Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Dafür, dass das ganze Team beisammensaß, war es ungewöhnlich still; statt wie üblich eifrig durcheinander zu plappern, waren selbst solche Störenfriede wie Lev oder Tora vollkommen still, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Dass sie alle so geknickt waren, war beinahe albern. Natürlich hatte ihr eigens zusammengestelltes Eliteteam verloren. Kenma hatte von vornherein keine einzige Sekunde daran gezweifelt. Sie konnten gar keine Chance haben mit einem so zusammengewürfelten Team, das noch nicht einmal ein Übungsspiel gehabt hatte, um sich aufeinander einzustellen. Am Ende hatten sie sogar noch viel deutlicher verloren, als Kenma erwartet hatte, hatten noch schlechter zusammengespielt, als er spekuliert hatte – er hatte unterschätzt, wie unglaublich schlecht das Team menschlich funktionierte. Dass Kageyama ein schwieriger Charakter war, hatte er gewusst. Er hatte auch geahnt, dass seine Persönlichkeit zu Problemen führen würde. Dass er mit einigen seiner Teamkameraden überhaupt nicht klarkam, das war für Kenma doch aber unerwartet gekommen. Im Endeffekt hatte ihr Eliteteam schlechter gespielt als jedes Team einzeln für sich. Den geschockten Gesichtern fast aller Beteiligten zufolge hatte kaum jemand damit gerechnet. Im Grunde sollte es sie aufrütteln. Ihnen zeigen, wo ihre Fehler waren, und zumindest im Groben einen Weg aufzeigen, wie sie besser werden konnten. Wenn sie erst damit fertig waren, zu verarbeiten, würden sie an diesem Scheitern wachsen können.   Shouyou tat es jetzt schon. Kenma hatte die Entschlossenheit in seinem Blick gesehen, keine fünf Minuten nach dem finalen Punkt, nachdem das erste Entsetzen von seinem Gesicht verschwunden war.   „Also.“ Kuros Stimme riss Kenma aus seinen Gedanken, ließ ihn von seinem Platz auf dem Boden von Nekomas Schlafraum aufsehen. Sie hatten sich nach dem Spiel in ihrem Team zusammengerottet, nachdem gemeinsam beschlossen worden war, das Training frühzeitig zu beenden. Nicht nur, weil Kuro sowieso gehen wollte, sondern auch, weil sich nach dem ernüchternden Spiel niemand mehr so recht nach Training fühlte. Kenma weinte den Stunden der Anstrengung sicher nicht hinterher, die sie sich hier sparten. Auf eine große Rede von Kuro hätte er allerdings auch verzichten können. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, stand breitbeinig neben Yaku da und sah mit dem Blick auf sie hinunter, den er als Captain immer für schwere Gespräche reserviert gehabt hatte. Obwohl er kein Captain mehr war, zeigte der Blick immer noch die gleiche Wirkung wie damals – alle Aufmerksamkeit lag auf ihm. „Hört auf, solche Gesichter zu ziehen. Ihr seid gut.“ „Nicht gut genug“, murmelte Tora verbittert. Er gab sich natürlich Schuld an dem katastrophalen Spielergebnis, immerhin war er dabei gewesen. Er hatte nicht schlechter gespielt als sonst, aber Kenma konnte es trotzdem nachvollziehen. Tora war ein hervorragender Allroundspieler, dessen Stärken vor allem darin lagen, dass er auch in der Verteidigung glänzte, aber als Angreifer war er eben eher… nicht herausragend. Neben den brillanten Außenangreifern, neben denen er gespielt hatte, fiel das natürlich ins Gewicht. „Das ist nur passiert, weil ihr mich nicht eingewechselt habt“, fügte Lev mit einem selbstgefälligen Grinsen hinzu. Kenma musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, wie die Reaktionen auf seine Worte ausfielen. Wäre Tora etwas weniger verbittert gewesen, er hätte losgezetert. So blieb Toras Zetern aus, stattdessen wich die Stille einem Schnauben von Yaku, das irgendwo zwischen empört und abfällig und wütend changierte. „Natürlich hat man dich nicht eingewechselt“, schnappte er gnadenlos, „Niemand, der bei klarem Verstand ist, wechselt seinen schlechtesten Spieler ein. Mit dir auf dem Feld wäre es doch nur noch schlimmer geworden.“ – „Das ist überhaupt nicht wahr!“ Natürlich war es wahr. Kenma wusste es. Yaku wusste es. Kuro wusste es. Vermutlich wusste es so ziemlich jeder hier im Raum. In Levs eifrigem Widerspruch schwang ein leiser Nachhall von verletztem Stolz mit, von Verbitterung und Enttäuschung – er wusste es genauso, wie jeder andere. Dass seine Freunde ihn dieses Mal nicht verteidigen, wie sie es oft taten, war wohl ein Übriges.   „Yaku hat Recht.“ Eigentlich war es überflüssig, aber Kenma hatte den Eindruck, dass es eine Notwendigkeit war, es zu erwähnen. Er wollte nicht Teil der Diskussion werden, aber als Captain hatte er nicht mehr das Recht, sich bequem zurückzulehnen und zuzusehen – zumindest nicht immer. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, aus Levs angekratztem Ego noch etwas zu machen und ihn zu einer Selbsterkenntnis zu treiben, die dafür sorgte, dass er endlich begann, ernsthaft an seinen Schwächen zu arbeiten, statt nur seine Stärken zu polieren. „Du hast es gehört! Sogar Kenma stimmt zu! Du bist kein guter Spieler. So wirst du niemals das Ass werden!“ „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich schon das Ass sein, Yaku-San!“ Yakus ungläubiges Schnauben sagte mehr als tausend Worte hätten sagen können. Bedrückte Stille machte sich im Raum breit, als es verklungen war. Niemand schien das Bedürfnis zu haben, sich weiter zu dem Spiel zu äußern, zu ihrer Niederlage, zu allem, das damit zu tun hatte. Sie nahmen sich die Niederlage so sehr zu Herzen, als hätten sie ein Ticket zur Nationalmeisterschaft verschenkt. Objektiv konnte Kenma es nachvollziehen, auch wenn er überhaupt nicht mitfühlte. Sie hatten ihre alten Kameraden beeindrucken wollen. Hatten zeigen wollen, dass sie auch ohne die jetzt fehlende Unterstützung der Älteren zurechtkamen und stark genug waren, um ihr Erbe aufrecht zu erhalten. Dass sie dieses Jahr wieder eine Leistung erbringen konnten, auf die sie stolz sein konnten. Die Demonstration war aufs Peinlichste gescheitert.   „Lernt einfach draus.“   Der simple Ratschlag kam von Yaku. Kuro neben ihm lachte leise. Es war typisch Yaku – einfach, geradeheraus, und trotzdem etwas, das viel komplizierter war für jeden, der eben nicht Yaku war. „Natürlich läuft so ein Schwachsinn nicht! Es war absolut klar, dass ihr verliert. Habt ihr das ernsthaft nicht bedacht? Jetzt tragt es gefälligst wie Männer und hört auf, euch in Selbstmitleid zu suhlen! Ihr seid zu schlecht? – Scheiß drauf! Trainiert gefälligst härter! Werdet besser! Ihr habt ein ganzes verdammtes Schuljahr vor euch, um aus diesem Sauhaufen hier ein funktionierendes Team zu machen, also tut es!“ „Yakkun~ sei nicht so harsch mit ihnen.“ Yaku schnaubte, verschränkte die Arme vor der Brust. Er murmelte etwas in sich hinein, das verdächtig nach irgendjemand muss es doch tun klang. „Es kann nicht jeder so ein Monster sein wie du.“ – „Halt die Klappe. Du hast auch nachgelassen, Kuroo! Nimm dein Volleyballtraining gefälligst ernster!