kam. Er schnaubte. „Wir können auf ein Date gehen“, spottete er grimmig. Ein Date. Wo er so drüber nachdachte, er war lange nicht mehr mit einem Mädchen ausgegangen. Das letzte Mal war noch im letzten Schuljahr gewesen, aber seit der Universität hatte er den Kopf zu voll mit anderen Dingen gehabt. Ushiwaka. Der Volleyballclub. Iwa-Chan, der einfach nicht mehr da war, eine Sache, an die sich Tooru überhaupt nicht gewöhnen konnte, obwohl er sie sich selbst ausgesucht hatte. Bokkun sah ihn einen Moment völlig entrückt an. In seinem Blick sah Tooru schon, was er sagen wollte – Aber wir können gar nicht auf ein Date gehen, ich bin doch mit Akaashi zusammen! Dann, ganz plötzlich, riss er die riesigen Glubschaugen auf und begann, geradezu manisch zu grinsen. „Hey hey hey! Wir können uns das Date von Konoha und Komi angucken!!!“ „Und warum sollten wir?“   Bokkun war so nett, es zu erklären. Konoha und Komi, zwei ehemalige Teamkameraden, waren laut Bokkuns Einschätzung wohl schon sehr lange damit beschäftigt, umeinander herumzuschleichen, und außerdem war Konoha übrigens unglaublich beziehungsuntauglich und hatte ganz bestimmt gar keine Ahnung davon, wie ein Date funktionierte. Deshalb wollte Bokkun seinem Date beiwohnen, damit er Konoha per Handy unauffällig Tipps geben konnte, damit er es nicht versemmelte und sich Komi am Ende auch klarmachen konnte. Es klang völlig bescheuert. Tooru fand es wundervoll. Es klang so absolut irrsinnig, dass es mit Sicherheit reichte, einfach gar nicht mehr über seine eigenen Probleme nachdenken zu müssen. „Bokkun~! Dann brauchen wir aber eine gute Tarnung!“ – „Tarnung?“ – „Ja! Stell dir vor, die erwischen uns!“ Bokkun hatte so weit offensichtlich nicht gedacht, denn er blinzelte, dreinschauend wie ein Auto kurz vor einem Unfall. Dann machte er „Oh“, wobei sein Mund sich zu einem kleinen Kreis formte. Die Erkenntnis war angekommen. Im nächsten Moment kam auch die Begeisterung an, und er riss begeistert die Augen und den Mund auf. „Wie Geheimagenten!“ Tooru nickte wild. „Genau so, Bokkun! Los, wir gehen zu dir! Da finden wir sicher alles, was wir zur Tarnung brauchen!“ Er hatte bestimmt irgendwelche Klamotten im Schrank. Und Sonnenbrillen. Bokkun wirkte wie jemand, der unglaublich viel unnützen Tinnef ansammelte, und darunter befand sich unter Garantie eine ganze Menge, das sie nutzen konnten, um sich zu verkleiden. Und wenn es nicht reichte, dann hatte Tooru schließlich auch noch ausreichend Klamotten in seiner Tasche, um ein bisschen nachzuhelfen.   Dass sie gar nicht wussten, wann und wo das ominöse Date war, vergaß er für den Moment vor Begeisterung genauso sehr wie seinen Kummer.     ***     „Drei Stunden. Glaubst du denn wirklich, ich habe den ganzen Tag Zeit, um zu warten, dass du deine Wettschulden einlöst?“   Tetsurous Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Grimasse. Er hasste diesen Kerl einfach. Er hätte es auch schlicht ganz verschieben können, aber nein, er war so großzügig gewesen, seinen Sonntag zu opfern, sogar das Trainingscamp früher zu verlassen, und natürlich bekam er keinen Blumentopf dafür. Hmpf. Er stieß die Luft aus, lächelte gehässig auf sein Gegenüber hinunter und hob in gespieltem Bedauern die Schultern. „Tut mir ja unglaublich Leid… es war einfach wichtiger als du.“ Alles war wichtiger als dieser Kerl. Daishou sah ihn einen Moment lang ungewohnt ernst an, dann schnaubte er und schüttelte nur den Kopf. „Wundert mich nicht“, gab er trocken zurück. Ohne sich noch einmal nach Tetsurou umzudrehen steuerte er einen der Tische an, die vor dem Restaurant standen, das er ausgesucht hatte, um seinen Wettgewinn zu bekommen – ein Essen, spendiert von Tetsurou, der gnadenlos verloren hatte. Er hasste es. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er diese verdammte Wette verloren hatte. Er konnte es nicht fassen, dass Daishou von allen Universitäten in Tokyo sich ausgerechnet die eine hatte aussuchen müssen, die Tetsurou für sich beansprucht hatte. Er konnte es nicht fassen, dass dieses verdammte, schmierige Schlangenvieh immer noch Volleyball spielte, und dass Tetsurou sich nun ernsthaft im gleichen Team befand. Er konnte überhaupt nichts fassen, was mit diesem Kerl zu tun hatte.   