Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Als er nach einem langen Unitag müde auf das kleine, durchgesessene Sofa plumpste, das seinen Wohnbereich zierte, hatte Koushi schon einen ganz konkreten Plan, was er wollte. Er musste nicht einmal aufs Handy sehen, als er Daichis Nummer wählte – Kurzwahl war schon etwas Schönes –, sondern kramte währenddessen einen Notizblock hervor, den er mit Sicherheit gleich noch brauchen würde. Wenn sein Freund an sein Telefon ging. Koushi stieß ungeduldig die Luft aus, als das Freizeichen zum zweiten Mal ertönte, und beim dritten Mal begann er, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. „Komm schon, Daichi!“ Daichi kam, beim fünften Klingeln. Koushi unterdrückte das Bedürfnis, ihn dafür  zusammenzustauchen, dass er viel zu lange brauchte, um einen Anruf entgegenzunehmen. Um trotzdem seinen Frust abzubauen ließ er sich schwungvoll gegen die Sofakissen fallen. „Daichi. Es ist ein bisschen spät, aber findest du nicht, wir sollten uns noch gebührend verabschieden?“ Stille. Koushi konnte förmlich hören, wie Daichis Augenbrauen wanderten.  Dann lachte er gutmütig und etwas am anderen Ende der Leitung ächzte – Daichis Bett, als er sich darauf niederließ. „Was hast du vor?“   Koushi brauchte keine fünf Minuten, um seinen eher wenig umfangreichen – aber konkreten – Plan an den Mann zu bringen. Es folgte wieder Stille, bevor Daichi die Luft ausstieß und den Kopf schüttelte – Koushi wusste, dass er den Kopf schüttelte. Es war dieses Kopfschüttelseufzen gewesen, das er gerade geseufzt hatte. „Du hast dir ganz schön was vorgenommen“, kommentierte er in einer Art amüsiertem Unglaube, „Und du meinst wirklich…?“ – „Daaaichi! Sei nicht so.“ Er schnaubte protestierend, fest entschlossen, Daichi gar nicht erst ausreden zu lassen, wenn er versuchte, ihm seinen Plan auszureden. Daichi konnte ein entsetzlicher Dummkopf sein und verrannte sich viel zu oft in den falschen Dingen und Koushi würde nicht zulassen, dass er sich diese Idee kaputt machte, ehe er ihr eine Chance gegeben hatte. „Es wäre schön. Aber es ist gewagt, findest du nicht?“ – „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“, gab er lachend zurück. Er hörte ein weiteres Kopfschütteln, doch er wusste, dass Daichi niemals ehrlich nein sagen würde. Es war nicht, als würde er es nicht auch wollen, und auch wenn es mit Sicherheit weniger aufwändige Methoden gegeben hätte, noch einmal ordentlich Abschied zu nehmen, Koushi war überzeugt, dass seine Idee die Beste war.   Nicht nur für sie, sondern vor allem für ihre Nachfolger.   „Okay.“ Daichi grinste durch den Handylautsprecher, und Koushi konnte nicht anders, als mit zu grinsen. Die erste Hürde war geschafft! Und für Koushi eindeutig die schlimmste; Daichi war sein bester Freund, und hätte Daichi ihm einen Riegel vorgeschoben, wirklich und wahrhaftig gesagt, dass er die ganze Sache völlig bescheuert fand und es auch so gemeint, Koushi hätte es hingenommen. Weil es ohne Daichi einfach nicht mehr dasselbe wäre, selbst wenn er noch weiter an seinem Plan festhielt. Bei allen anderen würde er sich voraussichtlich ganz unbeirrbar über alle Einwände hinwegsetzen. „Okay. Machen wir’s.