“ Kenma sah, wie Kuro eine leidende Grimasse schnitt. Er wusste genau, warum – Kuro mochte sein neues Team nicht. Beinahe täglich konnte Kenma sich am Telefon Kuros Gejammer über die Uni anhören. Über die gemeinsamen Kurse. Über das Volleyballspielen auf der gleichen Spielfeldseite wie er. „Yaku hat Recht.“ – „Kenma! Fall mir nicht in den Rücken!“ Kuro benahm sich wie ein riesiges, peinliches Baby. Außerdem nervten seine täglichen Klagegesänge. Er sollte sich ein Beispiel an Yaku nehmen – zumindest in Sachen Durchhaltevermögen.   Jemand lachte. Leise. Es war Taka gewesen, die Hand vor den Mund gepresst, doch im nächsten Moment brach es laut aus ihm heraus. Lachen, genau wie Gähnen, war offensichtlich ansteckend genug, denn es verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schnell genug lachte die halbe Mannschaft. Die schwere, drückende Stimmung verflog, als wäre sie nie da gewesen. Kuro grinste zufrieden, Yaku seufzte und stemmte kopfschüttelnd die Hände in die Hüften. Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe, und als Kenmas Blick kurz unauffällig zur Seite huschte, sah er, wie einige der Anderen sich unauffällig lachend über die Augenwinkel wischten.   „Shibayama!“ „J-ja!!!“ Der Junge sprang beinahe auf vor Schreck von der jähen Ansprache. Kenma verfolgte aus dem Augenwinkel, wie Yaku auf ihn zutrat und ihm den braven Haarschopf zerwuschelte. Shibayama zog die Schultern hoch, doch er lächelte unter Yakus Hand. Das Grinsen auf dem Gesicht des Älteren sah Kenma nicht, doch er konnte es hören: „Du machst deinen Job gut. Du kannst nicht jeden von Levs Patzern ausbügeln, und das erwartet auch keiner von dir. Du kannst ihm ruhig trotzdem ab und zu in den Arsch treten, wenn er wieder ein Idiot ist! Betrachte es als Zusatz zu deinem eigentlichen Job.“ „Yaku-San, du bist gemein“, meckerte Lev geknickt. Er klang nicht mehr ganz so unglücklich wie vorhin noch, und sein Gejammer brachte ihm ein Lachen von Inuoka ein, der ihm kameradschaftlich auf die Schultern klopfte. Das Team kehrte langsam wieder zu seinem typischen Verhalten zurück. „Du verdienst es. Ich hör erst auf damit, wenn du kein inkompetenter Trottel mehr bist!“   Das war es. Yaku trat wieder zurück. Er hatte offensichtlich genug gesagt, grinste nur noch zu ihnen hinunter mit einem Blick in den Augen, der an ein stolzes Elternteil erinnerte, dass gerade seine Kinder zum ersten Mal allein zur Grundschule gehen ließ. Kenma fühlte sich unangenehm klein in diesem Moment. „Nachdem Yakkun jetzt fertig ist…“ Kuros Rede war das übliche Palaver. Blut in den Adern, das fließen musste, um das Gehirn zu versorgen, Verbindungen, die nicht abbrechen durften. Kenma hatte es schon tausend Mal gehört, Kenma wollte es nie wieder hören, und er war froh, dass es eine Tradition war, die mit Kuros Abschied aus dem Team schon längst im Aussterben begriffen war. Sie kamen ohne Kuros komische Motivationsreden aus, und bislang hatte sich noch niemand über ihr Fehlen beklagt. Kenma erwartete, dass das so bleiben würde. „Kenma.“ Die jähe Ansprache riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Blick flackerte kurz zu Kuro hinauf, nahm ein breites Grinsen wahr, hinter dem sich eine Mischung aus Melancholie, Erleichterung und Sentimentalität versteckte. Allein der Anblick reichte, damit Kenma wusste, dass er gar nicht hören wollte, was Kuro zu sagen hatte. Er wollte es nicht hören, aber er hörte trotzdem zu.   „Du bist ein guter Captain.“   Es war die eine Sache, in der sie sich niemals einig werden würden. Kenma war der Überzeugung, dass er der Letzte war, der als Captain taugte. Es war logisch; er hatte viel zu wenig eigenen Antrieb, um Captain zu sein. Zu wenig Energie. Zu wenig Motivation. Er war kein Teamplayer. Am Liebsten war er für sich und fernab der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er war alles, was ein Captain nicht war, und trotzdem war er Captain dieses Teams. Es war Kuros Schuld. Kenma hatte es ihm noch nicht verziehen. Kuro blieb trotzdem unbeirrbar darin, dass es richtig war, dass er das ganze Team dazu aufgehetzt hatte, Kenma zum Captain zu wählen. Kuro glaubte, dass er der Richtige für den Job war. Kuro glaubte, er hätte ihm damit irgendeinen guten Dienst getan. Kenma würde es niemals verstehen. Er sah noch einmal in Kuros Gesicht auf, sah das gleiche breite Grinsen wie vorhin noch, die Wehmut darin trat immer deutlicher hervor, und gleichzeitig hatte sich auch Stolz eingenistet. Es war kein gutes Grinsen.   „Pass auf unser Team auf, Captain.“     ***     „Ihr könnt langsam wieder aufhören, dreinzuschauen, als wäre die Welt untergegangen, wisst ihr?“ Sugas Stimme klang irgendwo zwischen mitleidig und resignierend. Es war das zweite Mal in den letzten Minuten, dass er versuchte, die allgemeine Laune zu heben. Beim ersten Mal war die Reaktion nichts weiter gewesen als schweres Seufzen, das jedem unglücklich Verliebten Konkurrenz machen konnte. Auch jetzt erntete er nur herzzerreißend tragisches Geseufze aus mehreren Mündern. Chikara war dankbar um Sugas Bemühungen, schon alleine, weil er sich gerade selbst nicht imstande fühlte, sein Team aufzumuntern, doch gleichzeitig hatte er einfach nur Mitleid mit ihm, denn er biss nur auf Granit damit. Es war verständlich. Er war selbst unglaublich frustriert, obwohl er nicht einmal mitgespielt hatte. Aber die vernichtende Niederlage, die das Team  hatte einstecken müssen, war einfach ansteckend gewesen. Die Erkenntnis, wie schlecht sie waren, war einfach schockierend. Und es war auch lange nicht die einzige Niederlage gewesen. Es war, als stünden sie wieder am Beginn des letzten Sommers, am Anfang des ersten Sommertrainingscamps, das sie mit der Fukuroudani-Gruppe gehabt hatten. Sie hatten nicht gut abgeschnitten. Waren sie das Team mit den meisten Niederlagen? Chikara hatte nicht mitgezählt, und bisher hatte er sich nicht getraut, die Dokumentation von Narita anzusehen. Allein, dass er immer wieder unglücklich auf sein Klemmbrett gesehen hatte, sagte eigentlich auch genug aus. Und selbst, wenn sie durch irgendein Wunder nicht die Schlechtesten gewesen waren – sie waren nicht gut gewesen. Daichi und seine unglaublich flexiblen Fähigkeiten, die ihn an der Front und in der Verteidigung unersetzlich machten. Asahi und seine unglaubliche Angriffskraft, die jede Verteidigung durchbrechen konnte. Selbst Suga, wenn auch selten auf dem Feld, der sich immer hervorgetan hatte durch seine Sensibilität und sein Verständnis des ganzen Teams. Ihr Fehlen war an allen Enden und Ecken spürbar. Das neue Team war nicht schlecht. Die Zweitklässler hatten größtenteils solche sprunghaften Fortschritte gemacht, dass sie wirklich herausragende Spieler wurden. Die Erstklässler waren unglaublich vielversprechend. Es war trotzdem nicht genug.   Daichi, dessen war sich Chikara sicher, hätte dieses Team viel eher zum Sieg führen können.   „Letztes Jahr.“ Chikara hob müde den Blick, begegnete Daichis Lächeln, in dem ein beinahe väterlicher Stolz lag. Der Blick von jemandem, der wusste, dass seine Zeit vorbei war, aber der fest darauf vertraute, ein gutes Erbe hinterlassen zu haben. Es tat weh. Daichi war stolz auf sie, obwohl sie nichts erreicht hatten.  „Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal, seit ich bei Karasuno angefangen habe, daran glauben können, dass wir eine Chance auf die Nationalmeisterschaft haben. Obwohl unsere Situation nicht gut war. Die Krähen, die nicht fliegen können. Aber…“ Er machte kurz Pause, schüttelte lächelnd den Kopf. Sein Blick glitt über die Anwesenden, die vor ihm auf dem Boden des Klassenzimmers saßen. Er blieb irgendwann an der Ecke hängen, in der sich Hinata und Kageyama tummelten. „Angefangen bei den Erstklässlern, die dieses unglaubliche Potential mitgebracht haben – wir haben uns durchgebissen. Wir haben so viele neue Techniken und Taktiken gelernt, wie ich vorher in meinem ganzen Volleyballleben nicht gelernt habe. Wir haben allen gezeigt, dass wir fliegen können.“ Chikara warf einen kurzen Blick zu seinem Team. Sie alle folgten wie gebannt Daichis Worten, so, wie sie es immer getan hatten. Selbst die diesjährigen Erstklässler waren völlig still und wie gefangen von Daichis Charisma, was gerade bei Osamu eine Seltenheit war; er hatte eine ungesunde Tendenz dazu, einfach ein bisschen zu laut zu sein. Er passte viel zu gut ins Team damit.   „Ihr könnt auch dieses Jahr fliegen. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen! Da ist Potential, überall.“ Daichi breitete die Arme aus. Er strahlte, und inzwischen sah er gezielt zu den Neulingen hinüber. Osamu, der kein Genie war, kein Kageyama, aber ein guter Zuspieler mit einem hervorragenden Blick für seine Umwelt und einem guten Händchen für seine Spieler. Mit Charisma und Liebe – er erinnerte Chikara manchmal an Sugas Art zu spielen, nur in mutiger. Tatsuo, der mit seinen ein Meter achtzig für einen Libero überraschend groß war – Nishinoya liebte ihn dafür –, und der im ersten Moment aussah, als hätte er keinerlei Motivation und Antrieb. In dem Moment, in dem er auf dem Spielfeld stand, war davon nichts übrig und er war genauso talentiert wie sein Zwillingsbruder, erfüllte seine Rolle, auch ohne ein Genie zu sein. Isshiki, dem man, wenn man ihn so sah, erst einmal gar nichts zutraute. Er war nicht herausragend groß, er sah nicht aus wie jemand, der besondere Fähigkeiten hatte, er war nicht kräftig, nicht herausragend muskulös, aber er war ein technisch unglaublich guter Angreifer, der eine beneidenswerte Ballkontrolle hatte, die mit mehr Übung auch Hinata Konkurrenz machen können würde. Sie hatten unglaublich viel Potential, das wusste Chikara auch. Trotzdem fiel es ihm schwer, dieses Team mit dem gleichen Aufwind zu sehen wie das letztjährige Team. „Ihr habt noch lange nicht das Ende erreicht! Macht weiter. Fliegt höher! Glaubt mir mal, dass wir uns nicht entgehen lassen, eure zukünftigen Spiele zu sehen! Und das nächste Mal bringen wir Asahi mit.“ Chikaras Mundwinkel zuckten. War das ein Versprechen oder eine Drohung? Für ihn fühlte es sich mehr nach letzterem an, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Aber die Worte halfen zumindest den Anderen – Nishinoya strahlte schon wieder. Tanaka, der sich offensichtlich herausgefordert fühlte, grinste wild, genau wie Hinata, der aussah, als würde er am Liebsten aufspringen und weitertrainieren. Der Blick des orangen Wuschelkopfs glitt zu Kageyama hinüber. Chikara fürchtete wirklich, dass das Freak-Duo gleich losstürmen würde. Was Sugas sanfte Worte nicht geschafft hatten, schaffte Daichis Captainrede.   Es war bewundernswert. Beneidenswert.   „Daichi hat Recht. Ihr seid ein gutes Team. Ich habe so viel Zeit letztes Jahr damit verbracht, euch zu beobachten, ich muss es wissen! Natürlich ist dieses Jahr alles anders. Sicher dauert es noch eine Weile, bis ihr aufeinander eingespielt seid. Aber wenn es soweit ist, dann werdet ihr es noch viel weiter bringen. Besser werden. Und wer weiß? Irgendwann besiegt ihr uns noch!“ Wie auch immer das gehen sollte. Aber es war eine Hoffnung, an die sich nur zu gerne geklammert wurde: Überall wurden Stimmen laut, wurden Kriegserklärungen gesprochen, selbstbewusste Aufrufe, dass sie beim nächsten Mal auf jeden Fall gewinnen würden.  „Wir machen euch fertig!“ „Ja, zieht euch warm an!“ „Die Krähen werden nie wieder nicht fliegen!“   „Zumindest, wenn unsere Majestät endlich Teamwork lernt“, spöttelte Tsukishima plötzlich in die allgemeine Euphorie. Sofort kippte die Stimmung wieder. „Oi, Tsukishima! Nimm das zurück!“, rief Hinata ihm empört entgegen. Kageyama war still. Er sah auf den Boden hinunter, hatte die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. Natürlich hatte Tsukishima wieder einen wunden Punkt getroffen. Natürlich hatte er noch einmal daran erinnern müssen, dass es unter anderem Kageyamas Unfähigkeit, mit einigen der fremden Spielern zu spielen, gewesen war, die das Team hatte scheitern lassen. Seijohs Außenangreifer zum Beispiel hatte er nach einem missglückten Wurf gar nicht mehr angespielt. „Ich sage nur die Wahrheit. Wenn der König nicht endlich lernt, sich auf den Pöbel einzustellen – auf allen Pöbel, nicht nur auf seinen kleinen Stiefellecker –, dann haben wir spätestens nächstes Jahr einen neuen Zuspieler.“ „Tsukishima!“ Es war eindeutig genug. Chikara sprang von seinem Platz auf, überbrückte die kurze Distanz zu dem Blondschopf, der völlig desinteressiert zu ihm aufsah. Hinatas Blick folgte jeder von Chikaras Bewegungen, abwartend, aber jederzeit bereit, wieder auf Tsukishima loszugehen, wenn es seiner Meinung nach nötig wurde. „Wenn es dir so wichtig ist, dass Kageyama noch mehr Teamwork lernt, dann bring es ihm bei!“ „–was?“ „Du hast mich verstanden. Ab heute ist es dein Job, Kageyamas Teamkompetenzen zu fördern.“ Tsukishimas Blick entgleiste völlig, sein Kopf ruckte so hektisch vor, dass die Brille ihm halb von der Nase rutschte. Osamu gackerte. Chikara sah, wie Yamaguchi hinter Tsukishima grinste, sein Blick sah beinahe erleichtert aus. Er schien froh über die Entwicklung zu sein, während Hinata dreinsah, als hätte man ihm verkündet, dem Direktor wären wieder Haare gewachsen.   Daichis lautes Lachen unterbrach die Szene sehr schnell. „Das hätte ich nicht besser machen können!“, rief er immer noch glucksend aus. Eine kräftige Hand legte sich auf Chikaras Schulter und drückte sie sanft. Chikara konnte nur schief lächeln. Daichis Lob ehrte ihn, aber gleichzeitig konnte er nicht verhindern, dass er an all die Fehler dachte, die er hatte. Daichis Fußstapfen waren gigantisch groß, es war beinahe unmöglich, dass Chikara es schaffte, in sie hineinzuwachsen. Daichi hatte Charisma, konnte mitreißen. Er war konsequent, fleißig, war stark und stur, hatte noch nie aufgegeben und würde niemals aufgeben, egal, welchen Hindernissen er sich gegenübersah. Chikara war fortgelaufen. Und auch wenn er wiedergekommen war, es war eine Schwäche, derer er sich immer noch schämte, und ein Fehler, den er sich selbst nicht verzeihen konnte. Ganz egal, wie oft Nishinoya betonte, dass Chikaras Wert doch genau darin lag, dass er zurückgekommen war, dass das seine große Stärke war – Chikara sah das einfach nicht. „Ennoshita“, mahnte Suga amüsiert. Chikara zuckte ertappt zusammen, warf einen kurzen Blick in Sugas Richtung, der ihn mit einem sanften Lächeln und wissendem Blick musterte. Suga wusste, was gerade in ihm vorging. Suga wusste es immer. „Vergiss nicht, dass sie alle hinter dir stehen. Du musst nichts allein tragen, auch wenn du der Captain bist.