Daishou ignorierte ihn. Hatte die Speisekarte aufgeschlagen und studierte sie nun interessiert, während er Tetsurou gegenübersaß, die Beine lässig überschlagen. Er trug mehrere Ringe an den Fingern, die in der Nachmittagssonne glänzten und spiegelten. Genauso wie der Grund dafür, dass Tetsurou die Wette verloren hatte. Piercings. In Daishous Gesicht. Unterlippe. Nasenrücken. Ein Haufen unnötiger Schmuck, den sich kein normaler High-School-Schüler hätte leisten können, allein wegen der Schulordnung. Es war rückblickend kein Wunder, dass Daishou so überzeugt davon gewesen war, dass Tetsurou starren würde, wenn sie sich das nächste Mal nach dem Schulabschluss sahen. Er hatte nicht zu viel versprochen. Tetsurou hatte gestarrt. Tetsurou starrte immer noch. Die kleinen Metallkugeln fingen das Sonnenlicht ein und warfen es wieder zurück, funkelten bei jeder kleinen Bewegung von Daishous Kopf unnötig provokant. Als wollten sie Tetsurou dafür auslachen, dass er ihnen auf den Leim gegangen war. Wahrscheinlich taten sie es wirklich. Wahrscheinlich lachte ihr Besitzer sich innerlich gerade auch noch kringelig. Mit einem missmutigen Laut riss Tetsurou den Blick von Daishous Gesicht los und griff ebenfalls nach der Speisekarte. Im Gegensatz zu seiner unfreiwilligen Begleitung brauchte er nicht lange, um seine Bestellung zu finden, und so hatte er die Karte doch nach wenigen Minuten wieder aus der Hand gelegt und rastlos die Arme vor der Brust verschränkt. Schmale Schlangenaugen waren immer noch auf das Papier gerichtet, als gäbe es nichts Interessanteres. Tetsurous Blick wanderte, blieb wieder an den Piercings hängen, an Daishous Nasenrücken, wanderte schließlich doch tiefer, bis er an seinen Lippen hängenblieb. Er sah, wie sie sich beinahe in Zeitlupe zu einem breiten, unangenehmen Grinsen verzogen, sah die Bewegung der Metallkugeln dabei. „Du starrst immer noch. Bist du wirklich so schockiert?“ Daishous Blick war feixend. Er legte die Karte zur Seite, legte die Hände auf den Tisch und verflocht locker die Finger miteinander. In der Art, wie er sich leicht vorlehnte, Tetsurou entgegen, lag etwas so vertrauliches, dass es nur Spott sein konnte.   „Natürlich bin ich schockiert. Kaum zu fassen, dass du noch hässlicher werden konntest.“   Daishou lachte. Es war kein angenehmer Laut. Künstlich amüsiert, freudig, heuchlerisch harmlos. Verlogen. Wie alles an ihm. Es war das gleiche Gehabe, das Tetsurou auf dem Spielfeld schon immer so ankotzte. Provokant und pseudo-unschuldig. „Du warst noch nie ein guter Lügner.“ – „Du hast keine Ahnung.“ Der Blick der fast zu Schlitzen verengten Augen schien genau das Gegenteil behaupten zu wollen, aber Daishou sparte sich jedes weitere Wort immerhin. Ob das daran lag, dass die Diskussion für ihn beendet war, weil er sich ohnehin im Recht sah, oder daran, dass eine hübsche, junge Kellnerin kam, um ihre Bestellung aufzunehmen, sei allerdings einmal dahingestellt. Tetsurou war es egal – er war zufrieden damit, dass das Thema sein Ende fand. Er brauchte Daishou nicht unter die Nase zu reiben, dass es stimmte. Hässlich war er noch nie gewesen, wenn man nur von der Optik ausging. Und der verdammte Gesichtsschmuck stand ihm. Aber das brauchte Daishou nicht zu wissen. Ganz abgesehen davon, dass die miese Persönlichkeit, die sich hinter dem hübschen Gesicht mit den auffälligen Augen und dem jetzt noch auffälligeren Schmuck versteckte, das wirklich wieder mehr als wettmachte. Seufzend lehnte Tetsurou sich zurück, ließ den Kopf in den Nacken zu fallen. Der Himmel über ihm war grellblau und eine angenehme Abwechslung zu dem Anblick des gehässigen Grinsens ihm gegenüber. Er würde sich nie wieder auf eine Wette mit diesem Kerl einlassen. Und ganz im Ernst – was hatte er denn auch davon? Selbst die Genugtuung, wenn Daishou eine Niederlage einsteckte, war nichts Besonderes. Es gab keinen Wetteinsatz, den er wirklich von ihm haben wollte. Ein spendiertes Essen? Bedeutete nur, dass sie zwanghaft Zeit miteinander verbringen mussten. Tetsurou brauchte das nicht. „Du musst wirklich verzweifelt sein, wenn du sogar mit mir essen gehst“, murmelte er gedankenverloren, ließ es so klingen, als wäre es ein ganz nebensächlicher Gedanke, der ihm gerade erst gekommen war. Es war Blödsinn, und das wusste Daishou genauso gut wie er – das war von vornherein das Thema zwischen ihnen gewesen, kaum, dass der Wetteinsatz entschieden war.   „Du musst noch verzweifelter sein, dass du dich darauf einlässt, Tetsurou.“   „Du hast keine Ahnung, Sug–“   Tetsurou. Tetsurou hielt inne, ungläubig, nicht fähig, zu begreifen, was Daishou gerade gesagt hatte. Eine alte Erinnerung zupfte an den Rändern seines Bewusstseins, etwas, das er schon seit Jahren verdrängt hatte. Ein staubig-heißer Sommertag, ein kleiner Junge, der ihm hinterherlief, in seinem Alter. Wie alt waren sie gewesen? Zehn? Neun? Acht? Jung. Es war so lange her. „Tetsurou, warte!