“ Machen wir’s bedeutete noch einmal eine halbe Stunde, um Koushis wenig durchgeplantem Plan ein solides Fundament in den Boden zu stampfen, und als das Gerüst schließlich stand, war Koushis Notizzettel vollgekritzelt von Notizen und Telefonieschnörkeln. Er kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus, als er auf das kunstvolle Gebilde aus Produktivität und Zuhörlangeweile hinabblickte. Enthusiastisch legte er den Kugelschreiber beiseite und sprang auf. Nach dem langen Telefonat war sein Hals ziemlich trocken und er wollte unbedingt einen schönen, heißen Tee – es war schließlich nicht der letzte Anruf, der ihm bevorstand. „Rufen wir die anderen an!“, flötete er vergnügt ins Mikrofon, ehe er auflegte und die Küchentür mit dem Fuß aufstieß.     ***     „Hi! Hier ist Karasunos Sugawara. Entschuldige die Störung, hast du einen Moment?“ Während Oikawas erste Begrüßung noch ausgesprochen fröhlich – „Yaho~!“ – geklungen hatte, begegnete Koushi nun erst einmal nur Schweigen. Er schürzte die Lippen, abwartend, abwägend. Ob der Kerl einfach wieder auflegte? Nein. Das war nicht Oikawas Art. Hoffte Koushi jedenfalls.   „Woher hast du meine Nummer?“ Ah. Doch, er war noch da. Herablassend, unbegeistert, aber er war noch da, und damit konnte Koushi locker arbeiten. Und das Misstrauen in seiner Stimme war verständlich – wahrscheinlich wäre Koushi selbst auch misstrauisch gewesen, hätte ein ehemaliger Volleyballgegner ihn spontan ohne ersichtlichen Grund angerufen. Vielleicht hätte Koushi ihn aber auch einfach zum Kaffee eingeladen. „Yuda.“ – „Yudacchi ist ein Verräter!“, empörte Oikawa sich. Er klang beleidigt, aber weil er sogar noch Spitznamen benutzen konnte, ging Koushi davon aus, dass es nicht halb so schlimm war.   „…woher kennt ihr euch überhaupt?“ „Uni.“ Wieder eine Pause. Zur Informationsverarbeitung? Koushi atmete langsam durch und tippte mit der Fingerspitze auf seinen Notizzettel, abwartend, nicht ganz so geduldig, wie er gern wäre. Oikawa ließ sich Zeit. Vielleicht sogar absichtlich. „Und, was willst du?“ Koushi grinste triumphierend und lehnte sich entspannt zurück. Damit lag der erste Stolperstein hinter ihm. Oikawa hatte nicht einfach aufgelegt! Wenn er ihm seine Idee jetzt noch schmackhaft machen konnte, hatte er diesen Anruf unter Dach und Fach – und das sollte nicht so schwer sein. Oikawa ließ sich begeistern, nicht wahr?   Ließ er. Koushi musste nicht einmal ausreden, damit er Feuer und Flamme war. „Ich werde Iwa-Chan anrufen!“, verkündete er ausgesprochen begeistert. Etwas am anderen Ende der Leitung rumorte. Koushi stellte sich vor, wie Oikawa aufgesprungen war und begann, durch die Wohnung zu tigern, um seinem Enthusiasmus irgendwie ein Ventil zu bieten. Sehr zu seinem Erstaunen folgte auf den fröhlichen Ausruf aber erst einmal Stille. Es dauerte lange, bis Oikawa sich noch einmal zu Wort meldete, und als er es tat, klang es, als hätte er ziemlich viel Mühe, seine Worte hervorzubringen: „Mir ist noch etwas eingefallen.“ Er klang beleidigt, irgendwie schmollend und unwillig – als würde es ihn große Überwindung kosten, zu sagen, was er gerade sagen wollte. Als würde er da ein Zugeständnis machen, das er niemals machen wollte, aber das er nun doch machte. Vielleicht für sein Team. Vielleicht aus anderen sentimentalen Gründen. Koushi hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung, das so schwer klang, dass er sicher war, es hätte ein Loch in den Boden reißen können. Und es klang resigniert.   „Ich kann noch jemanden mitbringen.“     ***     Der Name auf dem Display verkündete listiger Krähen-Captain, als Tetsurou träge auf sein Handy schielte, das neben ihm über das Sofa vibrierte und klingelte. Interessiert hob er die Augenbrauen und das erste ehrliche Grinsen des Tages – es war ein Scheißtag gewesen! Verdammter Volleyballclub… Wäre er nicht zu stolz, er würde schmeißen – breitete sich auf seinem Gesicht aus. Einfach nur, weil er es konnte, ließ er das Handy noch ein bisschen weiterdudeln, ehe er danach griff und den eingehenden Anruf annahm. „Was für eine Ehre, Captain Krähe. Ich dachte schon, ich hab dir meine Nummer ganz umsonst gegeben.“ „Glaub mir, ich hätte drauf verzichten können“, war die ausgesprochen charmante Antwort, die er bekam. Der ehemalige Krähen-Captain klang aufgesetzt freundlich. Es war so vertraut, dass Tetsurou nur noch mehr grinste, und ganz selbstverständlich verfiel er in einen ähnlich aufgesetzt freundlichen Tonfall: „Aber du hast mich angerufen. Es muss ja mächtig wichtig sein.“ Dass Tetsurou die ganze Sache nicht ernstnahm, hörte man  zur Genüge. Aber zugegeben – neugierig war er. Was brachte diesen Kerl dazu, ihn anzurufen, so völlig aus dem Blauen heraus? Vor allem bedenkend, wie lange er Tetsurous Nummer schon hatte und nicht nutzte! Wäre es das reine, kameradschaftliche Bedürfnis nach einem netten Plausch unter Rivalen, wäre er doch viel früher auf den Plan getreten. Im letzten Schuljahr noch zum Beispiel.   „Kann man so sagen. Willst du dein altes Team nochmal so richtig überraschen?“   Tetsurou blinzelte. Einen Moment lang sah er verdutzt auf sein Handy, nicht ganz sicher, ob er sich da nicht etwas zusammenfantasierte. Was auch immer Captain Krähe da gerade implizierte – es versprach viel zu gut zu werden, als dass er nicht mitmachen würde. „Oya~ Ich bin ganz Ohr, Captain.“     ***     „Nein.“ Es war das zehnte Mal, dass Akinori dieses Wort sagte, seit Bokuto angerufen hatte. Er rieb sich über die Nasenwurzel und machte sich eine mentale Notiz, seine Handynummer zu wechseln – das würde immerhin so lange gut gehen, bis Komi der Verräter sie dann wieder weitergab. Und das würde er. Akinori kannte ihn. Akinori kannte vor allem Bokuto, und er wusste, dass auf lange Sicht niemand Bokuto eine Bitte abschlagen konnte. „Konohaaaa!“, quengelte es vom anderen Ende der Leitung – zum elften Mal. Wobei, gut, es war immer variabel: Mal länger gezogen, mal kürzer, mal extra dramatisch und dann wieder unnötig quengelnd und nervig. Die Abwechslung änderte nur nichts an Akinoris Meinung. Ganz davon ab, dass er sowieso keine Zeit hatte – er hatte ein Date an dem Wochenende, danke auch –, hatte er vor allem keine Lust. „Nein“, wiederholte er wieder. Langsam dämmerte ihm, dass das nicht genug war, um Bokuto ruhig zu stellen, also fügte er noch genervt hinzu: „Ich muss das nicht sehen.“ „Was sehen?“ Eigentlich hätte er es ahnen können. Akinori stöhnte entnervt und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne seines Schreibtischstuhls fallen. Er hatte genug von der Diskussion, ehrlich. Er führte sie seit mehr als einem Jahr mit Bokuto, und immer begann und endete sie gleich. Er könnte sie alleine führen, so sehr kannte er sie auswendig. Es wurde Zeit für eine neue Taktik. „Du weißt ganz genau, was!