“   Das machte es nicht einfacher. Sie standen alle hinter ihm, und irgendwann würde Chikara sie enttäuschen.   „Chikara!!!“ Als hätte Nishinoya nur auf eine Gelegenheit dazu gewartet, hing er plötzlich auf Chikaras Schultern. Er taumelte unter dem unerwarteten Gewicht des Jungen, der sich mit allen Vieren an ihn geklammert hatte. Es war Nishinoyas Glück, dass er so leicht war, und Chikara im Vergleich recht kräftig, sonst wären sie wohl beide unangenehm auf dem Boden gelandet. Er seufzte, ächzte, doch er versuchte gar nicht erst, den winzigen Libero von sich zu schieben. Im Grunde war er nur froh, dass Tanaka sich nicht auch noch auf ihn stürzte. Oder Hinata. Oder Osamu, der auch am Liebsten immer mitten im Geschehen steckte. Dass er gerade nicht hier war, ließ Chikara ungesehen vermuten, dass er mit seinem Bruder beschäftigt war. „Chikara, du bist ein großartiger Captain! Also. Abgesehen von dem Lernzwang. Und der miesen Nachhilfe. Und dem konsequenten Morgentraining. Und dem Schreiverbot.“ Nishinoyas Aufzählung klang alles andere als positiv. Abstruserweise war es aus seinem Mund trotzdem ein Kompliment. „Meiner Meinung nach klingt das sogar sehr gut“, gab Daichi lachend zurück. Er sah wirklich zufrieden aus. Als er Chikaras Blick auffing, wurde sein Grinsen breiter, aufmunternd, stolzer. Du schaffst das, schien es sagen zu wollen. Chikara hätte ihm gerne widersprochen, ob verbal oder nonverbal, aber so weit kam er gar nicht, da tauchte in seinem Augenwinkel doch noch ein karottenfarbiger Haarschopf auf. „Ennoshita-San ist wirklich klasse! Gwah und woah, auch wenn er manchmal richtig gruselig sein kann! Sogar Kageyama hat Angst vor ihm!“ – „Hab ich nicht, du Idiot!“   Immerhin hatte Kageyama sich von dem Schrecken erholt, künftig mit Tsukishima zusammenarbeiten zu sollen.   Es war peinlich. Hinatas Einmischung trieb nur noch mehr Idioten auf den Plan. Jetzt war auch Tanaka dabei, und keine Minute später, irgendwo zwischen Kageyamas und Hinatas Streit darüber, wie gruselig Chikara nun war, mischte auch Osamu lachend mit, und irgendwo hörte er Kinoshitas schadenfrohe Stimme – er wusste viel zu genau, dass Chikara solche Situationen nicht mochte, also machte er natürlich mit. Und langsam wurde Nishinoya schwer. „Tatsuo! Holst du bitte deinen Senpai hier runter?“ – „Komme.“ Tatsuo klang überhaupt nicht motiviert, aber er gehorchte. Chikara seufzte erleichtert, als er spürte, wie das überflüssige Gewicht von seinem Rücken verschwand. Als er sich umdrehte, sah er Nishinoya noch kurz in Tatsuos Griff zappeln, ehe der Junge wieder auf dem Boden aufkam und dann losstürmte, um an anderer Stelle Unheil anzurichten. Er warf sich auf Tanaka. „Siehst du?“ Chikaras Blick wandte sich zu Suga um. Der Ältere grinste zufrieden. Alles, was Chikara sah, war ein Haufen unkontrollierbarer Idioten. Er hatte kein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Captain. Er hatte auch kein Vertrauen darin, dass sein Team in dieser Wahl auch nur ansatzweise die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es funktionierte trotzdem.   „Vergiss das hier nicht“, sagte Suga leise. Über das Gewusel an Stimmen verstand Chikara ihn kaum. Daichi neben ihm nickte, drückte noch einmal aufmunternd Chikaras Schulter, „Ganz genau. Und solange du für sie tust, was du kannst, wirst du immer genau der Captain sein, den sie brauchen.“     ***     Ushijima Wakatoshi war kein großer Redner. Kenjirou wusste das, genauso, wie der Rest des Teams Shiratorizawa das wusste. Es war der Grund, weshalb Kenjirou nicht verstand, dass sie sich ebenfalls geschlossen als Team zurückzogen, als die anderen Teams verkündeten, sie wollten für ein teaminternes Abschiedsresümee alleine sein. Kenjirou war ohnehin nicht der Meinung, dass es ein Resümee brauchte, denn alles, was sie wissen mussten, wussten sie schon. Sie waren nicht halb so gut gewesen, wie sie hätten sein sollen. Natürlich hatten sie Niederlagen eingesteckt. Nicht nur gegen Nekoma und Fukuroudani, was im Vergleich noch verständlich gewesen war. Auch gegen Seijoh. Gegen Karasuno. Alle großen Töne hatten überhaupt nicht geholfen. Wider Erwarten war keines der anwesenden Teams wirklich schlecht gewesen, und irgendwie hatte jedes von ihnen Siege erringen können. Dann das Desaster, das dieses letzte Spiel gewesen war. Kenjirou wollte gar nichts mehr davon hören, und am liebsten hätte er das gemeinsame Gespräch abgeblasen – er brauchte es wirklich nicht, sich seine und die Unzulänglichkeiten seines Teams unter die Nase reiben zu lassen. Aber er konnte nicht. Er konnte Ushijima gar nichts abschlagen. Er hatte ihn enttäuscht, schon wieder.   Für Kenjirou war das ganze Wochenende eine Enttäuschung gewesen. Zu sehen, wie Ushijima mit Oikawa zusammenspielte, mit dem Mann, den er Zeit seiner High School immer als größten Rivalen betrachtet hatte, als Dorn im Auge, als Störenfried. Zu sehen, wie sie gemeinsam auf dem Spielfeld standen und Punkt um Punkt erzielten. Sie waren ein beeindruckendes Team. Oikawa mochte nicht mit Ushijimas Persönlichkeit harmonieren, aber er funktionierte, besser, als Kenjirou jemals funktioniert hatte. Es war unglaublich frustrierend. Kenjirou wusste, dass ihm damit das einzige Recht, an Ushijimas Seite zu sein, verloren ging. Wenn er als Zuspieler nicht mehr von Nutzen war, dann hatte er gar keinen Nutzen für Ushijima, völlig verständlicherweise. So war das in der Welt des Leistungssports. Wer schwach war, wurde nicht gebraucht. Selbst, wenn er die Aufnahmeprüfung für Ushijimas Universität schaffte, selbst, wenn er seinen Platz im Volleyballteam fand, es war im Grunde einerlei, denn er würde nicht mit Oikawa konkurrieren können. Kenjirou bildete sich viel auf seine Fähigkeiten ein, aber er kannte seine Grenzen. Vergiss dein Versprechen nicht. Und trotzdem hatte Ushijima ihn noch nicht aufgegeben. Es war der einzige Hoffnungsschimmer, den Kenjirou hatte. Er atmete bebend aus, straffte die Schultern. Schon seit Minuten standen sie hier beieinander, schweigend, und niemand schien so recht wagen zu wollen, das Gespräch wirklich zu beginnen. Er würde es selbst vermeiden, wenn es möglich war, aber ganz abgesehen davon, dass sie nicht endlos Zeit hatten, es war für ihre Nerven genauso wenig sinnvoll, es weiter und weiter aufzuschieben. „Ushijima-San.“ Kenjirous Stimme klang fester und selbstsicherer, als er sich fühlte. Ushijimas Blick, stoisch und nichtssagend wie immer, wandte sich ihm kurz zu, dann sah er allgemein auf das Team, das er im letzten Jahr noch angeführt hatte.   