“ – „Beeil dich mal! Ich hab Kenma versprochen, dass ich gleich zu ihm komme!“ – „Tetsurouuuu!“ Es war, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Einem abgedrehten Paralleluniversum. Vielleicht hatte Tetsurou es deshalb verdrängt, weil es einfach so absolut abgrundtief unglaublich war. Weil die Schlange, die ihm gerade gegenübersaß und ihn aus nichtssagend verengten Augen beobachtete, nichts mehr gemein hatte mit dem Jungen mit dem braven Pottschnitt, der so lange nicht von seiner Seite gewichen war. Irgendwann hatte es aufgehört, ganz selbstverständlich. Sie hatten sich nicht mehr nachmittags im Park getroffen. Er hatte nicht mehr bei Tetsurou geklingelt, um zu fragen, ob er rauskommen wollte, genauso wenig, wie das umgekehrt noch passiert war. Es war ein schleichender Prozess gewesen, und irgendwie hatte Tetsurou es nie bewusst gemerkt. Irgendwann war er einfach aus seinem Leben verschwunden, und Tetsurou war so beschäftigt mit anderen Dingen gewesen, mit Kenma, mit Volleyball, dass er es nicht bemerkt hatte. Rückblickend vermisste er ihn aber auch nicht.   Sie waren einmal Freunde gewesen.   Die Erkenntnis traf Tetsurou härter als ein Schmetterball im Gesicht.     ***     Bokkuns Kleiderschrank enttäuschte nicht. Er hatte Hüte, er hatte Sonnenbrillen, er hatte bunte Halstücher und Shirts, die kein normaler Mensch freiwillig tragen würde. Kurzum: Er hatte alles, was sie brauchten, um sich in zwei völlig andere Menschen zu verwandeln. Es war perfekt. Ausgestattet mit einer Baseballkappe für Bokkun, sowie einer auffälligen Sonnenbrille, einem vergleichsweise erträglichen Hut für Tooru und der Brille, die er nahezu nie trug, weil er einfach nicht wollte, waren sie bestens gerüstet, um nicht erkannt zu werden. Dazu bekam Bokkun noch ein paar Klamotten von Tooru, die ihn ein bisschen aussehen ließen wie einen Promi, der versuchte, unauffällig zu sein und furchtbar darin scheiterte, während Tooru sich an den grellbunten Shirts bediente, die er normalerweise nicht einmal für Geld anziehen würde. So ausgestattet ließen sie Bokkuns kleine Chaosbude hinter sich – Tooru fand die Unordnung auf eine eklige Art liebenswert –, um das nächste Shoppinggebiet zu erreichen. Es war aber auch nur logisch – wenn diese beiden ein Date hatten, dann hatten sie es eindeutig dort. Wohin sollten sie auch sonst gehen? Gut, Tokyo hatte sicherlich viel zu viele Ecken, an denen man gut ein Date zelebrieren konnte, aber laut Bokkun lebte zumindest einer der beiden in der Nähe, also war es zumindest einen Versuch wert. Inzwischen war Tooru zwar bewusst, wie unglaublich albern ihr Plan war, aber es war eh zu spät, um noch einmal abzulehnen, und außerdem – es war lustig! Und es war eine großartige Gelegenheit, etwas von Tokyos Zentrum zu sehen, sich zu verlaufen, dann darüber zu jammern, dass sie sich verlaufen hatten, irgendwie zurück zu irren, und vor allem: Mehrere Stunden nicht an Iwa-Chan zu denken.   Während sie durch die Straßen spazierten, bewies Bokkun auf beeindruckendste Art, wieso es das Sprichwort das Glück ist mit den Dummen gab: Sie fanden tatsächlich etwas.   „Das sind nicht Komi und Konoha“, stellte Tooru heraus, als sie sich hinter einen aufdringlich großen Blumenkübel hockten. Bokkun neben ihm starrte völlig entgeistert auf die Szene vor seinen Augen, völlig fassungslos. Sprachlos. Was auch gar nicht so schlecht war, denn Tooru wollte nicht, dass er jetzt mit seinem Gebrüll schon ihre Tarnung ruinierte. „Bro“, murmelte er, schüttelte den Kopf. Wüsste Tooru es nicht wirklich besser, er würde fürchten, dass Bokkun gleich in Tränen ausbrach. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du ein Date has- mmmpf!“ – „Sssshhhhh! Bokkun! Sonst hören sie uns!“ Bokkun nickte hektisch hinter seiner Hand, die Augen erschrocken weit aufgerissen. Er schnappte unnötig dramatisch nach Luft, als Tooru ihn losließ, hustete leidend. Das Drama hielt genau so lange, bis sein Blick wieder auf die beiden Männer an dem Restauranttisch fiel. Augenblicklich kehrte er dazu zurück, entgeistert zu starren. Zugegeben, Tooru war auch sehr überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie statt ihrer eigentlichen Opfer völlig ohne Vorwarnung plötzlich Kurocchi finden würden, der mit irgendeinem Tooru völlig unbekannten Kerl abhing auf eine Art, die Date drei Meilen gegen den Wind blökte. „He. Bokkun. Kennst du den Typen?“ Bokkun nickte mechanisch. Er sah mit einem relativ dümmlichen, starren Blick zu Tooru hinüber, der nur irritiert die Augenbrauen hob. Die Erleuchtung kam nach ein paar weiteren Sekunden, die er Bokkuns starrem Blick ausgesetzt war, und er seufzte, schüttelte den Kopf. „Du darfst auch reden. Aber leise! Sehr leise.