Chrysalis von Puppenspieler ================================================================================ Prolog: -------- „Ah! Ich kenn dich doch!“   Koushi hob den Blick von seinem Mittagessen, verwirrt, weil er schon die Stimme gar nicht zuordnen konnte, die ihn da angesprochen hatte – das zugehörige Gesicht mit dem verdutzten Blick sagte ihm genauso wenig wie der etwas groß geratene Kapuzenpullover mit dem auffälligen Print. Ein Bandlogo vielleicht? „Entschuldige bitte, aber ich glaube, du verwechselst da etwas.“ Sein Gegenüber – er musste in Koushis Alter sein, jedenfalls sah er jünger aus als die meisten anderen Studenten – schüttelte eifrig den Kopf, während er sich auf  einen Stuhl plumpsen ließ und seinen Rucksack achtlos neben sich auf einen weiteren warf. „Nein nein!“, rief er aus, wild gestikulierend, „Ich kenn dich ganz sicher! Ihr habt uns letztes Jahr total fertig gemacht!“ Ein Volleyballspieler also, vermutete Koushi, aber das half ihm kaum weiter. Das Gesicht blieb fremd, und nachdem er noch einen langen Moment ratlos den jungen Mann musterte, sah der plötzlich drein, als wäre ihm etwas eingefallen. Er hüstelte verlegen und zog die Schultern hoch. „Mein Team. Nicht mich. Ich war auf der Bank. Seijoh! Das hast du bestimmt nicht vergessen!“ Koushi hatte es nicht vergessen, natürlich nicht. Sein Blick erhellte sich und er grinste freundlich. „Daran erinnere ich mich. Aber ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung habe, wer du bist. Ich bin Sugawara, übrigens.“ – „Yuda Kaneo, sehr erfreut, Sugawara-Kun!“   In den nächsten Minuten lernte Koushi mehr von Yuda, als er erwartet hätte:   Er redete ohne Punkt und Komma, wenn er einmal angefangen hatte. Und er hatte verblüffend viel zu erzählen! Seine Geschichten drehten sich zu größten Teilen um sein altes Team, und die meisten konnte Koushi gar nicht glauben, so anders klangen sie als das, das er von Seijoh kannte. Allein die Vorstellung von Oikawa, der morgens stundenlang im Bad verbrachte und jammerte, wenn auch nur eine Strähne schief hing… Irgendwie war es schade, dass er nie dazu gekommen war, diese andere Seite von Team Seijoh kennenzulernen. Sie klang so liebenswert!   Er war unglaublich sentimental. Auf halbem Weg durch eine Geschichte darüber, wie im zweiten Schuljahr bei einem Trainingscamp die ehemaligen Drittklässler das erste Mal so richtig bewusst als Freunde zusammen gewesen waren, brach er in Tränen aus und konnte erst weitererzählen, nachdem er sich mehrfach geschnäuzt und das Gesicht trockengerubbelt hatte.   Er war ein furchtbar fantasievoller Kerl mit den verrücktesten Ideen.   „Wir haben geschwänzt“, erzählte er mit einem halb schelmischen, halb schuldbewussten Grinsen, lehnte sich über den Tisch hinweg zu Koushi hinüber, „Eine ganze Woche. Sind einfach abgehauen und rausgefahren – es war großartig!“ Seine Augen glühten vor Begeisterung, und sie schimmerten so feucht, dass Koushi ganz nebenbei sicherheitshalber wieder Taschentücher aus seiner Tasche sammelte. „Es war ein guter Abschied.