Das im letzten Jahr so viel stärker gewesen war. Ohne Ushijima hatten sie kein Zentrum mehr, um das sie kreisen konnten. Sie hatten hervorragende Spieler, die allesamt in ihren jeweiligen Disziplinen herausragend gut waren, aber sie hatten kein alles überstrahlendes Ass mehr. Goshiki, dieses kleine Gör, würde Ushijima niemals das Wasser reichen können, ganz egal, wie hart er trainierte. Tendou fehlte auch spürbar. Er war immer ein zweischneidiges Schwert gewesen, und seine Persönlichkeit war unangenehm, aber sein spezieller Blockstil war trotzdem oft genug eine Hilfe gewesen, besonders gegen Kontrahenten, die unerwartet stark gewesen waren. „Ihr werdet nicht weit kommen.“ Die Worte, obwohl völlig tonlos gesprochen, waren schlimmer, als es das lauteste Geschrei hätte sein können. Wie ein Peitschenhieb trafen sie Kenjirou, der instinktiv die Schultern hochzog, als könne er sich so vor einem weiteren verbalen Angriff schützen. Sie würden scheitern. Goshiki sah völlig entsetzt aus. Kawanishi senkte den Kopf, wich Ushijimas Blick aus, während sich auf anderen Gesichtern Trotz zeigte. Hier und da war Schuldbewusstsein. Einfach nur blanker Ärger bei Fukumine, und Sakase sah aus, als wolle er einfach aus Prinzip gegenspucken, wie er es immer tat. „Wie oft habt ihr gegen Karasuno verloren?“ – „Dreimal“, wusste Ninouchi verbittert zu berichten. Er rückte seine Brille zurecht, sah dahinter schuldbewusst und verärgert aus. Beschämt, weil er zu vor noch so deutlich der Überzeugung gewesen war, dass sie nicht verlieren würden. Beunruhigt, weil er Kenjirous Drohung offenkundig nicht vergessen hatte. Es erfüllte Kenjirou mit einer grimmigen Zufriedenheit, die ihn für einen kurzen Moment fast vergessen ließ, wie wenig ihm die Situation hier gefiel. „Seijoh?“ – „Zweimal.“ Ushijima nickte langsam.   „Letztes Jahr wäre das nicht passiert.“   Letztes Jahr war es schlicht nicht passiert. Sie hatten jedes Spiel gegen Seijoh gewonnen. Dass Karasuno sie geschlagen hatte, war ein Glückstreffer gewesen, weil deren irrsinnig halsbrecherische Taktik ihnen einen Überraschungsvorteil verschafft hatte. Hätten sie vorher gewusst, worauf sie sich einließen, wäre Karasuno nicht so davongekommen, dessen war sich Kenjirou sicher. An der Art, wie Ushijima sie gerade ansah, erkannte er, dass der Ältere den gleichen Gedanken hegte. „Es ist aber nicht mehr letztes Jahr“, patzte Sakase ungestüm. Er hatte die Augenbrauen herausfordernd erhoben. „Und jetzt erzähl mir nicht, dass wir ach so schlecht sind, weil wir das letzte Spiel verloren haben! Wie hätte man das denn gewinnen können mit solchen Idioten, die dabei waren?!“ „Goshiki hat sich gut geschlagen.“ Das Lob kam so unerwartet, dass entsprechender Goshiki dreinsah wie ein Goldfisch, den man versehentlich neben sein Glas hatte fallen lassen. Er starrte Ushijima ungläubig aus riesigen Augen an, die immer riesiger wurden, dann straffte er die Schultern und brüllte mit einer steifen Verbeugung seinen Dank in die Welt hinaus. Sakase gab einen angewiderten Laut von sich, der verblüffende Ähnlichkeit mit Erbrechen hatte. Fukumine tätschelte ihm gespielt mitleidig die Schulter, während Kenjirou versuchte, Goshiki nicht mit Blicken zu erdolchen. Eigentlich sollte er froh sein, dass Ushijima noch ein Lob übrig hatte nach allem. Er war aber nicht froh, dass es ausgerechnet Goshiki traf.   „Dieses Jahr ist Karasuno kein karger Betonboden.“   Dieses Jahr ist das Team stärker, übersetzte Kenjirou gedanklich. Seijoh dürfte schwächer als im letzten Jahr sein. Oikawa hatte eine gigantische Lücke hinterlassen. Shiratorizawa war aber auch längst nicht mehr so unglaublich überragend. Ihr Kraftverhältnis hatte sich drastisch gedreht, etwas, das Kenjirou im Vorfeld nicht in solchem Maße erwartet hatte. Ein paar Monate Training konnten natürlich alles wieder ändern. Aber so, wie es aktuell war, waren sie einfach nicht mehr aus Prinzip die Stärksten, sondern – mittendrin. Ein Team von vielen. Ein Team, das ernsthafte Konkurrenten hatte, das nicht mehr völlig sicher davon ausgehen konnte, die Vorrunden der Nationalmeisterschaften zu überstehen.   „Ihr müsst härter trainieren.“   Ein Team, das härter trainieren musste, darin stimmte Kenjirou völlig mit Ushijimas Einstellung überein. „Erst meckern, und dann sowas. Entscheid dich mal! Sollen wir uns nun den Arsch aufreißen, oder haben wir eh keine Chance?!“ – „Hey, hey~ Koharu, nun beruhig dich mal.“ Fukumines Grinsen war alles andere als beruhigend, fand zumindest Kenjirou. Die Hand auf Sakases Schulter sah auch nicht viel beruhigender aus, aber der Erstklässler schnaubte nur noch einmal, ehe er tatsächlich einen Schritt zurücktrat und die angespannten Schultern sichtbar fallen ließ. Kenjirou verstand nicht, woher es kam, dass Fukumines provokante Anwesenheit in diesem Moment beruhigend war, aber in jedem Fall war er dankbar darum, dass die verdrehte Freundschaft der beiden funktionierte, wenn es nötig war. „Halt die Schnauze, Shou.“ Wirklich ruhig sah Sakase zwar noch nicht wieder aus, aber immerhin erschien es nicht mehr so, als wolle er seinem Gesprächspartner am Liebsten die Augen auskratzen. „Eins schließt das andere nicht aus“, knurrte Kenjirou kopfschüttelnd. Der Libero wirbelte zu ihm herum, große braune Augen sprühten Funken. Die Hand auf seiner Schulter hielt ihn davon ab, näher zu treten. „Du ergibst keinen Sinn“, schnaubte er abfällig. Er verschränkte die Arme vor der Brust, das Kinn provokant vorgereckt. Er hätte gefährlich aussehen können, hätte er nicht so ein verdammtes Babyface – und den grinsenden Fukumine hinter sich, der ihn immer noch an der Schulter hielt. Läge die Hand stattdessen in seinem Nacken, dann wäre das trotzige Babykätzchenimage perfekt. Kenjirou stieß langsam die Luft aus, sah den kleinen Jungen ohne jede Gnade an. „Wir verkacken, wenn wir nichts tun. Wir verkacken wahrscheinlich auch, wenn wir uns den Arsch aufreißen, aber je härter wir trainieren, desto größere unsere Chancen. Wollt ihr euch wirklich drauf ausruhen, dass wir keine guten Karten haben?“ Sakase schwieg. Er verengte die Augen und verzog das Gesicht, aber er sparte sich jeden weiteren Widerspruch. Reaktion auf seine Worte bekam Kenjirou aus Goshikis Richtung: „Niemals, Captain!!!“ Immerhin war ihr neues Ass noch hochmotiviert. Aber nachdem er als einziger ein Lob kassiert hatte, wunderte es Kenjirou auch nicht. Verdammtes Gör. „Dann ist alles geklärt“, verkündete Ushijima schließlich nach einem Augenblick, in dem einfach nur Stille im Raum hing. Er stand stoisch da, sein Blick ruhte auf Kenjirou, unleserlich wie immer. Er bildete sich trotzdem ein, eine Spur von Zufriedenheit in den schmalen Augen zu entdecken. Bevor er sich ganz sicher war, wandte Ushijima den Blick wieder ab, ließ ihn einmal über das gesamte Team schweifen. Schließlich wandte er sich ab. Er würde gehen, wie er gekommen war, ohne mit der Wimper zu zucken, kaum begreifend, was für einen großen Einfluss er auf das ganze Team hatte. So, wie es immer gewesen war. Ushijima sah sich, sah seine Leistung, sah die Leistung seines Teams, doch er verstand nie, dass zwischen aller Leistung immer noch Menschen waren, und diese Menschen zueinander auch eine emotionale Bindung aufbauten. „Ich erwarte bessere Leistung bei eurem nächsten Spiel.