“ Was dann hoffentlich normal leise war, wenn Bokkun es umsetzte. Der Kerl nickte, dann sah er zurück zu dem Tisch. Eine Kellnerin brachte gerade das Essen. Kurocchis Begleitung bedankte sich mit einem Lächeln, das, soweit Tooru es auf die Entfernung sehen konnte, sehr charmant aussah. „Das ist Daishou. Kuroo hasst ihn“, informierte Bokkun vollkommen ernst. „Und jetzt hat mein Bro ein Date mit ihm. Ich glaube, er ist kaputtgegangen.“   Tooru prustete amüsiert. Dass bei Kurocchi so einiges kaputt war, unterschrieb er ohne Diskussion. Interessiert nahm er den fremden Kerl noch ein bisschen genauer in Augenschein. Gepflegte Frisur, ungewöhnliches, aber nicht hässliches Gesicht, eine gute Körperhaltung und modisches Gespür. Soweit Tooru das hinter seinem Blumenkübel beurteilen konnte, war er nicht übel.   „Vielleicht ist er auch einfach oberflächlich, Bokkun. Der Kerl ist hübsch.“   „Aber das ist Daishou!“, empörte Bokkun sich sofort – und zu laut. Tooru presste ihm die Hand auf den Mund und signalisierte ihm einmal wieder, leise zu sein. Er bekam ein hektisches Nicken zur Antwort. Er ließ Bokkun wieder los, aber sofort bereit, ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Man wusste ja nie! „Kuroo würde niemals–! Das ergibt gar keinen Sinn! Vielleicht hat der ihn erpresst oder so! Wir müssen näher ran, Oikawa! Wir müssen mitkriegen, was die reden!!!“ Weil Tooru neugierig war, widersprach er nicht. Sie waren gut genug getarnt. Solange sie leise waren, gab es keinen Grund dafür, dass sie sich nicht da in dieses Restaurant setzten und eine Kleinigkeit aßen, nicht wahr? Er grinste, stand aus der Hocke hinter dem Blumenkübel auf. Das hier versprach wirklich, wirklich lustig zu werden.   „Komm. Sehen wir uns das doch aus der Nähe an~“     ***     „Wie geht es Mika-Chan?“   Tetsurou wusste, dass die Frage unter die Gürtellinie zielte. Er lächelte engelsgleich, als Daishou mitten im Essen innehielt und das Gesicht für einen kurzen Augenblick verzog. Tetsurou wusste, wie es Mika-Chan ging. Er wusste, dass überhaupt nichts daraus geworden war, als die beiden Ende letzten Jahres noch einmal versucht hatten, sich anzunähern. Er wusste, dass Mika-Chan Daishou am Ende doch wieder einen Korb gegeben hatte, wenn auch nur aus dem Grund, dass sie für ihre Wunschuniversität ans andere Ende von Japan musste und keine Fernbeziehung wollte. Es war in die Brüche gegangen. Die Erwähnung des Mädchens brachte Daishou ganz wie erwartet für einen kurzen Moment aus der Fassung. Tetsurou fand das nur recht und billig, bedenkend, dass der Kerl ihn mit seiner bloßen Anwesenheit schon auf die Palme brachte. „Wir haben keinen Kontakt mehr“, erklärte er in einem Tonfall, der so unglaublich betont neutral war, als hätte er ihn vor dem Spiegel einstudiert. Bei Daishou wusste man nie; wahrscheinlich hatte er es wirklich getan. „Das tut mir aber Leid für dich…“ „Ich merk es. Aber behalt dein Mitleid lieber für dich. Du bekommst immerhin nicht einmal Mädchen ab.“ Tetsurou knurrte. Natürlich könnte er Mädchen abbekommen, wenn er wollte! Er hatte einfach andere Prioritäten und gerade überhaupt kein Bedürfnis nach einer Beziehung. Er hatte allerdings auch kein Bedürfnis danach, das Daishou zu erklären. Es war anstrengend genug, dass Bokuto das Thema nicht ruhen lassen konnte! Seufzend wollte er sich wieder seinem Essen zuwenden, aber so weit kam er gar nicht, bis sein Gegenüber wieder seine Aufmerksamkeit forderte. „Es wundert mich auch nicht“, fuhr er völlig unbekümmert fort. Er legte die Essstäbchen beiseite, lehnte sich entspannt zurück. Aus dem Augenwinkel sah Tetsurou, dass der Tisch neben ihnen inzwischen besetzt war, dann kam wieder Bewegung in Daishou. Er begann, an den Fingern aufzuzählen: „Mieser Charakter. Miese Prioritäten. Miese Frisur. Mieser Humor. An dir ist doch gar nichts Positives dran.“   „Schau mal in den Spiegel.“   Abgesehen von der Sache mit der Frisur, in der Tetsurou zugeben musste, dass er tatsächlich einfach Arschkarte hatte, sah er nicht, wo Daishou irgendetwas an sich hatte, das ihn zu einer positiveren Gesellschaft machte. Mieser, verlogener Charakter, unangenehmes Ego, kein Sportsgeist, kein Verständnis von Fairness, feige und hinterhältig… So betrachtet hatte Tetsurou es mit seiner Frisur eindeutig besser getroffen als Daishou mit seiner ganzen Existenz. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wann hatte der Kerl angefangen, so eine miese Persönlichkeit zu entwickeln? Tetsurous Erinnerungen gaukelten ihm vor, dass das bei weitem nicht immer so gewesen war. Tetsurous Erinnerungen gaukelten ihm vor, dass er den jungen Mann ihm gegenüber einmal wirklich gemocht hatte, dass er gern Zeit mit ihm verbracht hatte. Freiwillig sein Essen geteilt, im gleichen Bett geschlafen… hatten sie nicht sogar zusammen gebadet? Hatte Daishou ihn wirklich getröstet, als er nach einem blutigen Sturz heulend am Straßenrand gehockt hatte? Es klang wirklich surreal. „Ich fasse es nicht, dass wir mal Freunde waren.“ Die Worte entlockten Daishou ein Lachen, das unerwartet laut daherkam. Tetsurou sah ihn eine Sekunde entgeistert an, dann verfinsterte sein Blick sich unwillig. In Daishous Augen ließ sich rein gar nichts lesen. Tetsurou erkannte nicht, warum er gelacht hatte, aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es einfach nur Spott war. „Ich auch nicht, Tetsurou.“ „Nenn mich nicht so. Wir sind keine Freunde mehr.“ „Ich weiß.“ „Dann lass es.“ „Stört es dich?“ „Offensichtlich.“ Es machte Tetsurou rasend. Kaum jemand benutzte seinen Vornamen! „Warum?“ „Nicht einmal Kenma benutzt ihn, da hast du noch weniger ein Recht dazu.“   Die einzige Antwort, die er noch bekam, war ein Schnauben, das beinahe resigniert klang, ehe Daishous ganze Aufmerksamkeit zu seinem Essen zurückkehrte.     ***     Die Speisekarte war interessanter als das Gespräch am Nebentisch, zumindest für Bokkun. Tooru hatte ihn einige Sekunden mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet, doch offensichtlich war der Kerl viel zu beschäftigt damit, sich sein Mittagessen auszusuchen, als dass er Aufmerksamkeit übrig hätte für das, was da neben ihnen abging. Es war gut, denn sonst hätte er sich sicher lautstark eingemischt, trotzdem war Tooru ein bisschen fassungslos. Es war so interessant! Tooru glaubte nicht, dass Bokkun wusste, dass Kurocchi und der andere Kerl einmal Freunde gewesen waren. Er fragte sich, warum. Das Gespräch gab Aufschluss darüber, dass sie lange keine Freunde mehr waren oder sein wollten, aber wurde so etwas nicht doch einmal Thema? Vor allem, wenn es eine so enge Freundschaft gewesen war, wie die beiden sie offensichtlich gehabt hatten. Wenn sie einmal auf Vornamensbasis gewesen waren… Unwillkürlich verzog er das Gesicht. Er hatte vor vielen, vielen Jahren Iwa-Chan einmal angeboten, seinen Vornamen zu benutzen. Iwa-Chan hatte abgelehnt, mit der Erklärung, dass Tooru einfach nicht so schön zu verballhornen sei. Er hatte sich nie etwas dabei gedacht. Er hätte auch niemals angenommen, Iwa-Chan Hajime zu rufen, einfach nur, weil Iwa-Chan so viel vertrauter geworden war. Angewohnheit eben. Vielleicht bereute er es. Gerade hatte er den Eindruck, dass diese Entscheidung nur noch mehr unterstrich, wie sehr gerade alles zwischen ihnen schief lief. Er seufzte stumm. Wo er hier saß und unauffällig die beiden Männer an dem anderen Tisch musterte, fragte er sich, ob er irgendwann auch so enden würde. In ein paar Jahren. Nach dem Studium. Würden er und Iwa-Chan sich einmal genauso fremd werden? „Ich fass es nicht, dass ich mal mit dir befreundet war.“ Er konnte förmlich hören, wie Iwa-Chan es sagte. Er konnte es vor sich sehen. Iwa-Chan, einige Jahre älter als heute. Aber bestimmt hatte er immer noch die gleiche, schnöde Frisur, die er schon immer gehabt hatte. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen würde viel deutlicher geworden sein, und wahrscheinlich würde er die Augenbrauen zusammenziehen, während er es kommentierte, wodurch sie noch tiefer aussah. Der Tooru in fünf Jahren – oder wie vielen auch immer – würde lachen und unbekümmert tun, obwohl die Worte ihn verletzen würden. Er würde es bestätigen, und er würde irgendwelche Gemeinheiten hintendran hängen, weil es immer einfacher war, zu verletzen, als verletzt zu werden, und am Ende des Tages würden sie auseinandergehen, um sich nie wiederzusehen. Er würde vermutlich auch nie jemandem erzählen, dass er einmal mit Iwa-Chan befreundet gewesen war. Die Erinnerung würde viel zu schmerzhaft sein. War das das Schicksal, das ihnen bevorstand?   