“, meckerte er seinem Handy zu, dann legte er knallhart auf. Alles andere hätte ohnehin nur dafür gesorgt, dass er sich unnötig aufregte. Er schickte Komi eine Nachricht – Nein. – und schaltete sein Handy dann knallhart aus, bevor Bokuto begriffen hatte, dass das plötzliche Tuten auf seiner Seite des Gesprächs bedeutete, dass Akinori es beendet hatte. Er hatte absolut keine Lust auf diese Aktion.   Er hatte wirklich genug davon, Bokuto und Akaashi beim Knutschen zu erwischen.     ***     Der Stapel an Wörterbüchern und fremdsprachigen Lernmaterialen war beängstigend groß, und so oft Morisuke ihn auch anstarrte, er wurde einfach nicht kleiner. Trotzdem sah er heute seltsamerweise weniger beängstigend aus als die letzten Wochen; er schob es auf Sugas beruhigende Stimme, die durch den Lautsprecher seines Handys über den Schreibtisch zu ihm hinüberwaberte, während er versuchte, dem Fremdsprachenchaos zu einer neuen Ordnung zu verhelfen. Eigentlich hätte Suga gern einfach ewig weiterplappern können, doch irgendwann hielt er inne. Morisuke verkniff sich ein unseliges Seufzen, während er Chinesisch-Wörterbücher und Englischlektüren voneinander trennte. Jetzt im Nachhinein war ihm schleierhaft, wieso er geglaubt hatte, sein altes Ordnungssystem, das er vor kurzem zu Beginn des Semesters eingeführt hatte, würde Sinn machen. „Und?“, hakte Suga nach, riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er klang aufgeregt und fröhlich und Morisuke konnte sein Strahlen durch das Handy hindurch hören. Es steckte an und er spürte ein Grinsen an seinem Mundwinkel zupfen.  „Natürlich komm ich mit. Die Gelegenheiten, den Knirpsen nochmal gehörig in den Hintern zu treten, lass ich mir nicht entgehen!“ Niemals.   Ein bisschen grauste ihm davor, zu sehen, wie das Team dieses Jahr funktionierte. Von Kuroo hatte er einiges gehört; Insider-Wissen von Captain Kenma. Es klang nicht negativ, aber trotzdem war er skeptisch. Wie sollte diese nutzlose Bohnenstange Lev denn jemals ernsthaft lernen, dass Volleyball aus mehr als Schmetterbällen bestand, wenn es ihm niemand mehr einprügelte?! Wer hielt denn Yamamoto von seinen Peinlichkeiten ab, jetzt, wo er der Senpai war? Schaffte Kenma das? Wie machte sich Shibayama jetzt als alleiniger Libero? Aber er freute sich darauf, sie wiederzusehen. Am Ende hatten sie wirklich nicht annähernd genug Zeit miteinander gehabt. Apropos Zeit – es würde für Suga sicher nicht angenehm sein, zusätzlich zu aller anderen Organisation auch noch einen Schlafplatz suchen zu müssen, oder?   „Übrigens kannst du bei mir übernachten, wenn du möchtest“, kommentierte er zu seinem Handy hinüber. Besser, als wenn der Kerl versuchte, eine Herberge zu finden. Oder sich irgendwo anders einzuquartieren – bei Kuroo zum Beispiel. Niemand wollte in Kuroos Chaos-Palast schlafen. „Vielen Dank, Yaku-Kun! Das nehm ich gerne an.“ Suga klang beinahe verdächtig sonnig. „Du hast nicht zufällig noch Platz für Daichi?“ Morisuke lachte herzlich. Er sah sich in dem kleinen Ein-Zimmer-Büdchen um, das er in Uni-Nähe gemietet hatte, und das eindeutig nicht groß genug für drei Personen war. Wenn er den beiden das Schlafsofa überließ, konnte er selbst den Gästefuton nehmen. Würde kuschlig werden. Für ein oder zwei Nächte aber durchaus kein Problem. Die Vorstellung, sich hier gemeinsam in den Raum zu quetschen, hatte etwas Amüsantes an sich.   „Immer. Vorausgesetzt, du kümmerst dich dafür ums Essen!“     ***     Nach dem dritten Telefonat schwirrte Daichi schon der Kopf. Kuroo war schlimm gewesen. Fukuroudanis Libero war schlimmer. Er war nicht unglücklich, dass Komi lachend abgesagt hatte mit der Erklärung, dass sein Date ihn umbringen würde, wenn er sich darauf einließ. Von Seijohs Hanamaki hatte er ebenfalls eine Abfuhr kassiert – zu weit weg, zu wenig Zeit; „Übrigens hat mich dein Liebchen schon angerufen.“ – und nun wartete er darauf, dass sein nächstes Opfer abnahm. Er wusste nicht einmal, ob Asahi gerade Zeit hatte, hatte eher auf gut Glück angerufen. Der Laden war noch geöffnet, da war Daichi sich recht sicher. Wobei das bei diesen ganzen kleinen Familienmärkten sowieso so eine Sache war, und das hieß auch nicht, dass Asahi gerade arbeiten musste. „Daichi?“ Asahi hatte Zeit. Wie gut. Weniger gut, dass er jetzt schon klang, als wäre er kurz vorm Heulen. Diese Memme. Aber es war vertraut und das entlockte Daichi ein Lächeln. „Hey. Hast du übernächstes Wochenende Zeit?“ „Was ist denn?“   „Suga und ich haben uns da etwas überlegt…“, begann Daichi zu erläutern. Er rappelte sich von seinem Sitzplatz hoch und streckte sich so ausgiebig, wie das mit einem Handy am Ohr eben möglich war. Während er erzählte, trottete er in die kleine Kochnische hinüber; sein Kaffee sollte so langsam eine trinkbare Temperatur erreicht haben. Ein vorsichtiger Schluck, nachdem seine Erklärung beendet war, bestätigte die Hoffnung. Zufrieden lehnte er sich gegen die kleine Arbeitsplatte, das Handy in der einen und die Kaffeetasse in der anderen Hand. Er war bedenklich still am anderen Ende der Leitung. Daichi ahnte schon, was kommen würde. Er verzog mitleidig das Gesicht. „Asahi?“ Noch einmal Stille, dann ein schweres, müdes Seufzen. Es ließ Asahi viel älter klingen, als er war – der Gedanke, dass es zu seinem Gesicht passte, ließ Daichi kurz grinsen, obwohl er bei allem Mitleid gar nicht so sehr das Bedürfnis nach Grinsereien hatte. Natürlich wollte er Asahi dabei haben. Es war kaum ein Trost, dass sie sich darüber hinaus doch jederzeit sehen konnten, wenn sie Zeit hatten.  „Sorry, ich kann nicht. Ich wäre viel zu gern dabei, aber…“, Asahi brach ab und seufzte schwer. Als er fortfuhr, klang er kleinlaut. „So lange kann ich den Supermarkt nicht allein lassen, ich bin fest eingeplant. Sagt Nishinoya und den anderen einen schönen Gruß von mir?“ Die Absage war nicht das Schlimme. Sie war extrem schade, und es tat Daichi weh, dass sein Freund nicht dabei sein würde. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass hier und dort absagen kommen würden, immerhin standen einige von ihnen nicht nur im Studien–, sondern auch im Berufsleben. Aber irgendwie hatte er fest damit gerechnet, dass es seine engen Freunde nicht treffen würde. Er fuhr sich resignierend mit einer Hand über das Gesicht. Die Absage selbst war wirklich nicht der Grund, dass ihm selbst so schwer ums Herz wurde. Das Schlimme war Asahis Tonfall.   „Bitte heul nicht.“     ***     „Hey hey hey!