“ Ich werde es mir ansehen. Kenjirous Herz krampfte nervös. Er wusste, die Worte würden das Team antreiben, denn niemand wollte unter dem kritischen Blick von Ushijima scheitern, aber gleichzeitig setzten sie immens unter Leistungsdruck. Zwischen Meisterschaftszulassung und Ushijimas Meinung war vermutlich letztere das Schwerwiegendere. Ushijima bemerkte nichts davon. Völlig unbekümmert schritt er zur Tür, nur um im Türrahmen noch einmal innezuhalten und zurückzusehen. Sein unleserlicher Blick traf Kenjirou.   „Ich warte.“     ***     „Es ist ja gar kein Wunder, dass ihr nicht gegen uns gewinnen konntet. Immerhin habt ihr gegen einen Top-5-Spieler gespielt!“   Bokuto grinste selbstgefällig in die Runde des Teams, das sich um ihn scharte wie ein paar kleiner Kinder, die sich ein Lob von ihrem Lieblingsonkel abholten. Der Vergleich war im ersten Moment vermutlich dämlich, aber Keiji konnte an nichts anderes denken. Fast das ganze Team – selbst ein Großteil der Erstklässler – hing einfach viel zu sehr an ihm. Es war ein gutes Gefühl, und die Tatsache, dass allein Bokutos Anwesenheit und seine Unbekümmertheit reichten, damit die vorangegangenen Niederlagen nicht völlig herunterzogen, war für Keiji eine große Erleichterung. Er hätte kein deprimiertes Team mit nach Hause nehmen wollen. „Gegen zwei“, gab Minamishima dreist zurück. Bokuto sah ihn völlig verwirrt an, während der aktuelle Vize-Captain kaum merklich unter seinem eher müde wirkenden Blick grinste und belehrend den Zeigefinger hob, „Vergiss Ushiwaka nicht, Bokuto-San.“ – „Der ist nicht halb so cool wie ich, Minamin!“ Nishiame und Shima lachten amüsierten über den kurzen Austausch und Bokutos absolute Empörung. Keijis Mundwinkel zuckten flüchtig. Es fühlte sich vertraut an, einfach beieinander zu sitzen und noch einmal darüber zu sprechen, was das Training gebracht hatte. Normalerweise etwas, das in den Umkleiden geschah, aber auf den Trainingscamps war es schon immer üblich gewesen, dass etwaige Trainingsgespräche in ihrem Schlafraum stattfanden. Wenn er nicht daran dachte, dass sich ihre Wege gleich wieder trennen würden, Bokuto in die eine Richtung davongehen würde und Keiji in die Andere, dann konnte er sich wirklich einreden, dass alles noch genauso war wie vor dem Schuljahreswechsel.   „Ich finde ja, wir haben uns gut geschlagen!“, verkündete Nishiame fröhlich. Er hatte die Knie an die Brust gezogen, die Arme lose darum geschlungen und ließ nun seinen Kopf auf den Knien hin und her rollen. „Nicht wahr?“ „Auf jeden Fall!“, stimmte Shima voller Enthusiasmus zu. Er strahlte in die Runde, lehnte sich vor, damit er besser zu Nishiame hinüberlinsen konnte – „Und viel wichtiger: Wir haben neue Freunde gefunden!“ Eine Aussage, die vor allem auf ihn selbst zutraf, der doch geradezu von Nekoma adoptiert worden war. Letztes Jahr war es Kuroo gewesen, den Fukuroudani adoptiert hatten. Vielleicht würde es eine Tradition werden, die sich jedes Jahr fortsetzte. Keiji konnte sich nicht vorstellen, wie es im nächsten Jahr enden würde, aber der Gedanke ließ ihn zufrieden schmunzeln. So sehr ihn Kuroo die meiste Zeit nervte, der Gedanke einer funktionierenden, teamübergreifenden Freundschaft war angenehm, und eine so innige freundschaftliche Rivalität trieb oft genug das ganze Team mit an. Und auch wenn Shima eindeutig den Jackpot erwischt hatte, was die neuen Freundschaften anging, es ging weit darüber hinaus: Keiji hatte mehr nebenbei mitbekommen, dass Nishiame sich mit einigen der anderen Liberos verbrüdert hatte, während Marei und Kozume scheinbar so langsam auch an den Punkt kamen, wo sie die Gesellschaft des jeweils anderen nicht nur ertrugen. Onaga hatte er mit dem freundlich aussehenden Hünen aus Shiratorizawa plaudern sehen, wann immer sie ein paar freie Minuten hatten. Allein von dem Gesichtspunkt aus war das Trainingscamp ein voller Erfolg gewesen.   Für Keiji war es aber auch auf der Basis von Erfahrungssammlung wertvoll. Shiratorizawa und Aoba Jousai waren zwei völlig fremde Teams, deren jeweiliger Stil noch einmal etwas ganz neues gewesen war. Karasuno war ohnehin immer für eine Überraschung gut. Obwohl Fukuroudani im Schnitt wohl am besten abgeschnitten hatten, waren sie über viele Hürden gestolpert, an denen sie in Zukunft arbeiten mussten, wenn sie effektiv dagegen bestehen wollten. Es würde nicht leicht werden, aber Keiji freute sich auf die neuen Herausforderungen. Die Erfahrung des mannschaftsübergreifenden Teams war auch trotz der niederschmetternden Niederlage positiv gewesen. Zu sehen, dass Talent und Fähigkeiten ihre Grenzen hatten schlicht dadurch, dass es an der Flexibilität scheiterte, konnte nicht schaden. Sie würden niemals blind und ohne Probleme mit fremden Spielern zusammenarbeiten können, ohne sich vorher einzuspielen, aber sich bewusst gemacht zu haben, wie schwierig das eigentlich war, konnte immens helfen, diese Einspielzeit zu verringern. Nicht nur teamübergreifend, sondern auch für den Fall, dass es zu Spielerwechseln kam, die den Rhythmus unterbrachen.   „Hey hey hey! Ihr seid wirklich gut! Akaashi hat ein gutes Team zusammengestellt!“   Es war kein großes Lob, und trotzdem breitete sich auf vielen Gesichtern ein begeistertes Strahlen aus. Shima und Onaga klatschten jubelnd ab, während Nishiame und Minamishima grinsende Blicke tauschten. Selbst Mareis eher nichtssagendes Gesicht verzog sich zu einem stolzen Lächeln. Wer Bokuto nicht kannte, ging davon aus, dass ein Lob von ihm nicht viel wert war. Er war zu leicht zu begeistern, zu leicht aufzupeitschen, und die meiste Zeit sprach er, ohne wirklich eine Ahnung zu haben von dem, was er gerade erzählte. Keiji wusste, dass es wenige Leute gab, die ein solches Feedback ernstnehmen würden. Es war kein Wunder – kaum jemand machte sich die Mühe, Bokuto weit genug kennen zu lernen, um zu begreifen, dass hinter dem dümmlichen Eulenblick wesentlich mehr steckte, als es oft den Anschein hatte. Es war ein immenses Lob. Bokuto mochte dumm und oft ein bisschen verpeilt sein, aber er hatte mehr als genug Ahnung vom Volleyball, dass er tatsächlich in der Lage war, zwischen gut und schlecht zu differenzieren. Auf einer ganz urtümlichen, instinktiven Ebene, aber dafür auf dieser Ebene besser als so ziemlich jeder andere da draußen. Das war es, was sein Lob so wertvoll machte. Bokuto könnte niemals erklären oder in Worte fassen, wo seine Meinung herkam, könnte es nicht ausführen und detaillieren, aber das war nicht wichtig. Er wusste es einfach. „Es könnte besser sein“, kommentierte Kurowa trocken. Er sah – so ziemlich als einziger – überhaupt nicht überzeugt aus und brachte Nishiame mit seinen Worten dazu, mahnend zu schnaufen. „Kurorin! Luft nach oben ist immer, lass das nicht so schlecht klingen!