In dem jähen Bedürfnis, sich selbst zu beweisen, dass das niemals passieren würde, zog er das Handy aus der Tasche. Er erwartete fest, eine Nachricht von Iwa-Chan zu haben. Egal was. Nicht einmal eine Entschuldigung. Ein wütendes Zetern über ihr letztes Telefonat. Eine grimmige Nachricht darüber, dass Iwa-Chans Terminkalender wieder einmal platzte. Irgendetwas. Nichts. Keine Nachricht. Er starrte sein Handy vernichtend an, starrte auf den Chatverlauf, ohne ihn zu lesen. Die letzte Nachricht war immer noch Iwa-Chans Verkündung, dass er später kommen würde – eine Lüge, wie sich später herausgestellt hatte. Sein Daumen schwebte über dem Texteingabefeld. Er könnte Iwa-Chan selbst etwas schreiben. Er wusste nicht einmal, was. Bokkun sieht aus wie ein Idiot, wenn er die Haare nicht gestylt hat. Die Kappe stand ihm wirklich nicht! Aber was brachte ihm das? Warum sollte er es nötig haben, Iwa-Chan hinterherzulaufen, wo der es war, der ihn ständig hängen ließ?! Er schnaubte unwillig, ließ das Handy etwas härter als nötig auf dem Tisch aufkommen. Der jähe Laut ließ Bokkun von der Speisekarte aufsehen. Er sah zu Tooru, dann auf dessen Handy hinunter, hob die Augenbrauen, während sein dümmlicher Eulenblick noch ein bisschen dümmer wurde. Er dachte nach. Zu einer Erkenntnis kam er bald genug, dann zog er sein eigenes Mobiltelefon hervor, und begann, eifrig auf das Touchpad einzuhämmern. Es dauerte eine ganze Weile, bis er fertig war, und schließlich legte er das Handy hin.   „Hey hey hey!!!“, ertönte es just in diesem Moment gedämpft vom Nebentisch.     ***     Tetsurou fiel vor Schreck beinahe vom Stuhl, als sein Handy klingelte. Hektisch griff er in seine Hosentasche und zog das kleine Gerät hervor, während ihm gegenüber Daishous Augenbrauen bedenklich nah an seinen Haaransatz gewandert waren. Er sah absolut ungläubig aus. „Das ist nicht dein Ernst.“ Natürlich war es Tetsurous Ernst. Er grinste, während er die Tastensperre löste. „Natürlich. So weiß ich immer, wer gerade schreibt.“ Es war doch außerdem witzig, wenn das Handy mitten in der Öffentlichkeit anfing zu brüllen. „Du tust geradezu so, als wärst du mit dem Kerl verheiratet.“ – „Bullshit. Kenma hat auch einen eigenen Klingelton.“ Und zugegeben – das waren auch die einzigen. Nicht einmal, weil die anderen es weniger wert waren, auch wenn Daishous Blick das suggerierte, sondern aus dem simplen Grund, dass er sonst unglaublich wenige Nachrichten bekam. Mit Kenma kommunizierte er oft auf diese Art, ausnutzend, dass Kenma eh ständig an seinem Handy klebte, und Bokuto war ebenfalls jemand, der eigentlich mindestens einmal täglich – stundenlang…  – schrieb. Zu wissen, wann es einer seiner häufigeren Kontakte war, der schrieb, machte es Tetsurou leichter, abzuwägen, wann er das Handy auch mal ruhig ignorieren konnte. (Kenma wurde aus Prinzip nie ignoriert.)   Abgelenkt von Daishou und seinen unnötigen Kommentaren brauchte Tetsurou geradezu lächerlich lange, bis er die Nachricht geöffnet hatte – die ihm komplett in Großbuchstaben vom Bildschirm entgegenschrie. BRO!!! WIESO HAST DU MIR NICHT GESAGT, DASS DU EIN DATE HAST?! WILLST DU DEN KERL ETWA KLARMACHEN?! Woher weiß der das?!, war Tetsurous erster Gedanke. Im zweiten wurde ihm wieder bewusst, dass er überhaupt kein Date hatte oder haben wollte, sondern nur seine Wettschulden beglich. Er schüttelte fassungslos den Kopf, während er eine Antwort formulierte. Nein, er hatte kein Date, das war nur eine verlorene Wette, er würde lieber Bleiche trinken, als diesen Typen klarzumachen. Die kommende Antwort machte irgendwie nicht viel besser. Aber Oikawa sagt, er ist hübsch!!! Oikawa ist auch in einen brutalen, furchtbar gemeinen Kerl verknallt, vergiss das nicht, Bro. Anhand der zahllosen Ausrufezeichen, die Tetsurou danach bekam, war recht offensichtlich, dass Bokuto es natürlich wieder vergessen hatte. Tetsurou hätte es wohl selbst wieder vergessen, hätte er nicht immer noch Mitleid mit dem dummen Kerl und seiner unglücklichen Liebe.   „Wenn du vorhast, jetzt nur noch mit deinem Handy zu flirten, hätten wir uns die ganze Sache sparen können. Das ist ganz schön unhöflich, Kuroo.“   Tetsurou hob den Blick von dem kleinen Bildschirm. Daishou sah unglaublich gelangweilt aus. Er hatte das Kinn auf die Handfläche gestützt und beobachtete Tetsurou aus Augen, die so weit geschlossen waren, dass Tetsurou zwischen den Wimpern kaum noch etwas erkannte. Er verzog unzufrieden das Gesicht, legte das Handy langsam auf dem Tisch ab. Die Bewegung wollte ihn nicht von seinen Gedanken ablenken. Nach dem letzten Gespräch klang sein eigener Nachname nun fremd aus Daishous Mund. Es war doch albern. In dem Bestreben, sich nichts anmerken zu lassen, grinste er Daishou unbekümmert an. „Wir haben kein Date. Wieso stört es dich also~? Hast du dir da etwa mehr erhofft, als du zugeben willst?“ „…nein.