“ Keijis Mundwinkel zuckten zu einem kurzen Lächeln hoch bei dem Lärm, der aus seinem Handy tönte, kaum, dass er abgehoben hatte. Neben sich sah er, wie sein Vize-Captain Minamishima amüsiert die Augenbrauen hob. Er griff mit beiden Händen in sein zerzaustes Haar, um eine Bokuto-ähnliche Frisur zu imitieren und legte fragend den Kopf schief. Keiji nickte. Sein Gegenüber lachte leise und signalisierte ihm mit einer Geste, dass er den Rest übernehmen würde. Er wandte sich ab, ohne Antwort abzuwarten. Er war nicht laut, aber lebhaft. Obwohl er ständig verschlafen aussah, war Minamishima einer der enthusiastischeren Teile der neuen Startaufstellung. Keiji war schon immer gut mit ihm ausgekommen, was mitunter daran lag, dass Minamishima seinerseits immer gut mit Bokuto ausgekommen war. In einigen Punkten waren sie sich ähnlich. Er war zwar weit von Bokutos Charisma entfernt, aber er war trotzdem gut darin, das Team anzutreiben. Oder, in diesem speziellen Fall, das Team wegzuscheuchen. Keiji sah selten, dass die Umkleide so schnell leer wurde. Jetzt dauerte es keine Minute, bis die schwatzenden Sportler von ihrem Vize-Captain vor die Tür gesetzt worden waren, die mit einem letzten Winken von besagtem Vize-Captain schließlich geschlossen wurde. Er war dankbar darum, und so konnte er sich in aller Ruhe wieder seinem Handy zuwenden, nachdem er eigentlich darauf verzichten konnte, dass Bokuto ihm wieder ins Ohr schrie, weil er nicht genug Reaktion bekam. Dass er überhaupt so lange gewartet hatte, ließ Keiji vermuten, dass Bokuto etwas ausgesprochen wichtiges zu erzählen hatte und dafür nun ungeduldig hibbelnd auf seine volle Aufmerksamkeit wartete. Keiji wusste auch, was er zu erzählen hatte. „Bokuto-San.“ – „Akaashiiiiiiiiiiiiii!!!“ Ich habe dich auch vermisst. Es war so vertraut. Sie telefonierten oft, schrieben Nachrichten, und trotzdem fühlte Keiji sich jedes Mal, als hätten sie sich viel zu lange nicht mehr miteinander beschäftigt. „Ich weiß, Bokuto-San.“ Kurze Stille. Bokuto überlegte vermutlich, worauf Keiji sich nun bezog, es konnte immerhin mehrerlei sein. Schlussendlich kam er zu dem Entschluss, dass, was auch immer es war, dringend eines Protests bedurfte. „Aber–!“ – „Ich weiß es. Übernächstes Wochenende.“   Keiji hatte es sogar schon dreimal gehört: Von Sugawara, von Sawamura, und von Komi.   (Und zweimal war das Training damit gestört worden. Aber nach dem ersten Anruf hatte er beschlossen, sein Handy in Reichweite haben zu wollen für den zweifelsohne irgendwann kommenden Anruf von Bokuto, den er nicht verpassen wollte. Bokuto konnte ziemlich dramatisch werden, wenn man seine Anrufe verpasste, vor allem, wenn sie ihm wichtig waren.)   „Akaashiiiiiiiii! Du kannst Gedankenlesen!!!“ Mal wieder. Keiji verdrehte gutmütig die Augen. Egal, wie oft er Bokuto davon abzubringen versuchte, ein paar Tage später hatte er trotzdem wieder die Überzeugung erreicht, dass Keiji ein Gedankenleser sein musste. „Nein, Bokuto-San.“ – „Doch! Sonst wüsstest du das nicht!“ Es war das gleiche Argument wie immer. Ganz ignorierend, dass die Dinge, die Bokuto als Gedankenlesen auffasste, in der Regel unter Beobachtungsgabe und kausales Denken fielen. Oder, wie in diesem Fall, eine andere, sehr simple und viel naheliegendere Erklärung hätten – die aber auch so banal war, dass sie Bokuto vermutlich einfach zu unspektakulär war, um in Erwägung gezogen zu werden.   „Ich wurde schon angerufen, Bokuto-San.“ „…“ „Bokuto-San?“ „…“ „Ich bin froh, dass du angerufen hast, Bokuto-San.