“ Bokuto sah nachdenklich vom einen zum anderen, kratzte sich am Kinn. „Hör mal, Sohn-Kun, du hast ja auch noch ne ganze Menge Luft nach oben!“ Jemand lachte leise, irgendwo ertönte ein ersticktes Prusten. Kurowa selbst alles andere als amüsiert aus, gab einen vagen, abfälligen Laut von sich. Wieder einmal, konfrontiert mit einer Situation, die ihn störte, stand er auf, die Hände in den Hosentaschen vergraben, offensichtlich planend, dem ganzen Gespräch einfach den Rücken zu kehren. „So viel Blödsinn geb ich mir nicht. Der Typ hat ne Schraube locker. Von jemandem, der an schlechten Tagen nicht einmal mehr weiß, wie man einen Ball schmettert, lass ich mir nichts sagen.“ Seine Worte waren trocken, nichtssagend, kalt. „Kurorin!“, rief Nishiame mahnend aus. Er sprang auf, doch bevor er sich näher auf ihn hätte stürzen können, hatte Marei ihn mit einem Kopfschütteln aufgehalten. Keiji hatte ähnlich den Impuls, aufzustehen, aber genau wie Nishiame gehalten wurde, hatte Minamishimas Hand sich schwer auf seine Schulter gelegt. Objektiv gesehen war es die richtige Entscheidung; auf Kurowas Provokationen einzugehen führte nur zu unnötig langgezogenen Streitereien, während blanke Ignoranz in der Regel dazu führte, dass er die Freude an seinen bissigen Kommentaren verlor. In der Regel war Keiji gut darin, ihn zu ignorieren. Gerade aber… er presste die Lippen zusammen, stieß betont langsam die Luft aus.   Kurowa erinnerte ihn viel zu sehr an die Szenen, die er im ersten Schuljahr erlebt hatte. An das damalige Team Fukuroudani, das aus Drittklässlern bestanden hatte, die Bokuto am Liebsten nicht einmal ansehen wollten, während die Zweit– und Erstklässler mehr und mehr seinem aberwitzigen Charme erlagen. Es war immer der gleiche Wortlaut gewesen, immer der gleiche Hintergrund der missgelaunten Kommentare und der Ablehnung. Bokuto war unfähig, weil er exzentrisch war. Er war nutzlos, weil er auffällige Schwächen hatte. Dass seine immensen Fähigkeiten jeden Fehltritt mehr als aufwogen, hatte damals niemand sehen sollen. Keiji war froh gewesen, als die Drittklässler damals verschwunden waren, und mit ihnen die unnützen Kommentare. Er hatte immer geglaubt, dass das das Ende der Geschichte sein würde, und jetzt wiederholte sie sich trotzdem. Natürlich war es irgendwie egal, jetzt, wo Bokuto nicht mehr wirklich Teil des Teams war, aber für Keiji würde er immer ein Teil davon bleiben – und als solcher wollte er, dass Bokuto gut behandelt wurde, ganz, wie es ihm gebührte. „Er wird es lernen“, murmelte Minamishima sanft, aufmunternd. Er drückte Keijis Schulter behutsam. „Er wird es lernen. Er wird noch oft genug sehen, dass er gegen Bokuto in tausend Jahren nicht ankommen kann.“ Keiji nickte langsam, immer noch unwillig, die Sache so stehen zu lassen, aber wissend, dass es das Beste war. Resignierend stieß er langsam die Luft aus, regte sich nur ein kleines Stück – ein Signal, dass sein Vize ihn wieder loslassen konnte. Ohne die fremde Hand auf der Schulter fühlte er sich wohler. Er wusste es zu schätzen, dass Minamishima ihn gezügelt hatte, aber jetzt, wo das erste Bedürfnis danach, seinen Impulsen nachzugeben, abgeebbt war, fühlte er sich von der Sorge des Anderen nur eingeengt. Nishiame saß auch wieder. Er runzelte die Stirn, ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht. „Wenn er all die Zeit, die er mit meckern und abhauen verbringt, in sein Training stecken würde, könnte er noch viel besser sein!“, jammerte er seufzend, kopfschüttelnd. „Er wird es lernen“, wiederholte Minamishima noch einmal. Es klang schon fast, als wolle er sich selbst davon überzeugen. Keiji wandte den Blick von seinen Kameraden ab, sah zu Bokuto hinauf. Er hatte sich nie viel aus den bissigen Kommentaren seiner Senpai gemacht, entsprechend glaubte Keiji nicht, dass Kurowa ihn jetzt zu sehr tangiert hatte – das machte ihn nicht weniger wütend, aber es war zumindest beruhigend, dass es seinen Freund nicht in ein Tief stürzen würde. Bokuto blinzelte eulenhaft zur Tür hinüber, durch die Kurowa inzwischen verschwunden war. Er blinzelte noch einmal. Schüttelte dann irritiert den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. Er sah unglaublich ernst aus. Geradezu besorgniserregend ernst – ein Anblick, der verdrehterweise sehr erleichternd war –, und genau deshalb konnte Keiji ihn schon nicht mehr ernstnehmen, noch bevor er den Mund aufgemacht hatte. Es ging nicht nur ihm so – Nishiame gluckste schon verhalten. „Akaashiiiii! Du hast unseren Sohn schlecht erzogen!“     ***     Oikawa sah aus, als wäre er in irgendetwas getreten, in das er nicht hätte reintreten wollen. Gerümpfte Nase, angewiderter Blick, verschränkte Arme. Er strahlte puren Missmut aus. Shigeru kannte den Blick schon so lange, dass er sich nichts mehr daraus machte. Selbst wenn er wirklich gegen ihn persönlich gerichtet war – solange Oikawa noch zu so viel mimischer Theatralik fähig war, konnte es gar nicht so extrem schlimm sein. Und es war doch nur natürlich, dass er sich über die gnadenlose Niederlage mokierte, die sie hinter sich hatten. Shigeru hatte den Gedanken von einem gemischten Team sowieso albern gefunden, aber wenn die Kinder eben spielen wollten, sollten sie spielen? Sie konnten ja nur auf die Nase fallen. Zu lernen, wieder aufzustehen, war auch nützlich genug, solange niemand erwartete, dass Shigeru eine nette, verständnisvolle, helfende Hand bot. „Ihr habt verloren“, stellte Oikawa noch einmal heraus, was sowieso jeder wusste. Kyoutani machte einen abfälligen Laut, der ein bisschen klang, als hätte er Oikawa lieber vor die Füße gespuckt. Shigeru warf ihm einen mahnenden Blick zu, der völlig ignoriert wurde. Er selbst musste eine gute Portion Schuldbewusstsein herunterschlucken. Er hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, dass sie Oikawa so viel Scheitern präsentiert hatten. „Aber gut. Das war zu erwarten. Gegen mich verliert man eben. Außerdem war klar, dass Tobio-Chan nicht taugt.“   „Es war nicht Kageyamas schuld!“, fuhr Kindaichi fast sofort auf. Seine Worte ließen Oikawa verwirrt blinzeln, während Kogami laut und melodisch lachte. „Yuu~ta~rou~“, singsangte er amüsiert, lehnte sich zu Kindaichi hinüber, legte ihm einen Arm um die Schultern in einer Geste, die schon überzogen kumpelhaft war, „Sag nicht, du bist verlieeebt~? Komm schon, natürlich war der Kerl schuld, der war immerhin zu blöd zum Passen.