“ Mehr nicht. Tetsurou wartete einen Moment, ob er nicht doch noch zurückstänkern wollte, aber es kam nichts. Daishous Blick war nach wie vor wenig aufschlussgebend, er saß einfach da und beobachtete Tetsurou schweigend. Weil sonst nichts passierte, zuckte Tetsurou schließlich nur die Schultern und kehrte zu seinem Handy zurück. Ob er Bokutos eloquente Ausrufezeichenarmee beantworten sollte? Womit denn? Zugegeben, er wusste es nicht. Aber er konnte immer noch über die Wette jammern, oder? Jetzt war es sowieso egal.   „Du hast dich überhaupt nicht verändert, weißt du das eigentlich?“   Tetsurou schreckte aus der halbgeschriebenen Nachricht auf, die Bokuto darüber hätte informieren sollen, dass Daishou ein ätzendes Arschloch war und Tetsurou sich gerade überall hin wünschte, wenn er dafür nur von dem Kerl wegkam. Er würde sogar freiwillig in die Berge gehen! Daishou stand. Tetsurou hatte die Bewegung nicht bemerkt. Sein Blick wanderte von dem Kerl hinunter. Das Essen auf seinem Teller war nicht einmal halb gegessen. Langsam hob sich Tetsurous Augenbraue, während sein Blick zu dem inzwischen ausgesprochen abweisend aussehenden Gesicht zurückkehrte. Das Grinsen, das sich dafür auf Tetsurous Gesicht schlich, war im Grunde schon nur noch ein Reflex.  „Hah? Bist du jetzt beleidigt~?“ „Nein. Ich habe einfach bessere Verwendung für meine Freizeit.“ Daishous Lächeln wirkte geradezu eisig kalt. Er legte den Kopf ein Stück zur Seite. Er hätte freundlich aussehen können, hätte er es gewollt. „Danke für das Essen, Kuroo.“ Er machte Anstalten, zu gehen. Tetsurou hatte sicher nicht vor, ihn aufzuhalten, weil – ernsthaft, warum sollte er? Daishou war keine angenehme Gesellschaft, und er hatte seine Wettschulden eingelöst. Er hatte keine Verpflichtung mehr dem Kerl gegenüber. Fast erleichtert atmete er durch. Es hatte sich zwar überhaupt nicht gelohnt, das Trainingscamp hierfür früher zu beenden, aber dafür hatte er die ganze Sache nun beendet. „Man sieht si–“   „Bro!!! Ich dachte, du wolltest ihn klarmachen!!!“   Für einen Moment, der genauso gut bis zum Ende der Zeit hätte anhalten können, schien die Welt stillzustehen. Tetsurou verstand nicht, was passierte. Daishous Gesicht war in einer Mischung aus Verwirrung und Unglaube entgleist, während Tetsurou selbst sich fühlte, als wären seine Gesichtspartien einfach alle gar nicht mehr an ihrem Platz vorlauter Schreck. Er sprang von seinem Stuhl auf, sah sich ruckartig um auf der Suche nach der Lärmquelle. Sie waren nicht zu übersehen. Bokuto, mit der lächerlichen Sonnenbrille, die sie einmal gemeinsam gekauft hatten, und einer Baseballkappe auf dem Schädel, die er unbedingt hatte haben wollen, aus Gründen, die Tetsurou längst vergessen hatte. Oikawa saß ihm gegenüber und grinste unschuldig, während er zu ihnen hinüberwinkte. Tetsurou erkannte den Hut, den er trug, ebenfalls als Teil von Bokutos Spontaneinkäufen, während die Brille wohl eher Oikawa selbst gehörte. Das grauenhafte Shirt, das Oikawa trug, hatte er Bokuto sogar irgendwann einmal geschenkt, als sie eine Wette darüber abgeschlossen hatten, wer dem jeweils anderen das hässlichere Shirt schenken würde. „Yaho~ Überraschung!“   Tetsurou war völlig perplex. Starrte von Oikawa, der noch immer grinsend winkte, zu Bokuto, der völlig entsetzt aussah, zu Daishou, dessen Mimik immer noch in Unglaube eingefroren war. Das war doch ein schlechter Witz. „Was. Soll. Das?“ – „Brooo!!! Wir wollten eigentlich das Date von Konoha und Komi finden! Und dann haben wir stattdessen dein Date gefunden!!!“ – „Das ist kein Date!“   Langsam wurde es wirklich bescheuert. Tetsurou war ernsthaft überfordert mit der bescheuerten Situation. Resignierend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, rieb sich über den Nasenrücken. Er fühlte sich wie in einem lächerlichen Manga. Oder wahlweise einer schlechten amerikanischen Komödie. Mit dem Unterschied, dass er, im Gegensatz zu dem Protagonisten so einer stupiden Geschichte, tatsächlich rein gar nichts von Daishou wollte. Der stand immer noch völlig entgeistert und fassungslos da, regte sich kaum. Er schien überhaupt keine Ahnung zu haben, was er tun sollte. Es war beinahe befriedigend, jemanden, der gewöhnlicherweise ganz aalglatt durchs Leben kam, so absolut ratlos zu erleben. „Bro! Wieso hast du mir nichts erzählt!?“ Tetsurou seufzte. Er suchte nach den passenden Worten, damit Bokuto das Thema einfach ruhen ließ. Es gab passende Worte. Es gab sie immer. Sie waren nur nicht leicht zu finden. Er suchte zu lange. Er kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, da machte Bokuto den Mund schon wieder auf, die Augen karikativ weit aufgerissen: „Bro!!! Sag mir nicht, das ist der Typ, in den du verknallt bist!!!“ „Ich bin nicht–!