“ Abschied. Koushis Mundwinkel zuckten. Während Yuda sich versucht unauffällig über die Augen wischte, zog er ein Taschentuch hervor und reichte es seiner neuen Bekanntschaft. Er dankte mit einem schiefen Grinsen, und dann war es still, beide waren sie in ihren Gedanken versunken. Yuda, da war sich Koushi sicher, ließ die Abenteuer, die er und seine Freunde erlebt hatten, Revue passieren. Er selbst musste daran denken, dass sein Abschied von Daichi und Asahi irgendwie beinahe enttäuschend unspektakulär ausgefallen war. Am letzten Schultag hatten sie sich von den Jüngeren verabschiedet, ohne ein größeres Drama draus zu machen. Eine Abschiedsrede, freundschaftliches Schulterklopfen, gute Wünsche und liebe Worte, aber nichts, das größer in Erinnerung bleiben würde. Wie es eben jedes Jahr war. Tanaka hatte trotzdem geheult wie ein Schlosshund. Nishinoya hatte die männlichen Tränen auch nicht mehr zurückhalten können, und Yachi hatte sie sowieso beide noch übertroffen mit ihrem Schluchzen. Selbst Kageyama hatte Tränen in den Augen gehabt.   (Hinata hatte so sehr geheult, dass er sich fast übergeben hatte.)   Es war nichts Besonderes gewesen. Daichi und Asahi hatte er danach noch gesehen, bevor er selbst und Daichi jeweils ihre Studentenbuden bezogen hatten. Ihr letztes Treffen vor dem Umzug war im Supermarkt von Asahis Familie gewesen, wo sie über die Ladentheke hinweg noch ein letztes, freundschaftliches Gespräch geführt hatten, versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben, und natürlich hatte Asahi geheult – Daichi hatte heimlich ein paar Tränen verdrückt, auch wenn er das im Nachhinein immer abstritt. Das war es gewesen. „Wir haben am letzten Schultag noch einmal das ganze Team gepackt und sind einfach… rausgefahren. Mit den Fahrrädern. Irgendwohin.“ Yuda lachte leise. „Wir haben uns total verfahren, sind irgendwo in einem Kaff gelandet, dessen Namen noch keiner von uns gehört hat, haben dort zu Mittag gegessen und sind dann weiter geirrt – bis wir auf die Idee gekommen sind, unsere Handys als Karten zu benutzen, waren unsere Akkus schon leer… Am Ende hat Tooru zuhause angerufen und seine Schwester, seine Mutter, und Hajimes Eltern sind jeweils mit einem Auto gekommen, um uns abzuholen. Sie haben so geschimpft!“ Yuda lachte trotz aller Schimpfe aber herzlich, und er zwinkerte verschwörerisch, bevor er weitersprach: „Wir mussten außerdem jemanden bei Toorus Schwester in den Kofferraum packen, weil einfach nicht genug Platz war.“ So, wie er immer noch grinsen konnte, ging Koushi davon aus, dass die Polizei sie nicht erwischt hatte. „Wir sind dann bis zum Morgengrauen noch auf Alienjagd gegangen, wobei Akira nach einer halben Stunde den Dienst quittiert hat, Yuutarou ihm Gesellschaft geleistet hat, damit er nicht allein im Dunkeln rumhockt, und Hajime irgendwann einen Wutanfall bekommen hat, weil das halbe Team auf Toorus Idee hin ihn zum Alien erklärt hat – und dann die Jagdsaison ausgerufen, natürlich.“   Yudas Erzählung ging noch eine ganze Weile weiter. Sie endete damit, dass ausgerechnet der faule Kunimi – sofern Koushi die Namen noch richtig zuordnen konnte! – Iwaizumi schließlich gefangen hatte und dafür zumindest einen herzlichen Lachanfall seiner Kameraden kassiert hatte.   Es war eine furchtbar schöne Geschichte, und Koushi war furchtbar neidisch.   „Weißt du“, murmelte er nachdenklich, „Ich bereue, dass wir nichts weiter getan haben als… ja. Uns zu verabschieden.“ Yuda sah ihn einen Moment lang mitleidig an. Er zog eine Grimasse und sah kurz so aus, als würde er wieder anfangen zu heulen. Dann grinste er, breit und liebevoll und optimistisch, und Koushi stellte fest, es war ein ansteckendes Grinsen und er mochte es. „Holt es nach!“   Und obwohl Koushi bewusst war, dass es eine dumme Idee war, weil sie schlecht realisierbar war, und es doch einfach viel zu spät war, er erwiderte Yudas Grinsen genauso breit. Zu verlieren hatte er nichts mehr.   „Wieso nicht?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)