“ Shigeru seufzte leise. Kindaichis Blick war eisig, ablehnend. Er schob Kogami gnadenlos von sich, der nur lachte und lässig einen Schritt zurücktrat. Oikawa hatte die Nase noch mehr gerümpft, aber Shigeru war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass Kindaichi Kageyama verteidigte, und Oikawa das einfach nicht einsah, oder ob es daran lag, dass er es einsah, aber nicht einsehen wollte. Zwei Jahre mit Oikawa zu verbringen machte es unmöglich, die Geschichten vom König des Spielfelds nicht zu kennen. Kageyama, das brillante, unschlagbare Zuspieler-Genie mit der miesen Persönlichkeit und dem diktatorischen Denken, den viel zu hohen Anforderungen, die niemand erfüllen konnte. Kageyama, der völlig ungerechtfertigt, wie Oikawa immer wieder beteuert hatte, wenn er ganz besonders tragische Phasen hatte, seinen Platz im Mittelschulteam gestohlen hatte. Kageyama, der in seinem dritten Mittelschuljahr schließlich von seinem ganzen Team verraten wurde, weil niemand mehr auch nur versuchen wollte, seine wahnsinnigen Würfe anzunehmen. Der Sturz des egozentrischen Königs, in den Kunimi und Kindaichi selbst verwickelt gewesen waren. Sie waren völlig zerstritten auseinandergegangen, von allem, was Shigeru gehört hatte. Er hatte keine Ahnung, was tatsächlich passiert war – er hatte Kitagawa Daiichi nicht besucht. Er hatte auch nie nachgefragt, weil es ihn schlussendlich doch nicht wirklich interessiert hatte. Kageyama war nicht in seinem Team, also war es ihm egal gewesen, wie die Stimmung ihm gegenüber war. In jedem Fall aber war es doch logisch gewesen, dass sie mit so einer Vergangenheit nicht miteinander funktionieren konnten. „Es ist nicht seine Schuld“, beharrte Kindaichi stur. Er sah nicht mehr auf, während er sprach – als würde er sich schämen. Er schwieg einen Moment, schien mit den Worten zu ringen, ehe er seufzend weitersprach: „Er ist nicht einmal mehr halb so schlimm, wie er früher war. Ich kann nur – ich kann einfach nicht  mit ihm spielen!“ „Du hängst viel zu sehr in der Vergangenheit.“ „Hör auf Akira, Yuutarou~ Hör auf, dem Kerl nachzuweinen.“ – „Kogami…!“   Die ganze Diskussion war so überflüssig, dass niemand recht zuhörte, während Kogami und Kindaichi sich über Kageyama zofften. Shigeru jedenfalls blendete es ganz bewusst aus, Kunimi sah so gelangweilt aus, dass er zweifelsohne auch nicht zuhörte. Hier und da wurden Blicke getauscht, aber es war schon so lange Gewohnheit, dass Kogamis Hang zu Spötteleien immer mal wieder zu Streit führte, dass es eigentlich keinen mehr kümmerte. Oikawa verdrehte irgendwann nur die Augen, während er ungeduldig dastand, mit den Fingern auf den Oberarm trommelnd, als wollte er sagen habt ihr’s bald? „Haltet doch endlich eure dummen Schnauzen!“, blaffte Kyoutani mitten in die Diskussion, die nicht enden wollte. Seine Worte reichten tatsächlich, damit Stille einkehrte. Kindaichi murmelte eine vage Entschuldigung, während Kogami immer noch demonstrativ grinste, als er sich ein Stück zurückzog. Oikawa lachte herzlich und vergnügt, doch seine Augen blitzten unheilvoll.   „So brav heute, Kyouken-Chan~ Und das ganz ohne–“ Iwaizumi, blieb ungesagt im Raum hängen. Shigerus Augenbrauen wanderten einen Augenblick fragend in die Höhe, doch ehe er überhaupt hätte so weit denken können, um in Frage zu stellen, weshalb Oikawa sich selbst unterbrochen hatte, war dessen ich bin in irgendetwas ekliges getreten-Gesichtsausdruck wieder an seinem Platz und er wandte sich mit aufgeblähten Wangen an das ganze Team. „Natürlich war Tobio-Chan schuld!“, verkündete er, ein bisschen zu hastig fast. „Aber“ – und an diesem Punkt wich das Theater einem ernsten, beinahe gefährlich nüchternen Blick. Mit einem Schlag war seine Stimme eine Oktave tiefer, „Kindaichis Ansicht stimmt genauso. Er hätte das definitiv besser lösen können, und hätte er mal versucht, sich auf Tobio einzulassen, hätten sie ein paar mehr Punkte machen können. Nicht, dass es einen Unterschied macht.“ Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Verloren hättet ihr trotzdem.“ Es war ein unumstößlicher Fakt. Es störte Shigeru auch nicht. Dass sie schlechter gewesen waren als nötig – das störte. Kindaichi sah immerhin gebührend beschämt aus, deshalb sparte Shigeru sich die Überlegung, wie er ihn noch dafür bestrafen konnte. „Nicht zu verlieren wäre unmöglich gewesen, Tooru-San.“ „Ich weiß, ich weiß, Kogamicchi! Gegen mich kommt ihr in tausend Jahren nicht an! Tobio auch nicht. Er ist viel besser geworden, aber solange er nicht ein bisschen mehr Empathie lernt… tjah.“ Oikawa sah nicht halb so bedauernd aus, wie er tat. Shigeru fand es in erster Linie beunruhigend, dass Oikawa Kageyama immer noch mehr Leistungspotential zusprach, obwohl der Kerl schon absolut unmenschlich war. Gegen ihn zu spielen war ein Albtraum, den Shigeru nicht zu oft träumen wollte.   In den nächsten Minuten herrschte Stille. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen – wobei Shigeru bezweifelte, dass Kogami überhaupt denken konnte. Dessen Grinsen verhieß schon wieder alles, aber keinen klugen Gedanken. Kindaichi knabberte immer noch an seinem Scheitern. Kunimis Blick lag träge auf ihm, so, als würde er abwägen, ob nicht doch irgendwann der Punkt kam, an dem er einschreiten sollte. Wirklich zufrieden sah hier niemand aus, und Shigeru konnte es völlig nachvollziehen. Trotzdem war er froh, dass er sich dazu durchgerungen hatte, herzukommen. Das Trainingscamp war eine gute Gelegenheit gewesen, noch einmal zu sehen, wo ihre Schwächen lagen und woran sie arbeiten mussten. In so kurzer Zeit mit so vielen verschiedenen Mannschaften zu spielen, konnte verblüffend erleuchtend sein. In erster Linie aber war es vor allem ermüdend, denn es hatte Shigeru gezeigt, dass ihr Trainingspensum bei weitem nicht hoch genug war. Ihm grauste davor, das zu tun, aber sobald sie zurückkehrten, würde er mit Irihata und Mizoguchi sprechen, um ein noch strafferes Trainingsregime durchzusetzen. Nicht, dass das allzu problematisch werden würde. Die beiden Coaches waren vermutlich viel zu begeistert davon.   „In jedem Fall…“, unterbrach Oikawa die Stille schließlich wieder. Sämtliche Köpfe drehten sich in seine Richtung. Seine Augen waren unheilverkündend dunkel, sein Grinsen beinahe drohend. Shigeru erschauderte von dem Blick des Älteren. „Dieses Jahr werdet ihr in die Nationalmeisterschaft kommen.“ Es war keine Bitte. Kein Vorschlag. Keine Hoffnung. Es war eine Drohung, und so beunruhigend das war, so sehr war es auch beruhigend. Oikawa war nicht dumm genug, etwas einzufordern, das sie nicht leisten könnten. Sein Grinsen wich einem Lächeln, das, wenn man ihn nicht näher kannte, wohl liebevoll ausgesehen hätte. Shigeru schluckte. Ein Blick in die Gesichter seiner Teamkollegen zeigte Entschlossenheit. Selbst Kogamis Grinsen war für den Moment verblasst und einer ernsten Miene gewichen. Shigeru ballte die Hände zu Fäusten.   Er war es Oikawa schuldig, dieses Team wirklich so weit zu bringen. Sie hatten ihn an diesem Wochenende vermutlich mindestens genauso enttäuscht wie bei den Vorrunden der Frühlingsmeisterschaft im Vorjahr. Trotzdem stand er jetzt hier vor ihnen, völlig ungebrochen in seiner Überzeugung.   „Ich verlasse mich auf euch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)