“ Jetzt kam wieder Bewegung in Daishou. Er schnaubte, so beißend hasserfüllt, dass es Tetsurou beinahe auf den Magen schlug. „Bro! Natürlich bist du verknallt! Du wolltest mir das doch gestern nur nicht sagen wegen der Leute, die dabei waren! Aber jetzt kannst du es mir sagen! Du kannst ihm sogar gleich deine Liebe gestehen, hey hey hey!!!“ Es war eindeutig zu viel für Tetsurous Nerven. Oikawa versteckte ein Lachen hinter seiner vorgehaltenen Hand, Daishou sah aus, als würde er gleich kotzen, und Bokuto grinste verschwörerisch, als hätte er ein ganz tolles Geheimnis erraten, das Tetsurou eigentlich nicht hatte mit ihm teilen wollen.   Tetsurou seufzte tief, fuhr sich noch einmal mit der Hand durch das Haar. Dass er seine ohnehin nie besonders hübsche Frisur damit noch mehr ruinierte, ignorierte er, so gut es ging. Es war schwer, es ganz zu ignorieren, wo Oikawas kritischer Blick naserümpfend auf seinem Schopf lag. „Bro. Ich will nichts von dem. Schau ihn dir doch an!“ Bokuto sah ihn sich an. Große Augen, nachdenklich-dümmlicher Blick, abschätziges am Kinn kratzen. Als sein Blick zu Tetsurou zurückkehrte, sah er aus, als verstehe er überhaupt nicht, was der ihm hatte sagen wollen. „Bro. Der ist scharf.“ Tetsurou hätte am liebsten geheult und gelacht gleichzeitig vor Verzweiflung. „Ich hasse ihn. Ich würde lieber ne Kakerlake daten als den Kerl!“ Bokuto hob die Augenbrauen. Seine Augenlider senkten sich, bis sein Blick unglaublich träge aussah. Tetsurou ahnte, worüber er gerade nachdachte: Darüber, ob es ein Volleyballteam gab, das sich auf Kakerlaken heruntermünzen ließ. Er unterbrach den dummen Gedanken nicht, denn er bedeutete, dass Bokuto gerade besseres zu tun hatte, als das Thema weiter auszuwalzen. Es war genug. In der Hoffnung, dass Bokuto erst noch eine Weile still bleiben würde, wandte er sich von ihm ab. Oikawa sah aus wie die perfekte Unschuld vom Lande, wenn man einmal davon absah, dass in seinen Augen der Schalk blitzte – er war gut darin, es zu verstecken, aber Tetsurou war besser darin, es zu entdecken. Daishou hingegen sah alles andere als amüsiert aus. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als Tetsurous Blick auf ihn fiel. Einen Augenblick später erwiderte Daishou den Blickkontakt. Der schmale Mund verzog sich wider zu einem breiten Grinsen, das das ganze Gesicht bis zu den Augen hoch verzog, die dadurch nur noch schmaler zu werden schienen. Tetsurou bezweifelte eigentlich, dass Daishou durch die schmalen Schlitze überhaupt noch etwas mehr sah als verschwommene Schlieren.   „Für dieses lächerliche Theater wärest du mir eigentlich noch mindestens zwei Essen schuldig“, kommentierte er mit einer Stimme, die neben dem gesichtsverzerrend breiten Grinsen faszinierend tonlos klang. Tetsurou öffnete den Mund, um einen neuen Witz darüber zu machen, dass Daishou wohl echt dringend ein Date haben wollte, doch weil Bokuto in Hörweite war und es völlig falsch verstehen würde, schloss er den Mund wieder, bevor der Witz Gestalt annehmen konnte. Sein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf, und mit jeder Bewegung schien das Grinsen ein bisschen frostiger zu werden, bis es aussah, als wäre es auf seinem Gesicht eingefroren. Er öffnete die Augen ein bisschen weiter, und in ihnen brodelte unter einer Eisschicht etwas, das Tetsurou weder benennen konnte, noch wollte. „Aber ich kann dankend auf deine Gesellschaft verzichten.“ – „Keine Sorge, das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Tetsurou gab sich Mühe, sein nettestes, falschestes Lächeln zu lächeln, während er sprach. Daishou schnaubte, sah ihn noch einmal kurz an, ehe er seine Tasche schulterte und sich zum Gehen wandte. Das Sonnenlicht ließ die Ringe der Hand, die den Taschenriemen hielt, unruhig glänzen. Er blieb noch einmal stehen, nachdem er kaum einen Schritt getan hatte, sah zu Tetsurou zurück, und das breite Grinsen war von seinem Gesicht verschwunden. Der Ausdruck, der nun darauf lag, war für Tetsurou unlesbar, der Blick der schmalen Schlangenaugen wirkte auf eine seltsam resignierte Art müde.   „Mach’s gut, Tetsurou.“   Selbst seine Stimme klang anders. Für den Bruchteil einer Sekunde war Tetsurou wieder acht Jahre alt und seine ganze kleine Welt bestand aus dem damals winzigen Freundeskreis, den er gehabt hatte, und er lief barfuß am Ufer eines Flusses entlang, einen Stock in der Hand und ein schiefes Wanderlied auf den Lippen, während neben ihm ein kleiner Junge im gleichen Alter mit funkelnden Schlangenaugen lachte, weil er wieder einmal den Text verdreht hatte.   „Bro. Aber es gibt gar keine Kakerlaken.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)