“ „Mein Anruf ist ja auch der Beste, hey hey hey!!!“     ***     Chikara hatte gerade einmal so die Zeit gehabt, den Anruf entgegenzunehmen, bis der Tumult um ihn herum losging: Nishinoya hing auf dem niedrigen Tisch, auf dem sie ihre Lernsachen ausgebreitet hatten, Tanaka beugte sich nicht viel subtiler interessiert vor, und während Narita wenigstens den Anstand hatte, nicht allzu neugierig dreinzuschauen, grinste Kinoshita und wackelte eindeutig zweideutig mit den Augenbrauen. „Deine Freundin?“ Seine Worte lösten eine regelrechte Explosion an Empörung und Unglauben aus. Chikara stieß betont langsam die Luft aus, während ihm aus seinem Handy Gelächter entgegenperlte. „Nein“, erwiderte er schließlich, gerade laut genug, um im allgemeinen Theater zu hören zu sein. Er warf einen mahnenden Blick in Tanakas Richtung – halbwegs erfolgreich – und machte eine Geste in Nishinoyas Richtung, dass der auf seinen Platz zurücksollte – nicht erfolgreich. „Suga-San.“ Vielleicht hätte Chikara lieber behaupten sollen, dass es seine Freundin war.   „Suga-Saaaaaaaaaaaaaaaan!!!“ Das Geschrei wurde noch lauter, genau wie das Gelächter am anderen Ende der Leitung. Chikara fand keines von beidem lustig, wenn er ehrlich war. Es war anstrengend, ein Gespräch zu führen, während ein Haufen Unruhestifter um einen herumscharwenzelten und der Gesprächspartner keine andere Reaktion wusste als zu lachen. Chikara hätte sich ein bisschen Mitleid gewünscht. „Warte bitte kurz, während ich mein Team verprügel“, murmelte er in sein Handy, ehe er es Narita in die Hand drückte – er war immer noch der Vernünftigste der Sippe. Die Anderen würden jetzt erst einmal lernen, dass man telefonierende Captains nicht zu belästigen hatte.   Es dauerte viel zu lange, bis endlich Ruhe einkehrte. Nishinoya brütete beleidigt über seinen Literaturhausaufgaben, auch wenn absehbar war, dass er in fünf Sekunden wieder ganz sein lautes Selbst sein würde; Tanaka hingegen sah furchtbar gewichtig in die Runde, seit er zu der Erkenntnis gekommen war, dass er als Vize-Captain doch für Recht und Ordnung zu sorgen hatte. Kinoshita grinste immer noch, aber wenigstens tat er es schweigend. Mit einem schiefen Grinsen reichte Narita Chikara sein Handy wieder. „So. Ich bin wieder da.“ Suga klang immer noch wahnsinnig amüsiert, als er Chikara zurückbegrüßte und dann zu erzählen begann. Nach wenigen Sekunden schon ruhten vier neugierige Augenpaare auf Chikara, was er sich vermutlich selbst zuzusprechen hatte, denn die Enthüllungen des Anderen ließen sein Gesicht verblüfft entgleisen. Er wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Andererseits… „…okay. Wir sind dabei.“ – „Wirklich?“ Sugas Worte wurden von Nishinoya und Tanaka geechot, die völlig begeistert aussahen, ohne zu wissen, worum es ging. Wie ein paar kleiner Hündchen, die noch nicht wussten, dass sie nur ins Auto durften, um zum Tierarzt zu fahren. „Wirklich.“ Chikara grinste flüchtig, aber bemerkbar genug, dass die Neugier auf den Gesichtern seiner Teamkollegen einer vagen Vorsicht Platz machte. Sie waren nicht zum Spaß hier bei Tanaka versammelt; besonders er und Nishinoya hatten keine guten Abschlussprüfungen hingelegt, und schon hatte der Direktor wieder einmal über ihre Leistungen gemeckert und mit Clubverbot und zusätzlichen Lernstunden gedroht. Das hier war doch eine wunderbare Motivation, um das Lernen zu ermutigen, huh?   „Unter der Bedingung, dass Nishinoya und Tanaka ihre Noten in den Griff kriegen.“ – „Chikaraaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!“     ***     „Ich übernehme das“, verkündete Satori grinsend, nachdem Wakatoshi seine wortkarge Erzählung beendet hatte. Er angelte nach seinem Handy, ohne den stirnrunzelnden Blick seines Mitbewohners irgendwie zu beantworten. Wakatoshi nahm es hin, ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und zog seine Lernunterlagen hervor. So vorbildlich. Satori lümmelte lieber an seinem eigenen Schreibtisch, die Füße hochgelegt, das Handy am Ohr. Wenn die alten Zeitpläne nicht übern Haufen geworfen worden waren, dann sollten seine süßen kleinen Kouhai gerade auf dem Heimweg vom Training sein. Beste Gelegenheit also. Und weil er wusste, dass Tsutomus Handy das lauteste war, rief er natürlich ihn an – und natürlich ließ er ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Yoooo, Tsutomu! Rockst du immer noch den Pottschnitt?“ – „Tendou-San!“ Tsutomu klang gebührend erfreut und begeistert, was Satori zum Grinsen brachte. Er war ja schon süß in seiner Begeisterungsfähigkeit. „Was gibt’s?“ – „Wakatoshi-Kun hat da was geplant… Ihr kommt doch, oder?“ „Immer!!! Wir kommen immer, Tendou-San!“ Natürlich, wenn man Tsutomu fragte. Das war auch so ein Grund, wieso Satori ihn angerufen hatte: Er war viel leichter zu überzeugen als zum Beispiel Neu-Captain Kenjirou.   „Tendou-San. Was. Wird. Das?“   Wenn man vom Teufel spricht~ Leider war es genau dieser Kenjirou, der Tsutomu offenbar sein Handy geklaut hatte und jetzt aus dem Lautsprecher zischte. Er klang alles andere als amüsiert oder begeistert, was Satori ausgesprochen unfair fand. „Awww…“ Wie gemein. „Sei nicht so missmutig, Kenjirou. Dein Haarschnitt ist einfach zu unbalanciert.“ „Tendou-San!“ Klang nicht so, als wäre er zum Scherzen aufgelegt. Hmpf. „Wakatoshi-Kun hat ne Einladung für euch. Es wäre unhöflich, sie nicht anzunehmen, hm?“ Und außerdem war Kenjirou doch immer noch ganz vernarrt in Wakatoshi. Wie auch immer man das sein konnte. Satori verstand es nicht; die junge Liebe war ihm einfach zu fern. „…“ Das Argument zog, das wusste er, noch während Kenjirou eisern schwieg – gerade weil Kenjirou eisern schwieg. Wäre es ihm egal, hätte er längst gegengespuckt. Aber es würde wohl nicht genug sein, um ihn einfach so zu überzeugen. „Wakatoshi-Kun vermisst euch.“ Bestimmt. Auch wenn er das so nicht gesagt hatte. Sollte das nicht reichen, damit Kenjirou einknickte? Dass Wakatoshi ihm gerade einen sehr zweifelnden Blick zuwarf, das ignorierte Satori einfach. Wakatoshi wusste einfach selbst nicht, wie sehr er seine süßen kleinen Kouhai vermisste. „…“ Auf das Schweigen folgte ein Seufzen. Satori grinste – ein gutes Zeichen! „…Wozu?“ Satori grinste noch breiter, ausgesprochen zufrieden. Es ging doch! Mit Tsutomu war es trotzdem lustiger gewesen. Und einfacher. Und die Vorstellung, wie Tsutomu am Ende versuchte, seinen missmutigen Captain zu überzeugen, war einfach zu schön gewesen. Aber immerhin hatte er seine Zusage auch von besagtem missmutigen Captain bekommen. Immer noch grinsend nahm Satori die Füße vom Tisch und lehnte sich amüsiert vor.   „Trainingscamp.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)